Letzter Knödel - Herbert Dutzler - E-Book

Letzter Knödel E-Book

Herbert Dutzler

5,0

Beschreibung

Eine tote Köchin und viele kalte Spuren: Wer braut hier ein böses Süppchen und verdirbt sogar Franz Gasperlmaier den Appetit? Großkopferte in Altaussee und ein Mord im Catering-Zelt In Altaussee wimmelt es wegen eines russisch-österreichischen Gipfels vor Polizei – und die fremden Beamten verdrängen Postenkommissar Gasperlmaier einfach von seinem Schreibtisch. Da ist er fast ein bisschen froh, als eine tote Köchin gefunden und deshalb seine Lieblingskollegin Dr. Kohlross nach Altaussee beordert wird. Endlich eine Vertraute! Ermordet wurde die junge Frau an ihrem Arbeitsplatz, einem Cateringzelt. Hatte der Mord etwas mit dem Gipfeltreffen zu tun? Oder führt die Spur in die Gastronomie? Und warum hat die Tote einen falschen Namen benutzt? Auch privat gerät für Franz Gasperlmaier die geliebte Routine durcheinander: Seine Tochter bringt eine neue Liebe mit nach Hause, und mit einer Schwiegertochter hat Gasperlmaier nicht gerechnet … Kennst du Franz Gasperlmaier? Nein? Dann wird's Zeit! Franz Gasperlmaier, jenseits der 50 (wie weit jenseits, verraten wir hier nicht, es wäre ihm wahrscheinlich nicht recht), Familienvater, Polizist. Zurückhaltend (man könnte sagen schüchtern, aber das wäre ihm wohl auch nicht recht), zuweilen mit einem ausgeprägten Talent fürs Ins-Fettnäpfchen-Treten. Ehrlich, denn mit dem Lügen ohne rot zu werden hat er so seine Schwierigkeiten. Hohe Geschwindigkeiten sind nicht seine Sache (auch nicht der Fahrstil von Frau Dr. Kohlross), wenn es aber notwendig ist und vor allem, wenn es um Menschenleben geht, kann er blitzschnell handeln. Acht Fälle hat Franz Gasperlmaier schon gelöst. Er ist sich treu geblieben und hat sich trotzdem weiterentwickelt, ist über sich hinausgewachsen. Er hat spektakuläre Morde aufgeklärt, sei es im Volksmusikmilieu oder im Trachtenbusiness, er hat sich als Trommelweib verkleidet, um inkognito zu ermitteln, er hat Verbrecher per Boot, Auto und in Wanderschuhen verfolgt, er hat seine Kinder ein ganzes Stück älter werden sehen, er hat zwischenzeitlich abgenommen, aber dennoch nie den Appetit verloren. Und er freut sich ganz bestimmt darauf, deine Bekanntschaft zu machen … Urlaubsidylle oder touristischer Ausverkauf? Ausflug ins Ausseer Land Urlaubsdestination, Landidylle, Bergpanorama: Herbert Dutzler nimmt dich mit auf einen Ausflug ins Ausseer Land. Er lässt dich auf Berge und in Täler schauen und zwischen Loser und Grundlsee das eine oder andere Schnapserl-Aroma wittern. Seine Zuneigung für die Salzkammergut-Region und ihre Menschen ist auf jeder Seite spürbar, gleichzeitig zeigt er aber auch die negativen Seiten des ländlich geprägten Lebens auf: verschworene Einheimische, die mit Auswärtigen nichts zu tun haben wollen, Vermarkung von Tracht und Brauchtum … All dem widmet er sich mit Augenzwinkern und einer Portion Humor, die genauso groß ist wie ein Altausseer Stamperl …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 536

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herbert Dutzler

Letzter Knödel

Ein Altaussee-Krimi

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Bisher hat Franz Gasperlmaier in folgenden Fällen ermittelt:
Herbert Dutzler
Zum Autor
Impressum

1

Schön langsam machte Gasperlmaier der Wirbel nervös. Eigentlich war ihm das alles schon seit Tagen zu viel. Er hatte nicht einmal mehr einen Sessel auf seinem Posten. Dort, wo er normalerweise saß, hatte sich irgendein Major von einer fremden Dienststelle breitgemacht. Gasperlmaier hatte sowohl dessen Namen vergessen als auch, woher er kam. Wahrscheinlich aus Wien, wie die meisten Beamten, die hier herumwuselten, ihm keinen Platz ließen und ihn in ihrer Geschäftigkeit meist völlig übersahen.

Seinen Computer hatten sie weggeräumt, und auf dem Boden schlängelten sich überall Kabel, sodass er aufpassen musste, nicht darüber zu stolpern. Er war hier offenbar überflüssig. Und die Manuela hatte gerade jetzt auf eine Fortbildung fahren müssen. Datenforensik wollte sie lernen. Wahrscheinlich, so dachte er bei sich, war sie auf eine Beförderung aus und wollte ihn hier in Altaussee im Stich lassen, was letzten Endes noch dazu führen würde, dass sie ihm seinen Posten schlossen.

„Sie, Gasperlmaier?“ Er zuckte zusammen. Der Major hatte ihn angesprochen. „Ja?“ Er drehte sich um. „Können S’ sich nicht ein bisserl um den Verkehr kümmern? Absperrungen überwachen, Parkverbote kontrollieren und so weiter. Sie sehen ja, hier haben wir momentan keine …“ Er beendete seinen Satz nicht, zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. Gasperlmaier verstand schon. Er sollte hier weg, man konnte ihn nicht brauchen. Er nahm seine Dienstmütze vom Haken und sah noch kurz aus dem Fenster. Der Wind trieb haufenweise Blätter vor sich her, und wenn ihn nicht alles täuschte, mischten sich auch ein paar Regentropfen darunter. Die ersten klatschten schon ans Fenster. Wenn das so weiterging, würden morgen die Bäume alle kahl sein. Dabei hatte es in der letzten Woche doch noch einen wunderschönen Herbsttag nach dem anderen gegeben. Er überlegte, ob es schon Zeit war, die warme Mehrzweckjacke aus dem Spind zu holen, entschied sich dann aber doch für die normale Einsatzjacke, die am Kleiderhaken hing. Er würde es schon überleben. So kalt war es auch wieder nicht.

Im Stiegenhaus begegnete ihm die Frau Haselbrunner, die sich wahrscheinlich wie jeden Tag über die Schulkinder beschweren wollte, die auf dem Heimweg eine Abkürzung über ihr Grundstück genommen hatten. „Heute in der Früh hab ich erst das Laub zusammengerecht!“, keifte sie. „Und dann kommen diese Rotzpippen, rennen durch meine Haufen und hüpfen darin herum! Wann tust denn endlich einmal was, Gasperlmaier?“ Gasperlmaier lächelte und legte der Frau Haselbrunner beruhigend die Hand auf die Schulter. „Heut hab ich für dich Zeit, Haselbrunnerin! Heute komm ich mit dir! Machen wir eine Tatortbegehung!“ Die Frau Haselbrunner stutzte und zog ein überraschtes Gesicht.

Gasperlmaier grinste. „Gell, das hättest du dir nicht gedacht, dass ich mir dein Grundstück wirklich einmal anschaue?“ Bis jetzt war die Routine gewesen, die Frau Haselbrunner zu beschwichtigen und ihre Aussage auf einen Zettel zu schreiben, der entsorgt wurde, sobald sie den Posten verlassen hatte. Daneben hatte man ihr noch stets versprochen, die Volksschule auf das Problem aufmerksam zu machen, was Gasperlmaier auch pflichtschuldigst getan hatte, denn die Leiterin der Volksschule war ja seine Frau, die Christine. Aber die Volksschulkinder, kam ihm vor, die machten sowieso, was sie wollten. Was man ihnen auftrug, ging beim einen Ohr hinein und beim anderen gleich wieder hinaus.

„Das Gipfeltreffen!“, erklärte er der Haselbrunnerin, während sie sich auf den Weg machten. Er deutete nach oben. „Der Posten ist voll mit Polizei, aber ich kenn keinen Einzigen von denen. Und gschaftig sind sie alle! Da bleibt für mich keine Arbeit mehr übrig!“ Er seufzte.

„Ja, das Gipfeltreffen!“ Die Haselbrunnerin streckte einen knochigen Zeigefinger gegen den grauen Himmel. „Ich hätt’s nicht gebraucht. Aber es ist halt schon auch eine große Ehre, dass sich die Herren Präsidenten gerade bei uns treffen wollen. Mir haben’s ja auch die Zufahrt gesperrt! Stell dir vor! Nur wegen den depperten Russen!“ Gasperlmaier legte den Zeigefinger an die Lippen. „Haselbrunnerin, das hören die Russen sicher gar nicht gerne, wie du über sie redest! Da wär ich ein wenig vorsichtiger!“

Die Haselbrunnerin tat seine Warnung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Ich fürcht mich nicht vor denen. Aber wegen meiner Einfahrt! Sag, kannst du nicht was tun?“ Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Ich hab da nichts mitzureden, Haselbrunnerin. Und du hast ja kein Auto, also ist es eh wurst!“ „Ja, aber wenn ich eins hätte!“, keifte sie und stieß ihren Stock gegen den Boden. Der war nun schon nass, nicht mehr nur feucht. Gasperlmaier schloss den Knopf am Kragen seiner Einsatzjacke.

