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Remzi Ünal, Privatdetektiv in Istanbul, hat einen Fehler gemacht. Er hat eine junge, hübsche Schauspielerin nicht ernst genommen, die sich bedroht fühlte. Jetzt ist sie tot. Um sein Gewissen zu beruhigen und seine Ehre wieder herzustellen, macht sich Remzi an die Arbeit und sticht in ein Wespennest. Er dringt in das Szene-Milieu von Off-Theatern, dunklen Bars und obskuren Spielhöllen ein, um die Wahrheit herauszufinden. Denn nur die kann ihn retten. Mit seinen Kriminalromanen rund um den Ermittler Remzi Ünal zeigt uns Celil Oker ein Istanbul, wie es nicht im Reiseführer steht.
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2015
Remzi Ünal, Privatdetektiv in Istanbul, hat einen Fehler gemacht. Er hat eine junge, hübsche Schauspielerin nicht ernst genommen, die sich bedroht fühlte. Jetzt ist sie tot. Um sein Gewissen zu beruhigen und seine Ehre wieder herzustellen, macht sich Remzi an die Arbeit, um die Wahrheit herauszufinden. Denn nur die kann ihn retten.
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Celil Oker (1952-2019) arbeitete als Journalist, Übersetzer und Leiter einer Werbeagentur. Als er in der Zeitung die Ausschreibung las für den ersten türkischen Wettbewerb für Kriminalliteratur, schrieb er Schnee am Bosporus und gewann den ersten Preis.
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Nevfel Cumart (*1964) studierte Turkologie, Arabistik und Islamwissenschaft und arbeitet seit 1993 als freiberuflicher Übersetzer und Journalist. Bei Vorträgen und Seminaren setzt er sich mit türkeikundlichen Themen auseinander.
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Celil Oker
Letzter Akt am Bosporus
Ein Fall für Remzi Ünal
Kriminalroman
Aus dem Türkischen von Nevfel A. Cumart
Ein Fall für Remzi Ünal (3)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Rol Çalan Ceset bei Doğan Kitapçilik in Istanbul.
Originaltitel: Rol Çalan Ceset (2001)
© by Celil Oker 2001
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Ulrike Haseloff
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30248-8
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
LETZTER AKT AM BOSPORUS
1 – Ich parkte meinen Wagen im Innenhof, der von …2 – Ich verabscheute es, das Leben anderer Menschen zu …3 – Als der Nachspann des Films lief, hatte ich …4 – Ich erwachte nicht wie jemand, den Schulden drückten …5 – Als ich nach draußen trat, war es schon …6 – »Dir sollte man den Hals umdrehen!«, schrie die …7 – Vor meinem Haus sah ich den Verwalter …8 – So wie es aussah, war jetzt ich mit …9 – Ich zahlte, stand auf und ging. Am Imbiss …10 – Von Taxis hatte ich die Nase voll …11 – »Von was für einem Produzenten redest du?« …12 – Auch die Haustür unten schlossen wir ohne ein …13 – Ich öffnete die Wagentür, stieg ein, ließ das …14 – Wie es der Zufall wollte, erwischte ich meinen …15 – Den ganzen Weg zum Wagen pfiff ich vor …16 – Es wurde ein hartes TrainingMehr über dieses Buch
Über Celil Oker
Celil Oker: »Dies ist ein Wink des Schicksals«
Celil Oker: »Der Detektivroman ist eine Tragödie mit Happy End«
Thomas Wörtche: Universal Ünal
Über Nevfel Cumart
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Ich parkte meinen Wagen im Innenhof, der von hohen Mauern umgeben war. Der Pförtner mit dem prächtigen Bart eines Janitscharen winkte mich ein. Doch ich fuhr nicht auf den Platz, den er mir zuwies, sondern parkte aus Trotz im Schatten einer mächtigen Rosskastanie.
Ich zog die Handbremse an, blieb aber noch im Wagen sitzen. Ich rief mit dem Autotelefon jemanden an. Nicht um etwas zu erfahren, was ich nicht wusste, sondern um mir noch einmal bestätigen zu lassen, was ich wusste. Der Pförtner mit dem Bart eines Janitscharen schaute zu mir herüber. Worauf wartet der Kerl eigentlich noch?, schien er sich zu fragen.
Der Innenhof stand voll mit Autos, die allesamt neuer und schneller waren als meines und die das Herz eines Hotelpförtners höher schlagen lassen würden. Und sie alle waren sauberer.
Ich beendete das Telefongespräch ohne eine Floskel wie »Mach es gut«, »Wir sehen uns« oder »Bis dann also …«. Mein Gesprächspartner war jemand, der nicht auf Worte, sondern auf Taten Wert legte. Er schaute genau darauf, wie weit man ihm die Hand entgegenstreckte. Ich hatte ihn nicht enttäuscht letzte Nacht. Es war sowieso nicht mein Geld gewesen.
Dann stieg ich aus. Die Türen schloss ich nicht ab.
»Mit dem Aufzug in die letzte Etage«, sagte der Pförtner mit dem Bart eines Janitscharen.
»Sind viele Gäste gekommen?«, fragte ich ihn.
»Zum Geburtstag ihres Vaters waren es mehr«, meinte der Pförtner und blickte dabei durch das breite Tor des Innenhofs auf den Bosporus.
