Licht am Ende des Tunnels - Klaus-Peter Wolf - E-Book

Licht am Ende des Tunnels E-Book

Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Auf wen soll man hören, wenn man niemandem auf der Welt vertrauen kann? Als Robert von einem angeblichen Geschäftsfreund seines Vaters aus dem Internat abgeholt wird, ahnt der Junge nicht, dass er das Opfer einer brutalen Entführung werden soll. Gefangen in einer abgeschiedenen Hütte irgendwo in den Schweizer Bergen, versucht Robert seinen Peiniger zu überlisten. Zwischen Opfer und Täter entspinnt sich ein dramatischer Psychokrieg, dessen Ausgang über Leben und Tod entscheidet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Klaus-Peter Wolf

Licht am Ende des Tunnels

Ein Jugendthriller

FISCHER E-Books

Inhalt

1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.

1.

Mein Opa hat mich nie wirklich verlassen. Ja, ich meine das genau so, wie ich es sage: Er ist immer bei mir geblieben.

Ich habe das schon während der Beerdigung gespürt. Alle heulten, als der Sarg ins offene Grab abgesenkt wurde. Ich selbst habe Blumen hineingeworfen, und ich wusste dennoch: Mein Opa ist bei mir. Er hat sein Wort gehalten!

Er sprach damals schon zu mir. Ich dachte anfangs noch, es seien meine eigenen Gedanken, aber in Wirklichkeit war er es. Er machte sich über Tante Hedwig lustig, die verlogene Kuh. Sie schluchzte am lautesten und sah aus, als würde sie am liebsten ins Grab hinterherspringen. Dabei wusste doch jeder, dass sie Opa nicht leiden konnte. Kein gutes Haar hat sie an ihm gelassen. Seine Angelleidenschaft hat sie nur verspottet. Ihr Lieblingssatz, wenn ich von Opa kam, war: »Robert, du stinkst wieder nach Fisch, genau wie dein Opa!«

Mein Opa heißt Robert. Robert Sonntag. Als ich geboren wurde, bestand er darauf, dass ich nach ihm getauft wurde. Witzigerweise heißt mein Vater auch Robert. Allerdings war sein Nachname Müller – bis er Mama heiratete. Er nahm bei der Hochzeit ihren Namen an. Opa passte das gar nicht. Wenn er sauer auf Papa war, nannte er ihn immer »Herr Müller«.

So war Opa Robert Sonntag der Erste. Mein Papa glaubte nun, er würde Robert Sonntag der Zweite. Aber Opa war dagegen. Papa ist zwar im Vorstand der Firma, doch Robert Sonntag der Zweite bin ich.

Tante Hedwig ist Papas einzige Schwester. Sie hat immer alles ein bisschen übertrieben. Oder, wie Opa sagte: »Alles, was sie macht, ist eine Spur zu dick. Genau wie sie selbst. Sie merkt es aber nicht, deshalb lacht sie über ihre eigenen Witze am lautesten und kauft sich grundsätzlich Sachen, die eine Nummer zu eng sind.«

Das flüsterte Opa beim Begräbnis in mein Ohr oder pflanzte es sonst wie in meine Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, jedenfalls musste ich grinsen, und das am offenen Grab. Wo er doch gestorben war! Mein Opa. Mein Lieblingsopa. Der Einzige, der immer zu mir gehalten hat. Mein Opa, der mir ein Holzschwert geschnitzt hat, als meine Eltern mir nicht mal ein Gummimesser erlauben wollten. Er hatte Verständnis für Jungs, die noch nicht genau wussten, ob sie Ritter werden wollten oder Piraten.

Als Tante Hedwig sich vorbeugte, lenkte Opa meinen Blick auf den Reißverschluss an ihrem Kleid, der überm Hintern spannte. »Er wird platzen«, versprach Opa mir. »Glaub’s mir, Robert. Noch heute. Gleich bei meiner Beerdigungsfeier gibt es Streuselkuchen und Schwarzwälder Kirschtorte. Da kann sie nicht widerstehen.«

Ich spürte meinen Opa so nah bei mir, dass ich mich umdrehte. Gut. Da war niemand. Oder genauer gesagt, ich konnte niemanden sehen. Und alle hier versammelten Trauergäste hätten geschworen, dass Opa dort in dem geschlossenen Sarg lag. Unter ihnen eine Menge studierter Leute. Lehrer, Ärzte, Anwälte … War ich der Einzige, der spürte, dass das, was dort beerdigt wurde, nicht mehr war als eine Hülle? Das, was ich an ihm geliebt hatte, sein Witz, seine Großzügigkeit, seine halsstarrige Art, zu mir zu halten, all das hatte überlebt. Es war hier. Es klebte an mir wie der Kaugummi an meinem Schuh.

