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Herbert Dutzler

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Beschreibung

LEICHENTEILE IM TOPLITZSEE - EIN RASANTER ALPENKRIMI MIT INSPEKTOR GASPERLMAIER Der Gasperlmaier hat schon viel erlebt - aber so etwas Furchtbares ist ihm noch nie untergekommen: Leichenteile im malerischen Toplitzsee. Das Verbrechen hat offenbar mit dem jährlichen Fischessen des Altausseer Skiclubs zu tun. Doch als grausamen Killer kann Gasperlmaier sich keinen seiner Skiclub-Freunde vorstellen. Mit dem liebenswürdigen Inspektor hat Herbert Dutzler die Herzen der Krimi-Fans erobert: Spannung, umwerfende Komik und originelle Figuren im gemütlichen Ausseerland. **************************************************************************************************************** LESERSTIMMEN: >>Eine fesselnde Krimihandlung mit reizenden Figuren, schwungvoll und flüssig erzählt - für mich der seit langem beste Alpenkrimi!<< >>Immer wieder ein Vergnügen, dieser Gasperlmaier! Ich konnte es kaum erwarten, bis der 4. Band Letzter Saibling erschienen ist. Seit dem ersten Krimi Letzter Kirtag bin ich dem liebenswerten Inspektor verfallen. Meinen Sommerurlaub verbringe ich regelmäßig in Altaussee, und wenn ich gerade nicht dort bin, fühle ich mich dank Herbert Dutzlers atmosphärischen Romanen ins vertraute Salzkammergut versetzt. Die authentische Beschreibung der Schauplätze zeugt von wahrer Erzählkunst!<< **************************************************************************************************************** PREISGEKRÖNTE KRIMIS: 2014 vergab der Hauptverband des österreichischen Buchhandels 3 GOLDENE BÜCHER für die Krimi-Bestsellerreihe von Herbert Dutzler. BISHER ERSCHIENEN SIND: * Letzter Kirtag * Letzter Gipfel * Letzte Bootsfahrt * Letzter Saibling * NEU: Gasperlmaier - Die ersten 3 Altaussee-Krimis in einem Band

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Herbert Dutzler

Letzter Saibling

Ein Altaussee-Krimi

1

So einen Fund hätte Gasperlmaier lieber nicht begutachten müssen. Wo es doch so ein wunderschöner Sommertag war. Nicht zu kalt, aber auch nicht zu warm. Ein kaum spürbares Lüfterl wehte vom See herauf und ließ die Sonnenschirme im Gastgarten der Fischerhütte nachlässig flattern, und von der Schwüle der vergangenen Tage war seit dem nächtlichen Gewitter nichts mehr zu spüren. Gasperlmaier hatte sich nach dem grausigen Fund setzen müssen. Ein solcher Einsatz war ja wirklich nicht alltäglich. Schon gar nicht hier, am Toplitzsee, wo ohnehin ein Tauchverbot galt. Für die nächsten 99 Jahre, so hatte es zumindest seitens der Bundesforste geheißen, die den See verwalteten. Nur Wissenschaftler durften hin und wieder in den See. Und gerade vor dem Denkmal des Erzherzogs Johann, gerade dort hatte der Taucher seinen grauenhaften Fund an Land legen müssen. Er nahm seine Dienstmütze ab und wischte sich über den Nacken, weil er nun doch zu schwitzen begonnen hatte.

So einen Fall hatten sie hier hinten noch niemals gehabt, zumindest, soweit er sich erinnern konnte. Und an so was hätte er sich sicher erinnern können. Und das gerade heute, wo er allein hierher hatte fahren müssen. Dem Friedrich war schlecht gewesen, und so hatte er gemeint, Gasperlmaier solle zunächst einmal alleine an den Toplitzsee fahren, er werde nachkommen, sobald er sich besser fühle. Gasperlmaier hatte den Friedrich Kahlß, seinen Postenkommandanten, ratlos angestarrt und sich Gedanken über dessen Gesundheit gemacht. Immer unbeweglicher war der Friedrich in den letzten Jahren geworden, und seine stetig anwachsende Leibesfülle hatte es fast jedes Jahr notwendig gemacht, um eine neue Uniform anzusuchen. Sogar zum Polizeiarzt war er schon vorgeladen worden, und der hatte ihm eine Kur empfohlen. Dort, so hatte der Arzt gemeint, würde man sich auch um seine völlig verfehlten Ernährungsgewohnheiten kümmern. Der Friedrich hatte hingegen nur abgewinkt und Gasperlmaier erklärt, auf eine Kur habe er weder Lust und schon gar keine Zeit dazu. »In einem Jahr geh ich eh in Pension, das werd ich schon noch überstehen!«, hatte er gemeint, und sich hinter seine Autozeitschrift zurückgezogen. Der Friedrich war nämlich ein leidenschaftlicher Leser aller möglichen Motormagazine, während er im wirklichen Leben mit einem heftig rauchenden Mercedes aus den siebziger Jahren, den er von seinem verstorbenen Onkel geerbt hatte, das Auslangen fand.

An diesem Morgen hatte allerdings Gasperlmaier auch gefunden, dass der Friedrich besonders schlecht aussah. Sein Gesicht war stark gerötet gewesen, und sein Atem war heftig und keuchend gegangen, als der Anruf gekommen war. Der hatte natürlich wenig dazu beigetragen, den Blutdruck des Friedrich unter die Notfallmarke zu drücken. Gleich nachdem er aufgelegt hatte, musste der Friedrich zwei Tabletten schlucken. »Eine für den Blutdruck, und die andere wegen den Herzrhythmusstörungen«, hatte er Gasperlmaier erklärt. So hatte der sich also allein in den Streifenwagen gesetzt und war über Aussee an den Grundlsee gefahren, danach an dessen hinteres Ende nach Gössl, am Gasthof Veit vorbei, und dann die Straße an der Gösslwand entlang, die für den gewöhnlichen Autoverkehr gesperrt war.

Als Gasperlmaier seinen Streifenwagen neben dem Kleinbus der Taucher abstellte, winkte ihm jemand schon von Weitem. Als sich Gasperlmaier näherte, sah er, dass Pressluftflaschen und anderes Tauchzubehör am Ufer lagen. Der Taucher, der sie von der Fischerhütte aus angerufen hatte, trug noch immer seinen Neoprenanzug, hatte aber seinen Oberkörper daraus befreit. Er war trotz seines gruseligen Fundes nicht einmal aufgeregt. So etwas, meinte er, komme bei Tauchgängen schon dann und wann einmal vor. Auch ganze Leichen, die noch in ihrem Tauchanzug steckten, habe er schon zu bergen gehabt.

Den Fund, so konnte Gasperlmaier sehen, hatte er bereits mit einer grünen Plastikplane abgedeckt. In respektvoller Entfernung standen ein paar Spaziergänger herum, die untereinander flüsterten und Gasperlmaier erwartungsvoll entgegensahen. Der aber schlug zunächst ein paar Latten in den weichen Boden um die Uferstelle und spannte ein Polizeiabsperrband. »Eilig hast du’s wohl nicht!«, meinte der Taucher grinsend.

Tatsächlich wollte es Gasperlmaier vorsichtig und überlegt angehen. Ein abgetrenntes Bein, das womöglich monatelang im See gelegen hatte, das musste er nicht sofort sehen. Dem, dem das Bein fehlte, half es ohnehin nicht mehr, wenn Gasperlmaier sich beeilte. Sorgfältig knüpfte er den letzten Knoten und zückte seinen Notizblock. »Zuerst nehmen wir einmal die Personalien auf«, meinte er. Natürlich, so musste er sich selbst eingestehen, war das nur eine recht behelfsmäßige Verzögerungstaktik. Irgendwann würde er das Bein in Augenschein nehmen müssen, daran führte kein Weg vorbei. »Schürtz Thomas. MSc. Und da ist meine Lizenz drinnen. Und mein Tauchschein. Und die Genehmigung für da.« Er deutete auf das reglose, fast schwarze Wasser des Sees.

Gasperlmaier meinte zunächst, der Taucher habe seine Papiere im See versenkt, dann aber hielt ihm der ein durchsichtiges, anscheinend wasserdichtes Täschchen hin, in dem sich wohl die genannten Dokumente befanden. Er fragte zwar sich selbst, nicht aber den Thomas Schürtz, was »MSc« bedeuten mochte. »Wir sind vom Biologie-Institut der Uni Salzburg. Wegen der Grünalgen. Sie wissen ja, die die sauerstoffführende von der sauerstofffreien Wasserschicht trennen. In etwa 20 Metern Tiefe, nämlich …« »Ja, ja.« Gasperlmaier winkte ab und notierte sich den Namen. »Wo, genau, haben Sie den Hax …, ich meine, das Bein, gefunden?« Der Herr Schürtz wies etwas vage auf eine Stelle im See, direkt vor ihnen. »Da draußen. Uferentfernung vielleicht dreißig, vierzig Meter. Tiefe siebzehn Meter.« Er deutete auf eine wuchtige Digitalanzeige an seinem rechten Handgelenk. Gasperlmaier nickte und notierte. »Wollen Sie sich den Haxen nicht einmal anschauen, Herr Inspektor?« Der Taucher grinste. Wahrscheinlich hatte der Gasperlmaiers Taktik schon durchschaut.