Inzwischen waren sie am Haus der Frau Haselbrunner angekommen und begutachteten die Wiese, über die die Schulkinder immer wieder spazierten, weil kein Zaun sie daran hinderte. Gasperlmaier kratzte sich am Kopf. „Also, ich seh da keine Laubhaufen. Wo wären denn die Kinder da hineingesprungen?“ „Ja, wegen dem Wind, nicht! Der hat alles wieder hinter dem Haus zusammengeblasen! Was soll ich denn da machen?“ Gasperlmaier zuckte mit den Schultern. „Einen guten Tag hast dir da nicht ausgesucht, für das Laub, Haselbrunnerin. Da wäre ein windstiller Tag, so wie gestern, viel besser gewesen!“ „Gestern hab ich keine Zeit gehabt!“, schimpfte die Frau Haselbrunner. „Da hab ich Schwammerl suchen müssen. Bevor mir die Schnecken alles auffressen!“ „Und? Hast welche gefunden?“ Die Frau Haselbrunner lächelte verschmitzt. „Willst leicht was von meinem Schwammerlgulasch, ha? Das hab ich schon eingefroren, was übergeblieben ist!“ „Kann man nichts machen!“ Gasperlmaier lächelte. „Aber zurück zum Fall: Täterbeschreibung? Namen?“ Ungehalten fuchtelte die Haselbrunnerin mit ihrem Stock durch die Luft. „Du willst mich wohl zum Narren halten!“, schimpfte sie. „Woher soll ich denn das wissen?“ Gasperlmaier seufzte. „Ich weiß nicht recht, was ich da machen soll“, meinte er und rieb sich den Nasenrücken mit zwei Fingern. „Weißt was, Haselbrunnerin?“, sagte er dann. „Wie wär’s, wenn ich dir ein paar von den Kindern herüberschick? Damit die dein Laub zusammenrechen. Wenn’s wieder weniger Wind gibt, natürlich.“ Die Frau Haselbrunner warf ihm einen mürrischen Blick zu. „Ich fürcht“, sagte sie, „die bringen mir ja mehr durcheinander, als dass sie mir helfen.“ Gasperlmaier zuckte mit den Schultern, hatte aber dann doch noch eine Idee. „Wenn du ihnen einen Saft und ein Stück Kuchen anbietest, was glaubst du, wie flink die dann arbeiten!“ „Kuchen soll ich ihnen auch noch backen?“ Die Haselbrunnerin winkte ab. „Mehr fällt mir jetzt auch nicht ein“, entgegnete Gasperlmaier. „Wenn du willst, dann sag ich’s meiner Frau, du weißt ja, die ist die Direktorin von der Volksschule. Die schickt dir zwei, drei Laubrecher.“ Langsam verging Gasperlmaier die Lust an der Schlichtung dieses Streits, doch zu seiner Überraschung nickte die Haselbrunnerin jetzt. „Alsdann, probieren wir’s!“, sagte sie und reichte Gasperlmaier die Hand. Einen überraschend kräftigen Händedruck hatte sie. Musste von der Gartenarbeit kommen. „Pfüat di, Haselbrunnerin!“

Gasperlmaier lüpfte kurz seine Kappe, um sie gleich darauf fester auf den Kopf zu drücken, weil der Wind kräftig um die Hausecken fegte. Das Fahrverbotsschild an der Zufahrtsstraße zum Loser schepperte, und die Absperrbänder knatterten laut in den heftigen Böen. Bald würden sie in Fetzen hängen, mutmaßte Gasperlmaier. Die Straße zum Loser hatte man sperren müssen, weil dort hinten in den Ferienhäusern der russische Präsident samt seinem Tross logierte, und niemand, der nicht ausdrücklich geladen war, durfte das Gelände betreten.

Auf dem Heimweg kam er noch an der Villa Kirnberger vorbei, dem Haus, das sich der österreichische Bundespräsident für seinen Aufenthalt in Altaussee reserviert hatte. Er hatte darauf bestanden, in einem Traditionsbetrieb unterzukommen, denn es gelte, das eingesessene Gewerbe auch bei einem Staatsbesuch zu würdigen und zu unterstützen. So hatte es zumindest in der diesbezüglichen Presseaussendung geheißen.

Gasperlmaier konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Bundespräsident beim Altausseer Kirtag zu Gast gewesen war. Er hatte ihm sogar die Hand schütteln dürfen. Um für den Präsidenten im Bierzelt Platz zu schaffen, hatte man zu einem Trick greifen müssen. Reservierungen gab es nämlich nicht und Ausnahmen davon schon gar nicht. Nicht einmal für den Kaiser von China, hatte der Werner, der Bierzeltchef, gemeint. Und so hatte man vor dem Bundespräsidenten einfach einen zusätzlichen Tisch samt Bänken hereingetragen, an dem die Ehrengäste dann Platz genommen hatten.

Ob der Bundespräsident wohl gerade in der Villa war? Gasperlmaier nahm einen kleinen, unauffälligen Umweg, der ihn am Parkplatz der Villa Kirnberger vorbeiführte. Tatsächlich stand dort eine schwarze Limousine mit dem Kennzeichen „A1“. Das konnte wohl nur der Dienstwagen des Präsidenten sein. Gerade auffällig groß war er ja nicht. Im Vorbeigehen erkannte Gasperlmaier, dass es sich um ein Hybridmodell handelte. Der Präsident wollte also Umweltbewusstsein demonstrieren. Gasperlmaier zuckte zusammen, als sich jemand räusperte. Vor dem Hintereingang der Villa Kirnberger stand ein schwer bewaffneter Polizist in schwarzer Einsatzkleidung, der Gasperlmaier skeptisch musterte. „Servus, Kollege!“, grüßte Gasperlmaier. Der Polizist verzog keine Miene, Gasperlmaier zuckte mit den Schultern und setzte seinen Nachhauseweg fort.

Der Regen war heftiger geworden, und Gasperlmaier fror. Er hätte doch die Mehrzweckjacke nehmen sollen. Ab morgen, schwor er sich, würde er endgültig auf Winterkleidung umstellen. Der sonnige, milde Herbst schien vorüber zu sein.

„Grüß dich, Papa!“ Die Katharina, seine Tochter, empfing ihn an der Haustür. „Ja, so eine Überraschung! Was machst denn du hier?“ Er nahm sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ja, ich bin … mit einer Freundin gekommen. Wegen dem Gipfeltreffen. Auch.“ Ein wenig Zögern schien in der Stimme der Katharina mitzuschwingen, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn eine große, dunkelhaarige Frau war hinter der Katharina aufgetaucht. Sie streckte Gasperlmaier die Hand hin. „Stefanie. Frisch“, sagte sie. „Ich bin die Freundin von der Katharina.“ Gasperlmaier schlug ein. Die Stefanie schien nicht nur groß, sondern auch durchtrainiert zu sein. Und ein wenig älter als die Katharina. Irgendwie, kam ihm vor, war der Katharina das Auftauchen der Stefanie peinlich, sie drückte sich an ihr vorbei und verschwand im Vorhaus.

Seine Tochter sah Gasperlmaier mittlerweile nur noch selten, denn sie war im Marketing eines großen Hotels in einem populären steirischen Skigebiet tätig und hatte nur mehr wenig Zeit für ihre Familie. Sie verdiente zwar gut, hatte aber viel zu wenig Zeit, um das Geld auch wieder auszugeben. Sogar bei Telefongesprächen mit ihm oder der Christine klang sie in der letzten Zeit immer gehetzt und war meist kurz angebunden.

„Grüß dich!“ Gasperlmaier trat an die Christine heran, die in der Küche beschäftigt war. „Grüß dich! Spaghetti mit Tomatensauce gibt’s! Und Zucchinischnitzel dazu, mit Parmesanpanier! Die beiden sind ja Vegetarierinnen!“ „Nicht mehr vegan?“, fragte Gasperlmaier, denn seinen Informationen zufolge hatte sich die Katharina in den letzten Jahren vegan ernährt. Die Christine schüttelte den Kopf.

Vor einem Jahr noch hätte Gasperlmaier jetzt die Arme um seine Christine geschlungen und sie in den Nacken geküsst, aber es hatte einen Zwischenfall gegeben, den ihre Beziehung noch nicht ganz verdaut hatte und der zu ein wenig Zurückhaltung seinerseits geführt hatte. Seitens der Christine übrigens auch.

Seine Frau hatte ein Sabbatical, ein Freijahr genommen, um ihren Sohn in Kanada zu besuchen und daran eine Weltreise anzuschließen. Wie es sich traf, hatte sich die Maresi, seine Nachbarin, die praktisch eine Sandkistenfreundschaft war, gerade in dieser Zeit unglücklich von ihrem Mann getrennt, und so war dem einsamen Gasperlmaier beim Versuch, die Maresi zu trösten, ein Lapsus passiert, der dazu geführt hatte, dass er in deren Bett aufgewacht war. Sein Gewissen hatte ihn daraufhin so gequält, dass er sich vom Friedrich, seinem alten Freund und ehemaligen Kommandanten, dazu überreden hatte lassen, der Christine nach Australien nachzufliegen und ihr seinen Fehltritt zu gestehen. Drei Tage hatte sie nicht mit ihm gesprochen, und er war ihr durch die wildfremde Stadt unten in Australien nachgetrottet, ohne dass er außer grauenhaftem Essen und schrecklichem, eiskaltem Bier viel davon mitbekommen hatte. Am vierten Tag war die Christine in Tränen ausgebrochen, hatte erklärt, dass sie an dieser Entwicklung wohl Mitschuld trage, aber er müsse ihr versprechen, so etwas nie wieder zu tun, sonst sei ihre Ehe zu Ende. Er hatte ebenfalls geweint und alles versprochen, was sie hören wollte. Und das auch ernst gemeint. Nie wieder würde er einer anderen Frau auch nur nachschauen. Und dann hatte er, als Buße sozusagen, mit der Christine über einen Brückenbogen der Hafenbrücke in Sydney klettern müssen. Obwohl er angeseilt gewesen war, hatte er – seiner Höhenangst wegen – Höllenqualen gelitten. Seither war das Thema nicht mehr zwischen ihnen erwähnt worden, die alte Ungezwungenheit hatte sich allerdings noch nicht wieder eingestellt. Und die Christine gab sich häufig abweisend, wenn er zu ihr ins Bett schlüpfte.

