Lichtbringer – Die Empirium-Trilogie - Claire Legrand - E-Book

Lichtbringer – Die Empirium-Trilogie E-Book

Claire Legrand

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Beschreibung

Das Empirium will Rielle dazu bringen, dass die Pforte fällt, doch ohne Audric und Ludivine übernimmt sie die Rolle der Blutkönigin, und an Coriens Seite ist Rielle nun entschlossen, jenes Monster zu werden, das die Welt in ihr zu erkennen glaubt. In der fernen Zukunft kämpft Eliana einsam und verraten um die Macht – auch gegen Corien, der nicht einmal davor zurückschreckt, eine Zeitreise zu Rielle zu unternehmen, selbst wenn er damit ihre Tochter zerstört. Doch als sich der mysteriöse Prophet endlich offenbart, ändert sich alles. Rielle und Eliana erhalten eine zweite Chance – wird sie zur Erlösung führen oder zur endgültigen Zerstörung, vor der sich nahezu jedermann in der Welt von Avitas fürchtet?

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Seitenzahl: 982

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Claire Legrand

Lichtbringer

Die Empirium-Trilogie (Band 3)

Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Rak und Ariane Böckler

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

Lightbringer – The Empirium Trilogy (Book 3) bei Sourcebooks Fire.

 

© by Arctis Verlag

Ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2020 Claire Legrand

Originally published in the United States by Sourcebooks Fire, an imprint of Sourcebooks, Inc. www.sourcebooks.com

 

Übersetzung: Alexandra Rak und Ariane Böckler

Lektorat: Petra Deistler-Kaufmann

Covergestaltung: David Curtis/Shannon Associates

Karte: Michelle McAvoy

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-134-4

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

 

Für meine Mutter,

die mich liebt

EIN UNGEHEUER UND EIN LÜGNER

»Ihr, die ihr für eure geliebten Gefallenen kämpft, für eure verwüstete Heimat, hört mir gut zu: Eines Tages taucht womöglich der Kaiser vor euch auf. Vielleicht ist ihm eure Schönheit ins Auge gefallen, vielleicht lag es auch an eurem Talent oder an eurer Stärke. Er wird euch anlächeln und verführen. Er wird euch umschmeicheln und Versprechungen machen. Traut ihm nicht. Kämpft bis zum letzten Atemzug gegen ihn. Kämpft für diejenigen, die ihr verloren habt. Kämpft für eine Welt, wie sie hätte sein können und vielleicht noch immer werden kann.«

Die Worte des Propheten

 

Simon kauerte mit dem Messer in der Hand neben dem vereisten Felsen und beobachtete mit hungrigen Augen einen Hasen. Seine Lippen waren vor Kälte aufgesprungen und seine schwieligen, verschorften Füße schmerzten in den abgetragenen Stiefeln.

Das schlaksige weiße Tier war noch nicht ganz ausgewachsen, und Simon wusste, dass mehr Fell an ihm war als ordentliches Fleisch, aber er wusste auch, dass er Hunger hatte und alles verschlingen würde, was er töten konnte.

Darüber hinaus wusste er fast nichts.

Der Hase hielt inne, er war so nah, dass Simon seine Schnurrhaare zucken sah. In stummer Angst starrte er auf die Welt und wartete auf seinen Tod. Um sie herum erstreckte sich die weitläufige Hochebene kilometerweit in der einsamen Kälte und der Morgenschnee glitzerte weiß. Geräuschlos schwebten Flocken vom wolkenverhangenen Himmel. Schon bald würden die richtigen Schneefälle einsetzen. Das wusste Simon. Und der Hase auch.

Und nur einer von beiden würde das erleben.

Der Hase schlich näher. Er hatte den Geruch des Jägers gewittert, seine blasse Nase zitterte, aber er konnte ihn nicht entdecken.

Simon war schon immer gut im Verstecken gewesen, doch seit er vor fast einem Jahr in dieser schrecklichen Einöde gelandet war, hatte er diese Fähigkeit sogar noch perfektioniert.

Der Hase kam noch näher. Simon roch jetzt seinen Moschusduft und spürte die Wärme, die von dem verängstigten Tier ausging. Er machte einen Satz, stürzte sich darauf und schnitt ihm die Kehle durch, bevor es weglaufen konnte.

Er war zu hungrig, um ein Feuer zu machen, deshalb häutete er mit ein paar schnellen Schnitten seine Beute und schlug seine Zähne in die Keulen. Er aß. Und legte dabei sein Messer nicht ab.

Während des letzten Jahres hatte er gelernt, sein Messer niemals abzulegen.

Simon hatte den Hasen gerade halb aufgegessen, Fasern des blutigen Fleisches hingen noch an seinen Zähnen, da hörte er ein Geräusch. Er ließ sein Abendessen fallen und wirbelte herum, entweder würde er töten oder flüchten müssen.

Stattdessen starrte er nur angestrengt durch das Schneegestöber.

Nicht weit von ihm stand eine Gestalt und beobachtete ihn. Simon kniff die Augen zusammen. Es war ein Mann. Er trug einen langen schwarzen, mit Pelz besetzten Mantel. Der Mantel unterstrich die breiten Schultern seines Trägers, hatte einen hochgeschnittenen Kragen und fiel in weichen Falten bis zum Boden, was zu den leicht gewellten schwarzen Haaren des Mannes passte. Er war wunderschön anzusehen, klar und markant hob er sich vor der tristen winterlichen Weite der Hochebene ab, die jetzt Simons Zuhause war.

Die Welt um Simon verstummte. Er hörte weder das entfernte Knacken der sich verschiebenden Eismassen noch die rauen Bergwinde. Er hörte ausschließlich das wilde Klopfen seines eigenen Herzens und die Schritte des Mannes, der auf ihn zukam.

Denn Simon kannte diesen Mann. Einst hatte er ihn gefürchtet, ja sogar gehasst. Aber seit jenen letzten schrecklichen Augenblicken in Âme de la Terre war so viel Zeit vergangen, dass Simon inzwischen sogar der Anblick eines Feindes willkommen war.

Der Mann legte eine behandschuhte Hand auf Simons gebeugten Kopf. Simons Lippen verließ ein leiser, sehnsuchtsvoller Aufschrei. Blind tastete er nach oben, und als er das Handgelenk des Mannes fand, klammerte er sich verzweifelt daran fest.

»Du bist das«, flüsterte er. Er war nicht mehr allein. Eine fast animalische Ekstase überfiel ihn und ein heiseres Lachen drang aus seiner Kehle.

»Ich bin es«, sagte der Engel namens Corien. Er kniete sich hin und betrachtete Simon genau.

Simon erstarrte und verstärkte den Griff um sein Messer. Schwarze Augen, dunkel und unendlich. Augen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er fletschte die Zähne und verlagerte sein Gewicht auf die Fußballen.

Doch Corien lächelte bloß. »Wie heißt du?«

Simons Gedanken wirbelten durcheinander. Vor ihm kniete der Mann, der in sein Land einmarschiert war, der Hunderte seiner Nachbarn und Tausende Celdarier getötet hatte.

Er hatte den Engel vor sich, der in den Geist seines Vaters eingedrungen war und ihn gezwungen hatte, von einem Turm in den Tod zu springen.

Einen ungezügelten Augenblick lang überlegte Simon, ob er sich auf Corien stürzen und ihm genau wie dem Hasen die glatte, weiße Kehle aufschlitzen sollte. Aber Simon hatte gesehen, mit welcher Geschwindigkeit Engel angriffen. Corien würde ihn aufhalten, noch bevor er sein Messer erhoben hätte.

Er könnte wegrennen, aber auch das war undenkbar. Ein ganzes Jahr lang lebte er nun schon allein in dieser Wildnis und war nur noch Haut und Knochen. Ein ganzes Jahr lang hatte er sich ausschließlich mit sich selbst und den Tieren unterhalten.

Vor Zorn traten ihm Tränen in die Augen. »Du weißt, wie ich heiße, oder nicht?«, flüsterte er wütend. »Kannst du das nicht sehen?«

Daraufhin schwieg Corien so lange, bis sich die Furcht wie eine eisige Hand auf Simons Nacken legte und er sich darauf gefasst machte, doch davonzulaufen. Sich darauf einzustellen, davonzulaufen, war ihm schließlich vertraut.

»Ich kenne dich in der Tat«, sagte Corien leise und leicht irritiert. »Ich kenne dich und doch kenne ich dich nicht.«

Und dann drang plötzlich ein suchender Geist in Simons Gedankenwelt ein, so als würden geschickte Hände die Windungen seines Hirns beiseiteschieben, um nachzusehen, was darunterlag. Obwohl es ihm noch nie widerfahren war, wusste Simon genau, was gerade geschah. In den Monaten vor und nach König Audrics Tod hatten sich in Celdaria schaurige Geschichten verbreitet. Fürchterliche Geschichten über Menschen, die in den Wahnsinn getrieben wurden oder gebrochen in den Ruinen ihrer geplünderten Dörfer zurückgelassen worden waren.

So fühlte es sich also an, wenn ein Engel in einen eindrang.

Während Corien sich durch Simons Gedanken arbeitete, rührte sich der Junge nicht und atmete flach, allerdings zitterte er vor Kälte. Eine Stimme glitt an seinen Ohren vorbei, küsste seinen Nacken und fuhr seine Narben nach. Die Stimme zischte Worte, die Simon nicht verstand, Worte, die immer lauter und schneller wurden, bis es in seinem Kopf unerträglich dröhnte. Es kam ihm vor, als würde er durchgeschüttelt, über einen Abgrund gehalten und hin und her geschleudert, während das ausgehungerte Etwas, das tief unten in diesem Abgrund lebte, jammervoll heulte.

