Lidwicc Island College of Floral Spells - Andreas Dutter - E-Book

Lidwicc Island College of Floral Spells E-Book

Andreas Dutter

3,0

Beschreibung

Intrigen, Geheimnisse & Gefahren? Willkommen am Lidwicc Island College für Pflanzenmagie! Als in dem Straßenmädchen Margo plötzlich ungeahnte Magie freigesetzt wird, bringt das einen Unbekannten, der Margo ihr ganzes Leben lang gesucht hat, auf ihre Spur. Zusammen mit ihrer besten Freundin Daphne flieht Margo, doch während sie entkommen kann, wird Daphne entführt. Margo findet sich am Lidwicc Island College wieder, wo sich ihr eine Welt voller Hexenkräfte offenbart. Auf der Insel nahe Griechenland begegnet sie Drakon. Bald erkennt Margo, dass mehr hinter seiner schnöseligen Fassade steckt und fühlt sich verbotenerweise von ihm angezogen. Während Margo lernt, mit ihren Fähigkeiten umzugehen, häufen sich Angriffe auf die Insel, doch Margo hat nur ein Ziel: Daphne zu befreien. Dafür schließt sie sogar einen verhängnisvollen Pakt …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 512

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
Kathrinschroeder

Nicht schlecht

Gelesen dank Netgalley Wieder mal ein Buch vom Drachenmondverlag in der gewohnten besonders schönen "Verpackung"=Cover. Straßenmädchen ist in Wirklichkeit eine Magiebegabte, die an der im Titel benannten Schule Pflanzenmagie lernen soll. Nach einem schönen Einstieg in die Ausgangs-Lebensumstände landet Margo in einer Spezialschule für Pflanzenmagie. Bindungen und Leben vorher scheinen vergessen, der Einstieg ist schwierig. Mitbewohnerin ein Sonnenschein mit noch undefinierten Problemen. Auftritt Bad Boy - der sich als Gegenüber in Romeo-und-Julia-Szenario herausstellt. Weitere Protagonisten, Eifersucht, 3 magische Aspekte - friedvolle Welt wird Teil eines Krieges. Wer ist gut/wer Böse - warum stellt sich immer der Underdog als Weltenretter heraus und wieso halten Autoren und Verlag Überschriften aus rhetorischen Fragen für Interessant? Die Geschichte springt von Klischeesetting zu Klischeesetting - garniert mit der Idee der Pflanzenmagie. Hintergründe von Personen und Welt werde...
00



Lidwicc Island

College of Floral Spells

Andreas Dutter

Drachenmond Verlag

Copyright © 2021 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Michaela Retetzki

Korrektorat: Nina Hirschlehner NH Buchdesign

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-570-0

Alle Rechte vorbehalten

Triggerwarnung

Da Margo als Straßenmädchen aufgewachsen ist, hat sie einiges erlebt, von dem sie auch berichtet. Toxische Männlichkeit, Drogen und Gewalt kommen daher samt ihren Folgen vor. Ebenso äußert Margo ihre Gedanken über das Gefühl, nichts wert oder zu viel zu sein. Ebenso wird darüber gesprochen, nicht akzeptiert zu werden. All diese Ängste beeinflussen natürlich auch manche Handlungen.

Ängste und Emotionen sind nichts, wofür man sich schämen muss. Hört auf euch und eure Grenzen. Wir sind alle auf unsere Weise stark.

