Licht für Vertara - Sabine Kalkowski - E-Book

Licht für Vertara E-Book

Sabine Kalkowski

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Beschreibung

"Er ist da", flüsterte Kattera. "Adholoka hat eine kranke Seele gefunden und sich mit ihr vereint." Es war geschehen. Nun war auch das Böse nach Vertara gekommen. Dass sie etwas Besonderes ist, wusste Kattera schon seit ihrer Kindheit. Nur sie kann das Unheil abwenden, das ihrer Heimat Vertara droht. Doch niemand will ihre Warnung hören. Zu unglaublich erscheint die Wahrheit. Unter Strafandrohung wird sie zum Schweigen gezwungen. Wie soll sie, allein gelassen und machtlos, den Kampf gegen das Böse aufnehmen? Verzweifelt sucht sie nach Verbündeten, während das Böse stetig an Macht gewinnt. Wird sie ihre Heimat trotz allen Widerstandes retten können?

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Inhaltsverzeichnis

Kattera empfängt das Licht

Die unwillige Braut

Ein neuer Prior für Stormflod

Geheime Mysterien

Reise ins Unbekannte

Neue Heimat

Unmut auf Schloss Stormwacht

Abgeschiedenheit im Kloster

Ewiges Gelübde

Ein Auftrag für Francken

Der Preis für Thomens Unterstützung

Unruhige Träume

Verpflichtung einer Königstochter

Eine Aufgabe für Kattera

Einladung zur Hochzeit

Ein Brief für Neleke

Reise nach Stormwacht

Hochzeit auf Stormwacht

Der Morgen nach der Hochzeit

Besuch im Pferdestall

Geheime Post

Verhängnisvoller Jagdausflug

Andres‘ Verdacht

Schwindende Gesundheit

Ein neuer Berater für den König

Lenne hat Angst

Kattera kehrt nach Amee zurück

Thomen Verflide hält die Macht in der Hand

Kattera hat Angst

Bruder Wentzel sucht Rat

Post von Bruder Nickell

Die Geburt des Thronfolgers

Kattera kehrt nach Schloss Winberger zurück

Ein Ausritt nach langer Zeit

König Stormwacht findet seine letzte Ruhe

Francken ist am Ziel seiner Träume

Frühstücksgeflüster

Thomen entfaltet seine Macht

Francken fordert die Bündnistreue ein

Francken sammelt seine Soldaten

Veroberg macht mobil

Neuigkeiten für Silvatorn

Sturm auf Burg Silvatorn

Ein schrecklicher Albtraum

Der Fall von Colhammer

Das Iluvias-Bündnis stellt sich zum Kampf

Schlechte Nachricht aus Colhammer

Heldenhafter Kampf

Der Likener Bund trifft eine Entscheidung

Eine Botschaft für Lenne

Thomen Verflide greift zur List

Eine folgenschwere Entscheidung

Bruder Nickells Warnung

Surijas Offenbarung

Die Armee vor Vorihosums Toren

Des Königs Befehle

Blitz und Donner

Zerstörte Hoffnung

Die Retterin wird zu Grabe getragen

Wiedersehen mit Andres

Es wird Gericht gehalten

Kattera empfängt das Licht

Mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen stand Kattera im Licht der aufgehenden Sonne am Rand der Klippe. Der kräftige, kalte Wind zerzauste ihr langes, dunkelblondes Haar und ließ ihren Rock flattern. Doch Kattera spürte weder die Kälte, die ihre Haut rötete, noch die Feuchtigkeit in der Luft, die ihre Kleidung klamm und schwer werden ließ. Die Kraft der Sonne durchströmte sie und wärmte sie von innen. Noch immer hörte sie in sich den Ruf, dem sie bis zur Klippe gefolgt war. Lange hatte sie ihm widerstanden, doch heute war er übermächtig geworden und sie hatte ihm nachgegeben. Erst jetzt verstand sie, was er bedeutete. Surija, Gott des Lichtes, hatte Großes mit ihr vor. Schon ihr ganzes Leben lang hatte er nach ihr gerufen und heute war die Zeit der Vereinigung gekommen. Seine Kraft verschmolz mit ihrem Körper. Sein Geist vereinigte sich mit dem ihren. Sie nahm das Licht in sich auf und wurde eins mit ihm.

„Kattera!“

Kattera hörte den Ruf ihrer Mutter, doch beachtete ihn nicht. Alles, was Katterein ihr zu sagen hatte, war unwichtig geworden, ebenso wie ihre eigenen Ängste und Sorgen.

„Kattera!“ In der Stimme ihrer Mutter schwang kein Groll oder Vorwurf mit, sondern Sorge. Doch Kattera wandte sich nicht um. Noch immer hielt das Sonnenlicht sie in seinem Bann.

Schwer atmend blieb Katterein Norvarv in einiger Entfernung von der Klippe stehen, an welche die Felder und Wiesen des Norvarv-Gutes grenzten. Kattera stand so dicht am Abgrund, dass Katterein befürchtete, ihre Tochter wolle sich ins Meer stürzen. Sie starrte einen Moment lang auf Kattera, die von einem Kranz aus Licht umgeben war.

„Kattera!“ Ein drittes Mal rief Katterein ihre Tochter und diesmal reagierte Kattera auf die Stimme ihrer Mutter. Sie senkte die Arme, trat einen Schritt von den steil abfallenden Felsen zurück und drehte sich zu ihr um. Katterein atmete auf und lief weiter auf ihre Tochter zu, nur um nach einigen Metern erneut innezuhalten. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, doch der Lichtkranz umgab Kattera nach wie vor. Sie strahlte von innen heraus.

„Beim heiligen Ekarius, was …?!“ Katterein blieben die Worte im Hals stecken. Sie wusste, was sie vor sich sah. Die Legende vom heiligen Ekarius war jedem Bewohner von Vertara bekannt. Surija, Gott des Lichtes, hatte sich mit Ekarius vereint, damit er in dieser Gestalt den Kampf gegen das Böse aufnehmen konnte. Die Legende besagte, dass auch Ekarius immer von Licht umgeben war. Doch das war viele Jahrhunderte her, das Böse, der Gott Adholoka, längst besiegt. Wieso sollte sich Surija erneut nach Vertara begeben? Katterein fing zu zittern an und sank auf die Knie.

Kattera sah ihre Mutter schwanken. Rasch überwand sie die wenigen Meter, die sie noch trennten. Sanft nahm sie ihre Mutter bei den Händen und zog sie hoch. Sie sah das Staunen und die unausgesprochene Frage in ihrem Gesicht. Langsam fand Katterein ihre Stimme wieder. Sie strich ihrer Tochter über das Haar und nahm sie dann in den Arm. „Ich dachte, du tust dir etwas an. Ich weiß doch, wie sehr du dich vor Kilian fürchtest. Aber …“

Kattera löste sich aus ihrer Umarmung und Katterein verstummte. Katteras Gesichtszüge strahlten eine Kraft und Würde aus, die nicht zu ihrem Alter von fünfzehn Jahren passte. Irgendetwas war mit ihr geschehen. Das scheue, sanfte Mädchen schien seine Angst an der Klippe zurückgelassen zu haben.