Dem wurde ein wenig warm unter seiner Jacke. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Plane zurückzuschlagen. Er blickte auf. Vier oder fünf Leute standen nun hinter den Absperrbändern. Darunter ein Bub von vielleicht neun oder zehn Jahren. Der, so dachte Gasperlmaier bei sich, musste nun wirklich nicht dabei sein, wenn man Leichenteile begutachtete. »Wenn Sie bitte weitergehen würden!« Gasperlmaier wedelte mit den Armen, um seine Bitte zu unterstreichen. Die beiden Frauen in der Gruppe nahmen den Buben an den Händen und zogen ihn mit ängstlichen Gesichtern weg vom Absperrband, während ein klein gewachsener, älterer Mann mit weißem Bart einfach stehen blieb und Gasperlmaier herausfordernd anstarrte. »Ich bin hinter der Absperrung. Das ist ein öffentlicher Weg!«

Diese Typen kannte Gasperlmaier. Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, um zu beweisen, dass man ein ganzer Kerl war, der sich von der Staatsmacht nicht einschüchtern ließ. Gasperlmaier seufzte und wandte sich von dem Giftzwerg ab. »Wir könnten die Plane so anheben, dass er nichts sieht«, schlug der Thomas Schürtz vor. Der musste ja in seinem Neopren fürchterlich schwitzen, dachte Gasperlmaier. Gemeinsam hoben sie die Plane auf der Seeseite an zwei Ecken an. Ein Schwarm Fliegen stob auf. Gasperlmaier bemühte sich, seinen Blick auf den See hinaus zu richten, doch es gelang ihm nicht. Fast magnetisch wurden seine Blicke von dem angezogen, was da unter der grünen Abdeckung zum Vorschein kam. Ein Bein. Ein Männerbein. Erkennen konnte man das nur an den Resten der grünen Stutzen, die aus dem zerschlissenen Bergschuh herausragten. Sonst hatte es nur mehr wenig Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körperteil. Gasperlmaier meinte, etwas zu sehen, das sich an dem Bein bewegte. Weit oberhalb des Knies, so schien Gasperlmaier, musste es abgetrennt worden sein, denn man konnte erkennen, dass das Bein etwa in der Mitte einen Winkel bildete.

Eine Wolke üblen Gestanks erfasste Gasperlmaier, sodass er die Plane rasch fallen ließ und sich abwandte. Er trat ein paar Schritte zur Seite und atmete tief durch. Der Zwerg stand noch immer an der Absperrung. Nun grinste er. »Wohl ein Weichei, was? Unglaublich! Und so was ist bei der Polizei!« Gott sei Dank, so dachte Gasperlmaier bei sich, war der Mann nicht von hier. Zwar trug er einheimische Tracht, sein Idiom aber verriet, dass er aus dem Norden stammte. Von weit oben im Norden.

Gasperlmaier fühlte eine noch sanfte Wut in sich aufsteigen. »Schleichen’S Ihnen!«, fuhr er den Mann an. »Sonst nehm ich Sie vorläufig fest! Vielleicht haben Sie ja die Leiche da zerlegt!« Der Mann trat entrüstet einen Schritt zurück. »Erlauben Sie mal! Wo sind wir denn hier!« Der Herr Schürtz trat heran und stellte sich hinter Gasperlmaier. »Am Toplitzsee, der Herr. Und ich glaube, es ist gescheiter, Sie tun, was der Herr Inspektor sagt. Der ist nämlich ein ganz scharfer!« Gasperlmaier nickte. Allerdings, so stellte er bei einem Blick zu seinem Auto hinüber fest, waren bereits weitere Leute auf dem Weg zu ihnen herüber. Ganz klar – wenn sich ein Polizeiauto in diese Idylle verirrte, dann musste man schon Nachschau halten, was denn eigentlich der Grund des Einsatzes war. Sonst verpasste man womöglich was. Während sich der Herr aus dem Norden kopfschüttelnd trollte, holte Gasperlmaier sein Handy aus der Brusttasche. »Vergessen Sie’s!«, meinte der Herr Schürtz. »Was glauben Sie, warum ich von der Fischerhütte aus angerufen habe? Kein Netz!«

Ein durchtrainierter junger Mann in Badeshorts näherte sich der Absperrung. Gasperlmaier wollte ihn schon verscheuchen, als er sich vorstellte. »­Jungnickel. Ich war mit ihm da tauchen. Ich hab mich nur schnell umgezogen.« Er schüttelte Gasperlmaier kräftig die Hand. »Sagen Sie«, sagte Gasperlmaier, »können Sie beide hier aufpassen, während ich telefoniere? Ich glaub, da braucht’s die Kripo und die Spuren­sicherung.« »Passt schon!«, nickte der Herr Schürtz. »Wir lassen niemanden her!«

Gasperlmaier hatte es eilig. Vor allem deswegen, weil er so schnell wie möglich die Verantwortung für diese Leiche loswerden wollte. Er würde sofort die Frau Doktor Kohlross anrufen. Die arbeitete am Bezirkspolizeikommando in Liezen und hatte schon mehrmals Ermittlungen hier im Ausseerland geleitet. Gasperlmaier hatte sie dabei gut kennen gelernt, war er doch in der Regel als ortskundiger Begleiter abgestellt worden, um der Frau Doktor die Wege zu weisen und sie über ortsübliche Gegebenheiten zu informieren.

Zu seinem Glück war das Telefon in der Fischerhütte frei. »Was habt’s denn gefunden?«, wollte der Konrad, der Wirt, neugierig wissen. Gasperlmaier winkte ab. Ärgerlich scheuchte er ihn beiseite, nachdem die Verbindung zustande gekommen war, denn der Konrad hatte zunächst keinerlei Anstalten gemacht, sich diskret zu entfernen. Überhaupt war hier an ein vertrauliches Gespräch nicht zu denken. Servierpersonal und Gäste gingen ein und aus, jeder konnte mithören. Gasperlmaier nahm sich vor, sich kurz zu fassen. »Die Frau Doktor ist zwar im Haus, aber sie ist in einer Besprechung. Wenn Sie vielleicht später …« Gasperlmaier unterbrach die Dame am Telefon. »Hören Sie, es ist äußerst dringend. Ein Notfall.« Gasperlmaier hörte hinter sich Schritte. »Eine Leiche! Zumindest ein Teil davon!«, flüsterte er in die Muschel, die er mit seiner Hand so weit wie möglich abgedeckt hatte. »Könnten Sie vielleicht ein bisschen lauter, ich versteh Sie so schlecht!« Gasperlmaier riss der Geduldsfaden. »Hören Sie, wir haben Leichenteile gefunden!«, schrie er nun fast. »Ich brauch die Frau Doktor! Jetzt! Und wenn Sie nicht sofort …« Gasperlmaier hielt inne und schnaufte heftig. Was geschehen würde, wenn sein Gegenüber nicht sofort die Frau Doktor ans Telefon holte, das wollte ihm jetzt, so spontan und in der Eile, nicht und nicht einfallen. Kommunikativ war Gasperlmaier eben nicht der Schnellste und schon gar nicht der Einfallsreichste. Bis er in seinem Kopf die Sätze grammatikalisch einigermaßen richtig zusammengedrechselt und sich dann noch entschieden hatte, ob sie wert waren, geäußert zu werden, hatten seine Gesprächspartner sich oft schon abgewandt. Vor allem, wenn er im Stress war, passierte ihm das.

Zu seinem Glück aber hörte er nach wenigen Sekunden die vertraute Stimme der Frau Doktor am Hörer. »Gasperlmaier? Ein Notfall, höre ich?« »Ja, Frau Doktor.« Er entspannte sich ein wenig. »Renate«, erinnerte sie ihn. Gasperlmaier hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie seit einiger Zeit per du waren. Eigentlich war das Gasperlmaier gar nicht recht gewesen. Zwar bewunderte er die Frau Doktor über alle Maßen, aber aus lauter Respekt hatte er sie, bildlich gesehen, auf ein Podest gehoben, wo sie für ihn unerreichbar war und bleiben sollte. So auf Du und Du mit ihr zu sein machte ihm ein wenig Angst. »Ja. Renate. Wir haben da einen Haxen, ich meine, ein Bein gefunden.« Gasperlmaier hatte ganz darauf vergessen, dass er ja sozusagen in der Öffentlichkeit sprach. Draußen im Gastgarten fingen die Leute an, unruhig zu werden. Gemurmel kam auf. »Zahlen, zahlen!«, schwirrte es durch die Luft.

»Wo bist du denn überhaupt?«, fragte die Frau Doktor. »Ja, am Toplitzsee. Wenn du dringend kommen könntest. Und Spurensicherung und alles.« »Sag, Gasperlmaier, besteht nicht die Möglichkeit, dass noch weitere Leichenteile auftauchen?« Er fragte sich, woher er das wissen sollte. Dennoch fielen ihm noch wichtige Einzelheiten ein. »Dann noch Taucher! Zum Absuchen vom See!« Die Frau Doktor reagierte schnell, wie er es gewohnt war. »Vierzig Minuten, Gasperlmaier. Mit der ganzen Mannschaft. Schneller können wir nicht. Bis dahin musst du allein die Stellung halten. Mach’s gut!« Sie legte auf.

Gasperlmaier tat es ihr gleich, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und trat in den Sonnenschein hinaus. Ganze Scharen von Ausflüglern schienen auf der Flucht aus dem Gastgarten und auf dem Weg zum Erzherzog-Johann-Denkmal hinüber zu sein, wo die beiden Taucher links und rechts der Plane Posten bezogen hatten. Die vierzig Minuten, so fürchtete Gasperlmaier, würden lang werden. Er setzte sich auf die Hausbank vor der Fischerhütte. Schließlich war das Telefon da drinnen im Vorhaus seine einzige Verbindung zur Außenwelt, und die Dienstpflicht verlangte von ihm, dass er sich für einen eventuellen Rückruf bereithielt. Außerdem konnte er so vermeiden, vor dem abgetrennten Haxen Wache zu halten. Er nahm seine Mütze ab und legte sie neben sich hin.