Simon schrie und wollte weglaufen, aber Corien packte ihn an Arm und Kinn und drückte ihn mit seinen behandschuhten Händen auf den Boden. Auf Simon legte sich ein so unglaubliches Gewicht, dass er fürchtete, sein Körper würde bersten. Von einer großen Kraft angezogen, stiegen in seinem Inneren Worte auf. Nicht mehr lange und sie würden überlaufen und wie Insekten davonhuschen, sie würden Simon, Simon, Simon zischen und die Welt verschlingen.

Dann war es endlich still.

Simon keuchte in den Schmutz. Coriens Antlitz wirkte angespannt und zugleich erregt, dort spiegelten sich Gefühle, die Simon nicht zuordnen konnte. Es war schon so lange her, seit er zuletzt ein Gesicht gesehen hatte.

»Ich kenne dich in der Tat«, sagte Corien leise. Seine Worte tropften gleichgültig wie Regen auf Metall; doch Simon spürte jedes einzelne bis in sein Innerstes. »Irgendwie kenne ich dich. Ich sehe, dass du Simon Randell heißt. Du bist neun Jahre alt. Du bist ein Gezeichneter. Oder besser gesagt, du warst einmal ein Gezeichneter, den ich kannte. Deshalb bin ich auch zu dir gekommen. Ich habe in diesen Bergen eine ungewöhnliche Existenz gespürt und bin ihrer langen Spur bis hierher zu dir gefolgt. Gezeichnete gibt es längst keine mehr. Wusstest du das, Simon? Außer mir existiert fast nichts Bedeutendes mehr.«

Coriens dunkler Blick wanderte über Simons Körper, über das dichte Narbengeflecht, das Gesicht und Hände des Jungen überzog. Simon spürte, wie sein Geist driftete und Corien Platz machte. Er biss die Zähne zusammen, versteifte sich. Er würde keine Angst haben. Nein. Er hielt den Atem an.

»Langsam sehe ich mehr«, flüsterte Corien ungerührt. »Deine Reise in die Zukunft hat dir schreckliche Narben zugefügt und hätte dich beinahe getötet. Nein, du warst nicht immer so verunstaltet.« Er lächelte, während der Rest seines schönen, blassen Gesichts ohne jede Regung blieb. »Aber du bist nicht hässlich, nicht wahr Simon? Unter diesen Narben bist du ein recht ansehnliches Geschöpf.«

Simon versuchte, sich aufzusetzen, und als Corien ihm seine behandschuhte Hand auf den Rücken legte, um ihm zu helfen, errötete er. Er straffte seine Schultern und hob sein Kinn, bemüht, sich wie ein Junge zu bewegen. Seine Gedankenwelt kippte und drehte sich. Er befand sich also in einer fernen Zukunft. Irgendein entsetzlicher Instinkt, der in seinem Innern schlummerte, hatte ihn das bereits vermuten lassen. So manche Nacht hatte er sich das zugeflüstert. Aber nun hatte er Gewissheit.

Unzählige Fragen stürmten auf ihn ein. Wann genau war diese Zukunft? Wie viel Zeit war zwischen dem Damals und dem Jetzt vergangen? Was war diese Welt? Coriens Augen waren schwarz und Simon konnte nicht länger durch Zeit und Raum reisen, und er fragte sich: Hingen diese seltsamen Gegebenheiten womöglich miteinander zusammen?

Was war aus dem Empirium geworden?

Und warum starrte Corien ihn so forschend an, als würde er etwas in seinem Gesicht lesen, von dem Simon nichts wusste?

Coriens Blick war kalt und undurchdringlich. »Sie ist an meiner Seite gestorben. Ich blutete jahrzehntelang, und selbst als ich wieder gesund wurde, heilte mein Geist nicht. Ist das der Grund, warum ich dich bloß wie einen flüchtigen Schatten wahrnehme und außer deiner großen, gleichwohl dumpfen Angst nahezu nichts höre? Liegt es daran, dass mein Verstand in all den Jahren schlimm zugerichtet wurde, Simon? Simon Randell. Ich kenne dein Gesicht, aber ich weiß nicht, woher. Wer bist du? Für wen kämpfst du?«

»Kämpfen?« Simon schüttelte den Kopf. »Ich kämpfe für niemanden.«

Corien betrachtete ihn noch einen Augenblick länger. »Ach, bedauerlich«, sagte er schließlich, stand auf und wischte sich den Schnee vom Mantel. »Ich bin hierhergekommen, weil ich Hilfe suchte. Offenbar habe ich bloß einen einsamen Jungen gefunden.«

»Warte!«, rief Simon, als Corien sich zum Gehen wandte. Er könnte es nicht ertragen, wieder allein gelassen zu werden. Also kroch er hinter Corien her und griff nach dessen Mantelsaum. Unglücklich wie ein geschlagener Hund rollte Simon sich zu Coriens Füßen zusammen. Als ihm bewusst wurde, was er vorhatte, machte sich in seiner Brust kurz Angst breit, aber Scham empfand er schon lange nicht mehr.

Schließlich hatte er durch Rielles Tod sein Zuhause verloren und war hier gelandet. Ihr Egoismus und ihre Unfähigkeit, ihre Macht zu kontrollieren, hatten die Welt verwüstet und ihn einsam und ohne Magie zurückgelassen.

Simon schob seine Furcht beiseite und klammerte sich an Coriens Arm. Er drückte seine Stirn fest gegen dessen Ärmel, raffte seinen Hass auf die tote Königin und schleuderte ihn auf den Engel vor ihm, damit der endlich erkannte, damit der endlich verstand.

»Ich bin aus Celdaria«, sagte Simon zitternd. »Ich habe Rielles Tochter gesehen. Und ich werde für Euch kämpfen, Mylord.«

Er wartete. Ertrug die schreckliche, schwere Stille, die auf ihm lastete. Obwohl Corien ihn nicht berührte, fühlte Simon eine feste Hand im Nacken.

»Ich hielt sie in der Nacht ihrer Geburt«, fuhr Simon fort und seine Worte sprudelten nun geradezu aus ihm heraus. »Ich bin der Sohn von Königin Rielles Heiler. Er versteckte mich vor Euch. Aber in dieser Nacht hatte ich Angst. Ich sah, wie mein Vater sprang …« Simon spürte einen Kloß im Hals. Er räusperte sich, um ihn wieder loszuwerden. Schon seit Monaten hatte er nicht mehr geweint und jetzt würde er es auch nicht tun.

»Ich sah, wie er hinunterstürzte«, sprach er weiter. »Königin Rielle lag im Sterben, und das Baby, ihre Tochter, war allein. Ich hörte, wie Ihr nach der Königin gebrüllt habt, Mylord – ich sah, wie Ihr auf ihr Licht einschlugt. Und ich wusste nicht, was ich tun sollte, also nahm ich das Baby und versuchte mit ihm an einen sicheren Ort zu reisen. Ich wollte das Mädchen nach Norden bringen, nach Borsvall, wo König Ilmaire sie beschützen konnte. Ich dachte, Königin Rielles Tod würde auch meinen Tod und den Tod des Kindes bedeuten.«

Simon blickte schlotternd nach oben. Durch den Schleier aus Tränen und Schnee konnte er Coriens Gesicht kaum erkennen.

»Aber irgendetwas ging schief. Die Zeit fing mich, Mylord, und hat mich hierhergebracht. Ich lebe nun schon seit Monaten allein. Und konnte niemanden finden. Obwohl ich immer weitergelaufen bin.«

Inzwischen heulte er hemmungslos. Und hasste sich für diese laute Wehklage, die ihn so klein werden ließ, aber jetzt, wo er mit jemandem sprach, den er kannte, jemandem aus der alten Welt, die sein Zuhause war, wusste er, dass er die Einsamkeit nicht mehr ertragen könnte. Wenn Corien ihn zurückließ, würde Simon sterben. Er würde sich gegen die Felsen werfen. Oder der Spur der Schneekatzen folgen, damit die Geschöpfe ihn witterten und fraßen.

Corien verharrte vollkommen regungslos, dann kniete er sich erneut langsam hin und umschloss Simons Gesicht. Er hatte die Handschuhe ausgezogen und die bloße Haut seiner Hände war weiß und weich.

»Du bist in Vindica, kleiner Simon«, sagte er freundlich, »in einer Einöde, die früher einmal Engelsland war. Du bist in der Hochebene des Maktarigebirges. Natürlich bist du allein. Natürlich ist dir kalt.«

Simon ließ sich an Coriens Brust ziehen und schluchzte in dessen Mantel. Dann hielt er inne und kämpfte mit aller Kraft gegen noch mehr Tränen. Er wollte beweisen, dass er ein Geschöpf war, dass es zu bewahren lohnte.

»Verlasst mich nicht, bitte, verlasst mich nicht«, flüsterte er. »Nehmt mich mit Euch, bitte, Mylord.«

Corien streichelte Simons lange, verfilzte Haare. »Du hast deinen Vater sehr geliebt. Du solltest mich hassen, weil ich ihn umgebracht habe. Denn ich habe ihn umgebracht – das sehe ich inzwischen. Du solltest mich dafür töten wollen, aber du hast eine solche Angst davor, wieder allein zu sein, dass du nur zu gerne mit mir gehen wirst, wenn ich dich dazu auffordere. Für die Gelegenheit, mit jemandem zusammen zu sein, der weiß, was du verloren hast, würdest du alles tun, was ich von dir verlange, nicht wahr?« Er lachte fahrig.

