Aller Liebe Anfang - Judith Hermann - E-Book

Aller Liebe Anfang E-Book

Judith Hermann

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Beschreibung

Judith Hermann hat einen Roman geschrieben über die Zumutungen der Liebe und die Schutzlosigkeit im Leben. Stella und Jason sind verheiratet, sie haben eine Tochter, Ava, sie leben in einem Haus am Rand der Stadt. Ein schönes, einfaches Haus, ein kleiner Garten, ein alltägliches ruhiges Leben, meist ohne Jason, der viel arbeitet. Aber eines Tages steht ein Mann vor der Tür dieses Hauses, ein Fremder, jemand, den Stella nie zuvor gesehen hat. Er sagt, er wolle sich einfach einmal mit ihr unterhalten, mehr sagt er nicht. Stella lehnt das ab. Der Fremde geht und kommt am nächsten Tag wieder, er kommt auch am Tag darauf wieder, er wird sie nicht mehr in Ruhe lassen. Was hier beginnt, ist ein Albtraum, der langsam, aber unbeirrbar eskaliert. In einer klaren, schonungslosen Sprache und irritierend schönen Bildern erzählt Judith Hermann vom Rätsel des Anfangs und Fortgangs der Liebe, vom Einsturz eines sicher geglaubten Lebens.

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Seitenzahl: 202

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Judith Hermann

Aller Liebe Anfang

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungVorspann1234567891011121314151617181920212223Dank

für Amad

Es ist so – Stella und Jason begegnen sich in einem Flugzeug. Eine kleine Propellermaschine, kein weiter Flug. Stella kommt von Claras Hochzeit. Sie hat den Brautstrauß gefangen, wahrscheinlich ist sie deshalb so aufgelöst, und sie hat sich von Clara verabschieden müssen, deshalb ist sie so verloren. Es ist eine schöne Hochzeit gewesen, von nun an muss Stella alleine weitersehen. Jason kommt von der Baustelle, er hat Fliesen gelegt, deshalb ist er so staubig, und er hat die ganze Nacht lang gearbeitet, er ist im Morgengrauen zum Flughafen gefahren, deshalb ist er so müde. Die Arbeit ist beendet, er wird sich eine neue Arbeit suchen. Das Schicksal, wer auch immer, setzt Stella neben Jason, Reihe 18, Sitz A und C, Stella wird die Bordkarte jahrelang aufheben. Jahre lang. Jason sitzt am Fenster, der Platz neben ihm ist frei, Stellas Platz liegt am Gang, aber sie setzt sich trotzdem neben Jason, sie kann nicht anders. Jason ist groß und mager, unrasiert, seine schwarzen Haare sind grau vom Staub. Er trägt eine grobe Jacke aus Wolle und eine schmutzige Jeans. Er sieht Stella an, als sei sie nicht bei Trost, er sieht sie zornig an, sie schreckt ihn auf. Keinerlei Umschweife. Nichts, was hinauszuzögern gewesen wäre. Hätte Stella nicht Claras Brautstrauß gefangen – Jasmin und Flieder, eine üppige Pracht mit einer seidenen Schleife zusammengebunden –, wäre sie nicht so atemlos. Glühende Wangen, eine erschreckende Distanzlosigkeit.

Stella. Ich heiße Stella.

Sie sagt, ich habe Flugangst, ich ertrage das Fliegen nicht gut, kann ich neben Ihnen sitzen, könnte ich bitte einfach neben Ihnen sitzen bleiben.

Das ist die Wahrheit. Jasons Gesichtsausdruck verändert sich, er wird nicht unbedingt weich, aber er verändert sich. Er sagt, Sie brauchen keine Flugangst zu haben. Setzen Sie sich hin. Ich heiße Jason. Setzen Sie sich.