»Was habt’s denn da drüben unter dem Fetzen?«, drang plötzlich eine Stimme an Gasperlmaiers Ohr. Auf der anderen Seite der Eingangstür saß der Köberl Kilian. Gasperlmaier hatte ihn gar nicht gesehen. Der Kilian hob sein Bierglas und prostete Gasperlmaier zu. Seltsam, dachte Gasperlmaier bei sich. Der Kilian war der einzige Mensch, den er kannte, dem ein Bein fehlte. Und ausgerechnet dann, wenn sie im Toplitzsee eines fanden, da begegnete er ihm. Aber dem Kilian seines, so überlegte er, das konnte es unmöglich sein. Das war ja schon viel länger her. Trotzdem war es ihm gerade dem Kilian gegenüber peinlich, davon zu sprechen, dass man ein Bein gefunden hatte. Wo der doch so dringend eines hätte gebrauchen können. Ein vielversprechender Skirennläufer war der Kilian gewesen, der einzige, den Altaussee je hervorgebracht hatte. Als zehnjähriger Bub war er schon die Loserabfahrt im Schuss heruntergedonnert, dass alle anderen Skifahrer Reißaus nehmen hatten müssen, um nicht niedergestoßen zu werden. Einmal, so erinnerte er sich, hatte der Friedrich dem Kilian sogar die Saisonkarte abnehmen müssen, weil er es gar zu arg getrieben hatte. Der Skiclubtrainer persönlich hatte auf dem Posten erscheinen müssen, um die Sache zu klären. Bis in den Europacup hatte der Kilian es geschafft, und dann war halt diese tragische Geschichte passiert, die ihm sein Bein gekostet hatte. Und das noch dazu bei ihm daheim, auf dem Loser. Bei einem ganz unwichtigen Dorfrennen. Da war dann natürlich auch kein Notarzt vor Ort, und dann war es eben so gekommen, dass der Kilian mit einem Bein weniger aus dem künstlichen Tiefschlaf aufgewacht war, weil er die Liftstütze gerade ein wenig oberhalb des orangefarbenen Polsters getroffen hatte. Aber dass Skifahrer so hoch fliegen könnten, hatte damals wohl keiner geahnt. Zwar fuhr er immer noch Skirennen, jetzt bei den Behinderten halt, und er hatte zahllose Pokale dabei gewonnen – aber ganz verwunden hatte er das jähe Ende seiner Karriere nicht. Obwohl er sich beinahe jeden Tag den Großteil seiner Pokale anschauen konnte, die hier in der Fischerhütte in einer Vitrine verstaubten. In der Sommersaison steuerte der Kilian nämlich die Plätte, die die Urlauber über den Toplitzsee hinweg zum Kammersee brachte, dem Ursprung der Traun. Dorthin konnte man nur in der Plätte gelangen, denn der Toplitzsee war von derart steilen Felswänden umgeben, dass kein Wanderweg am Ufer entlangführte. Höchstens Jägersteige gab es in den Felswänden irgendwo, doch Gasperlmaier hatte davon wenig Ahnung. Seine Höhenangst hinderte ihn daran, die felsigeren Gebiete des Ausseerlandes näher in Augenschein zu nehmen.

Die Kellnerin war aus der Tür getreten und sah nach links und rechts. Schließlich sprach sie Gasperlmaier an. »Vertreibt’s uns die Gäste, oder? Was ist denn eigentlich los, da drüben? Sie deutete hinüber zum Ufer vor dem Denkmal, wo sich schon wieder etliche Leute angesammelt hatten. Da sich dort aber rein gar nichts tat, waren andere auch schon wieder auf dem Rückweg. »Bringst uns einfach einmal zwei Bier!«, lächelte der Kilian verschmitzt. »Dann hast wieder was zu tun.« Die Kellnerin zischte verächtlich, trollte sich aber tatsächlich zur Schank.

»Also, was verstecken die Taucher da drunter? Irgendeine biologische Sensation? Ich kenn die zwei ja, sind schon ein paar Tage da, die Burschen von der Universität.« Gasperlmaier zuckte hilflos mit den Schultern. »Der eine«, begann Gasperlmaier, »der hat einen Teil von einer Leiche herausgetaucht.« Er atmete tief durch. »Was für einen denn? Am Ende gar einen Kopf?« Der Kilian gab sich mit eher allgemein gehaltenen Informationen anscheinend nicht zufrieden. Gasperlmaier seufzte. Unwillkürlich lenkte er seine Blicke auf die Prothese des Kilian. »Einen Haxen haben wir gefunden, wenn du’s unbedingt genau wissen musst. Und die Kriminalpolizei ist schon unterwegs. In ein paar Minuten wimmelt’s hier von Polizeiautos und Leuten.« »Hoffentlich!«, mischte sich die Kellnerin ein und stellte ein Bier vor Gasperlmaier hin. Etwas heftig, wie der fand. Ein wenig von der kostbaren Flüssigkeit war übergeschwappt und rann in Richtung Tischkante. Gasperlmaier blickte dem Weg des Rinnsals versonnen nach.

»Hörst, den könnt ich brauchen!« Der Kilian lachte schallend und nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. »Mir fehlt schon lang einer! Aber der meine ist es nicht! Der ist im Krankenhaus in Schladming geblieben. Wer weiß, was die damit gemacht haben.« Der Kilian, fand Gasperlmaier, bewies Galgenhumor. Und so redete Gasperlmaier weiter. »Den würdest du nicht haben wollen, Kilian. Der schaut ganz übel aus. Und einen Saibling aus dem Toplitzsee werd ich in der nächsten Zeit jedenfalls nicht essen. Wenn ich daran denk, wovon sich der womöglich ernährt hat.« Gasperlmaier musste das Bild des zerfressenen Unterschenkels, das er selbst heraufbeschworen hatte, mit Gewalt aus seinem Kopf verdrängen. Ein Schnaps, fand er, wäre dazu gut geeignet gewesen. Aber wenn die Frau Doktor kam, und er saß hier mit einem Schnaps und einem Bier? Das würde keinen guten Eindruck hinterlassen, und der war Gasperlmaier wichtig, soweit es die Frau Doktor betraf.

»Hast dir schon Gedanken gemacht, zu wem der Haxen gehören könnt?«, fragte der Kilian nach. »Weil, wenn der schon jahrelang da drinnen herumgesumpert wäre, da hätten die Taucher höchstens noch einen gut polierten Knochen gefunden, mein Lieber!« Da­rüber hatte sich Gasperlmaier tatsächlich noch keinerlei Gedanken gemacht. So auf die Schnelle fiel ihm weder jemand ein, dem in letzter Zeit ein Bein abhandengekommen war, noch konnte er sich daran erinnern, dass jemand ganz und gar aus dem Ausseerland verschwunden wäre, ohne dass man gewusst hätte, wohin. Als Polizist hätte er schließlich etwas davon mitbekommen müssen.

»War noch ein Schuh dran, oder ein Socken?« »Ein alter Bergschuh, und ein grüner Stutzen.« Bevor Gasperlmaier noch daran dachte, dass er diese Informationen lieber für sich behalten hätte sollen, waren sie schon heraußen. Über gewisse Dinge, die einen schwer belasteten, musste man wohl reden. Seine Frau, die Christine, hatte dafür sogar ein Sprichwort, das sie manchmal gebrauchte, wenn der sonst ­schweigsame Gasperlmaier mehr als das unbedingt Notwendige erzählte, weil er es sonst nicht aus seinem Schädel herausbrachte. »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über«, sagte sie dann. Angeblich hatte das ­Martin Luther einmal gesagt. Die Christine war nämlich ziemlich gebildet. Sie war Volksschullehrerin, wusste aber weit mehr, als sie den Kindern in der Altausseer Volksschule jemals hätte beibringen können. Was Gasperlmaier manchmal ein wenig wurmte, war vor allem, dass sie weit mehr wusste als er selber. Aber er hatte damit zu leben gelernt.

»Ein Bergschuh, und ein grüner Stutzen?«, wiederholte der Kilian und scharrte mit seiner Prothese im Kies unter seinem Tisch. »Dann war’s auf jeden Fall ein Mann. Aber ein Sommerfrischler kann’s genau so gut gewesen sein als wie ein Einheimischer.« Gasperlmaier hoffte inständig, sowohl Mörder als auch Opfer würden weit weg, am besten im Ausland, zu finden sein. Denn dann hätten sie hier herinnen sicherlich weniger Scherereien mit den ganzen Ermittlungen.

Gasperlmaier sah auf die Uhr. Wann die Frau Doktor wohl endlich kommen würde? Er trank sein Bier aus und erhob sich. Besser, sie musste ihn nicht erst im Gastgarten abholen, wenn sie endlich auftauchte. »Könnt aber auch ein Wilderer gewesen sein. Oder ein Jäger«, fuhr der Kilian fort. »Wildererdrama. Der Jäger erschießt den Wilderer, oder umgekehrt, und bei einer Holzknechthütte schnappt er sich die Motorsäge – und ruck, zuck …« »Jetzt hörst aber auf!«, unterbrach ihn Gasperlmaier ein wenig barsch. »Da kann einem ja ganz schlecht werden, bei deinen Gruselgeschichten! Pfüat di!« Gasperlmaier reichte dem Kilian noch die Hand und empfahl sich dann. Der Kilian blieb, still vor sich hin lächelnd und mit der Prothese im Kies scharrend, zurück.