„Übrigens, die Haselbrunnerin war heute wieder da. Sie hat sich beschwert, dass deine Schüler in ihre Laubhaufen gehüpft sind. Ich hab ihr versprochen, dass du ihr ein paar von den Übeltätern zum Laubzusammenrechen schickst.“ Die Christine seufzte. „Ich weiß schon, wen ich da fragen muss, glaub mir. Aber begeistert werden die nicht sein!“ „Ich hab der Haselbrunnerin eingeredet, dass sie ihnen Saft und Kuchen anbietet.“ „Schlau!“, lächelte die Christine. „Magst ein Bier?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schenkte sie ihm ein. Fast ungewöhnlich freundlich erschien sie ihm heute, so viel Zuwendung und Lächeln war er gar nicht mehr gewöhnt. „Wirklich gut!“, lobte er das Essen, obwohl er sonst unter der Panier schon gern ein Stück Fleisch hatte. „Freut mich!“, sagte die Christine, und die Stefanie und die Katharina tauschten Blicke aus, die er nicht zu deuten vermochte. Irgendetwas war da los, das er noch nicht mitbekommen hatte. Was konnte es bloß sein?

Nach dem Essen bekam er sogar ungefragt einen Schnaps, die Christine stellte vier Stamperl auf den Tisch und füllte sie. Wenn es an einem Wochentag einen Verdauungsschnaps gab, dann war wirklich etwas Besonderes. Die Stefanie und die Katharina hatten es eilig, sich zu verabschieden. „Pfüat euch. Wir fahren noch nach Aussee hinunter. Ein bissl fortgehen!“ Die Katharina winkte ihnen zu, bevor sie im Vorhaus verschwand. „Dass du aber aufpasst mit dem Trinken!“, rief ihr Gasperlmaier nach. Er konnte es sich immer noch nicht verkneifen, seinen Kindern gute Ratschläge mit auf den Weg zu geben.

Als es im Haus ruhig geworden war, schenkte ihm die Christine noch einmal ein. Dann atmete sie tief durch. „Franz“, sagte sie, „ich muss mit dir reden.“ Das war ein schlechtes Zeichen. „Franz“ nannte sie ihn nur, wenn sie Vorwürfe gegen ihn zu erheben gedachte oder wenn sonst etwas Unangenehmes vorgefallen war. Hatte sie es sich am Ende doch überlegt und wollte ihn wegen der kurzen Affäre mit der Maresi verlassen? Sein Magen begann zu rumoren, ein sicheres Zeichen, dass ihn Angst gepackt hatte.

„Prost!“, sagte die Christine und nahm einen Schluck aus ihrem Stamperl. Gasperlmaier tat es ihr gleich. „Die Stefanie ist nicht bloß eine Freundin von der Katharina.“ Die Christine atmete hörbar aus. Gasperlmaier verstand nicht. „Sondern was?“, fragte er. „Sie ist … die beiden sind ein Paar. Sie leben zusammen.“ Gasperlmaier glaubte immer noch, nicht ganz verstanden zu haben. „Ja, was ist denn da dabei, wenn sie sich eine Wohnung teilen? Das ist ja ganz normal“, wandte er ein. Die Christine legte eine Hand auf die seine. „Du hast mir nicht genau zugehört. Sie sind ein Paar. Keine Wohngemeinschaft.“ „Aber …“, setzte Gasperlmaier an, bis es auch ihm endlich dämmerte. „Ist sie denn …“ Er wollte das Wort nicht aussprechen, das ihm auf den Lippen gelegen war. Die Christine nickte. „Lesbisch. Ja, das ist sie. Ich weiß es schon lange. Vielleicht schon länger, als sie selbst es weiß.“

„Und warum hast du dann … warum habe ich … wieso weiß ich es nicht?“ Jetzt legte die Christine einen Arm um seine Schulter und zog ihn an sich. „Da war nie der richtige Zeitpunkt. Ich habe mich immer gefragt, wie ich dir das beibringen soll. Weil ich ja nicht gewusst habe, wie du reagierst. Ob du am Ende nicht mehr mit ihr redest, dich für sie schämst oder so was.“ Gasperlmaier räusperte sich. Bedeutete das jetzt, dass die Katharina nie einen Mann haben würde? Keine Kinder? Keine Enkel für ihn? Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.

„Ich erinnere mich noch, wie sie über manche Freundinnen geredet hat. Und auch über eine Lehrerin. Später einmal über eine Studienkollegin. Da habe ich dieses Leuchten in ihren Augen gesehen, das nie da war, wenn sie über einen Burschen gesprochen hat, mit dem sie fortgehen wollte. Das merkt man als Mutter.“ Als Vater, dachte Gasperlmaier, anscheinend nicht.

„Aber ich hab sie doch einmal … da hat sie in ihrem Zimmer mit dem Florian …“ Die Christine lächelte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ja, ja“, nickte sie. „Natürlich hat sie es auch mit Burschen ausprobiert. Aber sie hat halt schnell gemerkt, dass da ihr Herz nicht dabei ist. Es ist ja nicht leicht, sich selber einzugestehen, dass man nicht so ist wie alle anderen. Fast alle anderen.“

Gasperlmaier leerte sein Schnapsstamperl und stellte es auf den Tisch zurück. „Kann man denn da gar nichts machen?“, fragte er. Die Christine schüttelte den Kopf. „Nein. Kann man nicht. Darf man nicht. Es ist, wie es ist, und es ist gut so.“ „Aber“, wandte Gasperlmaier ein, „ich hab mich doch schon so gefreut … auf Enkel und Hochzeiten und so. Jetzt ist der eine in Kanada, und die andere …“ „Also, was Hochzeiten betrifft, da brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Die Katharina darf eine Frau heiraten, Gott sei Dank sind wir jetzt schon so weit, dass da alle die gleichen Rechte haben.“ Gasperlmaier kratzte sich am Kopf. Wie das wohl in Altaussee ankommen würde? Seine Tochter mit der Stefanie? Beide im weißen Kleid? Was würden denn da seine Kameraden bei der Feuerwehr sagen? Er konnte sich mit der Vorstellung noch nicht richtig anfreunden.

„Ich hab befürchtet, dass du dich mehr aufregen wirst.“ Die Christine klang erleichtert. Sie stand auf und räumte die Schnapsstamperl in den Geschirrspüler. So gut, dachte Gasperlmaier bei sich, hätte ihn die Christine schon kennen müssen, dass sie wusste, dass bei ihm nicht alles gleich herausbrach, wenn ihm etwas Sorgen und Kopfzerbrechen bereitete. Aber innerlich, da regte er sich schon auf. Nicht, weil er was gegen Lesbische oder Homosexuelle hatte, sondern weil er seinen Kindern gerne Schwierigkeiten ersparen wollte. Und solche würden auf die Katharina wohl zukommen, stellte er sich vor. Wer war die überhaupt, diese Stefanie? Und was wollten die beiden ausgerechnet jetzt, beim Gipfeltreffen, in Altaussee? Die Christine schien seine Gedanken gelesen zu haben.

„Die Katharina hat sich Zeitausgleich genommen, sie hat ja in der Sommersaison jede Menge Überstunden angesammelt. Und sie ist mit der Stefanie hergefahren, wegen dem Gipfeltreffen. Die ist nämlich Journalistin.“ „Journalistin?“, wiederholte Gasperlmaier. Auch das noch. Das war ihm gar nicht recht. Mit Journalistinnen hatte er nämlich bisher ausschließlich schlechte Erfahrungen gemacht. Sie waren, so fand er, nur auf Sensationen aus und darauf, die Polizei in ein schlechtes Licht zu rücken. Er erinnerte sich mit Schrecken an den Wirbel, den diese Maggie Schablinger von Schilling-TV jedes Mal aufgeführt hatte, wenn sie eine Sensation im Ausseerland witterte. Nicht nur einmal hatte sie ihn in ihren Sendungen als unfähigen Trottel vorgeführt. Seit es ihm aber einmal gelungen war, die Maggie bei einem Heringsschmaus so abzufüllen, dass die Frau Doktor Kohlross und er sie persönlich ins Bett bringen hatten müssen, war sie nicht mehr aufgetaucht.

Schade, dachte er bei sich, dass man bei dem ganzen Polizeiaufgebot, das sich hier in Altaussee versammelt hatte, nicht auch die Frau Doktor Kohlross hergeholt hatte, die ja über ausgezeichnete Ortskenntnisse verfügte. Schließlich hatte sie schon mehrere schwere Verbrechen im Ausseerland aufgeklärt, und Gasperlmaier hatte ihr beigestanden und sie gut kennen und schätzen gelernt.

„Franz, hörst du mir überhaupt zu?“ Er schrak hoch. Ganz in Gedanken versunken, hatte er überhaupt nicht gemerkt, dass die Christine ihm anscheinend mehr über die Stefanie erzählen hatte wollen. „Also, noch einmal von vorn!“ Sie drohte ihm mit dem Finger. „Aber jetzt hör gefälligst zu! Die Stefanie ist für ein Magazin als Lifestyle-Reporterin tätig. Also Reportagen über Promis, hauptsächlich.“ „Na Mahlzeit!“, meinte Gasperlmaier. „Aber das ist doch überhaupt nicht das, wofür sich die Katharina interessiert!“ Die Christine zuckte mit den Schultern. „Wo die Liebe hinfällt … Kennengelernt haben sie sich während der letzten Skisaison, da hat die Stefanie eine Reportage über den berühmten Nachtslalom geschrieben, weil ja da auch jede Menge Promis dabei sind. Und viele davon waren in dem Hotel, wo die Katharina arbeitet. Und da ist eben auch die Stefanie abgestiegen, und so hat das Ganze seinen Lauf genommen.“ „Ich weiß nicht“, brummte Gasperlmaier. „Jetzt muss ich mich schon mit dem Gedanken anfreunden, dass die Katharina … also, dass … und dann kommt uns auch noch so eine Sensationsjournalistin ins Haus!“ „Es war ein Glücksfall!“, sagte die Christine. „Die hätte doch während des Gipfeltreffens niemals eine Unterkunft gekriegt, hier in Altaussee, wo alles voll ist und wir ohnehin nicht so viele Gästebetten haben. Und außerdem war es Zeit für ein Coming-out.“ „Für was?“, fragte Gasperlmaier. „Coming-out. So nennt man das, wenn homosexuelle Menschen ihrer Familie und ihrer ganzen Umgebung endlich die Wahrheit sagen. Bezüglich ihrer sexuellen Orientierung.“ Gasperlmaier wand sich. In Zusammenhang mit seinen Kindern wollte er nichts hören, was auch nur annähernd sexuell klang. Das fand er ganz und gar unpassend. Er stand auf.