Für Dich

Inhalt

1. Was wäre ohne die zehn Euro passiert?

2. Was wäre mit mehr Furcht vor der Magie passiert?

3. Was wäre bei der anderen Abzweigung passiert?

4. Was wäre ohne die Klippe passiert?

5. Was wäre ohne die Pusteblume passiert?

6. Was wäre bei einem anderen Ergebnis passiert?

7. Was wäre mit einem anderen Mentor passiert?

8. Was wäre an einem anderen Ort passiert?

9. Was wäre ohne die Typen passiert?

10. Was wäre in meinem Versteck passiert?

11. Was wäre ohne vorbeilaufende Anthros passiert?

12. Was wäre ohne meinen Nachnamen passiert?

13. Was wäre ohne Onlineseminar passiert?

14. Was wäre bei erfolgreichem Training passiert?

15. Was wäre bei Verbleib im Laden passiert?

16. Was wäre ohne Aussprache passiert?

17. Was wäre mit mehr Misstrauen passiert?

18. Was wäre ohne gemachte Fehler passiert?

19. Was wäre bei Mord passiert?

20. Was ohne Tod passiert?

21. Was wäre bei zu großem Ego passiert?

22. Was wäre mit einem besseren Plan passiert?

23. Was wäre ohne Flucht passiert?

24. Was wäre ohne Angriff passiert?

25. Was wäre ohne Abmachung passiert?

26. Was wäre mit Zwang passiert?

27. Was wäre ohne Mithilfe des Forschers passiert?

28. Was wäre ohne die Babys passiert?

29. Was wäre ohne Pilze passiert?

30. Was wäre bei weniger Opfern passiert?

Epilog

?

Eins

Was wäre ohne die zehn Euro passiert?

Eigentlich liebte ich es, neben dem Meer herzulaufen, die salzige Brise in meinem Gesicht zu spüren und das Licht zu beobachten, wie es Ornamente auf die Wasseroberfläche malte, als hätte man einen Eimer voller Sonne ausgeleert. Wäre da nicht dieser Typ, der mich verfolgte.

»Margo! Beeil dich, verdammt.« Der Wind peitschte Daphne beim Zurückschauen ihre schwarzen Haare vor die Augen. Die nächste Böe schleuderte die Strähnen wieder nach hinten und ich erkannte einen stummen Schrei. Sie bemerkte wohl, dass ich weiter zurückfiel.

»Ja, ja. Keine Panik.« Mehr brachte ich mit Seitenstechen und brennender Lunge nicht hervor. Normalerweise sollte man meinen, dass ich durch das ständige Weglaufen mehr Kondition besäße, aber mein Brustkorb, der sich verkrampfte, und meine Wackelpuddingbeine erzählten eine andere Geschichte. Neben mir hörte ich das ständige Stoppen und Anfahren der Autos, da es sich wie immer auf der Straße am Meer staute.

»Achtung!« Mit einer gekonnten Drehung wich ich den beiden jungen Frauen vor mir aus, die sich ein Pita Gyros teilten. Kurz sog ich den Duft ein, ehe ich mich wieder auf meine Flucht konzentrierte.

Nach und nach holte ich Daphne auf dem Geh- sowie Radweg ein und während sich die Wellen an der felsigen Mauer brachen, näherten wir uns dem Aristotelous Platz. Unzählige Menschen tummelten sich vor uns. Der perfekte Ort, um in der Masse unterzugehen.

Die Verwünschungen des Typen hinter uns nahm ich kaum noch wahr. Bisher hatte uns noch nie jemand erwischt. Warum sollte ich mir also Sorgen machen? Daphne hingegen blieb selten gelassen. Vermutlich, weil uns hatte noch nie jemand erwischt, eine Lüge war und ich die blauen Flecken sowie Prellungen verdrängte, die wir uns bisher zugezogen hatten. Hey, andere zogen sich bei ihren Hobbys auch Blessuren zu. Es könnte schlimmer sein. Wir könnten Skaterinnen sein.

»Starbucks?« Das Wort presste sich schnaufend zwischen Daphnes dünnen Lippen hindurch, als ich sie eingeholt hatte.

Meine Antwort begrenzte sich auf ein Kopfschütteln, doch das reichte ihr nicht.

»Haben jetzt ein Dings mit Code vorm Klo.«

Erkenntnis breitete sich in Daphnes Gesicht aus. Vermutlich hatten sie das neue Schloss wegen uns angebracht, nachdem sämt-liche Baristas uns mit gewaschenen Haaren und neuen Outfits aus den Toiletten kommen sahen. Die Badezimmer der Straßenmenschen.