2

Gasperlmaier hatte dem Köberl Kilian nicht zu viel versprochen. Eine Stunde später war das Gelände um den Fundort weiträumig abgesperrt, keine zufälligen Urlauber oder absichtlichen Neugierigen konnten mehr in die Nähe der Uferstelle am Erzherzog-Johann-Denkmal vordringen, und auf dem Gelände zertraten zahlreiche Polizistinnen und Polizisten, ob mit oder ohne Uniform, womöglich geschützte Pflanzen. Um den Fund knieten zwei Gestalten in ­Plastikoveralls. Was sie dort suchten oder bargen, war weit jenseits von Gasperlmaiers ­Vorstellungsvermögen. Gott sei Dank.

»Schade, Franz, dass wir uns immer bei so unangenehmen Anlässen begegnen.« »Besser als gar nicht!«, entfuhr es Gasperlmaier, dem im gleichen Moment klar wurde, dass er da natürlich ein bisschen was von der Bewunderung verraten hatte, die er für die Frau Doktor hegte. Dass sie ihn nun allerdings »Franz« nannte, war ihm gar nicht recht. Obwohl sie ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass für sie Kosenamen oder sinnlose Kümmerformen von Vornamen nicht in Frage kamen. Und ihn beim Familiennamen nennen, wie die meisten es taten, das wollte sie auch nicht. Gott sei Dank wusste sie nicht, dass im Taufschein noch ein »Xaver« hinter dem »Franz« stand.

Die Frau Doktor trug heute wieder eines ihrer entzückenden Kostüme, diesmal hatte sie sich sogar zu einem zartrosa Ton vorgewagt und auch nicht davor zurückgescheut, sich dem Toplitzsee in Stöckelschuhen zu nähern, ebenfalls in einem zarten Rosa. Genauso wie der Lippenstift. Ihre dunklen, über die Schultern fließenden Haare mit den orangeroten Strähnen drin harmonierten zwar nicht so sehr damit, fand Gasperlmaier, aber da verstand er wohl zu wenig davon.

Die beiden hatten sich auf den mit groben Steinplatten gepflasterten Platz rund um das Denkmal zurückgezogen, um eine erste Lagebesprechung abzuhalten. Zu ihnen trat die Frau Doktor Wurm, die Gerichtsmedizinerin. Sie hatte ihren weißen Mantel ausgezogen und über den Unterarm geworfen. Auch die Frau Doktor Wurm war eine durchaus attraktive Person, fand Gasperlmaier, auch wenn sie an die Frau Doktor nicht heranreichte. Größenmäßig zwar überragte sie diese um einige Zentimeter, aber von der Klasse her musste Gasperlmaier seiner Frau Doktor eindeutig den Vorzug geben.

Die Frau Doktor Wurm stützte mit einer Hand ihr Kreuz ab und stöhnte. »Die Bandscheiben!« »Was können Sie uns denn sagen?«, führte die Frau Doktor zum Thema zurück. »Ein schrecklicher Anblick. Sie können sich ja denken – die Fische. Nicht nur die Piranhas am Amazonas fressen alles, was ihnen vor die Zähne kommt – unsere Forellen und Saiblinge sind auch keine Kostverächter. Also: Abtrennung, soweit man das hier am Fundort sagen kann, recht fachgerecht, wahrscheinlich mit einer gut geschliffenen Axt oder etwas Ähnlichem. Einen Unfall schließe ich aus, das sieht ganz anders aus, wenn jemandem eine Extremität durch einen Absturz abgeschlagen oder bei einem Unfall ausgerissen wird.« Gasperlmaier war froh, dass er schon länger nichts gegessen hatte, was hätte hochkommen können. Sein Problem war, dass er sich alles, was erzählt wurde, immer gleich so bildlich vorstellen musste, und so sah er Bergsteiger über senkrechte Wände zu Tode stürzen und auf scharfkantigen Felsen aufschlagen. Oder auch Motorradfahrer, denen diverse Körperteile durch Lichtmasten oder Leitschienen abgetrennt worden waren.

Die Frau Doktor seufzte. »Also müssen wir von Mord ausgehen.« »Nicht notwendigerweise«, gab die Frau Doktor Wurm zu bedenken. »Ich habe auch schon von vereinzelten Fällen gelesen, wo Leute jemanden, der eines natürlichen Todes gestorben war, zerteilt und versteckt haben. Das sind aber schon ganz spezielle Psychosen.« »Na, wahrscheinlich ist das gerade nicht!«, gab die Frau Doktor zurück. »Wie lange das Opfer, also, das Bein, schon tot ist, und ob die Abtrennung post mortem erfolgte …?« Sie ließ die Frage unvollständig ausklingen, und die Frau Doktor Wurm schüttelte den Kopf. »Unmöglich, das hier festzustellen. Schön wär’s natürlich, wenn wir noch mehr Körperteile hätten, das würde uns die Arbeit einigermaßen erleichtern.« Schön, so dachte Gasperlmaier bei sich, war ein kühnes Wort, wenn es darum ging, eine Wasserleiche Stück für Stück zu bergen und für eine gerichtsmedizinische Untersuchung bereitzustellen. Die Frage, ob das Bein am Ende einem lebenden Opfer abgetrennt worden war, quälte ihn. Von so etwas hatte er einmal gehört, in Südtirol war das passiert. Da hatte ein Holzknecht dem anderen den Fuß mit der Kettensäge abgeschnitten, wegen der Invaliditätsrente. Das Opfer allerdings hatte nach seiner Genesung behauptet, dass es die Amputation eigentlich gar nicht bestellt hätte.

»Ich bin dann weg – Weiteres nach der Untersuchung.« Die Frau Doktor Wurm wandte sich ab, während eine der Gestalten im Kunststoffoverall näher kam. »Servus, Renate. Da haben wir den Schuh.« Der Mann hielt einen Plastiksack mit dem Bergschuh in die Höhe, der an dem Fuß gehangen hatte. »Markenartikel, Größe 43, einigermaßen solide Qualität, aber ziemlich stark abgenutzt. Wahrscheinlich hat ihn der Besitzer schon lange getragen und war damit in jedem Gelände unterwegs.« Dann, so dachte Gasperlmaier bei sich, war seine Hoffnung auf einen Touristen aus dem Norden, oder, wenn es denn sein musste, auch aus dem Osten, vom Tisch. Denn die stark abgenutzten Schuhe deuteten auf jemanden hin, der häufig in den Bergen herumstieg. Am Ende doch ein Jäger.

»Sonst noch was?«, fragte die Frau Doktor. »Die grünen Stutzen. Wolle; Schafwolle, genauer gesagt. Wahrscheinlich Trachtenstutzen. Würde mich nicht wundern, wenn der Torso eine Lederhose trägt.« Der Mann lachte. Gasperlmaier wandte sich ab, dem äußerst schlichten Denkmal zu, das daran erinnerte, dass Erzherzog Johann hier erstmals die fünfzehnjährige Postmeisterstochter Anna Plochl erblickt haben soll. Heute, so dachte Gasperlmaier bei sich, würde man einem Siebenunddreißigjährigen, der sich an eine Fünfzehnjährige heranmachte, wohl kein Denkmal mehr errichten. Nicht einmal, wenn er ein Erzherzog wäre. Inzwischen, erinnerte sich Gasperlmaier, hatte die Geschichtsforschung ja herausgefunden, dass der Herzog die Anna schon im Alter von vierzehn Jahren erstmals bei einem Almtanz beim Ladner am Grundlsee gesehen und schon damals ein Auge auf sie geworfen hatte.

Gasperlmaier blickte auf den See hinaus, wo man an einigen Stellen in Ufernähe Luftblasen aufsteigen sehen konnte. Mehrere Taucher suchten schon seit mehr als einer Stunde nach weiteren Teilen der Leiche, doch bis jetzt waren sie nicht fündig geworden.

»Wo ist denn dein Postenkommandant?«, fragte die Frau Doktor. Gasperlmaier erinnerte sich daran, dass der Friedrich eigentlich hatte nachkommen wollen. Aber er hatte seit Beginn seines Einsatzes nichts mehr von ihm gehört. »Dem Friedrich«, sagte er dann, »dem ist es heute Früh nicht so gut gegangen. Deswegen schiebt er Innendienst. Auf dem Posten.« Die Frau Doktor zog die Augenbrauen hoch. »Nicht so gut gegangen? Hoffentlich ist ihm nichts passiert!« Sie kannte natürlich die Leibesfülle des Friedrich, und auch seine häufige Atemnot bei körperlicher Anstrengung war ihr nicht fremd. Gasperlmaier winkte ab. Was sollte dem Friedrich schon passiert sein, außer einer plötzlichen Hungerattacke? In diesem Moment meldete sich auch Gasperlmaiers Magen mit einem vernehmlichen Knurren zu Wort. Er sah auf die Uhr. Halb zwei vorbei war es schon, und er hatte seit dem Frühstück praktisch nichts gegessen. Außer einer Leberkäsesemmel, im Vorbeigehen, in der Früh. Zu Hause hatte es heute nur Obst und Joghurt gegeben. Die Christine hatte ihm das Frühstück hingestellt und dabei fest auf sein kleines Bäuchlein geklopft. »Dass du mir fit bleibst!«, hatte sie gesagt.