Ich sah ihnen in die Augen. Meine Mama, mein Papa, der stellvertretende Direktor, der Verlaufsleiter. Kriegte keiner von ihnen mit, was geschah?

Vielleicht, dachte ich, entscheidet Opa, zu wem er redet und zu wem nicht. Vielleicht kann ihn nur der Mensch spüren, der ihn am meisten geliebt hat.

Bei diesem Gedanken traten auch mir Tränen in die Augen.

»Na endlich«, lachte mein Opa. »Die Leute gucken schon komisch. Du bist der Einzige, der nicht heult.«

 

Es gab dann tatsächlich Streuselkuchen und Schwarzwälder Kirschtorte, genau wie er prophezeit hatte. Opa versprach mir, dass Tante Hedwig gleich mit dem Löffel die Sahnerosette von der Torte abheben würde, um sie dann in ihren Kaffee einzurühren.

Genau so geschah es auch schon eine knappe Minute später.

Mir war Kaffee zu bitter. Ich bat um einen Kakao. Der schmeckte furchtbar, aber ich beschwerte mich nicht. Kinder, die sich beschweren, kriegen zu viel Aufmerksamkeit. Ich war froh, in Ruhe gelassen zu werden.

Opa hatte recht. Tante Hedwig aß auch das zweite Stück Torte, und noch während die ersten Schnäpse getrunken wurden, platzte die Naht an ihrem Reißverschluss auf. Sie beugte sich gerade zu Freddy Frambach, dem jungen Verkaufsleiter, vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. In der Nähe von Männern, die ihre Söhne sein könnten, blühte Tante Hedwig immer besonders auf. Ihre Stimme wurde dann schriller als sonst, ihre Augen glänzten und sie lachte zu laut. Auch ihre Bewegungen wurden größer. Sie wirkte dann auf mich, als hätte sie kein Blut mehr in den Adern, sondern Sprudelwasser.

Ihr Reißverschluss platzte mit diesem unverwechselbaren Geräusch aus der Naht. Ich glaubte, Opas Lachen zu hören, aber ich war es selbst. Die Erwachsenen sahen mich an. Tante Hedwig eilte mit hochrotem Kopf zur Toilette.

Ich konnte die tadelnden Blicke der Erwachsenen kaum ertragen. Meine Mutter nahm mich in Schutz. Sie sagte, es sei der Schock und ich hätte halt eine besonders tiefe Bindung zu meinem Opa gehabt und man möge mir doch verzeihen.

So war meine Mama. Mit ausgewogenen Worten versuchte sie, den Dingen die Spitze zu nehmen. Sie machte aus jedem Streit eine angeregte Diskussion, aus jeder noch so schlimmen Peinlichkeit ein kleines Missgeschick. Als sie geboren wurde, sollte sie bestimmt eine Art Friedensengel werden. Sie studierte dann aber doch lieber Kunstgeschichte und widmete sich meiner Erziehung, wenn sie gerade mal Zeit dafür hatte.

Zeit war sowieso das größte Problem. Auch jetzt, auf der Beerdigung. Papa zog sich mit den Herren von der Leitungsebene, wie er sie gern nannte, in den Nebenraum zurück. Er verteilte dort teure kubanische Zigarren, und sie pafften den Raum voll, bis ihre maßgeschneiderten Anzüge stanken. Ich glaube, niemals hätte Papa einen Nichtraucher mit in die Geschäftsführung genommen. Er rauchte mindestens drei Havannas am Tag.

Dass die Dinger sehr teuer sind, erfuhr ich durch Marga, unsere Putzfrau. Sie hatte Papas Zigarrenschrank offen gelassen. Eine Todsünde. Da drin musste nämlich immer die gleiche Luftfeuchtigkeit herrschen, damit seine wertvollen Stücke nicht austrockneten.