 

Das Flugzeug rollt über die Startbahn, beschleunigt, hebt ab und fliegt. Das Flugzeug fliegt hoch in den blassen, fernen Himmel, es bricht durch die Wolken, unter ihnen bleiben das Land, ein anderes, früheres Leben zurück. Jasons Hände sind dreckig und voller Farbe. Er dreht die rechte um und hält Stella seine offene Handfläche hin. Stella legt ihre linke Hand in seine, seine Hand ist rau und warm. Er zieht ihre Hand zu sich rüber, legt sie in seinen Schoß, schließt die Augen, dann schläft er ein. Später wird das ein Vorzeichen sein. Stella hätte damals schon verstehen können – sie hat Angst, und Jason schläft. Schläft, obwohl sie Angst hat. Aber er würde sagen, er habe geschlafen, damit sie sehen konnte, dass es unsinnig war, Angst zu haben. Sie hat das damals nicht verstanden.

 

Als das Flugzeug landet, macht er die Augen auf und lächelt. So sehr dunkle Augen, fast schwarz und im Ausdruck eigentlich abwesend. Aber er lächelt. Er sagt, sieh an, Stella, Sie haben es geschafft. Er nimmt jetzt ihre Hand in seine beiden Hände, und dann küsst er ihre Hand, den Handrücken, fest und sicher.

Wollen wir uns wiedersehen, sagt Stella. Sehen wir uns wieder.

Ja, sagt Jason, er sagt das, ohne nachzudenken – ja.

Stella schreibt ihre Telefonnummer auf seine Bordkarte. Dann steht sie auf und flüchtet, sie steigt aus dem Flugzeug über die Metalltreppe zurück auf die Erde, ohne sich noch einmal umzusehen.

Es ist kühl, es regnet. Unmöglich zu wissen, wie es weitergehen wird.

Jason ruft drei Wochen später an. Stella fragt ihn nie, was er in diesen drei Wochen gemacht, worüber er eigentlich so lange nachgedacht hat, zu welchem Schluss er dann gekommen ist.

1

Das Haus liegt in einer Siedlung am Stadtrand. Es ist ein einfaches Haus mit zwei Stockwerken und einem moosigen Ziegeldach, einem Panoramafenster neben der Haustür und einem Wintergarten nach hinten raus. Das Grundstück ist nicht groß. Zur Straße hin schließt es eine Jasminhecke ab. Über den Sandkasten ist eine Plane ausgebreitet, um den Gartentisch herum stehen schon drei Stühle unter einem noch kahlen Pflaumenbaum. Gelbe, zerbrechliche Blütenstiele im kurzen Gras, vielleicht Winterlinge. Am Rand des Gartens beginnt eine verwilderte Wiese, ein braches Feld, das ist ein Zustand von ungewisser Dauer, irgendwann werden hier neue Häuser gebaut. Aber noch geht der Garten einfach in die Wiese über, wachsen Brennnesseln und Windgras durch den Zaun.

 

 

Stellas und Jasons Haus. Das ist Stellas und Jasons Haus, das ist das Haus, das Jason kauft, als Stella mit Ava schwanger ist. Ein Haus für eine Familie. Kein Haus für immer. Wir werden hier auch wieder wegziehen, sagt Jason, wir werden weiterziehen.

 

Im Wintergarten riecht es nach Erde und nassem Kies. Über dem Sofa eine orangene Decke, auf dem Tischchen davor Kinderbücher, Wachsmalstifte, eine Teekanne, auf dem Teppich ein einzelner Schuh von Ava neben einem Stapel Zeitschriften. Vom Sofa aus geht der Blick aus den Fenstern in den Garten über den Zaun hinweg auf das Feld hinaus. Das Wintergras steht noch mattgrün, es sieht aus wie ein Wasser. Der Wind scheint mit Händen ins Gras, ins Wasser zu greifen. Die Wolken ziehen schnell.