Ohne zu antworten, ging ich zum Fahrstuhl, der sich unten an einer steil aufragenden Stützmauer befand. Die Aufzugstür war aus Glas. Als ob sie die Gäste neugierig darauf machen wollte, was sie oben erwartete. Es gab nur drei Knöpfe. Ich tippte ganz leicht auf den obersten. Der Fahrstuhl fuhr ohne zu vibrieren hoch. Sobald man die Wände des Innenhofs unter sich ließ, eröffnete sich eine Aussicht auf den Bosporus, die einem den Atem stocken ließ, wenn man sie zum ersten Mal erlebte. Auch wer von Istanbul nur Fotos gesehen hatte, konnte die Burg Rumelihisar von hier aus erkennen. Der Fahrstuhl stieg immer höher. Man kam sich vor wie in einem abhebenden Hubschrauber. Die Erde blieb weit zurück, die Busse auf den Straßen verloren zusehends ihre imponierende Größe. Ich unterdrückte mein Verlangen nach einer Zigarette. Ich betrachtete das wunderbare Panorama und atmete tief ein und aus. Statt des Zigarettenrauchs schickte ich den ganzen Sauerstoff, den der angrenzende Wald und das Wasser des Bosporus in die Luft abgaben, in mein Hara.
Der Aufzug fuhr noch eine ganze Weile. Wenn man in den Hochhäusern gegenüber meiner Wohnung so lange mit dem Aufzug fahren würde, wäre man längst über die siebte Etage hinaus. Die Hausbesitzer hatten offenbar keine Höhenangst. Und die geladenen Gäste mussten sie eben unterdrücken. Ich horchte in mich hinein, verspürte keine Angst. Wenn der Gebetsrufer auf sein Minarett steigt und dabei keine Angst empfindet, dann habe ich auch keine.
Schließlich hielt der Aufzug an. Bevor ich ausstieg, blickte ich noch einmal auf den Bosporus. Wenn es doch nur nicht so schön wäre, sagte ich zu mir selbst.
Ich trat hinaus und blieb einen Moment in der Eingangshalle, die mindestens vier Mal so groß war wie in normalen Wohnungen. Eine Treppe führte noch eine Etage höher. Von dort konnte man Musik und Gesprächsfetzen hören. Ich ging die Treppe hinauf. Je höher ich kam, umso mehr nahm der Lärm zu. Oben gelangte ich zu einem Salon, der größer war als der Strafraum eines Fußballfeldes. Zunächst bemerkte mich niemand.
Aus den Lautsprechern dröhnte ein Song von Frank Sinatra. Es waren viele Gäste da, doch das Durchschnittsalter lag erheblich höher, als man es auf der Geburtstagsfeier eines zwanzigjährigen Mädchens erwarten würde. Sie waren in kleinen Gruppen im Raum verteilt, unterhielten und bewegten sich leicht zum Rhythmus der Musik. Niemand beachtete die Skyline von Istanbul hinter der Glasfront, die die ganze Wand einnahm.
Als Erste sah mich Aylin Arabaci. Sie saß alleine auf einem Diwan für vier Personen.
Sie stellte ihr Glas auf dem Boden ab, stand auf und kam auf mich zu. Es schien sie nicht zu kümmern, dass man ihre Beine sehen konnte, weil ein paar Knöpfe ihres Rocks offen waren.
»Remzi Ünal«, sagte sie, »was für eine Überraschung.« Sie sah keineswegs überrascht aus.
»Manche Gäste erscheinen auch ohne Einladung«, entgegnete ich.
»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Diese Geburtstagsparty war nicht meine Idee.«
»Wer immer es sich ausgedacht hat, es ist eine gute Idee.«
»Es war die Idee meines Vaters«, sagte sie. »Damit sich meine Stimmung bessert.«
»Und? Ist sie besser geworden?«
»Je länger ich mir die Leute hier ansehe, umso mehr muss ich an Erol denken«, sagte sie und führte die Spitze ihres Zeigefingers an die Zähne. »Wenn Sie ihn gekannt hätten, hätten Sie ihn bestimmt auch gemocht.«
Als ich Erol Kaşikçi zum ersten Mal begegnet war, lag er in einem Bett, auf dem vier Menschen locker Platz gehabt hätten. Er lag auf dem Rücken und starrte regungslos an die Decke. In seiner Schläfe gähnte ein Loch, in seiner Hand lag eine Pistole. Ich hatte Aylin Arabaci nichts davon erzählt.
Das Mädchen erinnerte sich wohl daran, dass sie die Gastgeberin war, und zog abrupt den Zeigefinger aus dem Mund. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie. »Die Bar ist gleich da drüben.«
Ich schüttelte den Kopf. Statt eines Drinks genehmigte ich mir die Zigarette, auf die ich im Fahrstuhl verzichtet hatte. Vielleicht würde ich später einen Kaffee finden.
»Geben Sie mir auch eine?«, bat mich Aylin.
Ich zog die Schachtel wieder aus meiner Tasche, hielt sie ihr hin und gab ihr Feuer. »Ich wusste nicht, dass du rauchst.«
»Ich wusste das auch nicht«, entgegnete Aylin, als sie nach dem ersten Zug den Rauch ausstieß. »Als ich Sie rauchen sah, hatte ich plötzlich auch Lust darauf.«
Ich ließ sie einen tiefen Zug nehmen. Dann fragte ich: »Gibt es hier einen Ort, wo wir uns unterhalten können und wo uns keiner der Gäste stört?«
Der Zigarettenrauch kam wie eine Wolke aus ihrem Mund. Aber sie hustete nicht. Sie schaute mich besorgt an. Ich hielt mich an meiner Zigarette fest. Das Mädchen überlegte eine Weile. »Lassen Sie uns in den Aussichtsraum gehen«, sagte sie und wies mit dem Kopf in eine Ecke des großen Salons. Ich nickte.
Aylin schaute sich um, als suche sie einen Aschenbecher. Niemand beobachtete uns. Sie verzichtete darauf, ihre Zigarette auszumachen. »Kommen Sie«, sagte sie mit gesenktem Kopf. Sie ging auf eine Tür zu, die sich am anderen Ende des riesigen Salons befand. Um nicht durch die plaudernden und mit Drinks in den Händen herumstehenden Leute hindurchzumüssen, gingen wir am Rande des Salons und an der Bar entlang. Ich vermied jeglichen Blickkontakt mit den Gästen. Aber mich beachtete sowieso niemand.