„Sollen wir noch ein bisschen fernsehen? Oder gehen wir gleich ins Bett?“, fragte er. „Schauen wir, ob es was Gescheites gibt“, erwiderte die Christine. Als Gasperlmaier aber den Fernseher einschaltete, stürmten gerade zwei junge Frauen auf einer Wiese aufeinander zu. Im Hintergrund schimmerte das Meer, und die beiden Frauen fielen sich in die Arme und küssten sich. „Ich geh lieber doch gleich ins Bett“, sagte er. Die Christine setzte sich aufs Sofa und nahm ihr Strickzeug zur Hand. „Ist schon recht“, sagte sie.

Kaum war Gasperlmaier im oberen Stockwerk angekommen, läutete sein Handy. Verdammt noch einmal, dachte er bei sich, wer konnte denn das um diese Zeit noch sein? Er drehte um, lief zur Garderobe und holte das Telefon aus der Einsatzjacke. Ohne auf dem Display einen Namen erkannt zu haben, hob er ab. „Grüß Sie, Gasperlmaier. Major Teufl am Apparat. Wir haben da hinten beim Quartier der Russen ein paar sinistre Gestalten festgesetzt. Sie behaupten, sie wären aus Altaussee und Sie würden sie kennen. Vielleicht können Sie uns helfen zu entscheiden, ob wir sie festnehmen sollen oder laufen lassen können.“ Gasperlmaier seufzte. „Ich komm schon. Wo find ich euch denn?“, fragte er. „Wir sitzen da in der, wie heißt diese Bumsen schnell noch einmal?“ Ihm schien, als habe der Major das Handy vom Ohr genommen. „Alpentenn. Beim Loser-Sessellift“, hörte Gasperlmaier, noch bevor der Major geantwortet hatte.

„Ich muss noch einmal weg!“, rief er Richtung Wohnzimmer. „Warum denn?“, fragte die Christine. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer einen Spalt. „Sie haben ein paar Leute festgenommen. Anscheinend Altausseer, die in das Sperrgebiet eingedrungen sind.“ Die Christine schüttelte den Kopf. „So ein Theater, wegen den paar Russen. Unser Präsident braucht ja auch keine Sperrzone!“ „Na ja“, antwortete Gasperlmaier und dachte an den Schwerbewaffneten am Hintereingang der Villa Kirnberger. „So einfach kommst du jetzt auch nicht in die Villa Kirnberger hinein!“

Es dauerte eine Zeitlang, bis er bei der Losermaut angekommen war, denn er musste zuerst seinen Dienstwagen aus der Garage holen. Schließlich konnte er nicht im Privatauto aufkreuzen. Schon bei der Abzweigung von der Hauptstraße war ihm ein Uniformierter begegnet, der im Regen Wache hielt. Der hatte ihn aber sofort durchgewunken, als er ein Polizeifahrzeug erkannt hatte. Bei der Kreuzung zum Salzberg standen erneut zwei Posten, ein österreichischer Polizist und ein zweiter, der zwar auch schwarz gekleidet war, aber keine Uniform trug. Beide hatten Kapuzen über ihre Köpfe gezogen. Der Polizist richtete die Waffe durch die Windschutzscheibe direkt auf Gasperlmaier und streckte ihm die Handfläche entgegen, bevor er ans Fenster trat. Der Wind wehte Gasperlmaier eiskalte Gischt ins Gesicht, als er die Scheibe hinunterließ. „Wohin?“, fragte der Uniformierte. „Zur Alpentenn. Der Major Teufl hat mich hinbestellt.“ Wortlos winkte der Polizist ihn weiter.

Vor der Alpentenn stand eine ganze Armada von schwarzen Limousinen und Einsatzfahrzeugen. Gasperlmaier kannte das Lokal. Wenn er Skifahren war, gönnte er sich meist vor dem Nachhausefahren noch ein Weißbier auf der Terrasse, sozusagen als Belohnung für die Anstrengung. Drinnen war er allerdings noch nie gesessen.

Er verfluchte sich dafür, dass er heute Nachmittag nicht die Mehrzweckjacke genommen hatte, denn die hatte eine Kapuze. So tropfte ihm bereits nach wenigen Metern das Wasser in den Nacken. Vor der Alpentenn stand natürlich auch ein schwerbewaffneter Posten, der nickte und ihm gleich die Tür aufstieß, als er sich näherte. Eine ganze Anzahl von Uniformierten, Männer und Frauen, saß an den Tischen, vor sich Kaffee, Tee und andere Getränke. Das Lokal schien so etwas wie eine Einsatzzentrale zu sein. Der Major Teufl stand auf und schüttelte ihm die Hand. Irgendwie, fand Gasperlmaier, sah er jetzt freundlicher aus als heute Nachmittag auf dem Posten. Da war er allerdings auch an Gasperlmaiers Schreibtisch gesessen, was ihn geärgert und somit vielleicht sein Urteilsvermögen getrübt hatte. „Grüß Sie, Herr Kollege“, sagte er und deutete in eine Ecke des Raumes. „Da hätten wir die drei Herren. Sie behaupten, sie wären aus Altaussee. Konnten sich aber nicht ausweisen.“

„Servus, Gasperlmaier!“, rief einer der drei ihm gleich zu, ein Bursche mit kurzen, blond gefärbten Haaren. Gasperlmaier nickte. „Den kenn ich. Das ist der Leitner Johannes, es stimmt, der ist aus Altaussee.“ Was er für sich behielt, war, dass er den Johannes hauptsächlich dienstlich kannte. Mindestens zweimal hatte er ihm schon den Führerschein abnehmen müssen. Gasperlmaier trat näher an den Tisch heran. „Sie sagen, sie wollten nur ein wenig Russen schauen. Wie sie hierhergekommen sind, wissen wir noch nicht. Erwischt haben wir sie, als sie über die Wiese von der Loserstraße heruntergeschlichen sind. Etwa unter der Trasse des Sessellifts.“ Gasperlmaier nickte, und hinter dem Johannes erkannte er den Fehringer Simon, der leider auch kein Unbekannter war. Gasperlmaier rieb sich mit zwei Fingern an der Nasenwurzel. Mit dem Fehringer hatte er ein ganz besonderes Problem, der hatte nämlich einmal seinen, Gasperlmaiers, Gartenzaun umgefahren. Betrunken, natürlich. Gasperlmaier überlegte, ob er seinen Kenntnisstand bezüglich der beiden an den Major Teufl weitergeben sollte. Bis ihm einfiel, dass der ja bloß seinen Computer befragen musste, um herauszufinden, ob die beiden amtsbekannt waren, wie man so schön sagte.

„Den Dritten“, er zeigte auf einen dunkelhaarigen Burschen in der Ecke, „den kenn ich nicht. Die beiden“, er deutete auf den Simon und den Johannes, „die kenn ich. Kleinere Delikte, alkoholisiert gefahren, Führerscheinentzug, Sachbeschädigung, sowas.“ Er nickt bekräftigend. „So, so!“ Der Major Teufl wandte sich den drei Burschen zu. „Also notorische Unruhestifter? Subjekte, die nicht in der Lage sind, sich an Regeln zu halten? Herrschaften, die ein bisschen auf Risiko spielen wollen, sehe ich recht?“ Er stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab und sah die drei nacheinander scharf an. Die wagten keinen Muckser. Dann richtete sich der Major Teufl wieder auf. „Nehmen Sie sie mit, Gasperlmaier. Laden Sie sie ein und bringen Sie sie hinunter nach Altaussee. Und lassen Sie sie irgendwo aussteigen, wo sie möglichst weit im Regen nach Hause gehen müssen!“, donnerte er so laut, dass nicht nur die drei Burschen zusammenzuckten, sondern auch Gasperlmaier.

„Auf!“, rief er also, unterstrichen durch entsprechende Gesten, denn er wollte vor dem Major Teufl, und natürlich auch vor den anderen Kolleginnen und Kollegen, die die Szene teils amüsiert beobachtet hatten, Entschlossenheit demonstrieren. Die drei schienen froh, aus der Stube der Alpentenn hinauszukommen. Der Johannes drehte sich noch einmal um. „Ah, was ist mit unseren Mountainbikes? Die …“ Der Major Teufl ließ ihn nicht ausreden. „Die könnt ihr euch holen, wenn der Staatsbesuch vorbei ist! Wenn sie dann noch da sind!“ Der Johannes zuckte mit den Schultern. „Versteh schon“, murmelte er noch, „bin ja nicht schwerhörig!“ Gasperlmaier zog die Tür auf, und plötzlich knallte nicht weit von ihm ein Schuss. Wenn er sich nicht täuschte, hatte er sogar Mündungsfeuer gesehen. „Tür zu! Boden!“, brüllte der Major, und plötzlich brach rund um Gasperlmaier die Hölle los.

Gläser klirrten, Tische stürzten um, jemand schlug Fensterscheiben ein. „Sie bleiben mit den dreien hier!“, rief ihm der Major im Hinauslaufen zu. „Verziehen Sie sich am besten in die Ecke!“ Gasperlmaier richtete sich ein wenig auf, als es in der Gaststube ruhig geworden war. Er brauchte den Buben nicht zu erklären, was sie zu tun hatten, sie robbten unter den Tisch, an dem sie zuvor gesessen waren. „Ein Terroranschlag? Ein Attentat?“, flüsterte der Johannes. Gasperlmaier sah sich um. Die Gaststube war ein Chaos aus umgestürzten Tischen, Glasscherben und Pfützen, die von den Getränken stammen mussten. Draußen hörte man Rufe, Getrappel, aber keine weiteren Schüsse mehr. Langsam wurde es ruhiger, und Gasperlmaier wagte, aufzustehen und einen Blick hinauszuwerfen. Ein Windstoß riss ihm fast die Tür aus der Hand. Der Major Teufl kam auf ihn zu, neben ihm ein glatzköpfiger Mann in schwarzem Anzug, der den Major um fast einen Kopf überragte. Und nebenbei mindestens eineinhalbmal so breit war. Er starrte mit betrübter Miene auf etwas, das er zwischen den Fingerspitzen hielt. Gasperlmaier lief es kalt den Rücken hinunter. Von den Fingern des Mannes tropfte Blut. Es sah aus wie …

„Machen Sie Platz, Gasperlmaier!“ Der Major war sichtlich ungehalten und steckte seine Waffe wieder in ihr Holster. Zusammen mit dem Glatzkopf betrat er die Gaststube. Was der zwischen den Fingern hielt, musste ein Tier sein. Oder der Rest von einem Tier. Hoffentlich. „Wo ist der verdammte Dolmetscher?“, schrie der Major. Er schob zuerst mit dem Fuß, danach mit dem Ärmel Scherben von einer Bank. „Sitzen! Sit down!“, herrschte er den Russen an, denn um einen solchen, mutmaßte Gasperlmaier, musste es sich hier handeln.