„Ich habe keine Angst mehr, Mutter.“ Kattera lächelte geheimnisvoll. „Surija ist bei mir.“

Katterein nickte stumm. Unzählige Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, doch keine wollte über ihre Lippen kommen. Sie schluckte. „Bruder Nickell und die Södervarvs sind bereits eingetroffen. Wir müssen dich noch für die Zeremonie vorbereiten. Du möchtest doch schön aussehen. …“ Erneut versagte Kattereins Stimme bei dem unergründlichen Blick, mit dem ihre Tochter sie bedachte.

„Ich werde niemanden heiraten.“ Katteras Stimme war ruhig und von Gewissheit erfüllt. Sie ließ ihre Mutter stehen und ging langsam zum Hof zurück.

Die unwillige Braut

Katterein holte ihre Tochter kurz vor dem Gutshof ein. Auf dem Innenhof, der von dem zweistöckigen Wohnhaus, der Scheune, dem Stall und der Werkstatt begrenzt war, herrschte emsiges Treiben. Hühner wurden für das Fest gerupft, Wasser für die Suppe aus dem Brunnen geschöpft und Gemüse aus dem Garten hinter dem Wohnhaus in die Küche gebracht. Jeder, auch die Kinder, war mit den Vorbereitungen für die Verlobungsfeier beschäftigt. Katterein legte einen Arm um die Schultern ihrer Tochter und führte sie über den Hof. Sie achtete nicht auf die neugierigen Blicke und das Getuschel des Gesindes. Ihre Gedanken waren bereits bei ihrem Mann und seiner Reaktion auf das eben Geschehene. Durch seine große, kräftig gebaute Gestalt wirkte er schon von vornherein einschüchternd auf andere, aber wenn er in Rage geriet, war er regelrecht furchteinflößend. Und über das Verhalten seiner Tochter war er bereits schon seit längerem sehr ungehalten. Kattera sollte heute mit Kilian Södervarv verlobt werden. Honn Norvarv hatte große Pläne mit seinen Töchtern. Da Katterein ihm noch immer keinen Sohn und Erben geboren hatte, sollte das Gut über die Heirat der Töchter wachsen. Mit den Södervarvs waren die Norvarvs schon lange in Freundschaft verbunden, die heute mit der Verlobung von Kattera mit Kilian besiegelt werden sollte.

Katterein warf einen Seitenblick auf ihre Tochter, als sie das Wohnhaus betraten. Die strengen Ansichten ihres Gatten hatten ihr das Leben nicht leicht gemacht. Er war unnachgiebig und fordernd den Untergebenen gegenüber und verhielt sich in seiner aufbrausenden Art oft ungerecht. Doch so war er nun einmal. Katterein hatte gelernt, mit seiner Sturheit umzugehen, doch Honn hatte seine älteste Tochter Kattera nie verstanden. Mit ihrem sanften, verletzlichen Wesen war sie einfach nicht für das harte Leben auf dem Gutshof gemacht. Sie lebte auf, wenn sie lernen durfte. Kattera sog alles Wissen in sich auf, das Bruder Nickell zu vermitteln vermochte. Durch ihren freundlichen Umgang mit den Knechten und Mägden, selbst den Leibeigenen, die auf dem Hof arbeiteten, war sie beim Gesinde beliebt. Ihr Vater Honn Norvarv legte dies als Schwäche aus und ließ sie seine Verachtung regelmäßig spüren. Doch niemals kam ihr eine Klage über die ungerechte Behandlung oder ein böses Wort über die Lippen. Dies machte ihren Vater nur noch ungehaltener und stärkte seinen Entschluss, sie zu einem Leben zu zwingen, wie es sich, seiner Meinung nach, für eine Norvarv-Frau gehörte. Er duldete in dieser Hinsicht keinen Widerspruch und verschloss seine Augen vor dem stillen Leiden seiner ältesten Tochter. Sie schrumpfte regelrecht, wenn sie sich in der Gesellschaft von Kilian Södervarv, ihrem zukünftigen Verlobten, befand. Seine laute, grobe Umgangsform ängstigte sie und es war auch offensichtlich, dass er mit ihr nicht viel anzufangen wusste. Er überspielte seine Unsicherheit mit Gemeinheiten und Aggressivität. Wie sehr hatte Katterein ihren Mann angefleht, Kattera in ein Kloster zu geben, doch er war hart geblieben. Er würde vor Wut platzen, wenn er merkte, dass Kattera ihm nicht gehorchen würde.

Sie seufzte, schob Kattera in die gute Stube, in der Bruder Nickell wartete, und machte sich auf die Suche nach Honn.

Bruder Nickell drehte sich um, als sich hinter ihm die Tür öffnete. Als er auf dem Norvarv-Hof eintraf, war er von einem wütenden Honn Norvarv ohne große Worte in die gute Stube geleitet worden. Den wenigen Worten, die er noch hörte, bevor sich die Tür schloss, konnte er entnehmen, dass die zukünftige Braut verschwunden war. Er lächelte Kattera nun aufmunternd zu und streckte ihr die Hand entgegen. Er kannte sie schon viele Jahre, denn er kam einmal in der Woche auf den Norvarv-Hof, um alle Kinder des Guts zu unterrichten. Sein Heimatkloster Pravamol unterhielt in einigen Dörfern und Städten kleine Außenstationen mit einer Kirche und einer Krankenstation. Die dort lebenden Brüder kümmerten sich um das Seelenheil, die Gesundheit und die Bildung der einfachen Bevölkerung, die sich teure Ärzte und studierte Lehrer nicht leisten konnte. Sein Abt hatte ihn vor beinahe zehn Jahren nach Isdaskib geschickt und seitdem unterrichtete er die Kinder in den umliegenden Gutshöfen in Schreiben, Rechnen und Religion. Den besonders wissbegierigen Schülern beantwortete er auch gerne Fragen, die außerhalb dieser Fächer lagen, sofern es ihm möglich war. Kattera kam lächelnd zu ihm und als er sie näher betrachtete, fiel ihm die Veränderung auf. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen und durchflutete die gute Stube mit Licht, aber dennoch war das Leuchten wahrnehmbar, das Kattera umgab. Bruder Nickell hielt den Atem an, als er nach den passenden Worten suchte. Ihm entging der amüsierte Blick nicht, den Kattera ihm zuwarf, als sie auf der Sofaecke Platz nahm. Er schüttelte verwirrt den Kopf und strich sich mit der Hand über den geschorenen Schädel.

„Du hast dich verändert“, begann er vorsichtig und setzte sich neben sie.

Kattera lächelte nur und erwiderte ruhig seinen Blick.

Bruder Nickell rutschte ein wenig näher zu ihr heran. „Du bist Surija begegnet, nicht wahr? Du …“

Kattera legte ihre Hand auf die seine und drückte sanft zu. „Ich bin Surijas Werkzeug.“

Langsam sickerten Katteras Worte in Bruder Nickells Bewusstsein. Surija war wieder in Vertara erschienen. Was bedeutete das? Als dies das letzte Mal geschehen war, hatten schwere Zeiten bevorgestanden.

„Kattera, sag mir, was bedeutet das? Warum …?“

Bevor Bruder Nickell seine Frage formulieren und eine Antwort darauf erhalten konnte, ertönten laute Stimmen vor der Tür.

„Wo ist sie?!“

„Honn, ich bitte dich …“

Honn Norvarv stieß die Tür auf und baute sich mit vor Zorn gerötetem Gesicht vor seiner Tochter auf. Er wischte die Hand seiner Frau zur Seite, die diese ihm beschwichtigend auf den Arm gelegt hatte. Hinter ihm betrat nicht weniger aufgebracht Krist Södervarv den Raum.