Marga bat mich, meinem Vater nichts davon zu erzählen, denn eine dieser Zigarren würde mehr kosten, als sie am Tag verdiente. Ich weiß nicht, ob sie übertrieb. Aber ich hielt den Mund, denn ich spürte ihre Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Tante Hedwig kam von der Toilette zurück. Sie hielt ihren Rock mit einer Sicherheitsnadel zusammen. Um ihr zu entfliehen, wollte ich in Papas Raucherclub. Die Männer sprachen dort über Geschäftsanteile und neue Arbeitsbereiche. Ich interessierte mich dafür nicht besonders und verstand nur so viel: Jetzt, nach Opas Tod, musste Papa die Geschäftsführung übernehmen.

 

Abends dann erklärte Mama mir das Ganze noch einmal in Ruhe. Papa würde in Zukunft noch weniger Zeit für »uns« haben. Ja, sie sagte »uns«. Denn er müsse jetzt Opas Aufgaben mit übernehmen und deshalb müsste Pa für einige Monate nach Amerika.

Als sie mein Schlafzimmer verlassen hatte, spürte ich Opas Anwesenheit wieder deutlich. Er nahm fast den ganzen Raum ein. Es war, als würde ich mich in ihm befinden.

Er konnte über Mamas Worte nur lachen. Niemand hat jemals so viel Zeit für mich gehabt wie mein Opa. Komisch. Ihm gehörte der ganze Laden. Er hatte das alles »aus dem Nichts« aufgebaut. Aber er war nie so hektisch und so durchgedreht gewesen wie die Typen aus Papas Raucherclub.

Ich erinnerte mich daran, wie Opa mir zum ersten Mal die Fabrikhallen zeigte. Er hielt mich auf dem Arm und ich spürte seinen Stolz. Ich weiß nicht, ob er so stolz auf mich, seinen Enkel, war oder auf dieses Werk. Vielleicht war er auch einfach nur ein stolzer Mann. Seine Firma stellte alles her, was man in einem Badezimmer gebrauchen kann. Kacheln, Fliesen, Wannen – mir gefielen die Klos besonders gut. Er stellte mich seinen Arbeitern als den »neuen Chef« vor. Sie lachten und hielten mir ihre Hände zum Schütteln hin. In der Verpackungsabteilung hatte ich alle Scheu verloren und wollte wirklich eine Hand nehmen und schütteln. Aber sie kam mir so unglaublich groß vor. Ich umfasste dann nur den Zeigefinger und schüttelte den. Solche Finger hatte ich vorher noch nie gesehen oder angefasst. Sie waren groß, grob und schwielig. Ganz anders als die Hände von meinem Vater, meiner Mutter oder auch meinem Opa.

»Das wird alles einmal dir gehören, wenn ich nicht mehr bin«, sagte Opa.

Ich saß inzwischen aufrecht im Bett. Warum kamen ausgerechnet jetzt diese Erinnerungen? Es war, als sei das Ganze ein Film, den Opa mir in meinem Kopf vorspielte. Er wollte, dass ich mich daran erinnere. Warum? Immer wieder hörte ich diese Worte: »Das wird alles einmal dir gehören.«

Ich stand auf und ging durch das Zimmer. Ich hielt die Hände vor mich gerichtet, die Handteller offen und bewegte mich ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter. Ich war barfuß und spürte den Teppich unter den Zehen, aber ich versuchte, mich auf die Handflächen zu konzentrieren. Ich hatte das Gefühl, Opa ertasten zu können. Er war hier. Keine Frage. Aber nicht wie ein lebendiger Körper, den man anfassen kann. Trotzdem spürbar, auch auf der Haut. So merkwürdig es klingt, die Dunkelheit im Zimmer half mir dabei. Ich knipste kein Licht an, aus Angst, ihn zu vertreiben.