Der starrte weiter auf seine Hand und setzte sich tatsächlich hin. „Wilka!“, sagte er zu Gasperlmaier und deutete auf den blutigen Rest in seiner Hand. Er schüttelte den Kopf und verzog den Mund, als leide er unter Schmerzen. Gleich darauf schlug er die freie Hand vor die Augen und begann zu schluchzen. „Wilka!“, rief er wieder, das blutige Büschel Haare zwischen seinen Fingern hochhaltend.

Eine blonde Polizistin mit Pferdeschwanz betrat die Gaststube. „Guten Abend“, sagte sie. „Niederecker. Die Dolmetscherin.“ Hinter ihr kamen nach und nach immer mehr Polizisten herein, die zunächst Tische und Bänke wieder aufstellten. Unangenehm kalt war es geworden, weil die Tür offenstand und zumindest ein Fenster zerschlagen war. Gasperlmaier setzte sich zu den drei Burschen aus Altaussee, die inzwischen wieder vom Fußboden auf die Bänke gekrochen waren, und wartete schweigend ab, was noch passierte. Offenbar hatte man sie aufgrund des Tumultes völlig vergessen.

Die Dolmetscherin setzte sich neben den Major. „Fragen Sie ihn, was da los war. Warum er geschossen hat.“ Sie sprach den Hünen auf Russisch an, doch die Antwort verstand auch Gasperlmaier. Er wischte sich die feuchten Augen und deutete mit dem Daumen zum Mund an, dass er zuerst etwas trinken wolle. „Wodka!“, sagte er. Der Major rief dem Kellner, der sich hinter der Schank verschanzt hatte, zu: „Bringen Sie ihm Wodka. Aber halten Sie sich nicht mit einem Stamperl auf!“ Der Kellner nickte, und tatsächlich nahm der Russe einen tiefen Zug aus der Flasche, sobald sie vor ihm stand. Danach begann er zu reden. Gasperlmaier konnte der äußerst lebendigen pantomimischen Darstellung des Russen entnehmen, dass er auf seinem Posten ein Geräusch oder eine Bewegung wahrgenommen hatte. Daraufhin hatte er geschossen. Wieder sagte er „Wilka“ und deutete auf die blutigen Reste, die er, wie Gasperlmaier jetzt erst sah, auf dem Tisch abgelegt hatte. Das konnte ja heiter werden, dachte er bei sich, wenn die Herren Russen jetzt den einheimischen Wildbestand illegal dezimierten. Eigentlich hätte der Major den Russen gleich verhaften sollen.

Die Dolmetscherin übersetzte, was der Russe in jammerndem Tonfall erzählte: „Er hat vor dem Haus, in dem der Präsident schläft, Wache gehalten. Dann hat er etwas gesehen, eine Bewegung. Und er hat geschossen. Und getroffen hat er ein Eichhörnchen, das über die Wiese gelaufen ist.“ Sie deutete auf das tote Tier. „Es tut ihm furchtbar leid. Zu Hause füttert er immer die Eichhörnchen im Park gegenüber von seinem Haus. Er liebt Eichhörnchen.“ Der Russe nickte traurig, so, als habe er die Übersetzung verstanden. Jetzt wusste auch Gasperlmaier, was „Wilka“ bedeutete. Zielen konnte der Mann, das musste man ihm lassen. Im Dunklen ein Eichhörnchen zu treffen, das war eigentlich unmöglich. Der Major stand auf. „Verdammt noch einmal! Die können doch nicht auf alles ballern, was sich bewegt! Das gibt diplomatische Verwicklungen, das sag ich euch! Ich muss jetzt natürlich einen Bericht schreiben!“

Plötzlich fiel sein Blick auf Gasperlmaier. „Was?“, schrie er. „Ihr seid immer noch da?“ Gasperlmaier zuckte mit den Schultern. „Die letzte Order hat gelautet, dass wir uns auf den Boden legen sollen!“ Er deutete auf die drei Burschen hinter sich, die sichtlich erschrocken waren. Der Major nickte. „Schon gut!“, fuhr er wesentlich leiser fort. „Aber jetzt – Abmarsch!“ Gasperlmaier nickte und deutete den dreien, ihm zu folgen. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie der Russe die Flasche neuerlich an die Lippen setzte. Der Schmerz über das getötete Eichhörnchen schien größerer Mengen Trost zu bedürfen.

Draußen regnete es immer noch in Strömen. „Einsteigen! Alle drei hinten!“, kommandierte Gasperlmaier, als sie seinen Dienstwagen erreicht hatten. Bevor er selbst einstieg, warf er noch einen Blick auf die Ferienhäuser, die er von hier aus sehen konnte. Mehrere mobile Scheinwerfer waren jetzt eingeschaltet, die einige Fassaden in grelles Licht tauchten. Und wenn ihn nicht alles täuschte, dann befand sich auf einem Balkon eine Gestalt. Ein Mann. Konnte das der russische Präsident sein? Gasperlmaier stieg ein und startete den Motor.

Vor dem Posten ließ er die drei Burschen laufen und brachte den Dienstwagen noch in die Garage. Immer noch wunderte sich Gasperlmaier über die Szene in der Alpentenn. Ein Bär von einem Mann war untröstlich darüber, dass er versehentlich ein Eichhörnchen erschossen hatte. So viel Gefühl hatte er einem hartgesottenen Sicherheitsbeamten nicht zugetraut.

Der Regen hatte zwar nachgelassen, der Wind jedoch nicht. Gasperlmaier fröstelte auf dem Nachhauseweg unter seiner dünnen Jacke. Ob er gleich nach Hause gehen oder noch irgendwo einkehren sollte? Er war viel zu aufgewühlt, um sich ins Bett zu legen und zu schlafen. Und er würde womöglich nur die Christine stören, oder, wenn die zwei Mädels schon wieder nach Hause gekommen waren …

In der Villa Kirnberger war noch Licht. Die Wachmannschaft war anscheinend schon schlafen gegangen, zu sehen war jedenfalls niemand. Gasperlmaier trat an ein Fenster und konnte die Mali Kirnberger erkennen, die sich mit einem Gast zu unterhalten schien, der vom Vorhang verdeckt war. Gasperlmaier kannte die Mali, sie war etwa in seinem Alter, und während der Schulzeit hatte er sie sehr verehrt. Er konnte sich noch gut daran erinnern, was für eine fantastische Figur sie früher am Badeplatz in ihrem schwarzen Bikini abgegeben hatte. Nähergekommen war er ihr leider nur einmal, als sich kein anderer gefunden hatte, um sie mit nach Hause zu nehmen. Da hatte sie sich auf den Rücksitz seines Mopeds gesetzt und ihm sogar, um nicht hinunterzufallen, die Arme um die Mitte geschlungen. Er hatte wochenlang von dieser Fahrt geträumt.

Vorsichtig klopfte er ans Fenster. Es konnte nichts schaden, nach den Vorfällen bei der Losermaut hier noch einmal zu kontrollieren, ob im Quartier des österreichischen Bundespräsidenten alles in Ordnung war. Die Mali schreckte auf und blickte zum Fenster. „Ich bin’s, Gasperlmaier!“, rief er. Nach kurzem Zögern nickte sie, lächelte und deutete zur Eingangstür. „Schau an!“, sagte sie, als Gasperlmaier eintrat. „So netter Besuch, so spät? Willst die Sperrstunde überprüfen? Da bist ja sonst nicht so genau!“ Sie fasste ihn an den Schultern und drückte ihm zwei Küsse auf die nassen Wangen. Gasperlmaier erschauerte ein wenig, aber nicht der Kälte wegen. „Du bist ja ganz nass! Komm, lass deinen Rock da an der Garderobe und komm mit hinein. Du wirst es nicht glauben, mit wem ich mich gerade unterhalte!“ Gasperlmaier war noch gar nicht zu Wort gekommen, als ihn die Mali mit einem sanften Schubs in die Gaststube beförderte. Der Gast, mit dem sich die Mali unterhalten hatte, war der Bundespräsident.

Gasperlmaier war sich nicht sicher, ob er salutieren sollte, entschied sich schließlich dagegen und sagte einfach: „Grüß Sie Gott, Herr Präsident!“ Er ging zum Tisch und streckte dem Bundespräsidenten die Hand hin. Der erhob sich sogar ein wenig und drückte ihm kurz und nicht allzu fest die Hand. „Schau, schau!“, sagte er und ließ sich wieder auf die Bank sinken. „Die Polizei kümmert sich sogar bei Nacht um mich. Das find ich aber äußerst fürsorglich! Setzen Sie sich doch ein bisserl her zu uns! Die Frau Kirnberger war so freundlich, mir Gesellschaft zu leisten. Sie wissen ja, in meinem Alter schläft man nicht mehr so gut. Braucht man nicht so viel Schlaf. Ja, ja!“ Der Präsident nickte und starrte vor sich hin. Er war, so wusste Gasperlmaier, einer, der sich stets vor dem Reden Zeit ließ, zu überlegen, und durchaus auch Stille ertragen konnte. Das war ihm überaus sympathisch, denn er selbst hatte auch gern Zeit zum Nachdenken, bevor er etwas sagte. „Magst auch ein Glaserl Sauvignon?“, fragte die Mali. Gasperlmaier nickte. Die Mali stellte ein Glas vor ihn hin und setzte sich wieder. „Na, dann Prost!“, sagte der Präsident und hob sein Glas. Gasperlmaier erwiderte, man ließ die Gläser klingen und trank einen Schluck. „Wird denn die Villa nicht bewacht?“, fragte Gasperlmaier und sah sich suchend um. Der Präsident nickte lächelnd. „Natürlich. Vorne und hinten. Die Herren machen das nachts sehr diskret und unauffällig. Aber Ihr Besuch ist ihnen sicher nicht entgangen!“ Gasperlmaier nickte. Dann wurde es wieder still.