»Ja«, flüsterte Simon und bebte in Coriens Armen. Er spürte, wie der Engel seinen Geist sanft abtastete. »Ich tue, was immer Ihr sagt, Mylord.«

»So ein schwacher Geist, so ungeschützt und aufgerieben«, staunte Corien, während seine Finger behutsam Simons Wangen umschlossen. »Du erinnerst dich an Dinge, die du vergessen wolltest, und ich kann jede deiner Erinnerungen so klar sehen, als wäre sie meine eigene.«

Inmitten seiner Tränen und dieser schrecklichen, anschwellenden Angst, in seiner Not, Corien unbedingt bei sich zu halten, erinnerte Simon sich, ja, das stimmte. Er konnte nicht anders, als sich zu erinnern.

Er erinnerte sich, wie Königin Rielle in der Nacht ihres Todes ihre neugeborene Tochter in seine Arme gedrückt hatte. Er erinnerte sich, wie ihre erschöpften, tief liegenden Augen wie Gold funkelten, an die unerträgliche Spannung in der Luft, als der Raum hinter ihm lichterloh brannte. Er erinnerte sich, wie Corien in den Gemächern der Königin vor Trauer verzweifelt aufschrie. Er erinnerte sich, wie er in die Nacht geblickt und die Bänder heraufbeschworen hatte, die ihn und das Kind sicher nach Borsvall bringen sollten.

Und dann war da noch sein Vater, der, die Hände um seinen Kopf gekrallt, auf die Terrasse vor den Gemächern der Königin stolperte. Der über die Brüstung stürzte, dem Erdboden entgegen.

Und dann waren da noch die dunklen Bänder der Zeit, die nach Simon griffen und an ihm zerrten. Der Schmerz, den sie ihm zufügten, und wie er sich in den ersten Wochen nach seiner Ankunft in dieser Einöde kaum wiedererkannte, weil er mehr einem wilden Tier ähnelte als einem Jungen. Er hatte vergessen, wie man sprach. Blutend und mit Brandwunden übersät war er auf allen vieren gekrochen und hatte das endlose Nichts angeheult.

»Und das Kind? Das Mädchen?«, fragte Corien sanft und streichelte ihn weiter. »Was ist mit ihr passiert?«

»Als ich hier aufwachte, war sie nicht mehr da.« Simon wühlte in seiner Tasche nach dem kleinen Fetzen Decke, den er stets bei sich trug. Immer, wenn er sich schlafen legte, verbarg er sein Gesicht darin. Manchmal schrie er auch hinein. Oder vergrub die Zähne in dem Stoff und wiegte sich in der Dunkelheit vor und zurück.

Corien dachte eine ganze Weile nach. »Sie könnte hier sein. Sie könnte überall sein. Sie könnte nirgendwo sein.«

Simon hatte Mühe zu schlucken. Sein Herz trommelte wie Hufe auf Steinen. Er war in Panik. Er hielt so still, dass sein Körper vor lauter Anspannung brannte.

»Ja, Mylord«, flüsterte er.

»Dann wäre ein Gezeichneter recht nützlich. Selbst einer, dessen Magie erloschen und verschwunden ist.«

Corien erstarrte. Simon nahm wahr, wie sich in seinem Geist etwas verschob und zu einem vollkommenen Stillstand kam, so als wäre tief in seinem Innern etwas eingerastet, das sich nie mehr bewegen würde.

Corien trat zurück und fixierte ihn. Sein Blick war ganz anders als eben noch. Simon bebte vor Angst und versuchte, von ihm abzurücken.

Aber Coriens Griff war eisern.

»Ich erkenne es jetzt in deinem Gesicht«, flüsterte er, während er mit seinen dunklen Augen jede von Simons Narben sezierte. »Du bist der Mann, den ich gesehen habe, als Rielles Tochter sie an jenem Tag in den Bergen aufgesucht hat …« Er lachte einmal leise. Etwas in seinem Gesichtsausdruck hellte sich auf, aber Simon konnte sich weder erklären, warum das so war, noch verstand er irgendetwas von dem, was Corien erzählte.

»Du bist Simon Randell«, sagte Corien und berührte seine Schläfe mit zitternden Fingern. »Natürlich bist du das. Und jetzt bist du hier.« Er küsste Simons Stirn, und mit der Berührung seiner kalten Lippen breitete sich eine Wärme in Simons Körper aus, die ihn beruhigte.

»Und jetzt«, flüsterte Corien, »gehörst du mir.«

»Vielleicht kann ich meine Magie wiedererwecken, Mylord«, stieß Simon eifrig hervor. Etwas war zwischen ihnen passiert, auch wenn Simon nicht begriff, was es war. Dafür wusste er mit Sicherheit, dass er von nun an nie mehr allein sein würde. »Ich habe es schon probiert, aber ohne Hilfe bin ich gescheitert. Womöglich mit Euch …«

Er schwieg und errötete unter Coriens scharfem dunklen Blick. Was sah Corien, wenn er ihn betrachtete? Zum ersten Mal schämte sich Simon wegen seiner zerstörten Haut.

Aber Corien nahm einfach seine Hand und hob mit der anderen behutsam das Kinn des Jungen. Simon wand sich.

»Ja, Simon.« Corien lächelte. Er schloss seine Finger fester um Simons Hand. »Womöglich mit mir.«

Und dann ergriff Coriens Geist von ihm Besitz.

Der Schmerz kam ohne Vorwarnung. Simon blickte zu Corien auf und stieß einen stummen Schrei aus. Corien ließ nicht zu, dass ihm ein Laut über die Lippen kam. Etwas Ungekanntes, grauenvoll Übergriffiges spaltete Simons Schädel und zerrte an jedem Gedanken, den er jemals gedacht hatte, an jeder Erinnerung, die in ihm lebte. Und suchte nach der Wahrheit. Jagte Lügen nach. Es war mit nichts vergleichbar, was der Junge je gespürt hatte.

Zuvor hatte Corien seinen Geist kaum gestreift.

Jetzt nahm er ihn auseinander.

»Es tut mir leid, Simon.« Corien sah zu ihm hinab und beobachtete, wie der Junge sich in seinen Armen krümmte. »Die Welt ist ein seltsamer Ort, und es gibt nichts Seltsameres als die Drehungen und Windungen der Zeit. Ich muss mir sicher sein, dass du mir gehörst, und zwar mir ganz allein. Ich muss wissen, ob ich dir trauen kann.«

Dann presste er seine Wange an Simons Stirn und flüsterte: »Vor dir und mir liegt eine Menge Arbeit.«

Das war das Letzte, was Simon hörte, bevor sein Geist zerbrach.

1RIELLE

»›Aber wie konnte das geschehen?‹«, fragten viele. ›Wie konnte ein einziger Eiferer sämtliche Angehörigen des Engelsgeschlechts dazu bringen, sich gegen ihre menschlichen Brüder und Schwestern zu wenden? Wir bewohnen die Welt alle gemeinsam. Warum erklärte man ihn nicht für verrückt und bestrafte ihn für seine Mordlust?‹ Die Antwort ist simpel: Kalmaroth war eine unwiderstehliche Macht, wie sie unsere Welt nie zuvor gesehen hatte – und ich bete darum, dass man ihn nie wiedersehen wird.«

Aus den Schriften von Zedna Tanakret, Großmagistra der Bäder in Morsia, der Hauptstadt von Meridian, im Jahr 287 des Zweiten Zeitalters

 

Rielle verbarg das Gesicht in Coriens Umhang.

Sie drückte die Nase in den feinen dunklen Stoff und atmete seinen Duft ein. Sie wollte so lange wie möglich die Luft anhalten, denn Coriens Geruch beruhigte sie; sie saugte ihn regelrecht auf.

Sie spähte unter der Kapuze des Umhangs hervor, während Corien einen nach dem anderen aus der Kaufmannsgesellschaft tötete. Er ging rasch und effizient vor, und sie verfolgte das Geschehen durch einen Schleier der Gelassenheit, was sie nicht weiter irritierte.

Würde sie nämlich allzu angestrengt darüber grübeln, bekäme sie Kopfschmerzen, also beschloss sie, sich keine weiteren Gedanken zu machen und Corien beim Töten einfach zuzusehen.

Es waren vier Männer, die allesamt schwere Mäntel und Stiefel trugen, um sich vor der Novemberkälte zu schützen, und kein Einziger von ihnen erhob die Waffe gegen Corien. Warum auch? Er war ein Bild für Götter, wie er lächelnd auf sie zuging, mit seinen wie aus bleichem Glas geschnittenen Wangenknochen, dem schwarzen Haar, das ihm wie gemalt auf die Stirn fiel, und der schmalen weißen Silhouette, die im Schnee zitterte. Eine erbarmungswürdige und zugleich reizvolle Gestalt. Kein Wunder, dass die Kaufleute ihre Kutsche angehalten hatten, als sie ihn am Straßenrand erblickten, wo er wie ein Bettler seine dürftige, spuckende Fackel schwenkte. Er hätte sie zum Anhalten zwingen können, doch er genoss es, sie zu manipulieren, ohne seine Engelsmacht einzusetzen.

Sie wartete, bis alle vier tot waren und ihre Leichen verkrümmt im Straßenstaub lagen, auf ihren verzerrten Gesichtern der Ausdruck des Entsetzens eingefroren. Dann zog sie die Kapuze wieder herunter. Einer der Männer lag mit ausgestreckten Armen neben der Kutsche, als hätte er in seinen letzten Lebensmomenten noch zu fliehen versucht.