»Opa«, fragte ich, »bist du hier? Hat deine Seele den Körper verlassen und ist jetzt hier bei mir?«

In meinen Handflächen kribbelte es, und mir war, als würde mich sein Pfefferminzatem anwehen. Ich weiß nicht, ob seine Worte durch meine Ohren in meinen Kopf kamen oder ob sie in meinem Kopf entstanden. Aber ich konnte sie deutlich verstehen: »Die Seele«, sagte mein Opa, »wohnt nicht im Körper, Robert. Die Menschen denken, der Körper sei die Hülle für die Seele. Das ist ein Irrtum. Die Seele hüllt den Körper ein. Es ist wie ein Kokon.«

»Opa, bist du das wirklich? Oder werde ich jetzt verrückt?«, fragte ich unsicher. Aber ich bekam keine Antwort mehr.

Ich tastete noch eine Weile das Zimmer ab, dann legte ich mich völlig erschöpft schlafen. Ich stellte mir vor, dass auch mein Körper in meiner Seele wohnte. Es war ein gutes Gefühl. Es machte mich irgendwie größer, weiter. Vor meinem inneren Auge stellte ich mir vor, dass meine Seele jetzt so groß war wie mein ganzes Zimmer. Ich schlief in mir.

2.

Als ich am anderen Morgen zur Schule ging, begleitete mein Opa mich.

Im Laufe der nächsten Monate sprach er immer wieder mit mir. Leider lief das alles nicht ganz so locker, wie ich erhofft hatte. Natürlich glaubte ich, mir nie wieder um eine Mathearbeit Sorgen machen zu müssen, denn mein Opa hatte einen Betrieb mit mehr als zweihundert Beschäftigten alleine in Deutschland und gut tausend weltweit geführt. Da muss man schon ein guter Rechner sein. Allerdings ließ Opa mich bei jeder Mathearbeit schnöde hängen. Er sagte mir nie die Ergebnisse vor, dabei wäre es für ihn bestimmt ein Leichtes gewesen. Er half mir nicht bei den Hausaufgaben, und er hatte auch keine Idee, was ich Mama zum Geburtstag schenken könnte.

Ich dachte schon, er habe mich verlassen und sich endgültig ins Totenreich verzogen, wo immer das sein mag, doch dann passierte der Unfall.

Ich hatte eine Reitstunde. Ich saß auf Sausewind, der seinen Namen zu Recht trug. Er ging mit mir durch. Die Zäune waren für ihn ein Witz. Ich hatte die Zügel verloren und flog nur noch so im Sattel hin und her. Ich krampfte mich in Sausewinds Mähne fest. Im Galopp überquerten wir die Bundesstraße. Hinter mir hörte ich die Stimme meines Opas. Ich fuhr herum. Mir war sogar, als würde ich sein Gesicht sehen. Er schrie: »Nimm die Füße aus den Steigbügeln und spring ab, Junge! Spring ab!«

Dann wurde ich durch die Luft gewirbelt. Ich sah das Ganze von außen. Ich sah mich durch die Luft fliegen. Wie eine flimmernde Holografie stand mein Opa mitten auf der Straße und breitete die Arme aus, um mich aufzufangen. Aber das funktionierte nicht. Ich krachte durch seine Arme auf die Straße runter. Dann wurde alles schwarz.

Als Nächstes sah ich mich im Krankenwagen liegen. Jemand presste mit seinen Händen auf meinem Brustkorb herum. Sie führten Schläuche durch meine Nase ein. Ich würgte. Ich hörte das Ticken von Geräten, das Zischen von Sauerstoff – und durch all das drang die Stimme von meinem Opa: »Du musst keine Angst haben«, sagte er zu mir, ohne die Lippen zu bewegen.

Ich fragte: »Opa, werde ich sterben?«

Er gab mir das Gefühl, dass der Tod nichts Schlimmes sei, aber dass meine Zeit noch nicht abgelaufen wäre.

Dies hier war keine Mathearbeit. Jetzt würde er mich nicht schnöde im Stich lassen. Das wusste ich. Ich konnte mich auf ihn verlassen. Jetzt blieb er bei mir. In jeder Sekunde.

Eine Weile sah ich noch die Sanitäter um mein Leben kämpfen. Ich hörte ihre Stimmen. Ihre verbissenen Gesichter signalisierten mir den Ernst der Lage. Sie gaben mir Elektroschocks, und ich flog auf der Liege herum, als sei ich schwerelos geworden. Ich sah das alles, obwohl meine Augen geschlossen waren. Es war, als würde ich über mir schweben.