Wenn Ava im Sandkasten sitzt und Stella ihr vom Sofa aus zusieht – Ava backt Kuchen aus Sand, sie schmückt den Kuchen mit Muscheln und Kies, sie bietet jemandem, den Stella nicht sehen kann, Kuchen an, gleichmütig und direkt, nicht bittend –, muss sie manchmal den Impuls unterdrücken, aufzuspringen, Ava aus dem Sandkasten zu reißen und mit ihr ins Haus zu flüchten; als käme ein Wirbelsturm über die Wiese, etwas Gestaltloses, Großes. Warum denkt sie das?

Das ist dein Unterbewusstsein, sagt Jason, wenn sie versucht, mit ihm darüber zu sprechen. Nur dein Unterbewusstsein oder das deiner Leute, das Unterbewusstsein von Generationen.

Nur dein Unterbewusstsein.

Ich weiß nicht, ob ich dir folgen kann, möchte Stella dann sagen.

Sie möchte sagen, vielleicht ist das ja auch ein Wunsch? Vielleicht ist das eine wilde Sehnsucht.

Aber so redet sie nicht mit Jason. Kaum.

 

Vom Wintergarten klappt eine Fliegengittertür in die Küche hinein. Die Küche ist hell. Herd und Spüle unter dem Fenster, in der Mitte ein Tisch mit vier verschiedenen Stühlen, über dem Tisch eine Lampe, an der sich ein Papierpferdchen dreht. Postkarten am silbernen Kühlschrank. Unordentliches Geschirr in einem Küchenschrank, an dessen Türknauf mit Paketschnur zusammengebundener getrockneter Lavendel hängt. Die Wand an der Stirnseite ist blau gestrichen, vor der blauen Wand liegt auf der Truhe für die Winterstiefel ein Schaffell, auf dem Ava manchmal einschlafen will und noch nie eingeschlafen ist. Leere Flaschen, noch mehr Zeitschriften in der Ecke hinter der Tür, die ins Wohnzimmer führt, die zweite Tür daneben führt in den Flur, vom Flur aus gelangt man auch ins Wohnzimmer oder weiter in Jasons Zimmer oder zur Vordertür und aus dem Haus.

Das Panoramafenster gehört zum Wohnzimmer. Im Wohnzimmer steht ein niedriger Sessel am Fenster, in dem Stella am Abend liest und sich nicht darum schert, dass sie nach Anbruch der Dunkelheit in diesem Sessel wie auf einer Bühne sitzt. Sie liest, was ihr in die Hände fällt, sie liest alles, ihr fällt ein Buch in die Hände, sie schlägt es auf und taucht ein, das hat auch etwas Grausames. Jason sagt manchmal, du würdest sterben, wenn man dir die Bücher wegnehmen würde. Würdest du sterben? Stella antwortet darauf nicht. Sie nimmt mitten am Tag, zwischen den zu erledigenden, abzuarbeitenden, hinter sich zu bringenden Dingen ein Buch in die Hand und liest eine Seite, zwei Seiten, es ist ähnlich wie Atmen, sie könnte fast nicht sagen, was sie gerade gelesen hat, es geht auch um etwas anderes. Um einen Widerstand. Oder um ein Widersprechen. Vielleicht geht es ums Verschwinden. Das kann sein.

Stellas Bücher stapeln sich um den Sessel herum. Seit einiger Zeit stapeln sich auch Avas Bücher um den Sessel herum. Kinderbücher aus dicker Pappe.

 

Das ist die blaue Tür. Mal sehen, wer da wohnt. Wir klopfen einfach an. Klopf an!