Aylin Arabaci legte die Hand auf den Türknauf, doch bevor sie die Tür öffnen konnte, ließ sie eine Stimme innehalten. »Wo geht denn das Geburtstagskind hin und lässt uns alleine?«
Wir drehten uns um.
Aysu Arabaci war so schick gekleidet, als würde sie sich um den Preis der bezauberndsten Frau auf der Geburtstagsparty bewerben. Während sie auf die Antwort wartete, führte sie ein Champagnerglas an die Lippen. Sie trug ein Marilyn-Monroe-Kleid, das an ihrem Körper klebte. Aylin Arabaci machte Anstalten, ihre Zigarette zu verstecken, ließ es dann aber sein. Ich nahm wortlos einen tiefen Zug aus der meinen.
»Möchte Remzi Bey dir dein Geschenk überreichen, ohne dass es jemand sieht?«, fragte Aysu nach einem großen Schluck. Irgendwie hatte sie Recht, aber ich hielt den Mund.
»Hast du viel getrunken, Abla?«, fragte Aylin ihre ältere Schwester. Ihre linke Hand lag noch auf dem Türknauf.
»Das ist die letzte Gelegenheit«, antwortete Aysu. »In den nächsten Monaten steht kein Geburtstag in der Familie mehr bevor.« Dann lachte sie vor sich hin, so als ob sie sehr viele wichtige Dinge wüsste, aber nicht darüber reden wollte.
Aylin schaute ihre ältere Schwester hilflos an. »Remzi Bey wollte sich ein wenig mit mir unterhalten«, sagte sie dann und blickte dabei auf ihre Hand am Türknauf.
»Wenn es nicht ganz, ganz, ganz geheim ist, kann ich dann mitkommen?«, fragte Aysu. »So langweilige Menschen wie auf dieser Party findet man selten.«
Aylin schaute mich an. Ich zuckte mit den Achseln. Es war mir egal. Wir gingen hinein. Als ich die Tür hinter uns schloss, war Frank Sinatra nicht mehr zu hören. Der Aussichtsraum war kleiner als der Salon und bot einen anderen Ausblick auf den Bosporus. Eine Wand war vom Boden bis zur Decke voller Regale. Darin Bücher, die alle mindestens dreißig Jahre alt waren. Davor stand ein antikes Schwert. Es hatte keine Scheide und glänzte im Licht. In der Mitte des Raumes stand ein modernes Teleskop auf einem Stativ. An der Wand gegenüber den Bücherregalen hing eine riesige Schwarzweißfotografie. Sie zeigte den Bosporus, der von diesem Raum aus aufgenommen worden war. Das Rohr des Teleskops war auf den Dolmabahçe-Palast gerichtet.
Ich fand einen Aschenbecher zwischen zwei Sesseln und drückte meine Zigarette aus. Dann ging ich an die Glasfront und blickte hinaus. Weit unter uns war ein Zierbrunnen zu sehen.
Ich drehte mich um. Aysu hatte sich in denjenigen der beiden Sessel gesetzt, der ebenso antik wie das Schwert war und nach draußen schaute. Ihre jüngere Schwester hatte sich an die Wand unmittelbar neben der Tür gelehnt.
Aysu nahm noch einen Schluck Champagner. Beide schauten mich an.
Beiläufig meinte ich: »Erol hatte diesen Brief offensichtlich nicht abschicken wollen.«
Die beiden Mädchen stießen im selben Augenblick einen überraschten Ausruf aus. Der von Aylin schien ein wenig kontrollierter zu sein. Ihre ältere Schwester schien auf das Panorama hinter meinem Rücken zu blicken. Dann wandte sie sich ihrer Schwester zu, als wollte sie sagen: Na komm schon, frag du.
»Ist der Brief jetzt bei Ihnen?«, fragte Aylin. Ihre Stimme war gefasster, als ich erwartet hatte. Sie ließ ihre Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus. So gefasst war sie anscheinend doch nicht.
»Der Brief ist an einem sicheren Ort«, antwortete ich. Das entsprach der Wahrheit.
»Haben Sie … haben Sie ihn gelesen?«
»Nein«, antwortete ich. Das war eine Lüge. Eine große Lüge.
Aysu nahm dieses Mal einen großen Schluck aus dem Champagnerglas. Dann drehte sie es in der Hand hin und her, als ob sie zu verstehen versuchte, wie es so schnell leer werden konnte. Sie schaute mich an und fragte: »Und was passiert jetzt?«
»Ihre Schwester wird eine Entscheidung treffen«, antwortete ich. »Sie wird sich entscheiden, ob sie den Brief lesen will oder nicht. Ich weiß, das ist sehr schwierig, aber …«
Aysu schnitt mir das Wort ab: »Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt noch eine Bedeutung hat. Was geschehen ist, ist geschehen. Jemand ist gestorben, und wir Hinterbliebenen müssen damit zurechtkommen.« Dann fügte sie hinzu: »Entschuldige, Aylin.«
Aylin lehnte sich immer noch an die Wand. Vielleicht tat sie das, um nicht umzufallen. Ob sich ihre Gesichtsfarbe verändert hatte, konnte ich nicht feststellen.
»Ist der Junge denn umsonst gestorben?«, murmelte sie mit zusammengepressten Lippen. Und als ob sie mir und nicht ihrer älteren Schwester antwortete, fragte sie: »Wann kann ich den Brief lesen?«
Bevor ich etwas entgegnen konnte, ging die Tür auf. Alle drei blickten wir auf den eintretenden Mann.