Dann trat ich wieder ein in die Dunkelheit, in eine Welt, in der es nur noch Stimmen gab. Opa und mich. Diese Welt war ohne Zeit. Ohne Hunger, ohne Schmerzen und ohne Angst.

Ein Tunnel tat sich auf. Er war rund, spiralförmig, sehr lang und führte am Ende zum Licht. Ich fand diesen Tunnel ungeheuer verlockend. Ich wollte unbedingt hinein, hingehen zu diesem Licht. Es war, als sei dort meine eigentliche Heimat, mein Zuhause. Der Ort, von dem ich gekommen war und an den ich jetzt wieder zurück sollte.

Fröhlich lief ich hin, meinem Glück entgegen, doch da gab es eine Kraft, die mich zurückhielt. Es war mein Opa. Ich wollte ihn davon überzeugen, doch mit mir zu gehen, hinein ins Licht. Aber Opa weigerte sich. Er wollte mich nicht gehen lassen.

»Es ist schön dahinter, Opa!«, sagte ich. »Leicht und frei. Dort wohnen alle Seelen. Ich fühle es genau. Dort gehörst auch du eigentlich hin.«

Er gab mir recht, bestand jedoch trotzdem darauf, zu bleiben. Es sei noch nicht so weit, sagte er. Irgendwann würde ich durch diesen Tunnel ins Licht gehen. Aber jetzt noch nicht. »Du hast noch ein Leben zu leben und eine Aufgabe zu erfüllen. Der Tunnel kommt später dran.«

Aber ich wollte nichts von Aufgaben wissen. Das größte Abenteuer schien dort vorne auf mich zu warten. Das Licht am Ende des Tunnels.

Opa wurde richtig sauer. »Was glaubst du, warum ich bei dir geblieben bin?«, fragte er.

»Weil du mich liebst?«

Jetzt wurde mir ganz komisch. Ich glaube, ein Nein hätte ich nicht gut ertragen.

»Natürlich liebe ich dich«, sagte er und ich war ehrlich erleichtert. »Doch das ist nicht alles. Ich bin bei dir geblieben, damit du deine schwere Aufgabe bewältigen kannst.«

»Aber Opa, was soll das sein? Was für eine Aufgabe? Ich bin ein kleiner Junge. Ich …«

Ich weiß nicht, ob er mich immer weiter vom Licht wegzog oder ob der Tunnel sich entfernte. Jedenfalls wurde das Licht am Ende immer kleiner. Gleich würde ich es nicht mehr sehen können. Ich spürte es genau.

Ich war verzweifelt, hin- und hergerissen.

Wie kommt es, fragte ich mich, dass ich so genau weiß, was mich am anderen Ende des Tunnels erwartet? Es ist, als sei ich diesen Weg schon oft gegangen. Sehr oft. Als sei dieses Wissen in mir gespeichert wie in einer geheimen Bibliothek.

Ich begann mir das Leben vorzustellen wie eine Art Spiel. Opa hatte oft Mensch ärgere Dich nicht mit mir gespielt. Später dann Monopoly. Vielleicht ist das Leben eine Art Spielbrett und wir sind die Püppchen. Die Spielfiguren. Wir rennen los, um zu einem bestimmten Ziel zu gelangen, um eine Aufgabe zu erfüllen. Manchmal werden wir von Mitspielern zwischendurch hinausgeschmissen. Aber damit ist das Spiel noch lange nicht zu Ende. Wenn wir vom Spielbrett fliegen, sprich, wenn wir sterben, bevor wir unsere Aufgabe erfüllt haben, kommen wir durch den Tunnel wieder zurück. Gehen auf Start und legen noch einmal los.

Vielleicht hatte Opa mir deshalb so viele Brettspiele beigebracht. Damit ich lernen konnte, das Leben zu betrachten. Wie stolz war er, als ich ihn zum ersten Mal im Schach geschlagen hatte! Allen hatte er davon erzählt, als sei es sein Sieg gewesen.

Ja, so war mein Opa. Er ärgerte sich nicht über seine Niederlage. Er freute sich über meinen Sieg.

Ich wurde erfüllt von dem tiefen Glück, dass ich bei so einem Menschen aufwachsen durfte. Dass er in meiner Nähe war.