Rielle trat über seine glasig grauen, weit aufgerissenen Augen hinweg und stieg mit einem selbstzufriedenen Lächeln in die Kutsche. Das Lächeln fühlte sich seltsam an, als wäre es auf ihr Gesicht geklebt worden statt durch ihren eigenen Willen zustande gekommen. Doch in der schäbigen Kutsche war es warm, und sie hasste es, zu frieren.

Trotzdem tat ihr der Mann leid. Sie alle taten ihr leid. Zumindest glaubte sie das. Sie konnte nicht lange eigenständig denken, bevor ihre Gedanken in ein ruhiges, nebelverhangenes Meer abdrifteten. Ihr war unklar, woher der Nebel kam, doch sie ließ sich gern von ihm einhüllen. Er war so warm und beruhigend wie eine alte Steppdecke.

Sie fasste sich an die Schläfe, blinzelte mehrmals und erinnerte sich nur mit Mühe an den bohrenden Schmerz in ihrem Schädel, der sie über die letzten Wochen begleitet hatte, während Corien und Ludivine in ihren Gedanken miteinander gerungen hatten. Wenn einer von ihnen seine Engelsmacht mit aller Kraft gegen sie gerichtet hätte, um sie von innen heraus zu töten, hätte er das mit Leichtigkeit tun können. Es wäre unbeschreiblich schmerzhaft gewesen, auf diese Weise zu sterben.

Nein, Rielle beneidete die Männer nicht.

Doch jetzt war sie in Sicherheit, weit entfernt von Ludivine, deren verhasste Stimme sie nun schon seit Tagen nicht mehr vernommen hatte, und selbstverständlich würde ihr Corien niemals etwas Böses antun. Schon allein der Gedanke an ihn beruhigte sie wie die Umarmung durch den Schlaf nach einem langen Tag.

Rielle blickte durch das vereiste Fenster der Kutsche in den Wald, in das undurchdringliche Schwarz dieser stürmischen, mondlosen Nacht.

Es war albern, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob jemand sie beobachtet hatte. Das hatte Corien ihr eingeschärft, und nun wiederholte sie seine Worte in ihrem Inneren. Dieser Abschnitt der östlichen Grenze Celdarias war entlegen, hatte er ihr mehrmals versichert, eine abweisende, gebirgige Gegend voller Wälder. Die wenigen Straßen befanden sich in schlechtem Zustand. Und das nahende Gewitter grollte immer lauter und drohte mit Schnee und Blitzen. Jeder vernünftige Reisende würde unter diesen Umständen in festen Mauern bleiben, wo es warm und sicher war.

Und dennoch, so begriff Rielle, als sie ihre trägen Gedanken zu ordnen versuchte, hatten die toten Kaufleute der Nacht getrotzt, um ihren Geschäften nachzugehen. Falls ihnen abermals jemand begegnete, falls irgendjemand einen Blick auf ihr Gesicht erhaschte und sie erkannte, würde derjenige mit Sicherheit etwas unternehmen und eine Nachricht in die Hauptstadt schicken. Man würde versuchen, sie zu fassen, in der Hoffnung auf eine Belohnung seitens der Krone, und dann müsste sie diese Verräter aus dem Weg räumen, die von ihnen verbreiteten Gerüchte und Behauptungen auslöschen, und das würde gewiss … unschön.

Ich würde keinen entkommen lassen. Coriens Gedanken schlichen sich in ihren Geist, als glitte eine Hand über ihre Haut. Egal, wer dich erblicken sollte, ich würde ihn töten, oder du würdest es tun, und ich würde es genießen, dir dabei zuzusehen.

Sie blinzelte ihm zu. Würde ich das tun?

Das würdest du, und hinterher würde ich dich küssen, sagte er, und sie sah augenblicklich vor sich, wie er sie auf Stirn und Wangen küsste, doch ob es ihr Herz berührte, fühlte sie nicht und wollte es auch gar nicht fühlen.

Es genügte ihr, in Coriens Umhang eingehüllt zu sein. Am liebsten würde sie für immer darin wohnen.

Gegenüber von Rielle erklomm die kleine kirvayanische Königin Obritsa ihren Sitz. Ihre Miene war verkniffen, und über ihrem zerknitterten Kragen blitzte hellbraune Haut hervor, umwallt von langem weißen Haar. Corien bestand darauf, Obritsas Kraft noch mindestens eine Woche lang zu schonen und stattdessen zu Fuß oder mit der Kutsche zu reisen. Das Mädchen war erschöpft, nachdem sie sich selbst, Artem und Corien mit ihren geknüpften Bändern quer über den ganzen Kontinent zur königlichen Hochzeit befördert hatte

Eine Gezeichnete, die im Umfeld eines in Kirvaya brodelnden Aufstands heimlich echte Menschlichkeit vortäuschte.

Rielle nahm das Mädchen kaum zur Kenntnis. Aus Höflichkeit schenkte sie ihr ein Lächeln, was das glotzende Gör eigentlich gar nicht verdient hatte. Dann schmiegte sie sich in die üppigen Falten von Coriens Umhang und streckte die Arme nach ihm aus. Er stand noch draußen vor der Kutsche und erteilte Artem Anweisungen, Obritsas ergebenem Wächter, der das unruhige Gespann aus schneebestäubten Pferden weiter nach Osten lenken sollte.

Mach schnell und komm zu mir zurück, flehte Rielle. Bitte, Corien.

Seine Stimme klang spöttisch. So schnell kann deine Einsamkeit dich überwältigen. Geduld, meine Schöne.

Und auf einmal war Rielles Ruhe wie weggeblasen.

Auf einmal war der einlullende Nebel verschwunden, und Rielle war allein, mit ihren eigenen Gedanken irgendwo in ihrem eigenen düsteren Geist gefangen. Sie krallte sich fester in Coriens Umhang, während ihr Panik die Arme hinaufkroch. Ihr Körper fühlte sich plötzlich wie aufgequollen und unerklärlich schwer an. Sie funkelte Obritsa an, die sie beharrlich mit finsterer Miene musterte, dann wandte sie den Blick ab und schloss die Augen. Rielle wusste nicht mehr, wo sie war, und das machte ihr Angst. War sie eingesperrt, gefangen in einem hohen Turm, oder saß sie in Ost-Celdaria in einer Kutsche? Vielleicht befand sie sich auch auf hoher See, in einem weichen, grauen Meer, auf dem es Tausende von Meilen umher nichts und niemanden gab?

In dieser unbestimmten Leere wallten übermächtige Erinnerungen auf, und Rielles Augen füllten sich mit Tränen.

Es war noch gar nicht lange her – lediglich sechs Tage –, dass sie in den Gärten hinter Baingarde gestanden hatte. Daran erinnerte sie sich jetzt genau und ihre Erinnerung nahm Gestalt an. Aus dem immer dichter werdenden Nebel der Furcht, den sie sich nicht erklären konnte, trat ein Mensch hervor. Audric. Ihr König. Inzwischen ihr Ehemann. Ihre große Liebe. Erst vor sechs Tagen hatte er sich mit angewiderter Miene von ihr abgewandt und ihr verboten, ihn zu berühren.

Du bist das Monster, das Aryava prophezeit hat, waren seine Worte gewesen. Eine Verräterin und Lügnerin.

Wo auf der Welt gab es ein Zuhause für eine Verräterin? Welches Herz könnte für eine Lügnerin Liebe empfinden?

Rielle betastete ihre Schläfen. Durch ihren Kopf jagten verstörende Bilder, wechselten immer schneller, sodass sie kaum mehr atmen konnte. Corien? Wo bist du?

Rielle, entschuldige, ich war zu lange weg, ertönte seine Stimme, und schon stieg er neben ihr in die Kutsche und begrüßte sie.

Sie griff nach ihm und fühlte sich erbärmlich und klein, doch sie konnte ihre Gefühle nicht unterdrücken. Die Erinnerung an Audrics Abscheu, seine Verachtung und seinen Hass war noch zu nah, zu frisch. Irgendwo im Wald hatte sie ihr Brautkleid abgestreift und steckte nun in einem schlecht sitzenden Wollkleid, das Corien irgendeiner Bauerntochter gestohlen hatte, die ihm auf dem Nachhauseweg vom Markt allein in die Arme gelaufen war. Der Wollstoff kratzte und war viel zu warm. Sie musste daran denken, welches Chaos bei ihrer Flucht aus der Hauptstadt geherrscht hatte, sie hatten Tausende Menschen zurückgelassen, allesamt überwältigt und fassungslos angesichts der Enthüllungen, die ihnen Corien in der Vision gezeigt hatte.

Nein, das war keine Vision, sondern die Wahrheit.

Ihre neue Königin hatte den Vater von Ludivine und Merovec getötet. Sie hatte auch ihren eigenen Vater und ihre Mutter getötet. Und sie hatte Celdarias geliebten früheren König getötet, Audrics Vater.

Sie hatte all das verleugnet. Sie hatte gelogen und war trotzdem durch die heiligen Hände des Archons gekrönt worden.

Rielle schloss die Augen und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Wüstes Gebrüll hallte in ihren Ohren wider – die Stimmen der Menschen, die zu beschützen sie geschworen hatte, zuerst als Sonnenkönigin und dann als frisch gekrönte Königin von Celdaria. Sie hatte diesen Schwur geleistet, nur um ihr Volk anschließend im Stich zu lassen. Die Stimmen, die ihren Namen riefen, waren grausame schwarze Erinnerungsvögel, die in engen Spiralen Gedanken umkreisten.