 

Im Flur geht eine Treppe hoch in den ersten Stock. Die Post liegt auf der untersten Stufe, auf den Stufen darüber Avas Mütze, Fahrradschlüssel und Kreide, ein Pferdchen aus Plastik, ein Flummi, ein kaputtes Kaleidoskop, das Skelett eines Dinosauriers und auf der letzten Stufe ein mit bunten Perlen besticktes Kinderportemonnaie. Vierzehn Stufen, Stella weiß es, seit Ava zählen lernt. Oben gibt es drei Zimmer. Das Schlafzimmer, ein Zimmer in der Mitte für Stella und Avas Zimmer; hier brennt noch das Licht im Globus, und an der Deckenlampe schwankt das Mobile aus Sternen und Monden im Zugwind. Das Bett steht an der Wand, in der ordentlich glattgezogenen Überdecke ist am Bettrand eine kleine Kuhle – da hat Ava am Morgen gesessen, und Stella hat ihr die Haare zu zwei steifen schwarzen Zöpfen geflochten. Die Stofftiere lehnen ordentlich und wichtig aneinander, der Tiger und die Katze, das zerzauste Igelchen. Avas Stapel Memorykarten auf dem roten Tisch ist deutlich größer als Stellas. Über dem Schaukelstuhl hängt ein zerknittertes Prinzessinnenkleid. Im Regal eine Reihe von Fotos in Rahmen, die Stella manchmal vorkommen wie eine Schmetterlingssammlung, aufgespießte, festgehaltene Zeit, die extreme, wie irre Schönheit einzelner Augenblicke. Ava als Baby. Ava mit Jason in einem Boot im Schilf. Ava auf einem Stuhl unten in der Küche, kerzengerade in einem karierten Schlafanzug und mit verfilzten Haaren. Ava auf Stellas Schoß und nach dem Mittagsschlaf. Und ein Foto von Stella und Jason am Meer, dieses Foto kann Ava irgendwann mal was bedeuten, ihre Eltern am Meer in dem einen kurzen Jahr, in dem es Ava noch nicht gab. Unvorstellbar, simpel zugleich.

Die Tür zum Schlafzimmer ist angelehnt. Das Bett dahinter ist nicht gemacht, die Bettdecken liegen ineinander, die Kissen sind nicht aufgeschüttelt, das Laken ist verrutscht. Der Vorhang vor dem Fenster ist noch zugezogen, das Sonnenlicht liegt in einem schmalen Streifen auf dem Fußboden neben Jasons Hemd, Stellas Buch.

In Stellas Zimmer steht der Schreibtisch am Fenster. Auf dem Schreibtisch lehnt eine Postkarte von Clara an einer Glasvase. Auch Bücher auf diesem Tisch, Schreibpapier, der Kugelschreiber quer über der Zeile Meine sehr liebe Clara, der Morgen ist so still, als hätte es irgendwo eine Katastrophe gegeben, und ich geh die Treppe runter und mache die Haustür auf, weil –. Die Uhr auf dem Fensterbrett tickt spitz in diese Stille hinein. Auf dem Gästebett ist Geschenkpapier ausgebreitet, liegen fotokopierte Wochenpläne für Stellas Arbeit, Blusen, die gebügelt werden müssen. Das Schiebefenster steht offen. Der Wind geht ins Schreibpapier, weht die Seiten auseinander.

In die Haustür sind drei Scheiben aus Bleiglas eingelassen, zwei Lilien und eine Möwe. Die Scheiben hat Stella von Clara zum Einzug geschenkt bekommen. Zu Avas Geburt. Zu Stellas Hochzeit, zum Umzug, zum zweiten Abschied. Clara ist Stellas beste und einzige Freundin. Warum hast du nur bloß eine Freundin, sagt Ava, eine reicht ganz und gar, sagt Jason dann, er sagt es für Stella, und Stella sagt, so sieht es aus. Durch die Bleiglasscheiben kann man nicht hinaus- und nicht hineinsehen. Man kann nur durch das Fensterchen rechts neben der Tür raussehen, zum Gartentor hin. Ein schmiedeeisernes Tor in einem schmiedeeisernen Zaun. Jason hat den Zaun mit dem Haus gekauft und ihn sofort abreißen wollen, glücklicherweise ist er noch nicht dazu gekommen. Stella ist froh über den Zaun. Der Zaun hält hier einiges zusammen, Garten, Haus, Bücher, Ava und Jason, ihr Leben, es ist nicht so, dass das alles ohne den Zaun auseinanderfliegen würde, aber Stella findet Grenzen wichtig, Abstand, Raum für sich selber. Das Fensterchen neben der Haustür ist der Rahmen für den Blick auf den Zaun, den Blick zum Gartentor. Du musst da mal was reinstellen, hat Clara gesagt, eine Madonna oder so was, aber Stella hat noch nichts gefunden, was da stehen könnte.