Halim Kirbaç betrat den Aussichtsraum mit einem Lächeln auf dem Gesicht, als ob er sich sicher gewesen wäre, uns drei in einem völligen Durcheinander zu erwischen. In einer Hand hielt er ein Glas Whisky. Er hatte die Krawatte gelockert, sein rundliches Gesicht war gerötet. Auf seiner Stirn glitzerten Schweißperlen. Er trug einen schwarzen Anzug, der seine überzähligen Pfunde nicht verbergen konnte. »Was ist hier denn los?«, fragte er mit dem Gebaren des Partyclowns. »Was besprecht ihr hier hinten so klammheimlich?«
Er blickte zuerst mich an, dann Aylin und schließlich seine Verlobte, die ihr Gesicht verzog, sobald er den Raum betreten hatte. Als niemand einen Witz riss, wurde sein Gesicht ernst. »Aysu, gibt es irgendein Problem?«, fragte er.
»Remzi Bey hat Erols Brief gefunden«, antwortete sie. »Wir reden gerade darüber, ob Aylin ihn jetzt noch lesen soll oder nicht.«
»Nein«, warf Aylin ein. »Darüber haben wir nicht geredet. Ich hatte Remzi Bey gefragt, wann ich den Brief lesen kann.«
»Sind Sie sicher?«, fragte ich.
»Aylin!«, rief Aysu.
Kirbaç sagte kein Wort.
Aylin Arabaci beachtete ihre ältere Schwester nicht. Sie blickte mir in die Augen und wartete auf meine Antwort. Ich überlegte mir eine für alle drei: »Wenn Sie mir versprechen, dass ich ihn auch lesen darf, dann sofort.«
»Sie haben doch gesagt, dass Sie ihn nicht bei sich hätten«, warf Aysu Arabaci ein.
»Ich habe ihn nicht bei mir«, antwortete ich. Das entsprach der Wahrheit.
»Das ist bestimmt eine von diesen geheimnisvollen Privatdetektiv-Nummern …«, stieß Kirbaç hervor. Ich gab ihm keine Antwort und blickte zu Aylin.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte sie. »Sie haben sich so bemüht, diesen Brief zu finden, da haben Sie wohl auch ein Recht darauf, ihn zu lesen. Für mich ist das kein Problem.«
»Aber für mich ist das ein Problem«, sagte Aysu. Sie schob das Champagnerglas weg und erhob sich aus dem Sessel, in dem sie die ganze Zeit gesessen hatte. Sie schritt langsam in Richtung des Teleskops, wie eine Schauspielerin, die sich auf ein Stichwort hin zu einer wichtigen Gegenrede bereitmacht. Wir beobachteten, wie sie ihre Hand auf das glänzende Gehäuse des Teleskops legte. Wie eine Hausfrau, der missfiel, was sie sah, blickte sie auf ihre Finger, an denen sie Staub erwartete. Ohne mich anzuschauen, fragte sie: »Ich verstehe nicht, Remzi Bey, was Sie dadurch gewinnen, wenn Sie Geheimnisse erfahren, die eigentlich in unserer Familie bleiben sollten.«
Darauf hatte ich gewartet. Ich antwortete, ohne dabei Halim Kirbaç anzuschauen, der sich inzwischen auf Aysus Sessel gesetzt hatte: »Es könnte sein, dass ich früher oder später mit der Polizei reden muss. Und wenn es so weit ist, möchte ich etwas Vernünftiges in der Hand haben, was ich denen erzählen kann.«
»Wieso kommt denn jetzt die Polizei ins Spiel?«, fragte Kirbaç und inspizierte eingehend sein Whiskyglas.
Dieses Mal blickte ich ihm ins Gesicht. »Vergessen Sie nicht, dass Erol Kaşikçi nicht an einem Herzinfarkt gestorben ist«, antwortete ich. »Die Polizei hat da ihre eigenen Ansichten.«
»Na und? Was kann schon passieren?«, fragte er. Aysu schaute zuerst ihren Verlobten an und dann mich. Sie ging zur Bücherwand und lehnte einen Arm auf eines der Regale, als suche sie dort Halt.
»Passieren könnte Folgendes«, begann ich. »Irgendwann in den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen oder übermorgen, könnte die Polizei vor der Tür stehen und fragen, was es denn mit dieser Briefgeschichte auf sich habe. Woher weiß ich, dass nicht jemand von Ihnen bei der Gelegenheit meinen Namen erwähnt?«
»Aber die Polizei konzentrierte sich doch darauf, mehr über Erols Arbeit in Erfahrung zu bringen, um seinen Selbstmord aufzuklären«, warf Kirbaç ein. »Die haben nicht einmal Aylin richtig befragt. Nehmen Sie sich nicht etwas zu wichtig?«
Ich verschwendete keinen Gedanken an die Frage, ob er mich reizen wollte. »Man kann nie wissen, wo die Polizei herumstochert«, gab ich zu bedenken. Ich legte eine Pause ein, damit die folgenden Worte eine größere Wirkung hatten. Alle drei sahen mich an, als ich fortfuhr: »Und außerdem hat jemand aus diesem Haus schon vor mir mit der Polizei gesprochen«, sagte ich langsam und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Ich möchte auf sicherem Boden stehen, wenn ich bei der Polizei an der Reihe bin.«
Drei Bewegungen fanden zur selben Zeit statt. Halim Kirbaç legte die Hand an die Stirn. Aylins Beine gaben nach, und sie hockte sich auf den Fußboden. Aysu wandte sich ab und lehnte ihren Kopf an die dicken Buchrücken im Regal. Ich machte einen Schritt auf Aylin zu. Sie hielt mich mit einer Handbewegung auf. »Nein, nein«, sagte sie. »Es ist nichts. Es ist alles in Ordnung.«
Sie stützte sich an die Wand neben der Tür und richtete sich auf. Nachdem sie ihr Gleichgewicht einigermaßen gefunden hatte, ging sie mit unsicheren Schritten zu dem Hocker, auf dem das Champagnerglas stand. Als sie sah, dass es leer war, zog sie ihre Hand zurück.