„Der Gasperlmaier ist unser Postenkommandant“, erklärte die Mali. „Und jetzt hat er natürlich viel zu tun!“ „Ja, ja“, sagte der Präsident und ließ den Kopf wieder ein wenig sinken. „Sagen Sie, haben wir uns nicht schon einmal getroffen?“, fragte er plötzlich. „Sie sind mir doch gleich so bekannt vorgekommen. War das nicht im Bierzelt?“ Gasperlmaier nickte. „Natürlich. Sie haben mir damals auch schon die Hand geschüttelt!“ „Genau!“, antwortete der Präsident. „Schön war’s. Ihr seid ja wunderbare Gastgeber. Jeden Wunsch lest ihr einem von den Augen ab. Aber sehr laut war’s schon auch, gell? Ich hab’s ja sonst nicht so mit den Bierzelten. Bin ich halt schon ein bissl alt dafür.“ Wieder wurde es still.

„Und Umständ“, sagte der Präsident, „macht’s ihr keine. Nicht einmal mit dem Bundespräsidenten. Ich hab, genauso wie alle, mein Grillhendl mit den Fingern essen müssen.“ Gasperlmaier nickte und überlegte, ob er auch etwas zur Konversation beitragen konnte. „Eigentlich komm ich ja direkt von einem Einsatz“, erklärte er, als ihm die Stille ein wenig zu lang dauerte. „So?“, fragte der Präsident. „Ist denn was passiert?“ „Wie man’s nimmt“, entgegnete Gasperlmaier und erzählte, warum er zum Quartier der Russen gerufen worden war und was sich dort ereignet hatte. Als er geendet hatte, nahm der Bundespräsident seinen letzten Schluck, und Gasperlmaier war schon drauf und dran, sich zu erheben, weil er dachte, der Präsident wolle sich nun zur Ruhe begeben. „Geh, Frau Kirnberger, bringen S’ uns vielleicht noch ein Flascherl? Diesmal einen roten vielleicht? Einen Pinot Noir trink ich ganz gern. Dann können wir noch ein bisserl plaudern!“

Nachdem eingeschenkt und zugeprostet worden war, lächelte der Präsident. „Da war der Mann aber schnell am Drücker! Werden Sie den Vorfall jetzt dem zuständigen Revierjäger melden?“ Gasperlmaier überlegte. Wenn er sich nicht täuschte, dann war der Besitzer des Jagdreviers ein ehemaliger Minister, der sicherlich Verständnis dafür haben würde, dass man wegen eines Eichhörnchens keine diplomatischen Verwicklungen heraufbeschwören wollte. Er schüttelte also den Kopf. „Glaub ich nicht“, sagte er. „Sollten wir vielleicht keinen allzu großen Wirbel machen, wegen dem Viecherl!“ „Viecherl!“, wiederholte der Präsident lächelnd. „Was mich aber interessieren tät, ob der Major dem Innenministerium die Flasche Wodka auf die Rechnung setzt?“

Daraufhin begann der Präsident zu erzählen, wie die Dinge so abliefen, wenn man sich in Russland auf Staatsbesuch befand, und Gasperlmaier merkte jetzt, dass er recht müde war. Als ihm die Mali neuerlich nachschenken wollte, schüttelte er den Kopf. „Ich muss ja morgen wieder …“ Weiter kam er nicht, denn er musste daran denken, dass man ihn morgen Früh wohl gleich wieder zum Überprüfen der Absperrungen und zur Überwachung der Fahrverbote losschicken würde. „Ja, ja!“, nickte der Präsident. „Gehen S’ nur, und danke, dass Sie mir so spät noch Gesellschaft geleistet haben. Wir wollen ja schließlich nicht an der amtlichen Sperrstunde rütteln, gell?“ Er lächelte. „Wobei ich jetzt keinesfalls sagen wollte, dass mir unsere charmante Gastgeberin nicht Gesellschaft genug gewesen wäre, keinesfalls!“ Die Mali lächelte geschmeichelt. „Aber Herr Präsident!“, entgegnete sie kokett. Wenn sie auch ein wenig gealtert war, diese kokette Art war genau die, die Gasperlmaier vor 30 Jahren so fasziniert hatte. Oder waren es schon bald 40? Er stand auf und schüttelte dem Präsidenten noch einmal die Hand. „Auf Wiederschauen. Und passen S’ gut auf mich auf!“, sagte der. „Selbstverständlich, Herr Präsident!“ Gasperlmaier verneigte sich andeutungsweise und ließ sich dann von der Mali hinausbringen. Die drückte ihn kurz an sich. „Pfüat di, Gasperlmaier. Und gut hast du’s gemacht!“ Schon stand er wieder draußen im Regen.

Zu seiner Überraschung brannte im Haus noch Licht. Als er durch die Haustür trat, hörte er im Wohnzimmer Stimmen. Die erstarben allerdings, als er sich bemerkbar machte, indem er Schuhe und Jacke auszog. Ob er einen Blick ins Wohnzimmer werfen oder gleich ins Schlafzimmer hinaufgehen sollte? „Papa?“, hörte er plötzlich eine Stimme. „Ja, ich bin’s!“, antwortete er. Im Wohnzimmer saßen die beiden Mädchen auf der Couch. Vielmehr, die beiden jungen Frauen. Er musste sich selbst ständig daran erinnern, dass seine Kinder erwachsen waren. Sie hatten die Füße unter sich gezogen und hockten einander zugewandt auf dem Sofa. Vor sich hatten sie Weingläser, die beinahe geleert waren. „So spät noch unterwegs, Papa? Wo warst du denn?“ Er räusperte sich. „Ja, also“, begann er. „Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe mit dem Herrn Bundespräsidenten ein paar Gläser Wein getrunken.“ Die Katharina rümpfte die Nase. „Das glaubst du ja wohl selber nicht!“, sagte sie. Erst, nachdem Gasperlmaier die näheren Umstände glaubwürdig dargestellt hatte, blieb den beiden der Mund offen stehen. „Also, nichts gegen den Bundespräsidenten, aber mir ist der Typ doch ein wenig zu behäbig“, meinte die Stefanie. „Der kriegt doch manchmal fast den Mund nicht auf!“ „Ich hätte mir auch jemand Jüngeren gewünscht“, ergänzte die Katharina. „Oder zumindest eine Frau. So wird doch nur das Patriarchat weiter zementiert, indem man einen hinstellt, der an der Oberfläche nett ist, aber doch halt nur ein alter, weißer Mann!“ Gasperlmaier gähnte. „Ich geh jetzt ins Bett.“ Er hatte gar keine Lust auf eine politische Diskussion mit den beiden. „Eigentlich ist das genau die Art von Story, die unsere Leserschaft so liebt!“ Die Augen der Stefanie leuchteten, sie nahm die Beine vom Sofa und beugte sich vor. „Können Sie mir das morgen in allen Details erzählen? Das wär was für unser Magazin!“ Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Das war ganz privat. Das wär ja … ein glatter Vertrauensbruch wäre das. Das dürfen Sie auf keinen Fall tun!“ Die Stefanie zog eine Grimasse. „Aber das wäre so eine super Story geworden: Ganz privat – der Präsident mit dem Landpolizisten!“ „Geh, hör auf!“ Auf Katharinas Stirn erschien eine steile Falte. Wie sie da der Christine ähnelte! „Der Papa hat keine Freude damit, wenn du ihn als einfältigen Landpolizisten abtust! Das ist doch nichts Ehrenrühriges!“ „Schade!“ Die Stefanie streckte die offenen Handflächen nach oben. Anscheinend, so schien Gasperlmaier, wollte sie auf keinen Fall Streit mit der Katharina riskieren.

„Warum …“ Gasperlmaier überlegte, wie er seine Frage formulieren sollte. „Also … wenn Sie über Prominente berichten … so ein Gipfeltreffen, das ist dann doch eher politisch, nicht? Worüber schreiben Sie denn dann?“ Die Stefanie zuckte mit den Schultern. „Morgen ist ja das große Staatsbankett. Und da sind auch allerhand Prominente dabei. Abseits von der Politik. Aus der Wirtschaft, zum Beispiel, und auch Kulturschaffende.“ Ihre Hände wirbelten durch die Luft. „Das vermischt sich dann alles. Promis, Politik, Wirtschaft, Kultur. Ich hoffe schon, dass ich ein paar Fotos und Statements bekomme.“

„Na, dann!“, sagte Gasperlmaier und erhob sich. Er war jetzt wirklich rechtschaffen müde. Es war auch schon Mitternacht vorbei. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen. „Gute Nacht!“

Als er aus dem Wohnzimmer schlich, waren die beiden auf dem Sofa noch näher zusammengerückt.

2

Irgendwas stieß ihn gegen die Rippen. „Franz!“, flüsterte die Christine. „Franz, dein Handy!“ Es dauerte noch ein paar Augenblicke, bis er wusste, wo er war. Er hatte gerade etwas Angenehmes geträumt, das ihm bereits jetzt, Sekunden später, völlig entglitten war. „Mein Handy?“, murmelte er schlaftrunken. „Jetzt? Um diese Zeit?“ „Du hast doch gesagt, du hast Bereitschaft! Und den Notruf auf dein Handy umgeleitet!“ Plötzlich war er selbst ebenso hellwach wie die Christine. Er polterte etwas ungelenk die Stiegen hinunter, sodass er sicher auch die beiden Mädchen aufweckte. Als er sich der Garderobe näherte, begann das Handy erneut zu klingeln.