Die Frage, warum Daphne das vorgeschlagen hatte, beantwortete sich von selbst. Am Aristotelous versammelte sich die Polizei. Eine Falte bildete sich zwischen Daphnes Augen, als sie mich kritisch beäugte. Unwissend zog ich die Schultern hoch. Die konnten doch nicht wegen uns da sein, oder?

In Thessaloniki reagierte nie jemand auf »Haltet sie! Diebe!«-Rufe. Jeder kümmerte sich hier um seinen eigenen Mist. Ausnahmen waren vielleicht Lokalbetreiber, die auch Ärger mit uns gehabt hatten, oder ein paar wenige Möchtegernheilige. Selbst die Polizisten und Polizistinnen, die uns wie bei kleinen Familientreffen, wenn sie uns mal erwischten, Kaffee anboten, kamen nur noch selten. So auch dieses Mal nicht. Dachte ich.

Statt wie geplant mitten in der Menge unsichtbar zu werden, schnappte ich Daphne am Unterarm und zerrte sie seitlich zwischen den Marmorsäulen hindurch. Nur, warum hörte ich keine Rufe mehr hinter uns?

Wir liefen an Eisbars vorbei, überquerten die Straße zum Electra Palace Hotel, ein Ort, den ich mir nicht mal hätte leisten können, würde ich all meine Organe auf einmal verkaufen, und bogen in die Seitenstraße ein. Dort dampfte es vom Sommerregen, der vorhin so plötzlich begonnen hatte, wie er wieder verpufft war. Endlich ließen auch die Blicke, die ich auf mir gespürt hatte, nach. Komischerweise kam es mir vor, als würde meine braune Löwenmähne nachwippen. Um diese Locken zu bändigen, bräuchte ich Magie.

Daphne wollte vorwärts stürmen. Ich hielt sie fest im Griff, auch wenn sie beinah aus meiner schwitzigen Hand gerutscht wäre.

»Was?«

»Warte.« Vorsichtig linste ich um die Ecke.

Es verfolgte uns niemand mehr. Die Polizei patrouillierte seelenruhig. Sie standen dort also nicht wegen uns. Gut zu wissen.

»Weg?« Daphne drückte mich gegen die Mauer, um selbst einen Blick zu riskieren. Sie presste sich so fest an mich, dass ich ihr Herz-rasen unter ihrem schwarzen Lieblingshemd mit den gelben und roten Mohnblumen spürte.

»Jap.« Es wunderte mich zwar nicht mehr, dass die meisten, die wir beklauten, oftmals aufgaben, aber so schnell? Enttäuschung machte sich in meinem Bauch breit.

Eine actionreichere Verfolgungsjagd hätte mehr Klasse gehabt. Vielleicht war es auch nicht die Enttäuschung, sondern nur der Hunger, der uns erst in diese brenzlige Situation gebracht hatte. Denn ehrlich gesagt, nervte mich das beinah tägliche Weglaufen mittlerweile.

Wie dem auch sei, ich schüttelte mein schweißgebadetes Oversize--Shirt in Batikoptik durch, das an mir klebte, und drehte mich um. »Siehst du?« Ich breitete meine Arme aus. »Nichts passiert.«

»Wie kannst du nur immer so gelassen bleiben?« Die Hände auf ihren Oberschenkeln abgestützt, lugte Daphne zum winzigen Kiosk vor uns, der mit seinen tausenden Chipstüten, Getränkepäckchen, Croi-s-sants und Kaugummis in allen Farben aussah wie ein Regenbogen. »Sollten wir nicht noch ein paar Straßen laufen, um sicherzugehen?«

»Papperlapapp. Gönn dir doch etwas. Wir sind jetzt schließlich reich.« Während ich das sagte, holte ich die zehn Euro aus der Hosentasche, die wir aus dem Trinkgeldkörbchen geklaut hatten.