„Wie kannst du es wagen, mich derart bloß zu stellen, du undankbare Göre?! Du lässt dich sofort von deiner Mutter für die Zeremonie herrichten, sonst bekommst du eine Tracht Prügel, die du nie vergessen wirst!“

Zur Bekräftigung seiner Worte hob er drohend die Hand. Katterein klammerte sich verzweifelt an ihn. „Honn, bitte, so hör mir doch zu!“

Ihr Mann schüttelte sie so heftig ab, dass sie in Krist Södervarvs Arme stolperte. Bruder Nickell stellte sich dem fast zwei Köpfe größeren und doppelt so breiten Honn Norvarv in den Weg.

„Aus dem Weg, Bruder“, knurrte Katteras Vater und machte Anstalten, Bruder Nickell einfach zur Seite zu schieben. Doch der bewegte sich nicht.

„Beruhigt Euch, Honn. Seht sie Euch an. Seht genau hin!“ Die Sonne verschwand hinter den Wolken und Katteras Erleuchtung wurde für alle deutlich.

Honn ließ den Arm sinken. „Was, zum Teufel …“

Bruder Nickell zuckte bei diesen Worten zusammen, trat dann zur Seite, damit auch Krist Södervarv einen freien Blick auf Kattera hatte. „Surija hat sie für sich beansprucht. Sie gehört ihm.“

Bruder Nickells Worte dröhnten in Honns Ohren, als er seine Tochter anstarrte, die seinen Blick ruhig erwiderte. Er konnte sehen, dass Bruder Nickell Recht hatte. Sie hatte sich verändert. Sie war nicht mehr das sanfte, schwache Mädchen. Eine Stärke, die vorher nicht da gewesen war, sprach aus ihrem Blick und erstickte jede heftige Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag.

Krist Södervarv schob Katterein zu Seite und baute sich neben Honn auf. Er war zwar nicht ganz so groß und kräftig wie Honn Norvarv, aber seine kantigen Gesichtszüge und die in der Jugend gebrochene und schief zusammengewachsene Nase ließen ihn nicht weniger respekteinflößend erscheinen. „Das ist ein Trick. Honn, ich warne dich. Wir haben einen Vertrag geschlossen. Deine Älteste mit meinem Ältesten. Und der Zusammenschluss der Güter!“

„Es sei denn, meine Frau gebiert mir noch einen männlichen Erben!“ Honn sah Krist kampfbereit an.

Der warf Katterein einen entschuldigenden Blick zu. „Ich bezweifle, dass es noch dazu kommt, du wartest schließlich seit über zehn Jahren darauf!“

„Du …!“ Honn wollte auf Krist losgehen, seinen Zorn über die Situation an ihm auslassen, aber Bruder Nickell ging dazwischen.

„Bitte, meine Herren, bewahrt Ruhe. Es gibt sicher eine Lösung.“

„Sicher gibt es eine Lösung! Kattera heiratet Kilian, wie es besiegelt ist!“ Krist Södervarv verschränkte die Arme vor der Brust und warf einen finsteren Blick in die Runde.

„Kilian könnte Kirstan heiraten. Sie verstehen sich auch viel besser!“, warf Katterein ein und erntete von Krist Södervarv nur einen bösen Blick.

„Und dann verheiratet ihr eure Älteste mit jemand anderem und bringt meinen Jungen um sein Erbe. Nein, da mache ich nicht mit. Ich lasse mich nicht von euch hintergehen. Wir haben einen Vertrag. Du willst doch nicht, dass ich ihn einklagen muss?!“ Krist sah Honn auffordernd an und der nickte zustimmend.

„Ich habe mit Kirstan andere Pläne. Nein, Kattera wird Kilian heiraten und Schluss mit der Diskussion!“ Er sah seine Tochter finster an. „Du wirst mit deiner Mutter sofort auf dein Zimmer gehen und dich herrichten!“

„Ich werde niemanden heiraten!“ Obwohl Kattera sehr leise gesprochen hatte, waren ihre Worte deutlich zu hören. Krist Södervarv schnappte nach Luft, doch die Autorität in Katteras Blick ließ ihn stumm bleiben.

Bruder Nickell räusperte sich. „Nach Abschluss der Zeremonie plane ich einen Besuch in meinem Heimatkloster Pravamol. Ich kann Kattera mitnehmen und sie nach Amee bringen. Den Vertrag können wir ändern und die Klausel aufnehmen, dass Kattera unverheiratet bleibt. Wenn ich das bezeuge, ist es vor dem Gesetz gültig.“ Bruder Nickell sah die beiden Männer mit festem Blick an.

„Ich …“ Honn warf Krist Södervarv einen Blick zu. „Wir müssen das besprechen!“

„Ich packe ein paar Sachen zusammen.“ Kattera erhob sich und lächelte Bruder Nickell an.

„Du wirst gar nichts tun. Du wirst hier warten, bis wir entschieden haben!“, brauste Honn auf, packte sie am Arm und wollte sie zurück auf das Sofa drücken. Doch Kattera sah ihn nur an und wie unter Zwang ließ er sie los.

„Es ist entschieden, Vater. Es gibt nichts, was du tun kannst. Ich werde gehen.“ Damit verließ Kattera den Raum. Honn starrte ihr mit offenem Mund hinterher.

„Willst du dir das gefallen lassen, Honn?“ Krist Södervarv war mitnichten besänftigt.

Honn Norvarv knurrte verärgert. „Was soll ich tun? Auch wenn ich es manchmal gerne täte, schlage ich keine Frauen. So tief werde ich nicht sinken. Sag mir, wie ich sie dazu zwingen soll, deinem Sohn eine gute Ehefrau zu sein. Soll er sie vielleicht solange schlagen, bis sie nachgibt?“

„Honn!“ Katterein warf ihrem Mann einen entrüsteten Blick zu.

„Ist ein Weib störrisch, gibt es kaum etwas, was man dagegen tun kann, wenn man nicht seine Ehre verlieren will. Also, was schlägst du vor, alter Freund?“

Krist Södervarv erwiderte finster Honns Blick. „Du bist einfach zu weich mit deinen Frauen. Aber du hast Recht. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Hof als eine unwillige Hausherrin. Dennoch bin ich zutiefst enttäuscht von dir, dass du nicht in der Lage bist, deiner Tochter den Kopf zurechtzurücken. Wäre es meine, würde sie mir nicht so auf der Nase herumtanzen!“

Honn trat ganz dicht an Krist heran, bis sich ihre Nasen fast berührten. „Ach ja?“ Seine Stimme war gefährlich leise.

„Honn, bitte …!“, flehte Katterein.

„Sei still, Weib!“, fauchte Honn seine Frau an, ohne sie anzusehen. „Woher willst du das denn wissen, mit nur einem Sohn? Oder bist du etwa ein schwächlicher Feigling, der Frauen schlägt?“

Krist Södervarv lief dunkelrot an.

Auch Bruder Nickell sah, dass die Situation zu eskalieren drohte, und schob entschieden die beiden Männer auseinander. „Seid doch vernünftig, meine Herren. Ihr seid beide geachtete Gutsherren und keiner von Euch ist schwach oder feige. Gegen einen Gott kann niemand antreten, auch Ihr nicht. Warum betrachten wir das Ganze nicht als eine göttliche Fügung und machen das Beste daraus?“

Die beiden Männer starrten sich noch eine Weile an.