„Polizei Altaussee!“, meldete er sich, ein wenig außer Atem. „Ja, kommen Sie bitte schnell! Da liegt eine Tote!“ Die Stimme war weiblich und atemlos. Hatte am Ende der Russe nach seiner Flasche Wodka noch ein wenig um sich geschossen und dabei etwas Größeres als ein Eichhörnchen getroffen? „Wo denn?“, fragte er, denn die Anruferin machte keine Anstalten, eine Adresse zu nennen. „Beim Cateringzelt. Das wir da auf Wiese aufgebaut haben, für Einsatzmannschaft und so!“ „Ich bin schon unterwegs!“, rief Gasperlmaier in sein Telefon. „Greifen S’ nichts an und lassen Sie alles so, wie es ist!“ Erst, als er auflegte, sah Gasperlmaier auf dem Handy nach der Uhrzeit. Kurz vor sechs. Draußen war es noch stockfinster, und es regnete. Nur leicht, aber ununterbrochen. Natürlich wusste er, wo sich die Anruferin befand. Auf der Festwiese, da, wo normalerweise während des Kirtags das Bierzelt stand, hatte man ein Cateringzelt aufgebaut, weil ja plötzlich so viele Leute auf einmal zu verköstigen waren. Für die hätten die Wirtshäuser in Altaussee nicht einmal ansatzweise ausgereicht. Und man hatte es gerade dort aufgestellt, weil es alle Anschlüsse schon gab, die man brauchte: Wasser, Strom, Kanal. Das Zelt sah völlig anders aus als das Kirtags-Bierzelt. Es war innerhalb kürzester Zeit aus einem Alugerüst und Kunststoffwänden entstanden, hatte drinnen eine komplette moderne Küche, einen festen Kunststoffboden und eine ordentliche Einrichtung mit Tischen und Stühlen. Es sah eigentlich aus wie ein richtiges Haus. Er hatte selbst gestern sein Mittagessen dort eingenommen.

Damit es schneller ging, nahm er sein Fahrrad, so musste er nicht erst zum Posten laufen, um den Dienstwagen zu holen. Kalt war es, und der Regen prickelte im Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und trat in die Pedale. Das war das Letzte, was er jetzt noch gebraucht hatte. Eine Tote beim Gipfeltreffen. Ob er am besten gleich den Major Teufl anrief? Sollte der sich doch um die großen Sachen kümmern, er hatte Gasperlmaier ja auch gestern nur für einfache Dienste geeignet gefunden. Aber jetzt musste er sich erst einmal die Tote anschauen, es half ja nichts. Als er sein Fahrrad an einen Holzzaun neben dem Cateringzelt anlehnte, war weder von der Anruferin noch von einer Toten etwas zu sehen. Aber drinnen war Licht. Er trat näher und warf einen Blick durch die Scheibe in der Tür. Niemand zu sehen. Aber, so ergab ein Versuch, es war nicht abgesperrt. Als er eintrat, hörte er jemanden schluchzen. „Hallo? Polizei?“, machte er sich bemerkbar. Daraufhin ein lautes Kreischen, das ihn selbst zurückschrecken ließ. „Herrschaftszeiten!“, polterte er. „Was schreien S’ denn so?“ Hinter der Schank tauchte ein verheultes Gesicht auf. „Ich hab mich so erschrocken! Hätte ja sein kennen, dass Merder ist zurick!“ Die junge Frau trug ein weißes Kopftuch und eine weiße Schürze über ihrer dunkelgrauen Kochjacke. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen. Ihren Akzent konnte Gasperlmaier im Moment nicht einordnen. Aber er bereute augenblicklich, laut geworden zu sein. Er trat näher an die Schank heran. „Wie heißen S’ denn?“, fragte er. „Kadlecová. Martina“, flüsterte die Frau. Er schätzte sie auf vielleicht 25. Ein paar dunkle Haarsträhnen lugten unter ihrem Kopftuch hervor, das die Aufschrift der Cateringfirma trug, die das Zelt betrieb. „Und warum sind S’ jetzt schon da?“ „Frihstick!“, sagte sie. „Machen wir Frihstick fir 200 Personen. Polizei, Presse, Security. Sie kennen auch kommen fir Frihstick, denke ich.“ Sie lächelte scheu. Gasperlmaier räusperte sich. „Und wo ist jetzt die Leiche?“, fragte er.

Die Martina deutete zum Küchenbereich. „Haben wir noch Eingang direkt zu Kiche von Wiese. Liegt dort.“ „Herinnen oder draußen?“, fragte Gasperlmaier. „In Kiche. Ich nicht gehe noch einmal hinein!“ Sie schüttelte den Kopf und begann erneut zu schluchzen. Gasperlmaier legte einen Arm um ihre Schultern. „Jetzt brauchen Sie keine Angst mehr zu haben. Ich bin ja da. Und gleich werden noch viel mehr Polizisten kommen. Allerdings nicht zum Frühstück!“

Als er sich gerade in die Küche begeben wollte, öffnete sich die Tür erneut. Zwei, drei Leute, ebenfalls mit Schürzen und Kopftüchern, wollten herein. Er eilte ihnen mit ausgestreckten Armen entgegen. „Tut mir leid, Tatort!“, erklärte er. „Sie können jetzt nicht herein, am besten rufen Sie gleich Ihren Chef an, momentan ist das Zelt gesperrt!“ Die Leute starrten ihn verblüfft an. „Tatort? Ja, was? Wieso?“ Alle redeten durcheinander. Sanft schob Gasperlmaier sie zur Tür hinaus. „Und was ist mit der Martina?“, protestierte einer. „Zeugin! Wird sich alles aufklären! Nur ein wenig Geduld!“

„Haben Sie einen Schlüssel?“ Er deutete auf die Tür. Die Martina nickte. „Dann sperren wir zu!“ Er streckte die Hand nach dem Schlüsselbund aus, den die Martina ihm reichte. Gott sei Dank sperrte gleich der erste der drei Schlüssel, die dranhingen.

„Kennen Sie die Tote?“, fragte Gasperlmaier. Die Martina nickte. „Ist Laura. Laura Lederer. Hilfskechin.“ Jetzt musste es sein, er konnte die Tatortbegehung nicht länger hinausschieben. Die Küche war geräumig, alles blitzte nur so vor Edelstahl, es war sauber aufgeräumt. Die Martina hatte offenbar noch nicht mit den Vorbereitungen für das Frühstück begonnen. Gasperlmaier umrundete den Küchenblock, um zum Hinterausgang zu gelangen. Direkt davor lag zusammengesunken eine weibliche Leiche. Diesmal, so schwor Gasperlmaier sich, würde er alles richtig machen. Zuerst zog er sich ein Paar Einweghandschuhe über und prüfte, ob die Hintertür verschlossen war. Das war sie, Gott sei Dank. So konnte niemand Unbeteiligter herein und den Tatort kontaminieren.

Gasperlmaier nahm die Tote unter die Lupe. Sie lag mit dem Gesicht auf dem Boden, die dunklen Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt. Den Kopf umgab eine Blutlache, die aber bereits eingetrocknet und überdies nicht allzu groß war. Gasperlmaier beugte sich über sie, griff an ihren Hals und hielt inne, um festzustellen, ob noch Herzschlag vorhanden war. Doch sie fühlte sich kalt und reglos an. Er musste einen Würgreflex unterdrücken. Der Hinterkopf der Toten war rechts eindeutig eingedrückt, so sah kein normaler Schädel aus. An der flachen Stelle gab es auch Blutverkrustungen. Die Tote trug Arbeitskleidung, identisch mit der der Martina draußen bei der Schank. Schwarze Sneakers, eine schwarze Hose, eine weiße Schürze und darüber eine graue Jacke. Auf dem Rücken der Jacke war das Logo der Firma aufgestickt. „Fanny’s Food“ stand da. In einem Bogen, darunter eine stilisierte Palme und etwas, das wie ein Cocktailglas aussah. Gasperlmaier musterte die gesamte Küche, ging um die Leiche herum, sah aber nichts, was eine Mordwaffe hätte sein können. An der Wand hingen an mehreren Stellen Magnetschienen mit Messern, doch das Opfer war nicht erstochen worden, so viel schien ihm sicher. Er holte sein Handy aus der Brusttasche und machte ein paar Fotos, ohne in der näheren Umgebung der Toten allzu viel herumzutrampeln. Sonst, stellte er fest, konnte er hier nicht viel tun.

Er begab sich zurück zur Schank und zog einen Hocker heran, um sich gegenüber der Martina hinsetzen zu können. „Sie haben aufgesperrt? Als Erste?“ Die Martina nickte. „Und dann?“ „Dann ich bin zu Hintertiere, wollte ich aufsperren, wegen frische Luft. Da ich sehe …“ Ihr Mund verzog sich erneut zu einem Schluchzen. „Was können Sie mir denn über die Laura sagen?“, fragte Gasperlmaier. „Hat gearbeitet hier als Kichenhilfe. Ist neu in Firma. Erste Mal.“ „Und Sie selber?“ „Bin ich Kechin. Dritte Jahr in Firma. Arbeite ich schon oft in diese Zelt.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war tränennass. „Kennen Sie sie näher?“, fragte Gasperlmaier. Die Martina schüttelte den Kopf. „Hab ich mich nur gewundert, dass Esterreicherin arbeitet als Kichenhilfe. Normalerweise das sind Leite aus Bulgarien, Kosovo, Nigeria. Ist schlecht bezahlt.“ Gasperlmaier nickte. „Und dann haben Sie den Polizeinotruf gewählt?“ Diesmal nickte die Martina. „Es war sicher abgesperrt, als Sie gekommen sind?“, fragte er noch. „Ja! Ganz sicher!“ „Dann“, folgerte Gasperlmaier, „hat jemand nach dem Mord noch das Zelt abgesperrt!“

Er überlegte, wen er jetzt zuerst anrufen sollte. Aber es blieb ihm ohnehin keine Wahl. Er musste den Einsatzleiter, den Major Teufl, verständigen. Der meldete sich gleich nach dem ersten Läuten mit einem etwas ungehaltenen „Ja?“. Gasperlmaier setzte ihn ins Bild. „Himmelherrgott Donnerwetter!“, fluchte Teufl, als er von der Toten erfahren hatte. „Ich kann selber nicht, wir müssen die Präsidenten begleiten. Am besten, Sie rufen gleich jemanden von der Tötung an, ja, nehmen Sie das in die Hand!“ Das war Gasperlmaier nur recht. Er würde die Frau Doktor Kohlross vom Bezirkspolizeikommando in Liezen anrufen, denn die hatte er schon bei mehreren schwierigen Fällen im Ausseerland begleitet und schätzen gelernt.