»Können wir uns hier irgendwo hinsetzen«, fragte die Frau Doktor, »und besprechen, was wir weiter unternehmen?« Gasperlmaier deutete erleichtert auf die von der Fischerhütte herüberleuchtenden ­Sonnenschirme. »Dort könnten wir auch eine Kleinigkeit essen!« Zu seiner Überraschung nickte die Frau Doktor, und wenige Minuten später saßen sie an der Hüttenwand, mit einem guten Blick auf die Stelle, wo das abgetrennte Bein mittlerweile in einen Metallsarg gelegt worden war. Der Kilian war inzwischen gegangen. Jedenfalls stand dort, wo er gesessen hatte, nur noch ein leeres Bierglas. Nach wie vor stiegen Blasen aus dem See auf, gelegentlich kam einer der Taucher an die Oberfläche. »Frage!«, sagte die Frau Doktor. »Erinnern Sie sich an irgendeinen Vermisstenfall aus den letzten Monaten? Lang kann ja die Leiche noch nicht im See gelegen haben, da würde das Bein anders aussehen. Irgendjemanden, der aus Altaussee, oder meinetwegen auch aus Bad Aussee, verschwunden ist?« Gasperlmaier schüttelte den Kopf. »Ich muss nachdenken. Vielleicht war es auch jemand aus Grundlsee? Das liegt ja noch näher.« Die Frau Doktor aber hielt nicht viel von einer Nachdenkpause. Sie zückte ihr Handy, und überrascht stellte Gasperlmaier fest, dass bei ihr sehr wohl eine Verbindung zustande kam. »Ja, ich bin’s. Bitte schaut’s mir einmal nach, was wir Vermisstenfälle haben, sagen wir, seit Jahresbeginn. Aus dem Bezirk, ja. Ich meine, wir können natürlich nicht ausschließen … Ja, männlich. Wart einen Moment.« Die Frau Doktor stieß Gasperlmaier in die Rippen, der versonnen in seinen gespritzten Johannisbeersaft starrte. »Hat die Frau Doktor Wurm was über das Alter gesagt?« Gasperlmaier schüttelte den Kopf. »Nur Größe 43!«, erinnerte er sich. »Ja. Erwachsen also. Männlich, erwachsen. Und gebt’s mir Bescheid, sobald ihr irgendwas wisst.«

Die Frau Doktor legte auf und seufzte. »Das wird zäh!«, meinte sie. »Solange wir keine Identität haben, kommen wir in so einem Fall keinen Millimeter weiter. Ein abgetrenntes Männerbein im Toplitzsee. Ein Bergschuh, ein Stutzen. Viel ist das nicht. Bald haben wir die Presse am Hals. Was soll ich denen sagen?« Gasperlmaier erinnerte sich an die vielen Zeitungsausschnitte, die in Schaukästen hinter der Fischerhütte hingen. »Du weißt aber schon, dass der Toplitzsee ziemlich berühmt ist? Da gibt es seit dem Weltkrieg immer wieder Schatzsucher, die das Nazigold finden wollen.« Die Frau Doktor nickte. »Ja, ja. Davon hab ich schon gehört. Aber, ob das wirklich gleich die Meute der Krawallmedien auf den Plan rufen wird?« »Komm einmal mit!«, sagte Gasperlmaier. Er führte die Frau Doktor zu den Schaukästen. Dort wimmelte es nur so von Fotos aus allen möglichen Boulevard­zeitungen: Tauchboote, verschwommene Unterwasser­fotos, Baumstämme, aus dem See geborgene Kisten mit falschen Pfundnoten genauso wie mit Kronenkorken von Bierflaschen, alles hatte der Wirt der Hütte fein säuberlich dokumentiert. Sogar Filme waren schon über den Toplitzsee gedreht worden. Die Frau Doktor staunte. »Dass die Legenden um den See ein solches Medienecho erzeugt haben, das war mir bisher nicht bewusst. Ich glaube, wir sollten einmal mit dem Wirt reden. Vielleicht hat es in den letzten Monaten doch irgendetwas Ungewöhnliches gegeben.« Als sie zurückgingen, fiel Gasperlmaier eine langstielige Holzhacke auf, die in einem offenen Schuppen, von Haufen gehackten Brennholzes umgeben, in einem Hackstock steckte. Noch ehe er sich überlegt hatte, ob er die Frau Doktor darauf aufmerksam machen sollte, kam ihnen schon der Wirt entgegen.

»Ihr habt’s mir ja das Geschäft heute ordentlich verhagelt! Alles absperren! Den Wanderweg auch! Und mir die Leut verjagen!« Dabei grinste der Konrad aber so gewinnend, dass man wusste, dass sein Gejammer nicht ganz ernst gemeint war. »Ich glaub«, begann Gasperlmaier, »dass wir ein paar Fragen an dich haben.« »Natürlich! Kein Problem! Setzt’s euch halt da her!« Er deutete auf die Bank, auf der die Frau Doktor und Gasperlmaier vorhin schon gesessen waren, und nahm gegenüber Platz. »Also, was wollt’s wissen?« »Ob in den letzten Monaten irgendwas Auffälliges passiert ist, irgendwas, das uns den Toten im See erklären könnte.« »Ja, mei!«, sagte der Konrad. »Du weißt aber schon, dass der Haxen auch aus einer Doline kommen kann?« »Wie bitte?« Die Frau Doktor verstand nicht ganz, was der Konrad meinte. »Ja, da kann oben einer in eine Doline fallen, nicht? Auf dem Toten Gebirge oben. Und irgendwann fallt er auseinander, dann schwemmt das Schmelzwasser den Haxen vom Gebirge herunter, dann landet er hinten im Kammersee, und wenn der dann ansteigt, im Frühjahr, dann schwemmt’s ihn in den Toplitzsee herein.« »Also, wirklich!« Die Frau Doktor war ein wenig entrüstet. »Das ist doch eine Raubersg’schicht! Da würde höchstens ein Knochen, oder ein Knöchlein, angespült werden. Wir haben’s hier mit einem relativ gut erhaltenen Bein zu tun!« Gasperlmaier teilte diese Einschätzung nicht. Gut erhalten war für ihn etwas, das man wieder annähen konnte. Der Konrad zuckte mit den Schultern. »Sind schon viele oben geblieben! Wissen’S, wie das ist, wenn man in eine Doline fällt? Da bist vielleicht nicht einmal schwer verletzt, siehst drei, vier Meter über dir den blauen Himmel durchs Loch scheinen, aber du kannst nimmer hinaus. Zuerst schreist du noch ein paar Stunden. Dann kratzt du dir die Finger wund an den Wänden und kommst doch nicht hinauf. Ein schiacher Tod!« Die Frau Doktor erhob sich ungeduldig und verschränkte die Arme vor der Brust. »Herr …« »An Herrn gibt’s bei uns net. Sagen’S einfach Konrad zu mir, Frau Polizeirat.« Wieder grinste der Konrad verschmitzt und entlockte damit sogar der Frau Doktor ein flüchtiges Lächeln. »Mich interessieren nur Dinge, die hier in oder an Ihrer Hütte passiert sind. Und zwar in den letzten Monaten. Ist der See eigentlich im Winter zugefroren?« Der Konrad winkte ab. »Zugefroren? Was glauben’S denn! Meterdick!« »Also«, antwortete die Frau Doktor, »seit das Eis aufgegangen ist. Der Tote wird ja wohl nicht zerstückelt auf der Eisdecke gelegen sein, ohne dass das jemandem aufgefallen wäre.« Der Konrad nickte und zog einen Zigarillo aus der Schürzentasche. »Nichts. Bei uns ist ja nicht so viel los in der Wintersaison. Und schon gar im Frühjahr. Es war wirklich überhaupt nichts Außergewöhnliches. Außer, wenn Sie es für außergewöhnlich halten, dass unser ungarischer Kellner einmal versehentlich mit dem Auto auf den See gefahren ist. Aber der lebt noch, und er hat auch noch alle zwei Haxen.« Gasperlmaier staunte ungläubig. »Ja, aber wie ist er denn mit dem Auto …?« Genüsslich zog der Konrad an seinem Zigarillo. »Finster war’s halt, und ordentlich geschneit hat’s. Da hat er eben den Parkplatz übersehen und ist dort hinaus, wo die Plätte liegt, mit der wir zum Kammersee fahren.«

»Ja, meine Herren, das bringt alles nichts! So, wie ich das sehe, ist es das Beste, ich fahre jetzt nach Liezen zurück und vertiefe mich in die Vermisstenfälle.« Auf die Suppe, die sie sich bestellt hatten, hatte die Frau Doktor anscheinend vergessen. Genau in diesem Moment klang ein Ruf von der Bootshütte herüber, hinter der die Taucher ihr vorläufiges Hauptquartier aufgeschlagen hatten. »Wir haben was!«

Wie von der Tarantel gestochen sprang die Frau Doktor auf, und so schnell ihre Stöckelschuhe es zuließen, machte sie sich auf den Weg, während Gasperlmaier seinen Saft austrank. »Mit der Suppe wird’s wohl jetzt nichts mehr!«, sagte er zum Konrad, hob die Hand zum Gruß und folgte ihr in gemächlicherem Tempo. So scharf war er nun auch wieder nicht auf einen weiteren Teil des Toten, dass er sich beeilen musste. Tun konnte man für den armen Teufel ohnehin nichts mehr. Gasperlmaier fragte sich ernsthaft, wer hier im Ausseerland fähig war, einen Toten in Stücke zu zerteilen und danach im See zu entsorgen. Er jedenfalls, da war er sich sicher, kannte so jemanden nicht. Andererseits war ihm nun, als könne er sich doch erinnern, dass jemand aus Altaussee verschwunden war, er kam nur nicht darauf, wer das sein konnte und bei welcher Gelegenheit er davon gehört hatte.