„Bitte, Honn. Bruder Nickell hat doch Recht. Es wäre …“

„Katterein, halt doch einfach den Mund. Ich habe verstanden, was der Bruder gesagt hat. Und in diesem Haus treffe ich die Entscheidungen!“ Honns Stimme klang gequält und entlockte Krist ein müdes Lächeln.

„Vielleicht tue ich dir Unrecht, alter Freund. Ich musste mich nie mit drei Weibern auf einmal rumschlagen. Die eine hat mir gereicht.“

Honn entspannte sich und verzog resigniert das Gesicht, dann grinste er seinen Freund an. „Aber du vermisst sie doch, oder? Gib es zu!“

Krist lachte und schlug Honn auf die Schulter. „Das tue ich in der Tat. Auch wenn sie genauso widerspenstig wie die deine war …“, er zwinkerte Katterein zu, die empört das Gesicht verzog, „… war sie mir doch eine gute Frau. Ein Jammer, dass sie das Fieber vor zwei Wintern geholt hat.“ Er wandte sich an Bruder Nickell. „Also, Bruder Nickell. Wenn ein Gott im Spiel ist, werde ich mich wohl Eurem Vorschlag beugen müssen.“

Bruder Nickell nickte erleichtert und sah Honn fragend an. Der knurrte nur unwillig. „Na schön. Der Vertrag ist in meinem Arbeitszimmer.“ Er wandte sich an seine Frau. „Du bereitest jetzt am besten deine Tochter auf die Zeremonie vor. Und keine Widerworte!“

Er sah sie streng an, doch sie lachte nur leise und drückte ihm rasch einen Kuss auf die Wange. „Das mache ich, mein Lieber!“

Honn wurde rot und warnte den breit grinsenden Krist Södervarv: „Kein Wort!“, während er mit Schwung die Tür aufriss und geradeso seine Tochter Kirstan am Arm packte, bevor diese zu Boden stürzte. Hinter ihr stand ein errötender Kilian Södervarv.

„Was, zum Teufel, tut ihr hier? Habt ihr etwa gelauscht?“

„Äh … nein. Wir sind nur zufällig hier vorbeigekommen und Kirstan ist gestolpert und hat sich an der Tür abgestützt, als Ihr sie geöffnet habt.“ Kilian wich dem strengen Blick von Honn Norvarv aus und wurde noch röter.

Kirstan hingegen schämte sich nicht im Geringsten. „Ist es wahr? Kattera geht ins Kloster und ich darf Kilian heiraten?“ Atemlos starrte sie die Männer an.

Krist Södervarv legte Honn eine Hand auf die Schulter und drückte mit einem Blick sein Mitgefühl für die schwere Bürde aus, die er mit drei Frauen im Haus trug.

„Deine Ohren sind sehr gut, Kirstan. Ja, so wie es aussieht, wirst du meine Schwiegertochter werden. Ich schlage vor, dass du dich bereit machst, während wir den Vertrag ändern.“

Kirstan jauchzte, umarmte erst stürmisch ihren Vater, der sie verlegen von sich schob, dann knickste sie kichernd vor Krist Södervarv und lief dann die Treppe hinauf. Über die Schulter rief sie ihrer Mutter zu: „Das hellgrüne Kleid ist das Schönste, das ich habe. Das will ich anziehen!“

Honn Norvarv sah seine Frau gequält an. „Das habe ich gemeint! Sie ist noch nicht soweit. Bei ihren Puppen ist sie weitaus besser aufgehoben!“

Katterein lachte leise und schob ihren Mann in Richtung Arbeitszimmer. „Glaube mir, ihre Puppen hat sie schon eine ganze Weile nicht mehr im Kopf. Sie ist soweit. Mehr als Kattera es je sein wird. Es ist die richtige Entscheidung.“ Damit stieg sie ebenfalls die Treppe hinauf.

„Und mit dir muss ich noch ein ernstes Wörtchen reden! An der Tür zu lauschen ist schlechtes Benehmen.“ Krist Södervarv sah seinen Sohn streng an.

Kattera saß auf ihrem Bett und sah aus dem Fenster. Das kleine Bündel mit den wenigen Sachen, die sie brauchte, lag neben ihr. Sie spürte keine Angst, obwohl große Veränderungen auf sie zukamen. Sie würde der Beengtheit des Gutshofes entfliehen und einer Zukunft entgegen gehen, die wichtigeres als Hausarbeit und Kinder bekommen bereithielt. Es fühlte sich richtig an, als ob ein verzerrtes Bild geradegerückt worden war und nun seine Bedeutung offenbarte.

Hinter ihr öffnete sich leise die Tür zu der kleinen Kammer, die sie sich mit ihrer Schwester teilte. Ihre Schwester setzte sich zu ihr und schmiegte sich an sie. Kattera legte einen Arm um sie und ihre Wange an ihre bereits hochgesteckten Locken. Wie unterschiedlich sie doch waren. Kirstan war die pure Lebensfreude, aufgeschlossen und immer fröhlich. Im Gegensatz zu Kattera packte sie gerne auf dem Hof mit an und war ihrer Mutter bereits eine große Hilfe im Haushalt. Sie träumte von einem eigenen Hof mit großer Kinderschar. Auch wenn ihr Vater in ihr immer noch ein kleines Mädchen sah, zeichneten sich mit ihren vierzehn Jahren unter dem Kleid doch schon deutlich frauliche Rundungen ab. In ihrer Statur kam sie mehr nach ihrem Vater. Kattera war schlank wie ihre Mutter. Was sie jedoch gemeinsam hatten, war die Lockenmähne, die kaum zu bändigen war.

Kirstan blickte zu ihrer Schwester auf. „Wirst du noch zur Zeremonie bleiben?“ Sorgenfalten verunstalteten ihre sonst glatte Stirn.

„Natürlich, du Dummerchen. Bruder Nickell hält doch die Zeremonie ab. Ich gehe erst, wenn er geht.“

Kirstan lächelte traurig und ihre Mundwinkel zuckten. „Du bist nicht böse?“

Kattera lachte leise und drückte sie an sich. „Nein, bin ich nicht. Ihr beide werdet glücklich miteinander sein, das weiß ich, und das alleine zählt.“

„Und was ist mit dir? Wirst du auch glücklich sein?“

Kattera sah in die fragenden Augen ihrer Schwester und nickte dann langsam. „Ja, das werde ich. Ich weiß zwar nicht, was auf mich zukommt, aber es fühlt sich richtig an.“

„Kirstan!“ Die Stimme ihrer Mutter drang durch die offene Tür.

„Es geht los.“ Kirstan schniefte und drückte ihrer Schwester dann einen Kuss auf die Wange. „Ich hab dich lieb, Teri.“ Dann huschte sie zur Tür hinaus. „Ich komme, Mutter!“, hörte Kattera sie noch rufen. Dann nahm sie ihr Bündel und folgte ihr langsam.

Es waren schon alle in der guten Stube versammelt, als Kattera die Tür leise hinter sich schloss. Bruder Nickell nickte ihr zu und richtete dann seine ganze Aufmerksamkeit auf das Paar.