Gasperlmaier atmete auf, als er nach längerer Wartezeit die Stimme der Frau Doktor Kohlross hörte. „Ja, Franz! Was verschafft mir denn die Ehre – und die Freude?“ „Freude wirst du keine haben“, erklärte er. „Wir haben da eine Tote. Im Cateringzelt. Wegen dem Gipfeltreffen.“ „Wo ist dieses Zelt? Bei euch in Altaussee? Die Tote hat mit dem Gipfeltreffen zu tun?“ Gasperlmaier konnte am Scharren eines Stuhles hören, dass die Frau Doktor aufgesprungen war. „Ja, hier. Da, wo sonst das Bierzelt ist. Und indirekt hat sie schon mit dem Gipfeltreffen zu tun. Sie hat als Köchin gearbeitet. Da, im Cateringzelt.“ „Und was sagt der dortige Einsatzleiter?“ „Dass ich dich anrufen soll!“, schlug Gasperlmaier einen kleinen Bogen um die Wahrheit. „Ja, ich muss noch schnell … nein, für die Schule ist es noch zu früh, ich muss die Sophie aufwecken, fertig machen und zur Oma bringen. Wird ein wenig dauern. Aber wir kommen! Schau, dass niemand den Tatort betritt!“ „Ist gut!“ Die Frau Doktor hatte eine kleine Tochter, aber dass die schon alt genug für die Schule war, hätte Gasperlmaier nicht gedacht. Wie schnell doch die Zeit verging!

Als Gasperlmaier aufgelegt hatte, merkte er, dass die Martina zitterte. „Ich glaub“, sagte er, „Sie brauchen einen Schnaps. Da gibt’s doch sicher welchen?“ „Ich weiß nicht“, flüsterte die Martina. „Vielleicht dann ich falle gleich tot um!“ „Ach was!“ Gasperlmaier machte sich hinter der Bar auf die Suche nach etwas, das er kannte. Da. Ein Marillenbrand. Der würde helfen. Schnapsgläser fand er gleich im Regal unter den Flaschen. Er schenkte sich und der Martina großzügig ein. „Prost!“ Zuerst nippte er vorsichtig. Sakra, das war ein guter Schnaps. „Hinunter damit!“, ermunterte er die Martina, die folgsam ihr Glas hochhob und in einem Zug leerte. „Gleich wird’s besser!“, tröstete er sie. „Das ich hoffe!“, gab sie zurück.

Es klopfte, in der Morgendämmerung erkannte Gasperlmaier draußen eine Polizeiuniform. Den Schlüssel der Martina, so merkte er, hatte er ganz in Gedanken in seine eigene Hosentasche gesteckt. Er eilte zur Tür und sperrte auf. „Guten Morgen!“, grüßte die Beamtin, die eintrat. Sobald Gasperlmaier wahrnahm, dass sie Leutnant war, salutierte er. „Gasperlmaier“, stellte er sich vor. „Postenkommandant in Altaussee. Und das“, er deutete auf die Martina, die zwar nicht mehr zitterte, aber einen etwas glasigen Blick hatte, „das ist die Frau Martina … wie noch?“ „Kadlecová“, sprang sie ein. Gasperlmaier nickte. „Sie hat die Leiche gefunden.“ „Distler“, stellte sich die Beamtin vor. Sie hatte kurze, schwarze Haare und sah, fand Gasperlmaier, ein wenig männlich aus. „Leutnant Distler. Ich bin nur hier, um dem Herrn Major Bericht zu erstatten.“ Gasperlmaier erzählte, was er wusste, und dachte sich, dass er das dem Herrn Major auch selber hätte berichten können. Die Frau Leutnant Distler zog ein Handy aus ihrer Brusttasche, begab sich ans andere Ende des Zeltes und begann ein von vielen Gesten untermaltes Telefongespräch. Wahrscheinlich mit dem Major.

„Noch einen?“, fragte Gasperlmaier. Die Martina schüttelte den Kopf. Sie war jetzt, fand er, schon viel ruhiger geworden. Leutnant Distler trat wieder zu ihnen. „Sie haben die Zuständigen benachrichtigt?“ Gasperlmaier nickte. „Bitte über den aktuellen Stand der Ermittlungen dem Herrn Major Bericht zu erstatten. Wiedersehen!“ Die Frau Leutnant Distler hob kurz zum Gruß den Arm und verließ das Zelt, ohne sich die Leiche angesehen zu haben. Die, so dachte Gasperlmaier bei sich, hätte er nicht gebraucht.

Es war schon hell, als eine ganze Kolonne von Einsatzwagen vor dem Zelt auffuhr. Ob das eine gute Idee war, dessen war sich Gasperlmaier nicht sicher. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden ordentlich aufgeweicht, sodass man schon gestern den Zugang zum Zelt mit einer Ladung Rindenmulch hatte ermöglichen müssen. Und auch jetzt klatschten wieder dicke Tropfen gegen die Scheiben. Er sperrte auf, und noch vor der Frau Doktor strömten die Mitglieder der Tatortgruppe herein. „Wo?“, fragte einer. „Küche!“ Gasperlmaier wies mit einer Handbewegung den Weg. Nahe der Tür hielt er nach der Frau Doktor Ausschau. Als sie eintrat, umarmte sie ihn, wie Gasperlmaier fand, fast stürmisch. Er spürte ihr nasses Gesicht an seiner Wange. „Ich freu mich so, Franz, dass ich dich wiederseh.“ Gasperlmaier räusperte sich. „Der Anlass ist halt …“ „Na ja“, sagte sie. „Ist eben unser Geschäft. Meines, vielmehr.“ Sie legte den Regenmantel ab und warf ihn über eine Stuhllehne. „Wer hat denn die Leiche gefunden?“ „Die Frau Kadlecová!“ Er war froh, dass er sich den Namen gemerkt hatte, und zeigte auf die Martina, die immer noch auf ihrem Hocker hinter der Schank saß. Die Frau Doktor stellte ihr die Fragen, die die Martina ihm schon beantwortet hatte. Sie trug heute Jeans und einen Kapuzensweater, dazu Turnschuhe mit kräftigen Sohlen und gutem Profil. Was Tatorte im Ausseerland betraf, fand Gasperlmaier, hatte sie dazugelernt.

„Eine Identität hätten wir schon einmal“, sagte die Frau Doktor und holte ihr Handy heraus. „Laura Lederer, sagen Sie, heißt die Tote?“ Die Martina nickte. Die Frau Doktor hielt ihr Handy ans Ohr und beauftragte jemanden in Liezen, die Daten zu überprüfen. „Wir warten jetzt, bis die da drinnen fertig sind. Und auf die Frau Doktor Wurm, unsere Gerichtsmedizinerin. Dann gehen Sie auch mit uns hinein. Stehen Sie das durch?“, fragte die Frau Doktor die Martina. Die nickte mit etwas ausdruckslosem Gesicht.

„Komm einmal mit, Franz!“, forderte ihn die Frau Doktor auf. Sie zog ihn ein paar Meter von der Schank weg. „Meinst du, die hat schon etwas getrunken? So früh am Morgen? Sie wirkt so … sediert?“ „Äh … ich …“, zögerte Gasperlmaier. „Du hast ihr einen Schnaps gegeben?“ Sie lächelte. „Ja, ich hab gedacht … sie hat so gezittert, und da …“ Die Frau Doktor nickte. „Schon gut. Ich wollte nur wissen …“

„Guten Morgen!“ Die Frau Doktor Wurm trat ins Zelt. Ihr Gruß klang nicht mehr so euphorisch wie beim letzten Mordfall, als sie, so erinnerte Gasperlmaier sich, ganz begeistert erzählt hatte, dass sie endlich ihre Bandscheibenprobleme losgeworden war. Aber immerhin begann sie nicht gleich wieder zu klagen wie früher. „Eine Köchin, hör ich, haben s’ umgebracht?“, fragte sie. „Wo man doch heute eh so schwer Personal für die Küche bekommt! Ein Jammer! In meinem Lieblingslokal hat gerade der Koch gekündigt, eine Katastrophe, sag ich euch!“ „Wär’s Ihnen lieber, wenn man ein paar Psychologen abschlachtet? Von denen gibt’s nämlich mehr als genug!“ Die Frau Doktor lächelte. „Gott bewahre! Ich wollte niemandem zu nahe treten!“ Die Frau Doktor Wurm hob in einer entschuldigenden Geste ihre Hände. Ob die wusste, fragte Gasperlmaier sich, dass die Frau Doktor Kohlross Psychologie studiert hatte?

„Wir wären fertig!“ Der Leiter der Tatortgruppe kam aus der Küche und schälte sich aus seinem Overall. „Viele Spuren gibt’s da wohl nicht. Da ist blitzblank geputzt worden gestern Abend.“ Die Frau Doktor nickte. „Habt ihr in ihrer Kleidung was gefunden?“ Der Mann nickte und hielt der Frau Doktor einen Plastikbeutel entgegen. „Ein Papiertaschentuch, einen Beleg von einem Supermarkt in Bad Aussee und ein paar Tabakbrösel.“ Die Frau Doktor nahm den Beutel stirnrunzelnd in Empfang. „Also wohl Raucherin, die ihre Zigaretten selbst gedreht hat. Die Ausrüstung dafür fehlt aber. Keine Papiere, kein Handy, keine Bankomatkarte, keine Schlüssel?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Da war jemand gründlich!“ „Habt ihr die Bratpfannen alle durch? Und die Kochtöpfe? Irgendwas dabei, das als Mordwaffe in Frage kommt?“ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Haben wir alles mitgenommen. Muss ins Labor. Auf den ersten Blick – alles sauber!“ „Na, was soll’s!“, sagte die Frau Doktor. „Gehen wir Leiche schauen!“