Geliehen, ich meinte geliehen. Gedanklich führte ich nämlich eine präzise Liste von Leuten, denen ich etwas schuldete. Sie war völlig lückenlos. Bis auf drei, vier oder auch zehn Stellen, an die ich mich partout nicht mehr erinnern wollte. Jeder andere wäre bei dem ganzen Klauen und Fliehen wohl nicht so gelassen geblieben. Nur waren wir nicht die anderen, sondern Straßenmädchen.

Daphnes Blick schwankte mehrmals zwischen den zehn Euro, mir sowie dem Kiosk hin und her. Ein resigniertes Seufzen kam über ihre Lippen und sie packte den Schein. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Daphne stellte sich hinter die Frau, die am Kiosk darauf wartete, bedient zu werden. Ihr Lavendelparfüm drang bis zu uns.

»Welche Frage?« Natürlich erinnerte ich mich an die Frage.

»Wie du so gelassen bleiben kannst?«

Weil nichts so schlimm sein konnte wie die Qualen, die ich in Adoptivfamilien, Waisenhäusern und in Gesellschaft anderer Leute, denen ich naiv vertraut hatte, erfahren musste. »Ich bin eben ein Adrenalinjunkie.«

»Alles mit einem Lächeln abzutun, heilt keine Wunden, Margo.« Daphne sagte das nebenbei, ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt den Leckereien im Kiosk.

Auf Zehenspitzen sah sie über die Lavendelfrau, weil sie wohl herausfinden wollte, welche neuen Croissantsorten es gab. Sie war besessen von diesen farbenfrohen Fertigcroissants in allen Geschmacksrichtungen.

»Ein Lächeln hält mich davon ab, Sachen auszusprechen. Denn dann werden sie real.« Nuschelnd beobachtete ich die schwarze Limousine, die sich durch die enge Straße zum Hotel zwängte. Vielleicht deswegen das Polizeiaufkommen?

»Hm?«

»Nichts. Schau, du bist dran.« Mit einem Nicken bedeutete ich ihr, nach vorne zu gucken.

Noch im Gehen drehte Daphne sich um, ihr ausgewachsener, wilder Pony, der einst gerade über ihren buschigen Brauen baumelte, fiel mittlerweile in ihre Augen. »Ich meine es ernst, Babe.« Nach unserem Babe-Insider schmunzelte sie, ehe sie fortfuhr. »Mit einem frechen Spruch deine Gefühle zu verstecken, bringt dich noch in Teufels Küche.«

Erstaunlich, wie perfekt Daphne mich durchschaute. Der einzige Mensch, dem ich vertrauen konnte, und selbst vor ihr versteckte ich mein Innerstes in einem kleinen, verrosteten Tresor in der Mitte meines Herzens. Zusätzlich noch mit Dornenranken verwachsen.

Vor dem Kiosk begann Daphne mit dem Besitzer Georgios zu sprechen, während ich auf die Stelle zwischen meinem Daumen und Zeigefinger blickte und das schlecht tätowierte Vorhangschloss vorfand, bei dem ich mich wunderte, dass ich mir in dem dreckigen Hinterhof keine tödliche Krankheit zugezogen hatte. Es erinnerte mich an all die schrecklichen Sachen, die meiner Seele einen Maulkorb verpasst hatten.

Ein Schaudern kroch an mir empor und leckte mir mit seiner kalten, pelzigen Zunge über den Rücken. Nicht mal die drückende Hitze konnte ihn vertreiben.

Ein Schnipsen vor meiner Nase brachte mich aus meinen Gedanken.

»Na, was is‘? Suchst du dir auch was zum Essen aus? Fünf Euro hast du noch.«

Hinter ihr erkannte ich Georgios mit seinem Weihnachtsmannbart, der mich anguckte. Manchmal glaubte ich fest daran, dass er mit dem Kiosk verwachsen war. Eine Art griechischer Kioskgott. Georgios Kioskious. Würde ich mir noch eine passende, mythische Sage dazu überlegen, würde es bestimmt jemand im Internet glauben.

Er trommelte mit seinen Fingern auf den Kaugummipackungen vor ihm.