Kirbaç hatte begonnen, sich die Stirn zu reiben.
Aysu stand reglos mit dem Rücken zu uns.
Aylin ergriff als Erste das Wort: »Wer? Wer hat mit der Polizei gesprochen? Was hat er gesagt?«
Kirbaç hörte auf, sich die Stirn zu reiben. Aysu drehte sich wieder um. Alle drei sahen mich an, als wäre ich ein Richter, der ein Urteil über sie fällen würde.
Natürlich war ich kein Richter oder etwas Ähnliches. Ich war nur ein Privatdetektiv, der bei seiner Arbeit keinen Ärger am Hals haben wollte. Damit ich sie alle drei sehen konnte, ging ich langsam zurück und lehnte mich mit dem Rücken an die Glasfront mit dem Bosporus-Panorama dahinter.
»Ich weiß nicht, wer mit der Polizei geredet hat«, sagte ich. »Mein Informant hat es mir nicht verraten. Jemand hat aber der Polizei gesteckt, dass der Tod von Erol Kaşikçi kein Selbstmord sei und dass das Ganze mit einem Brief zusammenhängen könnte, der verschwunden sei. Diese Person könnte der Polizei beim nächsten Mal auch zuflüstern, dass ich ins Spiel gebracht worden bin, um diesen verschwundenen Brief zu finden. Wer weiß, vielleicht hat diese Person es bereits verraten. Dann wird natürlich der Inhalt des Briefes sehr wichtig für mich.«
»Inwiefern?«, fragte Kirbaç.
»Wenn es tatsächlich kein Selbstmord gewesen ist, sondern Mord, dann verrät vielleicht der Inhalt des Briefes, wer der Mörder ist«, antwortete ich. »Oder man kann vielleicht aus dem Inhalt des Briefes auf den Täter schließen.« Bei meinem letzten Satz schaute ich Aylin Arabaci an.
»Ich bleibe bei meinen beiden Entscheidungen«, sagte sie. »Ich möchte Erols Brief lesen und ich erlaube Ihnen, ihn danach ebenfalls zu lesen.«
Ich hatte nicht erwartet, dass sie ohne zu zögern antworten würde.
»Ich möchte mich da nicht einmischen, aber sollten wir nicht zuerst einen Anwalt fragen?«, warf Kirbaç ein.
»Oder meinen Vater«, fügte Aysu hinzu. »Wenn du unbedingt nicht auf mich hören willst …«
Ich unterließ es, Aylin einen Vorschlag zu machen.
»Die ganze Sache soll endlich ein Ende haben«, sagte sie. Sie wirkte müde und niedergeschlagen. »Wo immer dieser Brief auch stecken mag, holt ihn raus, damit das Ganze endlich ein Ende hat.« Dann wandte sie sich an ihre ältere Schwester: »Ich weiß, dass du mich schützen willst, aber ich ertrage es nicht mehr. Ich will nicht, dass es sich noch tagelang hinzieht, es soll endlich Schluss sein damit.«
»Halim hat Recht«, sagte Aysu in dramatischem Tonfall. »Wir sollten zuerst einen Anwalt fragen. Wer weiß, vielleicht kannst du später sowieso einen brauchen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Hast du nie an die Möglichkeit gedacht, dass Erol in seinem Brief auch dich belasten könnte?«, fragte Aysu. Dann atmete sie heftig aus, sichtlich erleichtert darüber, das ausgesprochen zu haben, was in ihrem Kopf vorging.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Aylin ein zweites Mal.
»Sei nicht so kindisch«, fuhr ihre ältere Schwester fort. »Unter Umständen kommt die Polizei zu dem Schluss, dass auch du ein Motiv gehabt haben könntest, Erol zu ermorden. Und das denkt vielleicht auch unser schlauer Privatdetektiv.«
»Aber ich bin doch an jenem Tag nicht einmal bei Erol gewesen«, antwortete Aylin. Sie schien völlig ruhig, als würde es sie gar nicht stören, dass jemand so eine Möglichkeit in Erwägung zog.
»Das ist deine Aussage«, erwiderte Aysu und fuhr mit der Hand über die dicken Bücher.
Aylin schaute mich an. Ich schwieg, holte nur meine Zigaretten aus der Tasche.
Halim Kirbaç stieß einen scharfen Pfiff aus. Dann nahm er einen Schluck Whisky. Er schüttelte den Kopf hin und her, als wüsste er nun Bescheid.
Aysu wandte sich ihrem Verlobten zu und sagte: »Wenn dich hier etwas stört, dann kannst du den Raum verlassen, Halim.«
»O nein, mein Liebling«, erwiderte er. »Ich amüsiere mich. Das ist wie in einem Krimi.«
Ich zündete eine Zigarette an.
Er fuhr fort: »Gleich wird unser Privatdetektiv Remzi Ünal lang und breit alle Beweise aufzählen und schließlich belegen, dass einer von uns dreien den Mord begangen hat.«
»Das fällt mir nicht im Geringsten ein«, erwiderte ich nach dem ersten Zug. Ich hatte wirklich nicht die Absicht.
»Aber ich bin jetzt richtig neugierig, ob Aylin am besagten Tag bei Erol gewesen ist oder nicht«, sagte Halim Kirbaç.
»Hört auf mit diesem Blödsinn«, empörte sich Aylin. »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht hingegangen bin. Wenn ich mich vor etwas fürchten müsste, warum würde ich dann erlauben, dass auch Remzi Bey den Brief liest?«
»Aber Sie könnten hingegangen sein«, sagte ich zu Kirbaç.