 

 

Das ist das Haus an einem Tag im Frühjahr.

Es ist niemand da.

Stella ist weg, sie arbeitet als Krankenpflegerin, ihre Patienten leben in den Häusern in der neuen Siedlung, auf der anderen Seite der großen Straße.

Jason ist auch unterwegs, er baut ein Haus am See.

Ava ist im Kindergarten, sie ist in der blauen Gruppe, sie hat eine blaue Blume an ihr Mäntelchen genäht bekommen, damit sie das nicht vergisst, und sie trägt die blaue Blume wie eine Medaille.

Das Gartentor ist natürlich verschlossen.

Die Straße liegt leer, niemand zu sehen, diese kleinen Vögel in der Hecke machen fast kein Geräusch.

2

Drei Wochen später ist Stella zu Hause. Mittags um zwölf.

Stella ist oft mittags um zwölf zu Hause. Sie hat drei Patienten in ihrem Wochenplan, Esther, Julia und Walter, sie macht meist die Frühschicht bei Esther und die Tagesschicht bei Walter, die Schicht bei Julia hängt von Julias Mann Dermot, von seinem Zustand ab, in letzter Zeit ist sein Zustand schlecht. Aber an diesem Tag fühlt Dermot sich in der Lage, den Arztbesuch mit Julia alleine zu absolvieren, und Stella bleibt zu Hause. Darf am Mittag alleine zu Hause sein.

Der Mittag in der Siedlung ist still. Die Häuser liegen verlassen, die Leute kommen erst zum Feierabend zurück. Stella ist gerne alleine. Sie kann sich gut mit sich selber beschäftigen, mit dem Garten, den Büchern, dem Haushalt, der Wäsche, den langen Telefonaten mit Clara, der Zeitung, dem Nichtstun. Früher hat sie zusammen mit Clara in der Stadt in einem Mietshaus gewohnt, in einer Straße mit vielen Cafés, Bars und Clubs; die Leute saßen direkt vor der Haustür an Tischen unter Sonnenschirmen und Markisen, und ihre Stimmen und Gespräche, ihre Sorgen, Vermutungen, Versprechungen, exzessiven Ausführungen über Glück und Unglück klangen in der Nacht bis hoch in Stellas und Claras Zimmer hinein. Niemals. Für immer. Je wieder, nie mehr, bis morgen, auf Wiedersehen. Das ist nicht lange her. Stella kann nicht sagen, dass sie dieses Leben vermissen würde. Sie ist heute gerne alleine, früher war sie nicht gerne alleine, so einfach ist das, sie weiß nur nicht mehr genau, wann diese Veränderung eigentlich eingetreten ist. Auf welche Weise, jäh oder allmählich? Im Verlauf von Monaten, oder von heute auf morgen, von einem Tag, den Stella vergessen hat, auf einen anderen Tag. Clara geht es ähnlich. Clara lebt in einer Wassermühle, tausend Kilometer weit weg, sie hat jetzt zwei Kinder, und sie ist so süchtig nach dem Alleinesein wie Stella. Das liegt an diesen Kindern, sagt Clara. Sie fressen dich auf. Stella denkt daran, wenn sie morgens mit Ava am Küchentisch sitzt und ihr zusieht, wie sie eine Banane isst, Tee mit Honig trinkt.