Während sich Kattera von ihren Eltern verabschiedete, wartete Bruder Nickell auf sie. Er hatte Honn noch das Aufnahmegeld abgerungen, das dieser ihm zähneknirschend gegeben hatte, mit der Beschuldigung ihn ruinieren zu wollen. Doch so waren die Regeln. Um in ein Kloster eintreten zu können, musste man etwas zum Unterhalt des Klosters beitragen. Entweder man stiftete eine entsprechende Geldsumme oder man konnte durch einen bereits erlernten Beruf das Kloster unterstützen. Bruder Nickell wurde unruhig, denn die Reisegruppe, der er sich anschließen wollte, würde nicht auf sie warten. Honn und Katterein Norvarv brachten ihre Tochter zu ihrem Pony, das geduldig neben Bruder Nickell wartete.

Katterein umarmte ihre Tochter ein letztes Mal, mit Tränen in den Augen. „Du denkst an das, was ich dir gesagt habe, ja?“

Kattera machte sich los. „Ja, Mutter, mach dir keine Sorgen. Mir wird es gut gehen!“ Sie kletterte auf ihr Pony.

„Passt gut auf mein Mädchen auf, Bruder!“, schniefte Katterein und zog ein Taschentuch aus dem Ärmel.

„Das werde ich!“ Bruder Nickell neigte den Kopf und nickte auch Honn Norvarv noch einmal zu, bevor er und Kattera sich in Bewegung setzten.

„Und dass das Geld ja an der richtigen Stelle ankommt!“, rief Honn ihm noch hinterher, doch Bruder Nickell zog es vor nicht darauf zu reagieren.

„Honn!“

„Was willst du? Das hat mich ein Vermögen gekostet! Was heulst du überhaupt? Es war doch deine Idee.“

Die Stimmen ihrer Eltern wurden leiser und schließlich hörte Kattera sie nicht mehr. Erleichtert atmete sie auf.

Ein neuer Prior für Stormflod

Thomen Verflide sah erneut von dem Buch auf, in dem er gerade las. Er hatte dies in der vergangenen Stunde schon oft getan. Sein Blick blieb noch einen Moment an der Bibliothekstür hängen, durch die nun jeden Augenblick ein Mönch kommen musste, um ihn zum neuen Abt Pesolt zu rufen. Thomen zweifelte nicht daran, wer zum neuen Prior ernannt werden würde. Während seiner ganzen Zeit im Kloster hatte er darauf hingearbeitet, die Hierarchieleiter nach oben zu steigen. Mit der Ernennung zum Bibliothekar vor drei Jahren war er den ersten Schritt aus der breiten Masse der Mönche herausgetreten und übte sich seitdem in Geduld. Was wäre ihm auch übriggeblieben? Als dritter Sohn der Verflides war ihm der Zugang zum Familienvermögen verwehrt. Mit kaufmännischem Talent, so wie sein mittlerer Bruder es besaß, war er nicht gesegnet. Für eine Laufbahn an der Universität, die seinen Wissensdurst gestillt und seinem Lebensstil entsprochen hätte, wollten seine Eltern nicht aufkommen. Sie hatten ihn gegen seinen Willen in das Kloster Stormflod gegeben, ihn in dieses enge Gefängnis gesperrt, in dem er seine Zeit mit Beten und Arbeiten vergeuden musste. Doch er verbarg seinen Zorn und seinen Unwillen hinter einer Maske aus Höflichkeit, Bescheidenheit und Religiosität und spielte seine Rolle gut.

In der kurzen Zeit, die jeder Mönch zum Studium in der Bibliothek verbringen musste, tat er sich durch seine saubere Schrift hervor und war bald von der Feldarbeit in das Skriptorium versetzt worden. Zumindest seinen Wissensdurst konnte er stillen und setzte das erworbene Wissen geschickt ein, sodass seine Ernennung zum Bibliothekar unvermeidlich war. Niemand schöpfte Verdacht bei der plötzlichen Erkrankung des alten Bibliothekars, denn in den feuchten, kalten Gemäuern waren Krankheiten keine Seltenheit und Bruder Ewalt hatte schon einige Jahre kommen und gehen sehen. Er war in den letzten Jahren seines Lebens häufig erkrankt.

Thomen senkte den Blick und versteckte sein Lächeln, das ihm unwillkürlich bei dieser Erinnerung über die Lippen glitt. Es war so einfach gewesen. Bücher über Heilkunde waren in den Bibliotheken aller Klöster zu finden, denn die Heilkunst war deren größte Einnahmequelle. Thomen lernte schnell, dass Kräuter, die heilen, auch töten können, und so war es kein Problem gewesen, Bruder Ewalts schon geschwächtes Herz ein wenig mehr anzuregen, als es verkraftete. Ein Tee, von einem mitfühlenden Bruder gebracht. Bruder Ewalt hatte ihm noch mit einem breiten Lächeln gedankt, denn Thomen hatte ihm etwas von dem Kräuterschnaps hineingetan, den er so liebte. Dann musste er nur warten. Das Amt des Bibliothekars war nur der erste Schritt auf dem Weg zu seinem Ziel. Er wollte Abt des Klosters werden und damit die Freiheit gewinnen, nach der ihm verlangte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der alte Abt Ullin seinen Ahnen begegnen würde und sich die nächste Möglichkeit zu einem weiteren Aufstieg bot. Thomen nutzte die Zeit geschickt, um mit scheinbar uneigennützigen, gut gemeinten, aber in unaufdringlicher Weise vorgebrachten Ratschlägen Verbündete im Kloster zu gewinnen. In letzter Zeit war er bereits ohne eigenes Zutun um Rat gefragt worden. Das war eine gute Voraussetzung.

Die Tür zur Bibliothek wurde leise geöffnet, ein Mönch betrat den Raum und schaute sich suchend um. Thomen erkannte Bestlin. Er schrieb das Protokoll bei den täglichen Versammlungen im Kapitelsaal. Thomen hatte ihm diese Aufgabe vor zwei Jahren übertragen.

Bestlin kam nun zu ihm an den Tisch. „Bruder Thomen. Der Abt wünscht Eure Anwesenheit.“

Thomen senkte bescheiden den Kopf, aber nicht ohne vorher Bruder Bestlin einen scharfen Blick zuzuwerfen. Dessen Gesicht war gerötet und er versuchte mit großer Mühe, ein breites Lächeln zu unterdrücken und Würde auszustrahlen. Thomen hatte genug gesehen. Er konnte in Bruder Bestlin lesen wie in einem Buch, weswegen er ihm die Aufgabe des Protokollanten zugewiesen hatte. Auch ohne Worte bekam er immer aus ihm heraus, welche Entscheidungen der Abt außerhalb des Kapitels traf.

„Dann bringt mich zu ihm.“ Thomen schlug das Buch zu und erhob sich. Bruder Bestlin eilte ihm voraus.

Thomen betrat nach Bestlin den Kapitelsaal. Abt Pesolt saß auf seinem Stuhl und neben ihm der Cellerar, der für die wirtschaftlichen Belange des Klosters zuständig war, und der Camerarius, der sich um die Finanzen kümmerte. Hinter ihren ernsten Mienen konnte Thomen Wohlwollen erkennen. Er unterdrückte ein Lächeln und stellte sich wartend vor sie, den Kopf bescheiden gesenkt.