Als er beim Fahrzeug der Taucher ankam, neben dem diese ihren Fund abgelegt hatten, wandte sich die Frau Doktor schon wieder davon ab. »Der zweite Fuß!«, sagte sie. Dabei hielt sie sich die Hand vor den Mund. Allzu wohl fühlte anscheinend auch sie sich nicht. Gasperlmaier blieb in respektvoller Entfernung stehen, bemühte sich aber doch, an der Frau Doktor vorbei einen Blick zu erhaschen. »Der wird uns nichts Neues verraten!«, sagte die. »Genau der gleiche Bergschuh, natürlich der linke diesmal, der gleiche Stutzen, der gleiche Zustand. Der Kopf würde uns helfen, oder eine Hand mit einem Ehering, irgendsowas. Mit einem gewöhnlichen Fuß können wir nicht viel anfangen, der sagt uns nicht mehr als der erste. Außer, dass wir vielleicht mit noch mehr Teilen rechnen können.«

»Mir bleibt hier nichts mehr zu tun, Franz«, meinte die Frau Doktor, als sie über die Brücke an der Seeklause zu ihren Fahrzeugen zurückkehrten. »Ich fahr jetzt wirklich heim nach Liezen und ackere die Vermisstenfälle durch. Und morgen schau ich mir zuerst einmal die Berichte von der Gerichtsmedizin an.« Gasperlmaier nickte. Schade, dass es schon wieder vorbei war mit dem Einsatz in Aussee. Er hätte sich gefreut, wenn die Frau Doktor ein wenig länger hiergeblieben wäre. Am Ende war der Fall praktisch schon wieder aus seinem Einflussbereich verschwunden. »Servus, Franz!« Die Frau Doktor legte ihre Hand auf seinen Rücken, zog Gasperlmaier an sich und verabreichte ihm zwei hingehauchte Küsse auf die Wangen. Bevor er noch reagieren konnte, saß sie schon in ihrem Auto, winkte ihm noch einmal kurz zu und ließ den Kies unter den Rädern aufspritzen. Gasperlmaier stand ein wenig verdattert da, roch noch ihr Parfum und spürte die leise Berührung ihrer Haare auf seinem Gesicht. Deswegen dauerte es bei ihm etwas länger, bis er in seinen Autositz gefunden und den Zündschlüssel umgedreht hatte.

Als er vor dem Polizeiposten ankam, fuhr ihm der Schreck ordentlich in die Glieder. Dort, wo er sonst seinen Streifenwagen abstellte, stand ein Rettungsauto mit zuckenden Blaulichtern. Hatte es einen Unfall gegeben? Oder war etwas mit dem Friedrich? Gasperlmaier sprang aus seinem Streifenwagen. Ein Sanitäter war gerade dabei, die hintere Tür des Rettungs­autos zu schließen. »Was ist denn los?«, erkundigte sich Gasperlmaier. »Der Polizist!«, meinte der Sanitäter nur. »Nix Schlimmes. Das Herz halt.« Gasperlmaier riss ihm, ohne lang um Erlaubnis zu fragen, die Tür aus der Hand. Drinnen im Wagen lag der Friedrich auf der Bahre. Die schien viel zu schmal für ihn, sodass sich Gasperlmaier ängstigte, er könnte herunterfallen. An seinem Handgelenk hing ein Infusionsschlauch, und der Friedrich atmete flach und starrte zur Decke. »Was machst denn für Sachen?« Gasperlmaier trat näher, während der Sanitäter hinter ihm ebenfalls einstieg. »Wir müssen fahren! Er gehört ins Krankenhaus!« Der Friedrich lächelte Gasperlmaier aus einem bleichen, blutleeren Gesicht matt zu. »Jetzt hat’s mich halt doch schon vor der Pension erwischt. Mach’s gut, Gasperlmaier.« Dem standen schon die Tränen in den Augenwinkeln. »Du schaffst es schon, Friedrich!«, flüsterte er mit erstickender Stimme. »Das wird schon wieder!« »Aber nur, wenn wir jetzt gleich fahren!« Der Sanitäter packte Gasperlmaier energisch am Arm und zog ihn zur Tür. »Pfüat di, Friedrich! Ich komm dich besuchen!« »Aber bald!«, krächzte der. »Ich mach’s vielleicht nimmer lang!«

Gasperlmaier stolperte aus dem Wagen, die Tür flog zu, der Rettungswagen setzte zurück und raste mit blitzenden Blaulichtern und heulendem Folgetonhorn davon. Gasperlmaier sah ihm noch ein wenig nach und fühlte sich plötzlich entsetzlich allein. Er hatte gar keine Lust, auf den Posten hinaufzugehen. Die Vorstellung, alleine dort oben zu sitzen, machte ihn ganz krank. Was, wenn er den Friedrich gerade zum letzten Mal gesehen hatte? Was sollte er denn allein auf dem Polizeiposten anfangen? Wen würde man denn als Ersatz schicken? Er konnte ja schließlich nicht ganz allein hier Dienst schieben. Er war ohnehin schon überlastet, er konnte ja nicht die Arbeit des Friedrich auch noch machen!

Gasperlmaier entschloss sich zu einem Streifengang. Das konnte ihm ja schließlich niemand vorwerfen, dass er einmal zu Fuß in seinem Revier nach dem Rechten sah. Trotzdem – kurz musste er noch ins Büro hinauf, um den Notruf auf sein Handy umzuleiten. Danach machte er sich auf den Weg, wohin, das wusste er zunächst gar nicht genau. Ohne dass er es wahrnahm, bog er in die Straße ein, die zunächst zur Gradieranlage und danach zum See führte. In den düstersten Farben malte er sich aus, was passieren würde, wenn er den Friedrich verlöre. Nicht nur, dass ihm sein Chef abhandenkommen würde, dem das Menschliche meist wichtiger war als die Dienstvorschriften. Was wäre mit den geselligen Pausen, mit den gemeinsamen Besuchen beim Schneiderwirt? Mit wem sollte er den ganzen Tag reden? Am Ende würde man ihm als Vertretung einen grimmigen Grazer, oder gar einen Oststeirer schicken. Gasperlmaier konnte es nicht hören, wie die bellten. Das war ja gar kein Deutsch, was die in der Oststeiermark sprachen. Und die Grazer, die redeten ihm viel zu schnell. Genau genommen, hatten er und der Friedrich ja niemals viele Worte gebraucht, um sich zu verständigen. In vielen Dingen hatten sie sich sozusagen blind verstanden.

Gasperlmaier war der Verzweiflung und den ­Tränen nahe. Erst nach geraumer Zeit merkte er, dass er die Gradieranlage schon inspiziert hatte, dass er gedankenverloren an der Seevilla vorbei- und wieder zurückgewandert war und unwillkürlich seine Schritte auf den Schneiderwirt zugelenkt hatte. Erst als er vor dem Eingang stand, merkte er, dass er einen Mordshunger hatte. Die Suppe in der Fischerhütte, die hatte ja storniert werden müssen. Und das war schon eine Weile her. Ob der Friedrich inzwischen im Krankenhaus angekommen war? Und was sie dort mit ihm wohl machten? Ob man so jemanden wie den Friedrich überhaupt am Herzen operieren konnte? Da musste man sich ja erst durch den ganzen Speck schneiden! Gasperlmaier wurde übel.

Er trat in die Gaststube und setzte sich an seinen üblichen Tisch. Zwar wäre es auch draußen warm genug zum Sitzen gewesen, doch ihm war nicht nach Gastgarten zumute. Eher nach stiller Dunkelheit. Die Jasmin, die Kellnerin aus Sachsen, die mittlerweile zu einer Seele des Geschäfts geworden war, stellte ungefragt ein Bier vor ihn hin. »Ganz alleen heude?«, nuschelte sie in ihrem nach wie vor authentischen Sächsisch. »Wo ist denn der Friedrich?« Gasperlmaier seufzte und warf der Jasmin einen Blick zu, der anscheinend Bände sprach. »Gott im Himmel, ist am Ende was passiert?« Sie schlug die Hand vor den Mund. Gasperlmaier war es recht, dass er jemanden zum Reden hatte. »Herzinfarkt!«, röchelte er, weil ihm ein fester Kloß im Halse stak. »Sie haben ihn gerade mit der Rettung abgeholt.« Gasperlmaier schossen jetzt tatsächlich Tränen in die Augen, und er starrte in sein Bier, damit die Jasmin nicht sah, wie nahe ihm die Sache ging. »Und dann noch dazu das Bein im Toplitzsee!« Gasperlmaier sah erstaunt auf. »Woher weißt denn du das schon?« Die Jasmin zuckte mit den Schultern und holte ihr Handy aus der Tasche ihres Dirndlrocks. »Facebook, nicht? Ich kenn ja die Kathrin von der Fischerhütte ganz gut, und da drin weiß es eh schon jeder. Du hast ja auch laut genug geschrien, am Telefon, schreibt die Kathrin.«

Die Jasmin lächelte. Sie meinte es ja nicht böse, doch Gasperlmaier war dennoch verschnupft. Das bedeutete natürlich, dass die Pressemeute auch schon alarmiert war. Wenn sämtliche Kellnerinnen im Ausseerland die Neuigkeit per Facebook rund um den Globus schickten, dann war die Maggie Schablinger vom Schilling sicher nicht mehr weit. Die war eine echte Landplage, immer auf der Suche nach der noch größeren Sensation und immer darauf aus, die Polizei blöd dastehen zu lassen. Heute, so fand Gasperlmaier, hatte sich aber wirklich alles gegen ihn verschworen. »Bringst mir bitte einen Schweinsbraten!«, meinte er resigniert zur Jasmin, denn er fand, bei all den Widrigkeiten, denen er heute schon ausgesetzt gewesen war, war dieser Trost der mindeste, der ihm zustand. Als die Jasmin allerdings in der Küche verschwunden war, dachte er wieder an den Friedrich, an den Herzinfarkt, und an das Fett im Schweinsbraten, und er griff sich unwillkürlich an den Bauch, um die Dicke des Speckringes zu messen, der sich in den letzten Jahren dort gebildet hatte. Er konnte ja ab morgen fasten, dachte er bei sich, um die Bestellung nicht wieder rückgängig machen zu müssen.