Clara sagt, ihr fresst uns auf. Stimmt das, Ava?

Avas Lachen klingt erstaunt. Empört und ein wenig ertappt.

An den Tagen, an denen Stella bis zum Mittag frei hat, bringt sie Ava mit dem Rad in den Kindergarten, fährt zurück nach Hause, lässt das Fahrrad im Vorgarten stehen, schließt die Haustür auf, betritt den Flur und empfindet eine so deutliche Dankbarkeit, als wäre alles um sie herum zeitlich begrenzt, als gäbe es keine einzige Sicherheit von Dauer. Sie könnte gar nicht sagen, wie sie diese Vormittage, drei oder vier Stunden, dann verbringt. Sie räumt die Küche auf. Sie wäscht sich die Haare. Sie schreibt eine Karte an Clara, sie liest etwas in der Zeitung, sie liest ein Buch, sie wäscht Avas Sachen, arbeitet Jasons Post und die Rechnungen durch, sieht nach den Pflanzen in den Tontöpfen auf dem Fensterbrett, sie drückt den Zeigefinger in die Erde um die Wurzelstöcke herum und knickt die verblühten Ästchen ab, so wie Jason das immer macht. Sie steht am Küchenfenster und schaut über den Garten auf die Wiese raus, auf die Formationen von dunklen, schimmernden Wolken weit weg über der Stadt. Dann kocht sie eine Kanne Tee. Sie schaltet das Radio ein und hört einer Reisereportage zu, sie schaltet das Radio wieder aus. Sie steigt die Treppe hoch und legt die gebügelte, gefaltete Wäsche in Avas Kommode. Steht in Avas Zimmer und sieht sich das Stillleben auf Avas Tisch an, ein angebissener Apfel, eine Memorykarte, feine Buntstiftspäne, ein Saftglas. Sie möchte das aufräumen; sie möchte, dass das genau so bleibt. Sie muss in einer Viertelstunde gehen. Sie muss gehen. Jetzt muss sie los.

 

Drei Tage später ist Stella mittags alleine zu Hause, und sie wäscht das Geschirr ab, als es an der Tür klingelt. Ihre Teetasse, Avas Tasse, zwei Teller, ein großes und ein kleines Messer, Stella wäscht ein Glas ab um drei Minuten vor zwölf, es klingelt an der Tür. Sie spült sich den Schaum von den Händen und stellt den Wasserhahn unwillig aus. Sie trocknet ihre Hände am Geschirrtuch ab, geht in den Flur und sieht sich kurz im Spiegel an, sie wird nicht mehr vergessen, dass sie an diesem Mittag eine Jeans und ein zerknittertes graues Hemd voller Wasserflecken angehabt hat, die Haare mit einer Spange von Ava zusammengebunden, sie ist etwas müde, sie möchte niemandem die Tür aufmachen, möchte auch gar nicht sprechen, nichts davon wird sie vergessen.

Stella dreht den Schlüssel im Schloss und sieht gleichzeitig durch das Fenster neben der Tür in den Garten raus, zum Zaun hin, zum Tor im Zaun, selbstverständlich ist das Tor geschlossen. Sie will die Tür aufmachen, aber dann nimmt sie die Hand vorsichtig von der Klinke; auf der Straße vor dem Tor steht ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hat. Ein junger Mann, vielleicht dreißig, zweiunddreißig Jahre alt. Nicht der Postbote, kein Zeitungsausträger, kein Lieferant und auch nicht der Schornsteinfeger, ein Mann ohne eine Ausrüstung, ohne Tasche, ohne Rucksack, ohne einen Blumenstrauß, ein Mann in einer hellen Hose, dunklen Jacke, durch nichts zu identifizieren. Eine Erscheinung. Er hat die Hände in den Hosentaschen. Den Kopf schief gelegt, und er sieht zum Haus hin, er sieht die Haustür an, vielleicht das Fenster neben der Haustür.