»Hoppla!«, rief er aus.
»Ich weiß, dass Sie an jenem Tag nicht in Izmir gewesen sind«, fuhr ich fort.
»Halim, was erzählt er da?«, fragte Aysu.
»Ach, der spinnt«, sagte er. »Aysu, der spinnt sich etwas zurecht. Wer will, kann Tankut anrufen und ihn fragen.«
»Ich habe angerufen«, entgegnete ich.
»Und? Was hat er Ihnen gesagt?«
»Halim ist hier gewesen, wir haben sogar gemeinsam Fleischspieße gegessen«, antwortete ich.
»Na also! Was wollen Sie noch mehr?«
»Ich habe ihm nicht geglaubt.«
»Und warum nicht?«
»Als wir uns das erste Mal getroffen haben in Ihrer Wohnung, da haben Sie sehr ausführlich über Ihre Reise nach Izmir erzählt, sogar über das, was Sie dort gegessen haben. Damals war Fisch auf Ihrem Speiseplan.«
»Halim!«, schrie Aysu wieder auf.
»Ich kann das alles erklären, Aysu«, sagte Kirbaç mit einer Stimme, die niemanden im Raum überzeugen konnte.
»Du brauchst das nicht zu erklären«, schrie Aysu. »Wenn du unfähig bist, dich mit deinem lügenden Zeugen korrekt abzusprechen, was du gegessen hast, dann brauchst du nichts mehr zu erklären! Sonst reitest du dich noch mehr in die Scheiße!«
»Aysu! Das war aber wirklich unpassend!«
»Die Zeit der schönen Worte ist schon lange vorbei, Halim! Wenn du nicht nach Izmir gefahren bist, wie du gesagt hast –«
Es wurde Zeit, sie zu unterbrechen. »Kann er denn nicht Erol von Izmir aus angerufen haben?«, fragte ich.
»Aber du hattest mir doch erzählt, dass …«, sagte Aylin verwundert. Sie brach ab, um die ganze Angelegenheit nicht noch mehr durcheinander zu bringen.
»Es stimmt auch nicht alles, was Ihre ältere Schwester erzählt«, sagte ich.
Aysu fuhr mit der Hand über ihr enges Marilyn-Monroe-Kleid und strich sich über den Nacken. Sie stand da wie ein Model, ein Bein vor dem anderen. Mit einem Ellenbogen lehnte sie sich an das Bücherregal. »Und was ist sonst noch unwahr von dem, was ich erzählt habe, Remzi Bey?«, fragte sie und funkelte mich an.
Ich zögerte noch, das zu sagen, was ich zu sagen hatte. Dann sah ich zu Aylin. Das Mädchen schaute wie erstarrt ihre ältere Schwester an. Sie war schon verwirrt genug und tat mir Leid. Ich nahm noch einen tiefen Zug aus der Zigarette und ließ die Asche einfach auf den Boden fallen. Niemand schien sich daran zu stören. Sie hatten andere Sorgen.
»Die Operation, die Sie zwei Tage nach Neujahr hatten, war eine Abtreibung«, sagte ich, »und kein Myom, wie Sie behaupteten.«
Halim Kirbaç schrie nicht »Aysu!«. Auch wenn er überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.
Stattdessen schrie Aysu: »Du Schuft!«
Ich nahm noch einen Zug von meiner Zigarette.
»Du Schuft!«, schrie Aysu. »Du elender Lügner. Du hast den Brief gelesen, nicht wahr?«
Ich schüttelte nur den Kopf. Wenn ich gewusst hätte, was jetzt kommen sollte, hätte ich es nicht beim Kopfschütteln belassen. Aysu Arabaci ergriff das Schwert, das vor dem Regal stand. Ihre Augen schossen funkelnde Blitze. Sie richtete die Spitze des Schwertes direkt auf mich. Ich konnte erkennen, wie scharf die Klinge war.
Wenn sie das Schwert hoch geschwungen hätte, um mir den Kopf abzuschlagen, wäre es einfacher gewesen. Ich hätte mit einer Variation des Irimi unter ihren Arm gelangen und sie sanft außer Gefecht setzen können. Dann wäre die ganze Angelegenheit harmlos ausgegangen.
Wer weiß, wie viele Bäuche dieses Schwert schon aufgeschlitzt hatte. Jetzt aber kam es ohne zu zittern direkt auf mein Hara zu. Als ob mein Körper all die Stunden, Tage, Monate und Jahre in dem nach Schweiß riechenden Dojo auf so einen Augenblick gewartet hätte, nahm er ohne auf einen Befehl meines Gehirns zu warten ganz von selbst einen Tenkan ein. Als mein linker Arm von oben auf die stumpfe Seite des Schwerts hinabstieß, ging mein rechtes Bein von selbst nach hinten. Mein ganzes Gewicht lag auf dem linken Bein. Ich vollzog eine schnelle Körperdrehung. So konnte ich mich aus der Stoßrichtung entfernen und Aysu gleichzeitig dazu einladen, ihre Bewegung mit unverminderter Geschwindigkeit fortzusetzen.
Auf ihrem Weg befand sich nur die über die gesamte Wand reichende Glasfront mit dem Bosporus-Panorama dahinter.
Sie konnte nicht stoppen.
Daran konnte neben meinem Tenkan auch ihr enges Marilyn-Monroe-Kleid Schuld haben. Zuerst stieß die Spitze des Schwertes gegen die Scheibe. Es schien, als ob das Glas standhalten würde. Aber der Wucht des Körpers, der dem Schwert folgte, hielt es nicht mehr stand.