Königsfluch!

Königsfluch!

Königsfluch!

Immer heftiger krallte sie sich an den Stoff von Coriens Umhang. Sie schämte sich nicht dafür, wer sie war oder was sie war, und doch überschwemmten Furcht und Schuldgefühle sie wie zwei brennende Flüsse, und sie wusste weder, wo sie sich befand, noch, wer dieses Mädchen war, das sie so aufdringlich anstarrte. Noch viel weniger konnte sie sagen, wohin ihr köstlicher grauer Nebel so still und leise verschwunden war.

»Hör mir zu.« Kühle Hände umfassten ihr Gesicht, und als sie die Augen aufschlug, war Corien da und neigte den Kopf, um sie zu küssen. Er hob sie auf seinen Schoß und hielt sie fest, bis sie nicht mehr zitterte.

»Ich hasse sie alle«, flüsterte sie gegen seinen Hals. »Trotzdem schmerzt mich der Gedanke, sie zu verlassen und mich in der Nacht davonzustehlen wie eine Verbrecherin.«

Corien lachte leise. »Du bist eine Verbrecherin. Zumindest in ihrer beschränkten Sicht. Lass sie doch in dem Glauben. Lass sie dich hassen. Sie sind nichts, und das weißt du.«

»Ja, aber …«

Sie verstummte, ehe ihr die Worte über die Lippen kamen, aber natürlich hatte Corien sie bereits gehört.

»Du vermisst ihn?«, fragte er ruhig.

Rielle spürte den respektlosen Blick des jungen Mädchens fast körperlich. Obritsa war ihr Name, erinnerte sie sich, während ihr Geist in Coriens Nähe in Aufruhr geriet. Sie presste die Handflächen gegen Coriens breite Brust und unterdrückte den Drang, die Hände nach Obritsa zu schleudern, ihr das unverschämte, neugierige Gesicht zu verbrennen und ihr eine Lektion zu erteilen. Der Gedanke amüsierte Rielle geradezu, in ihrer Angst hatte sie ganz vergessen, dass sie andere verbrennen konnte. Ja, sie konnte verstümmeln und zermalmen. Sie konnte vernichten.

Still jetzt. Coriens Stimme streichelte sie lautlos. Die heißen Zorneswallungen unter ihrer Haut flauten ab und legten sich schließlich ganz. Wir brauchen sie, gemahnte er sie. Sachte, Rielle. Übernimm dich nicht. Hör auf mich. Still, meine Liebste.

Rielles Gedanken wanderten in ruhigere Bahnen. Zufrieden und mit schweren Lidern vernahm sie das entfernte Brechen der Wellen, und ihr wurde fast schwindlig vor Erleichterung. Ein Schleier legte sich über ihre Augen, dessen Weichheit sie willkommen hieß. Es war unnötig, ja sogar dumm, jetzt wütend zu werden und ihre Kraft zur Geltung zu bringen, oder gar Angst zu haben, denn natürlich war sie bei Corien immer in Sicherheit. Ja, so war es.

In Gedankensprache murmelte sie, dass Obritsa lernen müsse, nicht so penetrant zu starren und ihre dauerhaft hochnäsige Miene gegen einen weniger herrischen Gesichtsausdruck auszutauschen, der einer Dienerin ziemte. Sowie sie im Norden ankämen, würde Rielle Obritsa an einen anderen Ort bringen lassen, damit sie aus ihrem Gesichtskreis verschwand, bis sie wieder gebraucht wurde.

Natürlich, sagte Corien nachsichtig. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich habe dich etwas gefragt, meine Liebste. Schon vergessen?

Ja? Sie lehnte ihren schweren Kopf an seine Schulter.

Fehlt er dir? Antworte mir, sagte er leichthin. Antworte mir jetzt gleich.

Rielle hatte Mühe, ihre Gedanken zu sortieren, doch das irritierte sie nur kurz, denn der Nebel wallte rasch durch ihren Geist und fegte sämtliche Bedenken fort. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben, sagte sie schließlich.

Du liebst ihn noch immer, und dieses Feuer lässt sich nicht einfach über Nacht löschen. Corien streichelte ihr übers Haar, das ihr wild und ungekämmt über den Rücken fiel. Müde seufzte er auf. Das verstehe ich. Aber du begreifst es jetzt, oder? Du durchschaust ihn.

Eine ganze Weile lang sagte sie nichts. Das Denken fiel ihr so schwer.

»Er hasst mich«, flüsterte sie schließlich gegen Coriens Ohrmuschel. »Er versteht mich nicht.«

Corien küsste sie auf die Nasenwurzel. »Er ist zu gering, um dich zu verstehen. Genau wie alle anderen. Sie sehen ein Monster. Ich sehe eine Göttin in Gestalt einer jungen Frau.« Seine Hand glitt ihren Arm entlang und blieb schließlich auf ihrer Hüfte liegen. »Sie sehen ein wildes Tier, das gezähmt werden muss. Ich sehe ein göttliches Wesen, das nach Freiheit lechzt.«

Rielles Augen fielen zu, als er sie auf die Stirn küsste. Aus dem Nebel ihrer Gedanken lösten sich einzelne Bilder – geheime Visionen von Coriens Verlangen, davon, wie sehr es ihn gelüstete, sich vor ihr zu enthüllen, und wie glühend er sich danach verzehrte, mit ihr allein zu sein.

Doch sie durfte sich nicht in die Zuflucht ihrer gemeinsamen Fantasien sinken lassen. Noch nicht. Sie hatte eine Frage, und so wehrte sie den Nebel, der sie umfangen wollte, gerade lange genug ab, um sie zu stellen.

»Sag mir nur eines: Ist er in Sicherheit?« Mit schwerer Zunge stieß Rielle die Worte hervor. »Geht es ihm gut?«

Eine winzige Welle strömte von Corien zu ihr herüber, die köstliche Schnur ihrer verbundenen Gedanken entlang, als hätte man einen Kieselstein in ein stilles Gewässer geworfen.

»Er ist in Sicherheit.« Corien sprach nicht laut weiter, doch Rielle hörte ihn klar und deutlich in ihrem Kopf.

Eines Tages, versicherte er ihr, und zwar schon bald, wirst du hoffentlich einsehen, was getan werden muss.

»Ich wünschte, ich würde ihn nicht lieben«, erwiderte sie mit fadendünner Stimme. Ein seltsamer Schlaf, den sie gar nicht unbedingt wollte, zog sie in die Tiefe. »Ich wünschte, ich würde mir keine Sorgen mehr um ihn machen. Jemand, der mich so hasst wie er, hat keinen Teil meines Herzens verdient.«

Dabei kann ich dir helfen. Wenn du es erlaubst.

Ihr erschöpfter Körper schrie protestierend auf, als sie sich von Corien löste, um sein Gesicht zu studieren. Ihr Geist war ein Wirrwarr aus Schmerz und Ermattung. Sie verzehrte sich danach, nicht mehr gehen oder in einer rumpelnden Kutsche fahren zu müssen. Eine Kutsche – wie merkwürdig. Warum eine Kutsche? Sie wollte fragen und stellte fest, dass sie keine Worte fand. Sie wollte sich ausruhen. Und sie wollte Corien küssen.

Aus einem entfernten Winkel ihres Geists zog unentwegt eine dünne Schnur an ihr – aus der finstersten, engsten Ecke hinter einer versperrten Tür, zu der sie keinen Schlüssel mehr besaß. Was beunruhigend war. Oder etwa nicht? Sollte sie nicht die Schlüssel zu ihrem eigenen Geist besitzen?

Doch als ihr Blick dem von Corien begegnete, verschwand ihr Unbehagen, und ein Schwall sauberer Meeresgischt sprühte ihr ins Gesicht, während der Wolkennebel darüber ihre Knie, ihren Bauch und ihren Nacken streichelte. Ihre Schultern sanken herab, ihre düstere Miene schwand. Das Empirium, das nun auf ewig dicht unter ihrer Haut brodelte, schwappte unentwegt gegen ihre Ränder, und in einem stillen Aufwallen des Glücks kam ihr der Gedanke, dass sie diese mächtige Flut nie wieder unterdrücken müsste. Nicht hier. Nicht bei Corien.

Dabei kann ich dir helfen, hatte er gesagt. Wenn du es erlaubst.

Er würde ihr helfen, ihr altes Leben zu vergessen. Er würde ihr helfen zu lernen, Audric nicht mehr zu lieben.

Ich sehe ein göttliches Wesen, das nach Freiheit lechzt.

»Ich erlaube es«, sagte sie schließlich und schlief dann so schnell ein, dass sie ihren letzten Gedanken, der ein warnender war, sofort wieder vergaß, während die Dunkelheit sie umfing.

2ELIANA

»Tameryn, Tameryn, Tameryn. Jede Nacht sage ich vor dem Schlafengehen ihren Namen und hoffe, dass die Welt etwas Gutes aus dem Empirium hervorbringen wird, eine freundliche Macht, die die Schläge meiner zahllosen Albträume auffangen kann. Savrasara, Tameryn, wo immer du bist. Komm zu mir zurück. Wir brauchen dich. Ich brauche dich. Dir gehört mein Herz und ohne dich bin ich verloren. Was haben wir getan, Tam? Mein Gott, was haben wir getan?«

Aus den Tagebüchern von Sankt Nerida der Strahlenden, geschrieben während der Engelskriege, gestohlen aus der Ersten Hauptbibliothek von Quelbani

 

An Bord von Admiral Ravikants geschätztem Kriegsschiff scheuerte sich Eliana in einer kleinen Arrestzelle im Bauch des Seglers die Handgelenke wund.