Was hält sie davon ab, die Tür zu öffnen, durch den Garten auf ihn zuzugehen und das Tor aufzumachen, so wie sie es sonst tun würde.

Weiß ich nicht, wird Stella später zu Clara sagen. Kann ich dir nicht beantworten, diese Frage. Ich hab die Tür nicht aufgemacht, ich bin zurückgeschreckt. Vor was?

Der Mann draußen auf der Straße wartet. Dann nimmt er die Rechte aus der Hosentasche und klingelt noch einmal, und Stella spürt plötzlich – es macht sie fast ärgerlich –, dass ihr Herzschlag sich beschleunigt, langsam, stetig, als würde ihr Herz etwas begreifen, das Stella noch nicht begriffen hat. Sie nimmt, ohne den Blick von dem Fremden abzuwenden, den Hörer der Sprechanlange von der Wand, hält ihn ans linke Ohr und sagt, ja.

Der Mann draußen auf der Straße beugt sich runter. Stella hat keine Ahnung, wie laut oder leise ihre Stimme auf der Straße klingen wird, sie kann sich nicht erinnern, diese Gegensprechanlage je benutzt zu haben. Er spricht in die Anlage hinein, sie meint, seine Stimme an ihrem Ohr und gleichzeitig von der Straße her hören zu können, seine Stimme an ihrem Ohr klingt deutlich belegt. Wie die Stimme von Leuten, die Tabletten nehmen, unter Medikamenten stehen, eindeutig, Stella kann das hören, sie kennt sich da aus.

Er sagt, guten Tag. Wir kennen uns nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit.

Das ist keine Frage. Keine wirkliche Frage, und es klingt auch aufgesagt, etwas Auswendiggelerntes.

Haben Sie Zeit.

Stella hält den Hörer ein Stück von sich weg. Soll das ein Witz sein? Sie ist sich fast nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hat. Der Mann draußen steht leicht gebeugt vor ihrer Klingelanlage und wartet auf eine Antwort. Er wiederholt das nicht noch mal. Das sagt er nicht noch einmal, sie hat schon richtig verstanden.

Also hält sie den Hörer fest und sagt laut und deutlich, ich hab keine Zeit. Geht nicht. Verstehen Sie, was ich meine? Wir können uns nicht unterhalten, ich hab nämlich überhaupt keine Zeit, gar keine.

Schade, sagt der Mann vor ihrem Haus. Na dann. Vielleicht ein anderes Mal.

Er richtet sich auf und sieht wieder zur Haustür hin. Klar und deutlich zum Fenster hin, hinter dem er Stella, glaubt sie, eigentlich nicht sehen kann, aber offenbar doch vermutet. Er steht einen Augenblick ausdruckslos da, hebt die Hand wie zu einem Gruß, aber vielleicht soll das auch was anderes sein. Dann dreht er sich um und geht vom Zaun weg zur Straßenecke.

Stella kann ihn nicht mehr sehen.

Sie hängt den Hörer zurück an die Wand und stolpert vom Flur in Jasons Zimmer hinein. Jasons Zimmer ist kühl und ein wenig verlassen, so vertraut, gar nicht mit dem zusammenzubringen, was sie hier hereinstolpern lässt. Sie schiebt Jasons Stuhl beiseite und tritt ans Fenster, fegt unabsichtlich, fahrig drei Stifte und ein Blatt Papier vom Schreibtisch und erschrickt darüber, beugt sich vor und sieht auf die Straße, der Mann ist an der Straßenecke stehen geblieben, an der Ecke ihres Grundstückes und mit dem Rücken zum Haus, da steht er. Sieht die Straße rauf. Und runter. Auf der linken Seite liegen Häuser wie dieses, auf der rechten der Wald, die Straße läuft auf die Hauptstraße zu, am Ende der Straße beginnt schon der Verkehr. Autos von rechts und links. Andere Menschen.