Als ich meine Bewegung abgeschlossen hatte, stand ich so, dass ich in die selbe Richtung wie meine Gegnerin blicken konnte. Genauso wie es mein Sensei immer wieder betonte. Aber was ich sah, gefiel mir ganz und gar nicht. Das Zerbrechen des Glases und die Schreie hörte ich nicht. Ich sah nur Glassplitter, die der Schwerkraft nicht standhielten, und eine junge Frau, die wie verrückt mit den Armen um sich schlug.
Als ob ich die beiden Menschen hinter mir vor einem Sturz bewahren wollte, breitete ich meine Arme weit aus. Die Bosporus-Luft drang in meine Nase. Instinktiv sog ich die saubere Luft tief ein und füllte mein Hara damit, das knapp der Spitze des Schwertes entronnen war.
Ich blickte nach unten, die Arme immer noch weit ausgebreitet.
Der Körper im engen schwarzen Kleid war neben den kleinen Zierbrunnen gefallen. Der Kopf und die Arme lagen in Richtung des Brunnens, die Beine waren unnatürlich verdreht. Um den Kopf herum wurde alles rot.
Das Schwert war nirgendwo zu sehen.
Ich trat zurück in den Raum. Aylin Arabaci hatte ihren Kopf an Halim Kirbaçs Schulter gelehnt. Bewegungslos stand sie da, als könne sie sich nicht von der Stelle rühren. Der Mann hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt.
Ich wartete schweigend. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen oder tun können. Der Wind, der in den Raum eindrang, schien Aylin wieder zu sich gebracht zu haben. Sie hob ihren Kopf und schaute mich an. »Hat sie Erol getötet?«, fragte sie mich. Ihre gleichmütige Ruhe war verblüffend.
Ich sagte die Wahrheit. »Ich weiß es nicht.«
»Sie muss es wohl getan haben«, sagte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich noch einmal.
Das war die Wahrheit. In Erol Kaşikçis Brief befand sich kein Hinweis auf jemanden, der ihn ermorden wollte. Es war nur ein Brief, in dem er um Verzeihung bat, dass er mit der älteren Schwester seiner Verlobten geschlafen hatte. Man brauchte den Brief jetzt auch nicht mehr zu lesen.
Halim Kirbaç stand einfach nur mit offenem Mund da und blickte ins Leere. Dann ging die Tür auf, und viele Menschen stürmten in den Raum.
Natürlich war es ein Unfall. Ein bedauerlicher, unerwarteter und schockierender Unfall. Aysu Arabaci hatte uns zeigen wollen, was sie vor zwei Jahren im Fechtunterricht gelernt hatte. Weil sie vom Alkohol etwas benebelt war, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte sieben Stockwerke in die Tiefe. Gleich würde die Ambulanz mit dem Notarzt kommen, die Journalisten und auch die Polizei. Wir glaubten daran, dass es ein Unfall war, also würden sie es auch glauben.
Die Geburtstagsparty einer jungen und hübschen Frau aus der Istanbuler Society endete als »Party des Schreckens«.
Mein Name stand sowieso nicht auf der Gästeliste. Und den Pförtner mit dem prächtigen Bart eines Janitscharen würde niemand fragen, ob ein Mann mit mürrischem Gesicht in ungebügelten Hosen dem Geburtstagskind ein Geschenk vorbeigebracht hatte.
Ich verabscheute es, das Leben anderer Menschen zu verändern. Ja, ich war es leid. Ich habe längst vergessen, wie oft ich mir das selbst schon gesagt habe. Mehr noch als die Veränderung, die ich herbeiführte, hasste ich es, dem Leben anderer Menschen ein Ende zu bereiten.
Die beste Methode, um zu vermeiden, das Leben anderer Menschen zu verändern, war Schlaf. Ich ging nach Hause und schlief. Ich schaute weder auf die Uhr, noch schaltete ich den Fernseher ein. Kaum hatte ich die Wohnung betreten, warf ich meine Kleider in eine Ecke, legte mich aufs Bett und schlief ein. Ein anderer wäre wahrscheinlich nicht eingeschlafen.
Ich sah weder ein spitzes Schwert auf mich zukommen, noch erschien mir Marilyn Monroe im Traum. Ich schlief tief und fest. Und sehr lange.
Ich schlief so lange, bis mich die verrückte Musik aus der Stereoanlage des Jungen in der Wohnung über mir weckte. Als ich die Augen öffnete, verspürte ich Hunger. In Unterhose und Unterhemd ging ich in die Küche und fand etwas altes Brot und Schafskäse, der schon ganz trocken war, weil ich ihn offen draußen hatte stehen lassen. Ich setzte mich an den kleinen Tisch und aß mein karges Mahl, während ich die Kratzer auf dem mit Kunstharz beschichteten Tisch zählte. Dann legte ich mich wieder ins Bett und schlief. Ich stand auf, pinkelte und legte mich wieder hin. Das Telefonklingeln weckte mich. Ich ging nicht ran.
Der Anrufbeantworter sprang an. Ich lag im Bett, blickte an die Decke und lauschte der Stimme der Frau, die mir eine Nachricht hinterließ. Ihre Stimme war zittrig, und gegen Ende der Nachricht begann sie zu weinen. Sie versprach mir einen Betrag in Höhe der Jahresmiete meiner Wohnung, wenn ich ihren drogenabhängigen Sohn finden und ihn vor seinen schlimmen Freunden bewahren würde.
Ich war jetzt nicht mehr müde, blieb aber trotzdem im Bett liegen.
Ich schlug die Decke beiseite. Ich lag auf dem Rücken, breitete die Arme aus und schloss die Augen. Das Einzige, was mir einfiel, war zu atmen, immer wieder tief ein- und auszuatmen. Ich zog die abgestandene Luft im Zimmer so oft tief in die Lunge, bis mir schwarz vor den Augen wurde. Ich hielt die Augen geschlossen und versuchte mir vorzustellen, was ich sehen würde, wenn ich beim Landeanflug auf den Flughafen Zürich aus dem Cockpit einer Boeing 747 nach draußen schauen würde. Aber es gelang mir nicht.