Die Jasmin setzte sich zu ihm, nachdem sie den Schweinsbraten vor Gasperlmaier abgestellt hatte, denn es war nicht viel los und sie konnte sich ­diesen Luxus leisten. »Der orme Friedrisch!«, begann sie nun zu schluchzen und drückte sich einen Zipfel ihrer Dirndlschürze vor die Augen. »Was wirst du denn jetzt machen, ganz allein, und kommt er wieder zurück? Und wann kommt er wieder zurück?« Das waren Gasperlmaier viel zu viele Fragen auf einmal, vor allem, weil er gerade den Mund voll hatte und sich eigentlich bemühte, nicht an den Friedrich zu denken. Ohnehin drückte ihn der Schweinsbraten bereits nach den wenigen Bissen, die er zu sich genommen hatte, auf den Magen. Doch es stellte sich heraus, dass die Jasmin gar keine Antwort brauchte. »Wenn ich daran denke, wie er hier immer neben dir gesessen hat!«, heulte sie. »Wie er gemütlich sein Bier getrunken hat! Er war so ein guter Gast! So ruhig! Und so friedlich!« Die Jasmin war gerade dabei, sich so richtig hineinzusteigern. Die redete vom Friedrich, dachte Gasperlmaier bei sich, als ob er schon tot wäre. Bei diesem Gedanken verging Gasperlmaier vollends der Appetit. Er schob den Schweinsbraten von sich, obwohl noch die Hälfte der zweiten Scheibe und ein halber Knödel übrig waren. Erstaunt sah die Jasmin auf. »Schmeckt’s dir nicht?«, fragte sie, augenscheinlich entsetzt. Gasperlmaier musste zugeben, dass es noch nie vorgekommen war, dass er etwas auf dem Teller zurückgelassen hatte. Doch das hier war schon eine besondere Situation, in der sogar ihm einmal der Appetit vergangen war. »Magst einen Schnaps?« Gasperlmaier nickte. Das war wohl das Einzige, was in dieser Situation noch helfen konnte.

Drei Schnäpse später schwankte Gasperlmaier aus der Gaststube, und die milde Sommerluft draußen traf ihn wie ein Keulenschlag. Er ließ Posten Posten sein und machte sich schleppenden Schrittes auf den Weg hinüber in die Volksschule. Er musste dringend mit seiner Christine reden.

»Wie siehst du denn aus?« Die Christine erkannte natürlich sofort an verschiedensten äußeren Anzeichen, in welchem Zustand Gasperlmaier war. »Ich hab mich schon gewundert, wo du dich herumtreibst. Der Friedrich im Krankenhaus, und dazu noch der Haxen aus dem Toplitzsee. Hast du denn nicht genug Arbeit? Wo du doch eh allein bist?« So hatte sich Gasperlmaier das nicht vorgestellt. Zuerst hatte er das Klassenzimmer, in dem sich die Christine aufhielt, erst lange suchen müssen, und dann, anstatt sich ein wenig über den schrecklichen Tag beklagen zu dürfen, bemitleidet und getröstet zu werden, stand er einer Ehefrau gegenüber, die erstens schon alles wusste, was heute passiert war, und die ihn zweitens darauf aufmerksam machte, dass er nun allein die Last zu tragen hatte, Recht und Gesetz in Altaussee zu vertreten. »Und außerdem stinkst du nach Schnaps! Und das schon am Nachmittag! Also wirklich!« Gasperlmaier versuchte zu erklären. »Das mit dem Friedrich, das hat mich so hergenommen. Und die Sache von heute Vormittag …«

Die Christine wurde ernst, schob ihm einen Sessel hin, der so niedrig war, dass Gasperlmaier die Knie fast auf Kinnhöhe hatte, und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Ich versteh dich ja. Aber du solltest ­deinen Kummer nicht einfach ertränken. Erstens weißt du ja, dass das nicht funktioniert, und zweitens hast du schließlich auch eine Verantwortung. Jetzt, wo du praktisch den Friedrich vertreten musst.« Daran hatte Gasperl­maier noch gar nicht gedacht. Er war ja jetzt, ganz vorübergehend sicher nur, so etwas wie stellvertretender Postenkommandant. Er richtete seinen Oberkörper gerade, stand wieder auf und ging zum Waschbecken. Dort trank er Wasser, wischte sich mit den nassen Händen über das Gesicht und fühlte sich gleich viel verantwortlicher.

Die Christine schob einen farbigen Karton in eine Laminiertasche und ließ ihn durch das Gerät laufen. »Weißt du«, sagte sie, »ich habe mir natürlich schon Gedanken gemacht, wer die Leiche im Toplitzsee sein könnte.« Sie ließ das laminierte Blatt auf einen ­Stapel bereits fertiger Farbkartons fallen. »Ja«, sagte Gasperlmaier, »das habe ich natürlich auch getan. Aber bei uns ist ja niemand verschwunden. Auf jeden Fall nicht, seit das Eis auf dem Toplitzsee aufgegangen ist. Und die Frau Doktor meint, dass der Tote erst danach im See versenkt worden sein kann.« »Die Frau Doktor, die Frau Doktor!«, äffte ihn die Christine nach, während sie weiterarbeitete. »Die weiß auch nicht alles! Mir sind da schon zwei Namen eingefallen. Die beiden habe ich schon seit Monaten nicht gesehen, vorher sind sie mir aber dauernd über den Weg gelaufen.« Gasperlmaier seufzte. »Wenn wir aber keine Vermisstenanzeige haben! Da musst du dich schon auf die Polizei verlassen, du brauchst nicht glauben, dass du immer alles besser weißt!«

Die Christine zuckte mit den Schultern und schaltete das Laminiergerät aus. »Du musst es ja wissen. Ich jedenfalls wollte jetzt nach Hause.« Sie klang, fand Gasperlmaier, ein bisschen beleidigt. Und wenn sie sauer auf ihn war, da würde sie sicher heute Abend wieder etwas ganz besonders Gesundes kochen. Das war so ihre Art, eine kleine, aber feine Rache an ihm zu üben, wenn er ihre guten Ratschläge über Bord warf. Er konnte nur hoffen, dass heute Abend nicht sie, sondern die Mutter kochen würde. Die Christine ließ ihr die kleine Freude, dass sie sich hie und da auch um das Abendessen für die Familie kümmern durfte. Es würde ja nicht mehr lange dauern, bis sie wieder in ihr eigenes Haus zurückkonnte. Da hatte es nämlich vor Kurzem gebrannt.

»Und du gehst wieder auf den Posten?«, fragte die Christine noch, »oder willst du vorher wissen, an wen ich gedacht habe?« Gasperlmaier beeilte sich, eifrig zu nicken. Vielleicht konnte er so der Rache der Christine noch entkommen. Sie setzte sich, ihm gegenüber, wieder hin. Ihr Gesichtsausdruck war gleich viel freundlicher geworden. »Also«, fing sie an, »da ist einmal der Grubauer-Bub. Der ist doch ständig mit seinem fürchterlichen Moped bei uns vorbeigerattert und hat einen solchen Höllenlärm veranstaltet, dass man ihn gar nicht überhören konnte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Weil er ja anscheinend keine vernünftige Arbeit hat.« Gasperlmaiers Interesse erwachte. Er hatte sich ja selbst immer über den Grubauer geärgert, wenn der ihn mit seiner Höllenmaschine aus dem Mittagsschlaf gerissen hatte. Und auch sonst war der Grubauer-Bub keiner, der bei der Polizei unbekannt gewesen wäre. Von Störung der öffentlichen Ordnung über Raufhandel und Körperverletzung bis hin zu unerlaubtem Waffenbesitz – die Liste seiner Vorstrafen war lang und reich an Abwechslung. Plötzlich fiel es Gasperlmaier wie Schuppen von den Augen: Der Grubauer hatte ja sogar einmal im Verdacht gestanden, gewildert zu haben! Die Anzeige war zwar vom Revierjäger gekommen, der das Revier vom hinteren Ende des Altausseer Sees hinauf ins Tote Gebirge bis zum Wildensee betreute, aber das musste ja nicht heißen, dass der Bub nicht woanders auch sein Unwesen getrieben haben konnte! »Der Grubauer!«, stieß er schließlich hervor. »Siehst du«, sagte die Christine. »Jetzt fällt’s dir auch auf. Seit zwei Monaten – kein Moped mehr! Die heilige Ruhe! Also, ich an deiner Stelle würde einmal bei der Grubauerin, bei der Ernestine, vorbeischauen. Kostet ja nichts. Oder hast du heute noch was Wichtigeres zu tun?«

Gasperlmaier griff nach seiner Dienstmütze, die er auf einem Schülerpult neben sich abgelegt hatte. »Flori ist eine schwule Sau!«, hatte jemand mit dunkelblauem Filzstift auf die Platte gekritzelt. »Schau einmal!« Gasperlmaier machte die Christine mit einer Handbewegung darauf aufmerksam. Die nickte und seufzte. »Ich hab da leider einen jungen Mann, der zwar nicht weiß, was sie bedeuten, aber dennoch immer wieder Mitschüler mit schwulenfeindlichen Ausdrücken beschimpft. Morgen treffe ich mich mit seinen Eltern, deswegen hab ich’s ihn noch nicht wegwischen lassen. Sie sollen selber sehen, was der Bub da angerichtet hat.« Gasperlmaier seufzte. In seiner Schulzeit waren sie zwar auch fast jede Pause übereinander hergefallen, aber solch unflätige Beschimpfungen hatte es nicht gegeben. Außerdem hatten die Prügeleien während der Pause niemals dazu geführt, dass Freundschaften in die Brüche gegangen waren. Gewiss, man hatte gelegentlich einen Nachmittag in der Schule verbringen müssen, wenn man vom Herrn Oberlehrer Tuschek erwischt worden war, aber der hatte viel Verständnis gehabt und sie beim nachmittäglichen Nachsitzen immer gut behandelt. Sogar Schmalzbrote hatte er ihnen hergerichtet. So war Gasperlmaier schon vor Jahrzehnten immer wieder unfreiwillig in den Genuss einer Ganztagesschule gekommen.