Früher einmal – erst vor wenigen Wochen – hatten um ihre Handgelenke schmale goldene Ketten und flache, runde Urformen gelegen, die sie in der Schmiede von Vintervok eigenhändig hergestellt hatte.

Die Ketten, die sie jetzt trug, waren von anderer Beschaffenheit. Während der ersten Tage auf dem Schiff, in denen sie sich auf dem Holzboden ihrer Zelle vor allem die Seele aus dem Leib kotzte, hatte Eliana das ungewohnte Gewicht an ihren Armen ignoriert. Hilflos und träge hatte sie in ihrem Erbrochenen gelegen und sich geweigert, das Essen anzurühren, das die Soldaten des Admirals ihr brachten, bis sie sie schließlich auf die Beine zogen und in einen Frachtraum schleppten, wo sie Eliana auf einen Gitterrost stellten und Eimer für Eimer mit eiskaltem Meerwasser übergossen, bis sie zitternd und mit klappernden Zähnen, aber sauber dort stand. Während zwei schwarzäugige Engelsoldaten selbstgefällig an der Tür lehnten, hatten drei stumme Adatrox ihr die Ketten abgenommen, die klatschnassen Kleider ausgezogen und sie neu eingekleidet. Ein weites Leinenhemd und Wollhosen.

Danach hatten sie Eliana wieder in Ketten gelegt, und als sie die junge Frau zur Tür drehten, um sie zurück zu ihrer Zelle zu eskortieren, stand Admiral Ravikant, die Hände in die Seiten gestemmt, auf der Schwelle. Ein Engel in Besitz von Ioseph Ferracoras Körper.

Als Eliana das Gesicht ihres Stiefvaters sah, verließ sie der Mut – die dunklen Haare und das spitze Kinn waren perfekte Kopien von Remy. In dem gedrungenen, muskulösen Körper, der früher so viel Sicherheit und Ruhe für sie ausgestrahlt hatte, erkannte sie nun eine grotesk zuversichtliche Fassade.

Die schwarzen Augen wirkten ausdruckslos, leerer sogar als ihre fensterlose Zelle.

Admiral Ravikant beobachtete sie schweigend, und ihr blieb nichts anderes übrig, als seinen Blick mit trockenem Mund und rasendem Herzen zu erwidern.

Als er schließlich sprach, tat er das mit Ioseph Ferracoras Stimme, allerdings ohne seine Wärme, und Eliana hätte sich am liebsten wieder übergeben, nur war nichts mehr in ihrem Magen.

»Solltest du dich wieder so besudeln«, sagte er, »werde ich mit deinem Bruder zurückkommen und dir zeigen, wie einfallsreich ich darin bin, jemandem Schmerzen zuzufügen. Solltest du noch einmal eine Mahlzeit verweigern, werde ich ernsthaft wütend.«

Er ging ohne ein weiteres Wort, und als die Adatrox sie zu ihrer Zelle brachten, suchte Eliana, auch wenn sie sich dafür hasste, die dunklen Gänge des Schiffes nach den vertrauten aschblonden Haaren ab, einem schlanken Profil oder funkelnden, eisblauen Augen.

Deine Augen sind wie Feuer.

Immer wieder hörte sie in Gedanken ihre eigenen Worte – immer wieder spürte sie seine Hände auf ihrem Körper und seine Lippen.

Aber die Schatten, die sich durch den unübersichtlichen Frachtraum bewegten, waren bloß Engel in gestohlenen Körpern und Adatrox mit leblosen Augen, die ihren Herren stumpfsinnig folgten.

Simon ließ sich nicht blicken.

 

 

Eliana drehte ihre Handgelenke in den Fesseln, aber nicht um sich zu befreien, sie hatte festgestellt, dass das ein aussichtsloses Unterfangen war. Selbst wenn sie ihre Ketten loswerden konnte und irgendwie an den Wachen vor ihrer Tür vorbeikäme, was dann? Was sollte sie dann tun? Sich mitten auf dem Meer in die Fluten stürzen und an Land schwimmen, während sie Remy durch die Wellen hinter sich herzog?

Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte sie sich auf ihre metallenen Urformen konzentriert und die beiden identischen glatten Scheiben, die robust verankert in ihren Handtellern ruhten, genutzt, um die Flammen der Gaslampen in den Fluren an sich zu ziehen und Feuerbälle explodieren zu lassen, die jeden versengt hätten, der sich ihr in den Weg stellte.

Doch jetzt konnte sie nicht das kleinste bisschen Willenskraft aufbringen oder auch nur einen Versuch starten, ihre Macht heraufzubeschwören. Ohne ihre Urformen war sie eine Muschelschale, aus der man das Fleisch herausgekratzt hatte, um sie dann zurück in die Wellen zu werfen. Wenn sie nach dem Empirium griff, würde das bloß in einer herben Enttäuschung enden. Das spürte sie so sicher, wie sie den Geruch ihres eigenen Blutes in der Zelle wahrnahm, das beständig von den Wunden an ihren Handgelenken tropfte.

Etwas in ihr war verschwunden – es gab eine große, unüberbrückbare Kluft zwischen der Macht, die in ihr schlummerte, und ihrem momentanen Denkvermögen. Deshalb starrte sie nur ausdruckslos auf die Wand, während Admiral Ravikants Schiff sie immer weiter über den Großen Ozean zum östlichen Kontinent brachte.

Richtung Celdaria.

Richtung Kaiser.

Wenn sie sich ihre empfindlichen Handgelenke an den unnachgiebigen Metallketten wund rieb, verschaffte ihr das in der endlosen Dunkelheit einen schlimmen, selbstquälerischen Trost. Der konstante, brennende Schmerz erinnerte sie daran, wo sie sich befand, dass sie eine Gefangene war und man ihr die Urformen entrissen hatte. Dass einer ihrer Väter nicht mehr lebte, weil sein Körper vor langer Zeit durch den Willen seiner Geliebten zu Asche zerfallen war, und ihr anderer Vater ebenfalls nicht mehr lebte, weil sein Körper von einem Engel missbraucht wurde.

Dass eine ihrer Mütter gestorben war, und zwar durch ihre eigene Hand.

Und die andere …

Die Momente, in denen sie an Rielle dachte, waren die Momente, in denen Eliana sich mit einer Art fieberhaftem Verlangen gegen ihre Ketten wehrte.

Sie hätte sie am liebsten umgebracht.

Als Simon sie zurück in die Alte Welt geschickt hatte, in die Ausläufer des unbekannten Gebirges von Celdaria, war sie ihrer Mutter begegnet – sie hatte Rielle in die Augen gesehen, dieselbe Luft geatmet –, aber dann hatte sie sich nicht mehr richtig konzentriert und zugelassen, dass ihre Angst sie überwältigte. Im entscheidenden Augenblick hatte sie gepatzt und die Chance vertan, alle Probleme zu lösen und all das hier zu verhindern – das hier, eine Gefangene auf einem makellosen Schiff, dessen Geruch sie faul und schwer auf ihrer Zunge schmeckte; das hier, der Klang von Remys abgrundtiefer Verzweiflung, als er beim Anblick von Iosephs verändertem, schwarzäugigem Gesicht schreiend in Tränen ausgebrochen war.

Das hier – der Moment, als sie sich auf der Anlegestelle an der Küste von Festival umgewandt hatte und mit eigenen Augen mit ansehen musste, wie Simon ihre Verbündeten einen nach dem anderen erschoss und den kaiserlichen Soldaten in einer Engelssprache Befehle zurief, die diese eilig befolgten.

Eliana hätte das alles verhindern können. Das hätte sie wirklich! Aber stattdessen hatte sie den törichten Gedanken von Frieden gehegt, sie hatte an ein Gespräch und ein Einvernehmen zwischen ihr und dem größten Übel geglaubt, das die Welt je gekannt hatte: Rielle Courverie, geboren als Rielle Dardenne. Die Blutkönigin, der Königsfluch, die Herrin des Todes.

Eliana hätte sie umbringen können, aber stattdessen hatte sie versucht, mit ihr zu reden. Mit ihr zu reden. Als besäße solch eine abscheuliche Kreatur eine Form von Verständnis oder gar den Wunsch, über ein Ende des verheerenden, von ihr verursachten Krieges zu reden, der noch tausend Jahre nach ihrem Wirken wütete.

Und wer hatte dieses Treffen veranlasst? Wer hatte mit ihr und Remy beisammengesessen und Eliana dabei geholfen, die richtigen Sätze auf Altceldarisch zu lernen?

Simon. Sie zwang sich, seinen Namen auszusprechen, zuerst nur in Gedanken, aber dann auch laut, weil sie hoffte, dass der Klang seines Namens, der Rhythmus der Silben, schon bald keine dumpfe Verzweiflung mehr schüren würde, sondern eher eine kalte, klare Wut.

»Simon«, flüsterte sie und starrte in die unbarmherzige Dunkelheit. »Simon, Simon.«

Sie drückte fest gegen ihre Fesseln, rieb und drehte ihre Handgelenke.

Wenn sie entschlossen weitermachte, würden sie vielleicht bis auf den Knochen vordringen.

Vielleicht würde sie verbluten.

 

 

Eine der Wachen musste ihm berichtet haben, was sie tat.