Meine Muskeln krampften sich zu einem heiseren Schrei der Dankbarkeit zusammen. Ich öffnete die Augen und sah Neonröhren über mir. Ich befand mich im Krankenhaus.

Neben meinem Bett stand ein Arzt. Er sah älter aus, als mein Opa geworden ist. Und neben ihm stand eine junge Krankenschwester.

»Er hat versucht zu sprechen«, versicherte sie. »Ganz sicher.«

»Ja«, sagte der Arzt. »Er ist aus dem Koma zurück.«

Es wurde ein anstrengender Tag für mich. Ich konnte wieder Schmerzen empfinden. Das Licht im Zimmer war viel zu grell. Die Menschen zu laut. Aber da waren Gerüche, die mir gefielen. Vanille. Erdbeeren. Und frisch gebratener Fisch. Zander. Als hätte mein Opa ihn für mich gefangen.

3.

Dann saß meine Mutter an meinem Bett, völlig verheult. Sie hielt meine rechte Hand und tätschelte sie immer wieder, was mir sehr wehtat, denn ich hatte noch Schläuche in den Adern, und es kam mir so vor, als würden die Blutbahnen in meinem Körper klingen wie morsche Wasserleitungen. Beim Sprechen tat mein Hals weh, als hätte ich seit Jahren nichts mehr getrunken.

Mama sprach immer wieder von einem Wunder, das eingetreten sei, und dass sie es immer gewusst und mich nie aufgegeben habe. Sie fragte den Arzt, ob ich denn wieder ganz normal werden würde. Er konnte ihr das nicht versprechen.

Ganz normal, dachte ich, was heißt schon ganz normal? Wenn man zum Beispiel so bescheuert ist wie Tante Hedwig, ist man dann ganz normal?

Ich kam mir nicht dümmer vor, sondern eher weiser, fröhlicher, gelassener als vorher. Ich war wieder eingetreten in das Spiel des Lebens und musste nun danach Ausschau halten, welche Aufgabe ich zu erfüllen hatte.

 

Ich begriff bald, dass ich sehr lange im Koma gewesen sein musste, denn meine Eltern lebten inzwischen nicht mehr zusammen. Wenn Mama über Papa sprach, waren ihre Worte nicht mehr ganz so wohlklingend wie früher. Sie hörte sich eher anklagend an. Verletzt. Fast rachsüchtig. Die Scheidung war noch nicht vollzogen, der Krieg in vollem Gange. Es ging um Geld. Um sehr viel Geld. Um Opas Fabrik.

Sehen, hören, riechen, fühlen – all das hatte ich sehr schnell zurück. Schwieriger wurde es schon, zu laufen, zu essen und von den Schläuchen loszukommen. Ich wusste jetzt auch, wie lange ich im Koma gelegen hatte: Hundertsechsundneunzig Tage und siebeneinhalb Stunden.

Mama wollte wissen, ob ich irgendetwas erlebt hätte. Ich begriff, dass sie oft bei mir gewesen war. Wahrscheinlich hatte sie in diesen hundertsechsundneunzig Tagen mehr Zeit mit mir verbracht als jemals zuvor.

Die junge, nette Krankenschwester, von der ich nun auch den Namen wusste – auf ihrem Schildchen stand Michaela, sie wurde aber von allen Michi genannt –, erzählte mir, dass Mama in der ersten Zeit praktisch neben meinem Bett geschlafen hatte. Natürlich war es für meine Mutter wichtig zu wissen, ob ich etwas davon mitgekriegt hatte. Sollte ich ihr jetzt wirklich sagen, dass mein Opa mich zurückgerufen hatte und nicht sie? Ich war so gerührt von ihrer Sorge um mich, dass ich ihr das einfach nicht antun konnte. Ich versicherte ihr, ich hätte immer gespürt, dass jemand da war und dass mich jemand liebte. Sie fing sofort wieder an zu heulen.

Es war auch ein Psychologe da, der sich unbedingt mal mit mir unterhalten wollte. Das sei bei allen Komapatienten üblich. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm von dem Tunnel erzählen sollte. Er sah aus, als könnte er es vertragen. Ich wollte mein Erlebnis lieber zuerst an ihm testen, als Mama direkt damit zu schockieren.