Die Christine stand wieder auf, und Gasperlmaier tat es ihr gleich. Gerade wollten sie zur Tür hinaus, als der Christine noch etwas einfiel. »Ah ja, der zweite Fall: Da würde ich einmal bei der Frau Blasl vorbeischauen, der ihren Mann hab ich nämlich auch schon lang nicht mehr gesehen. Und sie schaut schlecht aus, eingefallen, manchmal sogar verheult. Ich mein, ich kenn sie ja nicht gut, deswegen hab ich sie noch nie darauf angesprochen. Aber früher ist doch bei dem immer die Kreissäge gelaufen, ein richtiger Holzwurm war der Mann. Kaum von der Arbeit nach Hause, hat er schon alle möglichen Bretter und Pfosten gesägt. Und jetzt – Stille.« Gasperlmaier war wirklich baff. Er selbst hatte sich das Hirn zermartert, und ihm war kein einziger Altausseer eingefallen, der in den letzten zwei Monaten verschwunden wäre, und die Christine wusste vielleicht seit einer Stunde von dem Leichenfund und hatte schon zwei Kandidaten aufzubieten, die als Besitzer der herausgetauchten Beine in Frage kamen. »Wie heißt denn der ihr Mann?«, fragte er noch. Diesmal aber zuckte auch die Christine mit den Schultern. »Das musst du schon selbst herausfinden.«

Inzwischen waren sie schon vor dem Schultor angekommen. Die Christine schwang sich auf ihr Fahrrad, während Gasperlmaier überlegte, ob er erstens alleine zur Grubauerin und zur Blasl gehen sollte, und zweitens, in welcher Reihenfolge. Er entschloss sich, die Mühe allein auf sich zu nehmen. Die Frau Doktor würde stolz auf ihn sein, wenn er in Liezen anrufen und ganz lässig erklären konnte, er wisse schon, wessen Beine da heute aus dem Toplitzsee herausgefischt worden waren.

»Blödsinn!«, sagte er zu sich selbst, als er seinen Streifenwagen aufgesperrt hatte. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Frau Doktor. Als er ihren Namen auf dem Display sah, erinnerte er sich an den Geruch ihres Parfums und das zarte Streichen ihrer Haare über sein Gesicht und steckte das Handy wieder ein. Er würde doch lieber allein zur Frau Blasl und zur Grubauerin fahren. Zuerst, entschloss er sich, würde er die Frau Blasl aufsuchen. Allerdings hatte er keine Ahnung, wo die wohnte. Solche Probleme hatte immer der Friedrich für ihn gelöst, es gab niemanden in Altaussee, nach dessen Wohnung der Friedrich hätte fragen müssen. Wahrscheinlich, so dachte Gasperlmaier bei sich, war er deshalb nicht auf den Blasl und den Grubauer-Buben gekommen, weil er einfach viel zu wenige Leute kannte. Er interessierte sich nicht so sehr für die Menschen, er war doch eher nach innen gewandt. Wer ihn interessierte, das waren die Christine und seine Kinder, und dann kam lange nichts mehr. Leider, momentan, auch die Mutter nicht, die ja bei ihnen wohnen musste, solange ihr eigenes Haus nicht wieder hergerichtet worden war. Dann eben noch der Friedrich, und die Kameraden bei der Feuerwehr und beim ­Skiclub, die interessierten ihn auch noch ein wenig. Aber das waren ihm dann schon genug Menschen.

Bis er auf dem Posten den Computer hochgefahren hatte, um die Adresse der Frau Blasl nachzuschauen, würde viel zu viel Zeit vergehen, deshalb rief er einfach die Christine an. Die seufzte zwar, als er ihr sein Problem unterbreitete, hatte aber die Adresse gleich parat. Schließlich, so fiel Gasperlmaier ein, als er aufgelegt hatte, hatte sie ja auch gewusst, dass der Blasl abends immer Bretter gesägt hatte. Woher nur?

Die Frau Blasl empfing Gasperlmaier tatsächlich so, wie die Christine sie beschrieben hatte: Etwas verhärmt und eingefallen stand sie im Türspalt, den sie nur so weit geöffnet hatte, dass sie gerade ihren Kopf hervorstrecken und Gasperlmaier misstrauisch beäugen konnte. »Was wollen’S denn? Ich brauch keine Polizei!« Schon war sie dabei, ihren Kopf zurückzuziehen und die Tür wieder zu schließen, als Gasperlmaier energisch einen Fuß in den Türspalt setzte. Leider ließ sich die Tür aber dadurch nicht aufhalten, und so war das Nächste, was Gasperlmaier entfuhr, ein Schmerzensschrei und darauf ein herzhafter Fluch. Der Schmerz aber hatte seine Entschlusskraft gestärkt, und so warf er die Tür zurück und fuhr die Frau an: »Was fallt Ihnen denn ein!« Die zuckte ängstlich zurück, und schon bereute Gasperlmaier seine heftige Reaktion. »Ich will ja gar nichts von Ihnen!«, beruhigte er sie. »Nur was fragen!« »Ich weiß ja nichts!«, sagte die Frau Blasl. Das, so fand Gasperlmaier, war eine originelle Art, einer Anfrage der Polizei zu begegnen. So hatte noch niemand reagiert: gleich im Vorhinein darauf zu bestehen, dass man über gar nichts irgendwas wisse. Allerdings sah die Frau Blasl aber auch so verhuscht aus, dass Gasperlmaier ihr das beinahe abnahm.

»Ich möchte nur gern mit Ihrem Mann sprechen. Es ist gar nix Schlimmes, er hat nichts angestellt«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Der ist nicht da!«, antwortete die Frau Blasl, die keinerlei Anstalten machte, Gasperlmaier den Weg ins Innere des Hauses frei zu geben. So standen sie einander im winzigen Windfang gegenüber. »Wo ist er denn?«, fragte Gasperlmaier, dem langsam bewusst wurde, dass das eines dieser mühsamen Gespräche werden würde, bei denen man dem Gegenüber jede auch noch so winzige Information aus der Nase ziehen musste, wo sie feststeckte und nicht so leicht gelöst werden konnte wie ein durchschnittlicher Nasenrammel.

Die Frau Blasl zuckte mit den Schultern. »In der Ar­beit.« Die Antwort hatte so unsicher geklungen, so zwischen Frage und Antwort, dass Gasperlmaier hellhörig wurde. »Wo arbeitet er denn?« »Bei der Rigips in Kainisch«, antwortete sie und drehte den Kopf zur Seite. »Und wenn ich jetzt zur Rigips hinfahre und dort nach ihm frage, wo finde ich ihn dann?«, fragte er nach. Die Frau Blasl drehte sich um und ging durch das Vorhaus auf eine Tür zu.

Gasperlmaier folgte ihr, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Hinter der Tür befand sich die Küche. Die Frau Blasl sank auf einen Sessel und stützte den Kopf in die Hände. Bevor Gasperlmaier noch ihr gegenüber Platz genommen hatte, konnte er sehen, dass es die Frau Blasl schüttelte. Im selben Moment begann sie auch schon zu schluchzen. Volltreffer, dachte Gasperlmaier bei sich. Der Blasl war ihre Leiche im Toplitzsee.

Schlagartig fiel ihm ein, dass er nun der Frau Blasl auch die Todesnachricht zu überbringen hatte. Verdammt, dachte er bei sich, es war doch furchtbar leichtsinnig gewesen, ohne die Frau Doktor herzukommen. Frauen waren da viel feinfühliger, sie konnten schlechte Nachrichten viel sensibler überbringen. Allerdings, erinnerte er sich, wenn er mit dem Friedrich vor der Tür stand, etwa wenn sie wieder einmal zur Witwe eines Unfallopfers hatten fahren müssen, wenn also zwei Polizisten in Uniform vor der Tür standen, gingen die Leute sowieso meist gleich vom Schlimmsten aus, und es bedurfte nicht vieler Worte. Aber der Blasl, so dachte er plötzlich, der war doch schon seit zwei Monaten tot. Wie konnte es kommen, dass ihn die Frau Blasl nicht vermisst gemeldet hatte? Und hatte sie nicht voraussehen können, dass er ihr irgendwann eine Todesnachricht überbringen würde?