„Ihr habt nach mir geschickt, ehrwürdiger Abt?“

Abt Pesolt ließ seine ernste Miene fallen. „Ja, Bruder Thomen, das habe ich. Ich habe mich mit Bruder Willin und Bruder Paulin beraten und sie haben meine Entscheidung bestätigt, Euch zum Prior zu ernennen. Euer großes Wissen wird mir eine Hilfe bei meinen Entscheidungen sein und Euch zu einem guten Vertreter machen. Darum verleihe ich Euch das Amt des Priors. Ich werde morgen auf der Kapitelversammlung meine Entscheidung unseren Mitbrüdern mitteilen. Euch möchte ich nun bitten, mir einen Vorschlag für Euren Nachfolger zu unterbreiten.“

Thomen gelang es, seinem Gesicht einen überraschten Ausdruck zu verleihen und den Triumph, den er empfand, nicht zu zeigen. „Ich danke Euch für Euer Vertrauen, ehrwürdiger Abt. Doch bitte ich Euch, mir für meine Entscheidung bis morgen Zeit zu geben. Ich habe mit meiner Ernennung nicht gerechnet und muss darüber nachdenken, wen ich mit meiner Nachfolge betrauen kann.“

Abt Pesolt erhob sich, kam auf Thomen zu und fasste ihn an den Schultern. „Eure Bescheidenheit steht Euch gut, Bruder Thomen. Ihr werdet ein guter Prior sein. Ich erwarte Euren Vorschlag morgen vor dem Kapitel.“

Abt Pesolt verließ den Saal. Thomen war nicht entgangen, dass er seiner Entscheidung nicht blind vertrauen würde und sie vor der Verkündung mit ihm besprechen wollte. Nun gut, mit der Zeit würde er sein Vertrauen gewinnen und dann stand ihm der Weg zum Amt des Abtes offen. Bruder Willin, der Cellerar, und Bruder Paulus, der Camerarius, verließen ebenfalls den Saal, nicht ohne Thomen mit einer kurzen Umarmung zu seinem Aufstieg zu beglückwünschen.

Allein zurückgelassen gönnte sich Thomen einen Moment des Triumphes und ließ sich auf dem Stuhl des Priors nieder. Das Kloster Stormflod war das älteste und größte und damit das mächtigste Kloster in Vertara. Knapp einhundert Mönche lebten auf der umstürmten Insel vor der Küste Vertaras und übten sich in Enthaltsamkeit und Gottesfürchtigkeit. Der jeweilige Abt von Stormflod war von Anfang an ein bei den Königen von Vertara geachteter Ratgeber. Thomen stellte sich vor, wie er morgen den Mönchen gegenübersitzen würde, nicht mehr einer von ihnen, sondern über sie erhöht. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und atmete tief ein. Noch war er nicht frei. Abt Ullin hatte Pesolt, als dieser Prior war, in seinen letzten Jahren stellvertretend zu seinen Terminen außerhalb des Klosters geschickt. Aber Pesolt war noch lange nicht so alt, um diese Aufgaben an Thomen abzugeben. Thomen lächelte böse, stand auf und verließ ebenfalls den Saal. Er hatte nicht vor abzuwarten, bis Abt Pesolt eines natürlichen Todes starb. Ein paar Jahre würde er sich gedulden, der Abt würde immer wieder krank werden und letztendlich seiner Krankheit erliegen.

Thomen erreichte einen viel benutzen Gang und setzte seine übliche bescheidene Miene auf. Das Warten hatte sich gelohnt. Selbstverständlich hatte er seinen Nachfolger bereits gewählt und sich auch die passenden Argumente zurechtgelegt, die Abt Pesolt keine Alternative zu dessen Ernennung ließen.

Geheime Mysterien

Neben dem Abt betrat Thomen den Kapitelsaal. Er achtete nicht auf die Blicke der Mitbrüder. Seine Miene verriet keinen seiner Gedanken. Das leise Getuschel verstummte rasch, als sich Abt Pesolt auf seinen Stuhl setzte.

Während der Predigt und der anschließenden Lesung aus den Ordensregeln schweiften Thomens Gedanken wie so oft ab. Diesmal drehten sie sich um seine morgige Einführung in die geheimen Mysterien. Er hatte in der Bibliothek nur vage Hinweise darauf gefunden, was ihn erwarten würde. Sie hatten seine Neugier nur angefacht.

Er schüttelte die Gedanken daran ab, als Abt Pesolt das Wort erhob. „Mitbrüder, bevor ich zu meinen Auslegungen der Regeln komme, will ich einige Ankündigungen machen. Wie ihr bereits gesehen habt, wird Bruder Thomen von nun an das Amt des Priors einnehmen. Morgen wird seine Einführung in die Mysterien stattfinden und danach wird er mir ein wertvoller Stellvertreter sein.“

Thomen schaute in die Gesichter seiner Mitbrüder und erkannte bei den meisten von ihnen Zustimmung. Nur wenige ältere Brüder schienen dem Entschluss des Abtes nicht zugetan zu sein, doch Thomen beachtete dies nicht weiter. Er war sich bewusst, dass er für dieses Amt mit seinen dreißig Jahren recht jung war. Aber auf die Meinung einiger älterer Mitbrüder kam es nicht an.

„Die Nachfolge als Bibliothekar wird Bruder Ottin antreten. Bruder Thomen hat mir versichert, dass er seine Pflichten genau kennt und sein Amt würdig erfüllen wird.“

Thomen beobachtete Ottin ganz genau, während die weiteren Worte von Abt Pesolt über ihn hinwegschwappten. Ottin bemühte sich, seine Freude zu verbergen und Haltung zu bewahren. Doch Thomen war sich sicher, einen treuen Verbündeten gewonnen zu haben. Er hatte mit seiner Aussage, dass Ottin seine Pflichten ganz genau kannte, nicht übertrieben. Für seinen Geschmack kannte er sie zu genau, was ihn bei seinen Mitbrüdern nicht gerade beliebt machte, denn für viele der angezeigten Verfehlungen war Bruder Ottin verantwortlich. Doch durch ihn war Thomen immer im Bilde, was im Kloster vor sich ging, und er war sich sicher, dass Ottin ihm seine Ernennung gewinnbringend vergelten würde. Er war es auch gewesen, der ihm berichtet hatte, dass sein Vorgänger Bruder Ewalt dem Kräuterschnaps sehr zugetan war.

Am nächsten Morgen, mit Anbruch der Dämmerung machte sich Thomen auf den Weg in die Klosterkirche. Ihm voran ging der Sakristan Wentzel. Begleitet wurde er nur noch vom Abt und zwei Mönchen, die dem Sakristan diese Woche zugeteilt waren. Schweigend schritten sie auf die runde Kirche zu, deren mit Gold überzogene Kuppel bald in der Sonne erstrahlen würde. Die Kirche stand am höchsten Punkt des Klostergeländes nahe der westlichen Klostermauer. Sie ragte hoch über diese und die anderen Gebäude hinaus, sodass die Sonne in ihrem Verlauf durch jedes der großen Fenster scheinen und den Altarraum erhellen würde. Thomen sollte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang vor dem Altar knien und in der Vereinigung mit Surija, dem Gott des Lichtes, verweilen. Bei Sonnenuntergang würde er dann in die Krypta hinuntersteigen und dort bis Sonnenaufgang den Versuchungen Adholokas, dem Gott der Dunkelheit, widerstehen. Soweit die Theorie. Thomen konnte seine Ungeduld kaum verbergen, als er gemessenen Schrittes dem Sakristan folgte. Würde Surija ihn tatsächlich mit seiner Gegenwart beehren? Oder war das Ganze nur Gerede? Allerdings hieß es, dass manche der Brüder nach der Einführung in die Mysterien nicht mehr dieselben waren. Und mit welchen Versuchungen würde Adholoka seine Standhaftigkeit prüfen? Thomen hoffte, endlich eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die Legenden um Ekarius nur spannende Märchen waren oder ob in ihnen ein Körnchen Wahrheit steckte.