Wieder klingelte das Telefon, wieder ging ich nicht ran. Als er den Beantworter hörte, legte der Anrufer am anderen Ende auf.
Schließlich stand ich auf. Ich streifte mir etwas über, machte mir einen Kaffee und schaute aus dem Fenster. Draußen war es mittlerweile so dunkel wie immer zu der Tageszeit, in der die Menschen in ihre Wohnungen heimkehrten. Ich hatte Hunger, und weil ich das Elend in meinem Kühlschrank schon kannte, bestellte ich telefonisch ein Fladenbrot mit Hackfleisch, dazu zwei Joghurtgetränke.
Ich schaltete den Fernseher ein, suchte den Sender Fashion TV und drehte den Ton ab. Die Models liefen unaufhörlich auf und ab. Das Telefon klingelte wieder. Ich ging nicht ran.
Als der Anrufbeantworter ansprang, hörte ich die verärgerte Stimme meines Freundes aus der Werbebranche. »Nun geh schon ran. Nimm endlich ab, ich weiß, dass du zu Hause bist. Ich habe vorhin schon angerufen, und da war besetzt.«
Die Models gingen auf dem Laufsteg immerzu auf und ab. Ich blieb regungslos sitzen.
»Mensch, nun nimm doch schon ab, lass uns ein paar Sätze miteinander reden.«
Ich ging nicht ran. Ich dachte, wenn ich erst anfange zu reden, dann würde ich vielleicht nicht aufhören können …
»Okay, ich gebe auf! Wenn du wieder in besserer Stimmung bist, dann ruf mich doch bitte an. Ist das klar? Ruf mich auf jeden Fall an. Wenn du das nicht tust, dann schalte ich deine Anzeige nicht mehr, klar?«
Wenn du die Anzeige nicht mehr schalten willst, dann lass es sein, sagte ich zu mir selbst.
Er hatte mir ein schönes Inserat gestalten lassen und es im Anzeigenteil der Tageszeitung Hürriyet platziert. Wir hatten uns näher kennen gelernt, als ich einen kleinen Auftrag für ihn erledigte. Als Geste des Dankes bekam ich die Anzeige zu einem sehr ermäßigten Preis. Und wenn ich mal vergaß, die Rechnung zu bezahlen, dann lief er der Sache auch nicht hinterher. Das Inserat stach in der Rubrik »Ermittlungen und Nachforschungen« hervor und sorgte dafür, dass mein Telefon häufig genug klingelte und ich nie ohne Aufträge blieb. Es gab sogar einige Kollegen in der Branche, die mein Inserat kopierten.
Wenn du die Anzeige nicht mehr schalten willst, dann lass es. Das kommt mir sehr gelegen.
Wenn es so viel Schmerz und Leid bereitet, das Leben anderer Menschen zu verändern, dann wäre es vermutlich gut, mein eigenes Leben zu ändern.
Die Models auf Fashion TV gingen weiter auf und ab. Mit unerschöpflicher Energie, mit endlosem Lächeln auf den Gesichtern und mit ständig neuen verrückten Klamotten. Ich hatte nicht den Mut, mir die Nachrichten anzuschauen.
Etwas später klingelte es an der Tür. Ich nahm mein Fladenbrot mit Hackfleisch von einem Botenjungen aus dem Kebap-Imbiss entgegen. Der Junge trug eine Uniform im Stil eines Pizza-Hut-Auslieferers. Ohne auf das Wechselgeld zu warten, machte ich ihm die Tür vor der Nase zu. Bevor ich das fettige Päckchen auf den Tisch legen konnte, klingelte es erneut an der Tür.
»Das ist schon in Ordnung«, brüllte ich. Es klingelte nicht noch einmal.
Ich öffnete das Päckchen und aß das fettige, mit zu wenig Hackfleisch belegte Fladenbrot. Es schmeckte, als wäre es wieder aufgebacken worden. Ohne mir die Hände zu waschen, ging ich zurück ins Bett. Der Fernseher blieb an, die Models auf Fashion TV gingen auch ohne mich weiterhin auf und ab.
Als ich aufstand, fühlte ich mich etwas besser. Aber ich mochte mir noch immer keine Nachrichten ansehen. Ich schaute auch nicht vor die Wohnungstür, ob der Junge aus dem Krämerladen mir meine Zeitung und mein Brot schon hingestellt hatte. Nach zwei Tassen Kaffee und zwei Zigaretten hintereinander war mein Kopf wieder einigermaßen in Ordnung. Ich trank Kaffee und schaute dabei den Models zu, die immer noch auf dem Laufsteg auf und ab gingen. Ich war nicht in der Verfassung, wieder ins Bett zu gehen. Zu tun hatte ich auch nichts. Also setzte ich mich an den Computer und flog ein wenig herum.
Die technischen Tricks des Flugsimulators reichen an die Atmosphäre bei einem echten Flug nicht heran. Nun gut, das Programm kommt der Realität sehr nahe, es ist mehr als ein Spiel und kann Reaktionen auslösen, wie sie auch in Wirklichkeit vorkommen. Und wenn man den Realitätsmodus auf die höchste Stufe stellt, dann kann einem alles widerfahren, was auch im Flugzeug hoch über den Wolken passieren kann. Trotzdem reicht der Flugsimulator an einen echten Flug nicht heran. Zum Beispiel vibriert der Sessel unter einem nicht, die Sonne blendet die Augen nicht, die Schweißperlen auf der Stirn sind nicht echt. Und ganz egal wie schnell die Anzeigen sich bewegen, man kann jederzeit in die Küche gehen und sich einen Kaffee holen.