Der Mann an der Ecke dreht sich jetzt eine Zigarette. Sieh an, das ist etwas, was er dabei hat – Tabak. Er hat Tabak und Blättchen dabei, er holt das aus der Jackentasche raus. Er dreht langsam und sorgfältig, vielleicht aber auch unbeholfen, vielleicht zittert er auch, das ist nicht zu erkennen, Stella jedenfalls zittert leicht. Er zündet sich seine Zigarette mit einem Feuerzeug an und raucht. Das dauert eine Weile. Stella sieht ihm beim Rauchen zu. Zwischen ihnen zerdehnt sich die Zeit. Sie denkt, ich sollte wegsehen, aber sie kann nicht wegsehen. Sie sieht hin, sieht zu, wie er atmet. Die Zigarette auf den Gehweg schnickt, die Hände in die Hosentaschen steckt, losgeht, den Waldweg runter auf die Hauptstraße zu. Bis er nicht mehr zu sehen ist; später wird sie denken, das war schon zu viel.

Sie tritt vom Fenster weg und atmet aus. Sie hebt die Stifte und das Blatt Papier auf und legt sie auf den Schreibtisch zurück, schiebt den Stuhl wieder an den Tisch, über der Lehne des Stuhls hängt Jasons Hemd, und Stella zieht es glatt, als hätte Jason sie bei etwas ertappt. Jasons Zimmer ist so unordentlich. Es hat einen eigenen Geruch nach Terpentin, Holz und Metall, nach Getriebeöl, nach Gras. Der Rechner auf dem Schreibtisch ist schwarz. Die Ziffern der Wetterstation auf dem Fensterbrett kippen von 12:19 auf 12:20, von Westen her ziehen digitale Regenwolken heran. Der Mann auf der Straße hatte unbeschäftigt ausgesehen, als hätte er alle Zeit der Welt. Er hatte auch verwahrlost ausgesehen, eine Andeutung von Verwahrlosung nur, eine Spur. Er hatte ausgesehen wie ein absolut freier Mensch, was ist denn daran so beunruhigend, sagt Stella laut, sie geht aus dem Zimmer, macht die Haustür auf und tritt in den Garten hinaus, als würde sie sich das Recht dazu zurückholen. Wie kühl es ist, herrlich und still. Was genau ist beunruhigend an einem freien Menschen.

 

Stella geht um Viertel nach eins aus dem Haus. Sie schiebt das Fahrrad auf die Straße, zieht das Tor hinter sich zu, bleibt stehen und sieht sich ihr Haus von außen an. Sie steht, wo der Fremde gestanden hat. Sie sieht sich ihre Haustür an, das schmale Fenster neben der Haustür, hinter diesem Fenster war sie, und er hat das gewusst.

Was gibt es zu sehen?

Ein Haus aus Backstein mit einem moosigen Ziegeldach. Eine Haustür mit eingefassten Bleiglasscheiben, zur Linken eine Bank aus Holz, neben der Bank ein Olivenbäumchen in einem Tontopf, unter der Bank Avas Gummistiefel, Stella weiß gar nicht, wie die da hingekommen sind, seit wann sie da schon stehen. Rechts von der Haustür das Panoramafenster, deutlich sichtbar der Sessel, die zerknautschte Decke über der Armlehne, die Bücher in Stapeln und auf dem breiten Fensterbrett Kissen, ein Stoffzebra und ein Teeglas, eine Flasche Wasser und etwas Kleines, von dem Stella glaubt, dass es Jasons Brillenetui ist. All das ist zu sehen, einen Augenblick lang ist sie fassungslos über diese Ausstellung von Privatem, über ihre Gedankenlosigkeit. Der Fremde auf der Straße hat sich das ansehen können, und sie hat’s zugelassen, sie hat es ja erst möglich gemacht. Was ist das eigentlich – eine Rücksichtslosigkeit?