Schlüssel klirrten im Schloss. Ihre Zellentür öffnete sich und Stiefelschritte kamen energisch näher. Sie erkannte diese Schritte. Sie rissen sie aus einem unruhigen Schlaf, und sie beobachtete mit angehaltenem Atem, wie er vor ihr in die Hocke ging und die Arme entspannt auf die Knie legte. Obwohl sich vor dem hellen Flur außerhalb ihrer Zelle lediglich seine Umrisse dunkel abzeichneten, nahm sie trotzdem den schwachen Glanz seiner Augen wahr.

Sie zwang sich, ihn anzustarren, furchtlos und ohne zu blinzeln, obwohl er diese Fassade bestimmt bald durchschauen würde. Ihr Körper war geschwächt und mangelernährt, und sein Anblick entfachte in ihr eine fast unerträglich heftige Wut. Seine Nähe ließ sie erzittern. Ihre Finger zuckten. Sie stellte sich vor, wie sie ihn zerkratzte.

»Simon«, sagte sie so fest und emotionslos, wie sie es sich vorgenommen hatte.

»Du verletzt dich selbst«, stellte er fest. »Das kann ich nicht zulassen.«

Der Klang seiner Stimme war sowohl vertraut als auch auf schreckliche Weise völlig fremd. Sie hatte ihn noch nie so kalt, leidenschaftslos und ohne einen Funken von Humor oder Wut gehört. Seine Sätze waren scharf und zielgerichtet formuliert, jedes Wort klar und gefühllos.

»Das ist mir egal«, antwortete sie – die Antwort eines trotzigen Kindes, aber sie brachte nichts Besseres zustande.

»Der Kaiser wünscht, dass du unversehrt und gesund ankommst.«

»Der Kaiser kann mich mal, und du mich gleich mit.«

Sie suchte in dem verschatteten Gesicht nach dem Mann, den sie kannte, entdeckte aber nichts Vertrautes, nicht einmal den Hauch einer verächtlichen Belustigung. Er erhob sich und trat zur Seite, als die beiden kaiserlichen Wachen, die an der Tür gewartet hatten, schweigend eintraten.

»Bringt sie auf Deck B«, befahl er. »In das Blaue Zimmer.«

Dann machte Simon auf dem Absatz kehrt und schritt davon, sein langer, schlanker Körper bewegte sich wie immer anmutig und geschmeidig. Sie kochte vor Wut. Wenn sie die Freiheit hätte, so zu handeln, wie sie wollte, wenn sie sicher wäre, dass es keine schrecklichen Konsequenzen für Remy hätte, würde sie sich auf ihn stürzen und ihre Fingernägel in die vernarbten Furchen seines Gesichts bohren, ihm die Haut aus dem Nacken reißen und seine Kehle aufschlitzen.

Einfach gleich wieder abhauen, nachdem er sich das erste Mal seit Tagen blicken ließ? Das ertrug sie nicht.

»Geh nicht«, stieß sie verzweifelt hervor. So furchtbar Simon sich auch verhielt, er war der Einzige, den sie an diesem schrecklichen Ort kannte. Während sie all diese endlosen Tage wie ein geschundenes Tier in der Dunkelheit kauerte, hatte sie sich in ihrem Dämmerzustand gefühlt, als würde sie sich nach und nach auflösen, aber als er jetzt vor ihr in die Hocke ging und sie sich in brutalen Bildern ausmalte, wie sie ihn tötete – war sie wieder zu sich gekommen.

Er beachtete sie nicht und ging weiter.

Verzweifelt warf sie sich gegen die Wachen, die sie eisern an den Ellbogen festhielten. »Ich nehme an, der Kaiser hat Pläne mit mir. Würden die nicht schneller zum Ziel führen, wenn ich wüsste, was mich erwartet, statt in Unwissenheit gehalten zu werden?«

Ein paar Schritte von der Tür entfernt blieb Simon stehen und blickte kurz über die Schulter. »Die Pläne des Kaisers werden auch ungeachtet deiner Unwissenheit schnell zum Ziel führen.« Und dann an die Wachen gewandt: »Ihr habt eure Befehle.«

Kurz darauf war er verschwunden, und während Eliana aus ihrer Zelle durch ein endloses Labyrinth aus sanft schaukelnden, mit Teppich ausgelegten Fluren eskortiert wurde, zweifelte sie allmählich daran, dass er überhaupt da gewesen war.

 

 

Danach war sie keine Sekunde mehr allein.

Sie brachten sie in eine geräumige Kajüte auf einem der oberen Decks. Unter einer hellviolett gestrichenen Holzdecke, die mit unbekannten Sternbildern verziert war, lag ein luxuriöser, mitternachtsblauer Teppich. Von den Deckenbalken hing ein Kronleuchter, dessen Kristallglieder zitterten, wenn das Schiff schaukelte und wummerte, außerdem gab es ein riesiges Bett, ein Monstrum aus lavendelfarbenem und dunkelblauem Satin, das Eliana anzüglich anzugrinsen schien, als das Trio aus Engelsgehilfen ihre Ketten löste und ihr die Kleider auszog.

Zwei Wachen flankierten die Tür, und vier weitere waren an den Fenstern positioniert, hinter denen sich eine schimmernde Dunkelheit erstreckte – endlose Wellen, ein wenig Mondlicht. Beim Anblick der Welt außerhalb des Schiffes zerbrach etwas Empfindliches in Elianas Kehle, und als die Diener ihre Handgelenke reinigten und neu verbanden, schluckte sie nur mit Mühe gegen ihre Tränen an.

Im angrenzenden Bad wurde sie von Kopf bis Fuß mit heißem Wasser geschrubbt, das aus einem glänzenden Messinghahn floss. Die Handgriffe waren effizient, aber nicht grob, und Eliana fragte sich, wie genau die Befehle des Kaisers lauteten. Sollte sie bis zum Äußersten gehen und die Diener so lange reizen, bis sie ihr wehtaten, oder würden sie auch das schweigend hinnehmen?

Wenn sie versuchte, sich umzubringen, um alldem ein Ende zu setzen, bevor der Kaiser es tat, würde er sich dann ihrer bemächtigen, ihren Geist gefangen nehmen und dadurch verhindern, dass sie irgendetwas anderes machte, als ruhig in diesem riesigen, blauen Bett zu liegen, bis das Schiff in Celdaria einlief?

Bei der Vorstellung musste sie ein wenig lachen, und als sie erst einmal anfing, konnte sie nicht mehr aufhören. Während die Diener ihre dichten, schulterlangen Locken einschäumten und die verknoteten Stellen herauskämmten, wurde sie von hysterischen Lachern geschüttelt. Sie betrachtete sich im Spiegel. Der Anblick erinnerte sie dumpf an Dani Keshavarzian, die ihr damals in Willow ihre so leicht verfilzenden Haare bis zum Kinn abgeschnitten hatte. Als sie an Dani, an das Jubiläum des Admirals und an all die Toten am Strand von Festival dachte, erwartete sie Tränen, doch es kamen keine.

Die Diener cremten sie ein, ihre olivfarbene Haut wirkte in dem schwachen Kerzenlicht beinahe fahl und grau. Sie wurde wie ein Stück rohes Fleisch durchgewalkt und durchgeknetet. Dann streiften sie ihr ein unförmiges violettes Seidennachthemd über, zogen sich zurück und ließen sie mit ihren sechs Wachen allein.

Einer zeigte zum Bett. »Schlaf.«

Sie gehorchte. Wenn sie sich noch einen Moment länger auf ihren zittrigen Beinen halten müsste, würde sie zusammenbrechen, und die Vorstellung, sich von Engelssoldaten bewusstlos zum Bett ziehen zu lassen, war einfach zu demütigend.

Also kletterte sie wackelig wie ein neugeborenes Fohlen hinein. Der Geruch der parfümierten Seifen auf ihrer Haut brachten sie fast zum Würgen. Sie sank in ihre Kissen, drehte den zwölf schwarzen starrenden Augen den Rücken zu und weinte das erste Mal, seit sie an Bord des Schiffes gekommen war.

 

 

Tagelang lag sie still zwischen den Seidenkissenbergen, die zu ihrer ganzen Welt geworden waren.

Und in ihren Träumen suchte er sie heim.

Zuerst war er Remy, der den endlosen roten Flur entlanggeschleppt wurde, von dem sie in Astavar geträumt hatte. Sie stürzte ihm hinterher, rannte kilometerweit über den bluttriefenden Teppich, aber wer oder was auch immer ihn mit sich zog, war zu schnell für sie, zu stark, und dann löste sich das Ende des Korridors jäh auf und explodierte, sodass er wie rote Glasscherben in alle Richtungen zerbarst.

Dann war er Ioseph, der Vater, der sie großgezogen hatte. Er lag auf einem sauberen weißen Tisch in einem sauberen weißen Raum, wo er von Engeln in sauberen weißen Gewändern aufgeschnitten wurde. Jeder von ihnen trug eine der Masken, die sie auf dem Jubiläum in Festival gesehen hatte: ein schwarzer Rabe aus Metall, ein lächelnder Messingfuchs, ein Pfau aus Elfenbein, besetzt mit türkisfarbenen Juwelen. Als die Messer der Engel in Ioseph eindrangen, schrie er, aber da wirbelte von oben eine trichterförmige Dunkelheit herab und schob sich gewaltsam in seinen Mund, in seine Nase und seine klaffende Brust.