Sie betraten den runden Raum, der von reichverzierten Leuchtern erhellt wurde. Verschiedenste Darstellungen der Sonne bedeckten die Wände und auf den breiten Fensterbänken standen unzählige, mit funkelnden Edelsteinen geschmückte Schalen und Pokale. Geschenke von reichen Bürgern an das Kloster, mit dem Auftrag, für ihre Seelen zu beten. Bruder Wentzel löschte die Kerzen, damit die aufgehende Sonne ihre volle Wirkung entfalten konnte. Abt Pesolt segnete Thomen, bevor dieser vor dem Altar niederkniete. Dann ließen sie Thomen allein. Er musste diesen Tag ohne Essen und Trinken überstehen und hoffte, dass sich das Opfer lohnen würde. Die Sonne ging auf und in ihren Strahlen glitzerte und funkelte der ganze Altarraum. Thomen kniete und betete zu Surija um ein Zeichen seiner Anerkennung.

Die Vertarer hatten nicht immer zu Surija gebetet. Bevor die Götter Surija und Adholoka um die Seelen der Vertarer gerungen hatten, baten die Menschen von Vertara Mutter Erde um Fruchtbarkeit, Gesundheit und eine gute Ernte. Manchmal konnte man noch die Überreste der aus Feldsteinen errichteten Altäre finden, auf denen mehrmals im Jahr eine Ziege oder eine Kuh geopfert wurde. Doch das war so lange her, dass sich kaum noch jemand daran erinnerte. Mit Ekarius, seiner Vereinigung mit Surija und dem siegreichen Kampf gegen Adholoka war ein neues Zeitalter angebrochen und der alte Glaube in Vergessenheit geraten.

Die Stunden vergingen. Schon bald nach Sonnenaufgang zogen Wolken auf und verdeckten erst kurz, dann immer länger die Sonne. Thomens Konzentration schwand, je höher die Sonne stieg. Durst und Hunger machten sich bemerkbar und seine Knie schmerzten, trotz des Polsters auf der Bank. Durch die bodentiefen Fenster konnte er die Mönche in den Kapitelsaal streben sehen, in dem die Messen abgehalten wurden, wenn in der Kirche eine Einführung in die Mysterien stattfand. Thomen begann sich zu langweilen und starrte auf das Klostergelände, das sich vor der Kirche ausbreitete. Direkt südlich zwischen der Kirche und der Pforte befand sich der kleine Friedhof, auf dem die verstorbenen Mönche begraben wurden. Duftende Blumen und einige Schatten spendende Bäume wuchsen dort. Vom neben dem Friedhof liegenden Pförtnerhäuschen führte ein breiter Weg zur Anlegestelle, an der zweimal am Tag eine Fähre Besucher und Waren brachte. Im Kloster wurde nicht alles hergestellt und angebaut, was zur Verpflegung der Brüder notwendig war und so waren sie auf die täglichen Lieferungen angewiesen. An der südlichen Mauer lagen das Dormitorium, in dem die Mönche schliefen, die Waschküche und das Badehaus. Direkt daneben befand sich das Refektorium, in dem die Mönche ihre Mahlzeiten zu sich nahmen, sowie die Küche und die Vorratskammern. Die Küche hatte einen kleinen Durchgang durch die Klostermauer und direkt hinter ihr, von der Mauer vor dem kalten Wind geschützt, lag der Klostergarten, in dem Kräuter und Gemüse wuchsen. Die Ställe für die drei Pferde des Abtes und seine Begleiter, wenn er auf Reisen ging, und das Vieh, das die Brüder mit Fleisch, Eiern und Milch versorgte, befanden sich ebenfalls vor der Südmauer, direkt neben dem Garten. Auf den Weidewiesen, die sich bis zum Ufer erstreckten, konnte Thomen die Apfelbäume erkennen, an denen kleine, saure Äpfel wuchsen und die er überhaupt nicht mochte. Leider gab es sie viel zu oft als Nachtisch zum Mittag.

Der Kirche gegenüber lag der Kapitelsaal und über ihm im ersten Stock das Skriptorium und die Bibliothek. An der Nordmauer, getrennt von den anderen Gebäuden, residierte der Abt in einem vornehmen Haus, das neben seinen Gemächern einige Räume für gehobenere Gäste bot. Dort würde Thomen eines Tages einziehen, der stickigen Enge des Dormitoriums entkommen und einen großzügigen Rückzugsort für sich allein haben. Immerhin stand ihm als Prior ein kleines Arbeitszimmer im Hause des Abtes zur Verfügung, und wenn der Abt auf Reisen war, durfte er dessen Arbeits- und Esszimmer nutzen. Neben dem Haus des Abtes schmiegten sich das Gästehaus und das Infirmarium, in dem die Kranken des Klosters gepflegt wurden, an die Nordmauer. Im Moment ging eine Erkältungswelle durch das Kloster und das Infirmarium war gut gefüllt. Thomen unterdrückte ein Gähnen. Er würde noch anfangen, die Hühner zu zählen, wenn nicht bald etwas geschah.

Immer wieder kämpften sich einige Sonnenstrahlen durch die dichter werdenden Wolken, doch außer der Wärme, die sie brachten, spürte Thomen nichts. Ihm wurde klar, dass er von Surija kein Zeichen erhalten würde. Hatte das etwas zu bedeuten? Hatte sich Surija von ihm abgewandt? Oder waren die Mysterien doch nur das Geschwätz alter Mönche? Thomen hatte Pesolt mit einem verklärten Gesichtsausdruck nach seiner Einführung aus der Kirche kommen sehen. Dies zu imitieren sollte kein Problem sein. Thomen kam zu dem Schluss, dass wahrscheinlich keiner je eine Erscheinung von Surija erlebt hatte und die mageren Informationen daher rührten, dass es nichts zu berichten gab. Er erhob sich und rieb sich die schmerzenden Knie. Was für eine Zeitverschwendung! Seine Neugier hatte einen deutlichen Dämpfer erhalten und ihm graute vor der Nacht, die er in der feuchten, kalten Krypta verbringen musste.