Und schließlich war er Simon, der sie in dem kleinen Dachzimmer in Willow mit dem Kohlebecken und dem Bett in der Nische besuchte. Als er sich in ihr bewegte, zitterten seine Muskeln und er umschlang sie mit seinen warmen und starken Armen. Sie gaben ihr Halt und fixierten sie und berauschten sie. Er legte seine Hände auf ihre Stirn, und diese warme, zärtliche Berührung war tröstlich. Sie folgte der sanften Spur seiner Finger tief, tief hinab in einen dunklen, heißen Tunnel, der ganz unten in ihrem Geist begraben lag. Ihr Herz trommelte immer schneller und wummerte so laut, dass ihre Brust bebte, und plötzlich wollte sie von Simon weg, wollte vor ihm flüchten und nie mehr zurückschauen. Aber sie konnte sich nicht aus seinen Armen befreien. Sie war in diesem kleinen Bett, in diesem gewundenen Tunnel gefangen. Sie ertrank in dem Dröhnen ihres Herzens, bekam keine Luft, sein Mund lag auf ihr, seine Finger drückten sich zwischen ihre Lippen und in die zarte Halsbeuge, und sie sehnte sich nach seinen festen Berührungen genauso sehr, wie sie sie verabscheute.

»Deine Augen«, flüsterte er in ihre Haare, »brennen wie Feuer.«

In ihrem Inneren flammte eine unerträglich glühende Hitze auf. Sie breitete sich von ihrem Bauch im ganzen Körper aus, bis Eliana verzweifelt ihre Handballen auf die Wangen presste und ihre brennenden Finger in die beiden Feuerstellen drückte, die einmal ihre Augen gewesen waren. Simons Lachen hallte von überall, eine grobschlächtige Begleitung zu ihrem rasenden Herzen.

Durch das knisternde Inferno drang Harkans Stimme: El, wenn du irgendetwas tun kannst, dann hilf ihm bitte.

Sie sah sich, wie sie außerhalb der Stadt Karlaine im Schlamm kniete und ihre glühenden Hände in Remys schreckliche Bauchwunde versenkte –

Ein kurzes, saugendes Geräusch und dann Stille. Dunkelheit.

»Ah.« Ein leises Seufzen. Sanfte Worte, in denen ein Lächeln lag. »Da bist du ja.«

Sie wälzte sich in ihrem Bett in Willow in dem kleinen Zimmer mit den Dachschrägen, der Regen tropfte kalt und gleichgültig gegen die Fenster. Und in der Ecke auf dem Stuhl, über dem Simons Kleider lagen, saß ein schwarz gekleideter Mann, der seine weißen Finger nachdenklich gegen seine Lippen drückte.

Als ihr Blick auf ihn fiel, wurde sein Lächeln breiter. Aber wie er da so zufrieden und leicht amüsiert saß, ein Bild von makelloser und erschreckender Schönheit, musste Eliana wieder weinen.

»Willkommen zu Hause, Eure Majestät«, sagte er zu ihr und erhob sich dann; die Schatten im Raum liefen auf ihn zu, formten die klaren, dunklen Linien seines Umhangs, seiner Jacke, seiner Haare –

 

 

Ein Zittern erschütterte das Schiff, dann lag es ganz ruhig und Eliana erwachte.

Endlich hatte das ewige Schaukeln aufgehört und vor den Fenstern ihres blauen Zimmers schien die Sonne. Zwei weiße Möwen schwebten über einem weiten rosafarbenen Himmel.

Mit schweißnassen, zitternden Gliedern setzte sie sich zwischen ihren zerwühlten Bettlaken auf. Ihre Augen brannten, ihre Wangen fühlten sich rau und nass an.

Die Tür öffnete sich und Admiral Ravikant trat ein. Elianas drei Diener begleiteten ihn, über ihren Armen lagen opulente Stoffe.

»Wir sind da«, sagte sie krächzend. Sie hatte seit Tagen nicht mehr gesprochen, womöglich seit Wochen. »Nicht wahr?«

Der Admiral lächelte überglücklich. In dieser überschwänglichen Freude, die sie noch nie an ihm gesehen hatte, spiegelte sich schemenhaft das wahre Gesicht ihres Vaters wider.

»Zieh dich an«, befahl er. »Er erwartet dich.«

3AUDRIC

»Fürchte dich nicht, Celdaria: Der Verräter Audric Courverie sitzt nicht mehr auf Katells heiligem Thron. Der mordlüsterne Königsfluch ist voll Furcht geflohen. Die unerklärlichen Angriffe an der Ostgrenze, die unsere Bürger bleich und entstellt in ihren Häusern zurücklassen, werden endlich aufhören. Endlich werden wir Gerechtigkeit für unsere Verluste erfahren. Endlich wird das Haus Sauvillier Celdarias Feinde in die Knie zwingen. Schaut auf die Hauptstadt und jubelt, denn auch wenn die Krone schwach war, so ist sie nun wieder stark. Gepriesen sei seine Majestät Merovec Sauvillier, der wahre König von Celdaria!«

Königliches Dekret, ausgestellt anlässlich der Besteigung des celdarischen Throns durch Merovec Sauvillier, 8. November im Jahr 999 des Zweiten Zeitalters

 

Audric wäre noch tagelang weitergeflogen, wenn Ludivine ihn gelassen hätte.

Am Himmel, wo ihm nur die einsamen Wolken sowie Ludivine und Atheria Gesellschaft leisteten, konnte er fast alles vergessen, was geschehen war. Er lebte in einer weichen, weißgrauen Welt, selbst wenn die Sonne ihn direkt so grell und heiß anstrahlte, dass ihm die Schweißperlen über Stirn und Rücken rannen und die Kleider an seinem Körper festklebten.

Seine Kleider – das waren Hosen aus feinster Wolle, auf Hochglanz polierte Stiefel, ein Frack aus smaragdgrüner Seide und ein bestickter Mantel in Weiß und Gold, der seine schlanke Statur betonte.

Die Sachen, die er erst vor wenigen Tagen auf seiner Hochzeit getragen hatte.

»Still«, befahl ihm Ludivine, als zum ersten Mal Erinnerungen an jenen Abend den dumpfen Nebel durchdrangen, der sich über ihn gesenkt hatte. Sie ritt hinter ihm auf Atheria, hatte die Arme um seine Taille geschlungen und hielt die Wange gegen seinen Rücken gepresst. »Es ist sinnlos, jetzt daran zu denken. Lass es sein, bis wir in Sicherheit sind.«

In Sicherheit. Audric lachte, aber nur kurz. Er hatte kaum noch Energie und gewiss nicht genug, um mit Ludivine zu reden, selbst wenn er gewollt hätte.

Und er wollte nicht.

Nur einmal sprach er mit ihr, nachdem sie ihn überredet hatte, in einem Wäldchen nahe der Südküste von Celdaria haltzumachen. Für ihre Flucht galt äußerste Vorsicht. Daher reisten sie ausschließlich nachts. Audric hatte Ludivine erlaubt, die Bedingungen ihrer Reise zu diktieren, da er zu erschöpft und zu niedergeschlagen war, um zu protestieren. Es war beruhigend, geleitet und getragen zu werden. Geleitet von einem Engel, getragen von einem Göttertier.

Abermals lachte er auf. Ludivines Wachsamkeit schwappte sacht gegen ihn wie die Umsicht einer übertrieben fürsorglichen Mutter. Mehrmals erwog er, sich umzudrehen, sie von Atheria herunterzustoßen und zuzusehen, wie sie durch die Wolken auf die Erde fiel. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war die Hoffnung, dass sie sich bei der Suche nach Rielle und noch viel mehr dabei, Rielle zur Rückkehr nach Hause zu überreden, als nützlich erweisen würde.

Ein herzloser, vielleicht auch egoistischer Gedanke. Er hoffte, Ludivine konnte ihn spüren. Er hoffte, er lastete ihr so schwer auf dem Herzen wie seine letzten Erinnerungen an Rielle auf seinem. Er hoffte, Ludivine würde daran ersticken.

Atheria landete lautlos in einem Eichenhain und schüttelte ihre Flügel aus. Audric fühlte, wie sie ihn mit ihren großen schwarzen Augen beobachtete, während er zwischen zwei knorrigen Stämmen stand und gen Norden blickte, in Richtung Heimat.

Ludivine berührte seinen Arm. »Du hast deine Leute nicht verlassen.«

»Doch«, sagte er tonlos. »Lass uns nicht so tun, als wäre es anders gewesen.

»Wenn du geblieben wärst, hätte Merovec dich getötet.«

Audric umfasste Illumenors Heft fester. »Ich weiß mich zu schützen.«

»Natürlich, aber das hätten wir nicht riskieren dürfen.«

Er fuhr zu ihr herum. »Warum? Weil es dir, wenn ich tot wäre, schwererfiele, Rielle nach Hause zu holen?«

Ludivines bleicher Blick blieb starr. »Es hätte mir das Herz gebrochen, dich zu verlieren.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Wahr ist es trotzdem.«

»Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich irgendetwas, was du sagst, für bare Münze nehme.«

Ruhig musterte sie ihn einen Moment lang, vielleicht in der Hoffnung, dass ihr anhaltendes Schweigen ihn zermürbte, dass er sich für seine Unfreundlichkeit entschuldigte, sie in seine Arme zöge, vielleicht gar auf die Stirn küsste, wie er es stets getan hatte.

Doch stattdessen musterte er sie mit der Geduld eines Felsblocks, bis sie schließlich den Blick abwandte und sich schwer ins Gras sinken ließ.

»Irgendwo habe ich einen großen Fehler gemacht«, murmelte sie, »aber ich erkenne ihn nicht.«