Der Sakristan kam zurück, als die Sonne unterging. Thomen hatte sich kurz zuvor wieder hingekniet. Er erhob sich jetzt langsam und richtete einen entrückten Blick auf Bruder Wentzel, der dies mit einem erleichterten Lächeln zur Kenntnis nahm. Thomen atmete auf. Er hatte anscheinend das richtige Maß an Ergriffenheit gezeigt. Nun konnte der Sakristan dem Abt berichten, dass Thomen von Surija mit seiner Gegenwart beehrt worden war. Thomen folgte Wentzel die Treppe zur Krypta hinunter. Hier schmückte keine einzige Verzierung die steinernen Wände. Nur die Fackel, die Bruder Wentzel in der Hand trug, erhellte den Raum. Wentzel steckte sie in einen Halter und fing dann an, den eisernen Deckel zur Seite zu ziehen, der sich auf dem Boden in der Mitte des Raumes befand. Er schnaufte und ächzte, schaute mehrmals zu Thomen hinüber in der Hoffnung, dass dieser mit anfassen würde. Doch Thomen starrte wie gebannt auf die freigelegte Öffnung, durch die ein kräftiger Mann geradeso hindurchpasste. Ein übler, modriger Gestank drang aus dem Loch und mit ihm ein leises Flüstern. Der Sakristan schien nichts zu hören. Er rümpfte nur angewidert die Nase und rollte geschäftig eine Strickleiter in den Schacht hinunter. Dann trat er zur Seite und bedeutete Thomen, dass er da hinunterklettern sollte. Das hatte Thomen nicht erwartet. Er wusste wohl, dass unter jeder Kirche eine dieser Gruben war, in die man die schlimmsten Verbrecher gesperrt hatte. Manche von ihnen hatten die Gruben nie verlassen. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Nirgendwo wurde erwähnt, dass man sie für die Einführung in die Mysterien nutzte. Er spürte Wentzels Blick auf sich und straffte die Schultern. Um sein Ziel zu erreichen, musste er jetzt da durch. Aber er würde es seinen Eltern heimzahlen, dass er wegen ihnen Stunden in diesem engen, stinkenden Loch verbringen musste, um seine Freiheit wiederzuerlangen. Er unterdrückte einen Würgereiz, als er an den Rand des Loches trat und einen Fuß auf die erste Sprosse setzte. Wentzel nickte ihm zu und nahm die Fackel zur Hand, um ihm den Weg zu leuchten. Thomen stieg langsam in die Tiefe hinab. Der Schacht verbreiterte sich mit zunehmender Tiefe auf die Größe einer kleinen Kammer. Als er unten angekommen war, konnte er im Schein der Fackel einige Skelette von ehemaligen Gefangenen erkennen, dann zog Bruder Wentzel die Strickleiter hoch und mit dem Klicken des Türschlosses ließ er Thomen in der Dunkelheit zurück.

Thomen lehnte sich mit dem Rücken an die raue, gemauerte Wand, schob mit dem Fuß den Unrat am Boden zur Seite und ließ sich nach unten gleiten. Die Luft am Boden des Schachts war stickig und machte ihn benommen. Kurz kam ihm der Gedanke, ob er hier unten in den Ausdünstungen der menschlichen Überreste ersticken würde, als ihn ein rotes Glühen ablenkte, das von der Mitte des Bodens kam. Das Flüstern, dass er beim Öffnen des Schachtes vernommen hatte, wurde lauter. Er hörte genau hin, um die Worte zu verstehen, doch sie waren zu undeutlich. Langsam näherte er sich dem roten Licht. Das Flüstern wurde lauter. Gebannt kroch Thomen immer dichter heran, bis sein Gesicht in rotes Licht getaucht war. Langsam formten sich aus dem Wispern Worte. Sie versprachen ihm, was er sich sehnlichst wünschte. Rache an seinen Eltern, die ihn zu diesem beengten Leben verdammt hatten. Die Freiheit, diese tristen Mauern endlich zu verlassen und sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Langsam formte sich die Frage in Thomen, was er tun musste, um all dies zu erreichen. Das Flüstern verstummte und das Leuchten ließ nach.

„Geh nicht!“, flüsterte Thomen verzweifelt. War alles nur Einbildung gewesen, hervorgerufen durch den Gestank, der hier unten herrschte? Ihm war bis jetzt nicht bewusst gewesen, wie weit er gehen würde, um seine Ziele zu erreichen. Er würde nicht nur dafür töten und andere ins Unglück stürzen, er würde Adholoka selbst dienen, wenn es nötig wäre. „Komm zurück!“, flehte er, und das Leuchten nahm wieder zu. Es wurde stärker und langsam formte sich eine Gestalt aus rotem Licht. Dort wo die Augen waren, saßen schwarze Löcher. Wie unter Zwang stand Thomen auf und starrte in die Schwärze, die sich vor ihm auftat, ihn umgab und durchdrang. Die Worte, die vorher nur ein Wispern waren, dröhnten nun in seinem Kopf. Er würde die Kraft besitzen, alles tun zu können, was er wollte, wenn er Adholoka diente und ihm zur Herrschaft über Vertara verhalf. Seine Seele und die Seelen aller Menschen in Vertara waren der Preis für ein Leben in Macht und Freiheit. Für Thomen gab es kein Zögern. All sein unterdrückter Zorn brach auf wie eine eiternde Wunde und vergiftete, was noch Gutes in ihm gewesen war. Er war bereit für Adholoka. Nie gekannte Schmerzen durchfuhren ihn, als sich der Gott der Dunkelheit mit ihm vereinte. Seine verkümmerte Seele schrumpfte weiter und machte Adholoka Platz. Thomen hatte das Gefühl zu verbrennen. In glühender Qual wälzte er sich auf dem Boden. Seine spitzen Schreie verhallten ungehört. Als er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, ließen die Schmerzen nach. Zitternd blieb er liegen. Das rote Licht war erloschen, doch Thomen spürte die Veränderung, die in ihm vorgegangen war. Adholoka war in ihm. Er konnte seine Kraft und seine Präsenz in seinen Gedanken spüren. Langsam schleppte sich Thomen zur Wand, lehnte sich dagegen und lauschte für den Rest der Nacht Adholokas Worten, die von nun an sein Leben bestimmen würden.

Bruder Wentzel betrat am nächsten Morgen die Krypta und leuchtete in den Schacht hinunter. Thomen war aufgestanden und sah zu ihm hinauf. Wentzel atmete auf. Es war schon einige Male vorgekommen, dass die Kandidaten in dem Schacht ohnmächtig geworden waren und der Sakristan hinuntersteigen musste, um sie zu holen. Bis jetzt war ihm das erspart geblieben und auch heute war das Glück ihm hold. Thomen war stark und hatte, wie es aussah, Adholoka widerstanden. Für Wentzel gab es keine Zweifel an der Existenz der Götter. Er ließ die Strickleiter hinab und sah gespannt zu, wie Thomen sie emporkletterte.

Die Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Sein eh schon schmales Gesicht wirkte nahezu eingefallen und seine ohnehin blasse Haut beinahe durchscheinend. Sein schwarzer Bart war voller Schmutz, ebenso die braune Kutte, die jeder Mönch trug, als ob er sich auf dem Boden gewälzt hatte. Der Widerstand gegen Adholokas Versuchungen musste ein harter Kampf gewesen sein. Dicke Augenringe zeigten seine Erschöpfung, doch er ergriff nicht die Hand, die Bruder Wentzel ihm helfend hinhielt. Eigenständig kletterte er aus dem Loch, wankte zur Wand und lehnte mit geschlossenen Augen dagegen, während Wentzel schnaufend den Deckel über das Loch schob. Mit einem letzten Ächzer richtete sich Bruder Wentzel auf, nahm die Fackel zur Hand und trat auf Thomen zu, um ihm voran aus der Krypta zu gehen. In dem Moment öffnete Thomen die Augen und Wentzel sah deutlich das rote Leuchten in seinen Pupillen. Vor Überraschung blieb ihm der Mund offenstehen und er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Das konnte nicht sein. Er hatte dem Abt berichtet, dass Bruder Thomen von Surija gesegnet worden war. Sein Gesichtsausdruck hatte das deutlich gesagt. Mit klopfenden Herzen trat er näher an Thomen heran, hob die Fackel, um besser sehen zu können, doch das Leuchten war verschwunden. Bruder Wentzel legte die Hand auf sein rasendes Herz. Er hatte sich getäuscht.

„Kommt, Bruder Thomen. Der ehrwürdige Abt wartet vor dem Altar auf Euch, um Euch zu segnen.“ Mit einem letzten scharfen Blick auf Thomen ging er die Treppe nach oben voran.