»Sorry, ähm.« Rasch checkte ich den Stand ab. »Ich nehme eine Cola-Zitrone vom Kühlschrank und die Krabbencocktailchips, Erdbeercroissant, oh, den kalten Kakao nehme ich auch noch.«

Ein Brummen erreichte mich, woraufhin Daphne ihm den Zehneuroschein aushändigte.

Bevor ich zum Kühlschrank schritt, um meine Sachen zu holen, klopfte ich noch meine Jeanshorts ab. Alles dabei. Diese Paranoia, wichtige Gegenstände zu verlieren, würde mich noch mein erstes graues Haar kosten. Bestimmt. Das … Oder der Typ, dem wir die zehn Euro geklaut hatten, der auf der anderen Seite der Gasse mit zwei weiteren Typen auftauchte, brächte uns um.

»Ähm, Georgios. Wir holen uns den Einkauf später.«

»Was redest du denn da, wieso …«, hinter mir hörte ich das Rascheln einer Plastiktüte, danach stand Daphne auch schon neben mir, »… sollten wir das dalassen?«

Nach Daphnes »Oh«, war ich mir sicher, sie hatte die drei ebenfalls erspäht. Mein Magen verkrampfte sich und wurde nur noch schlimmer, als ich das darauffolgende »Ach du Scheiße«, von Daphne wahrnahm. Warum musste sie mir immer meine Hoffnungen nehmen, dass ich nur halluzinierte?

»Da sind sie.« Spätestens jetzt hatten sie uns offensichtlich entdeckt.

Der kleine Typ mit der verdreckten Schürze stürmte mit seinen zwei Panzern hinter ihm auf uns zu. Kam es mir nur so vor oder bebte der Boden?

Daphne schmiss die Tüten in den Kiosk. »Ist jetzt Panik angesagt?«

Ohne auf meine Umgebung zu achten, sauste ich über den Kapani Markt, den ich besser als meine verdrängten Gefühle verstand. Die meisten hier kannten dieses Schauspiel, dass Daphne und ich mal wieder vor jemandem davonliefen. Nur war es dieses Mal ernst. Wirklich ernst. Das ahnte ich von dem Moment an, an dem ich die kleine Messertasche eines Typen an seinem Fußgelenk erblickt hatte.

Das Blut rauschte in meinem Ohr und vermischte sich mit dem Gebrüll der Händlerinnen und Händler, die sich gegenseitig in ihren Preisen unterboten. Eine Duftwolke aus unzähligen Gewürzen, Gemüse, Obst, Fische und Fleisch empfing mich, als durchbrach ich eine unsichtbare Mauer. Wie Regenbogen reihten sich Zimt, Oregano, Knoblauch, Tomaten, Wassermelonen und Fische neben uns auf. Das ließ mich alles kalt, selbst die Gedanken daran, was mir passieren könnte, waren zweitrangig. Doch Daphne durften sie kein Haar krümmen. Nicht mal die bunten Loukoumi konnten mich heute von meinem Ziel abbringen. Denn nur in unserem Unterschlupf waren wir sicher. Nur wenn wir es dorthin schafften, konnte ich überhaupt noch daran denken, das Zuckergelee auf meiner Zunge zergehen zu lassen.

Während ich über den Kleinpflasterboden eilte, bemerkte ich, wie sich eine Migräneattacke ankündigte.

»Warum?« Meine Frage verlor sich zwischen einem hektischen Hauchen und griechischen Schimpftiraden zweier Händler neben mir.

Das reichte nicht, nein, so leicht machte es mir mein Leben nicht. Denn urplötzlich erdrückten mich Hitzewellen. Mich? Kaum einer Griechin war es jemals zu heiß. Was für eine Scheiße. War ich doch älter als gedacht und befand mich in meinen Wechseljahren?

»Margo?« Daphnes Stimme hinter mir hörte sich seltsam verzerrt an.

Selbst meine Witze retteten mich nicht. Ich schwankte. Stieß mich an einem Postkartenständer ab. Ein lautes Scheppern drang über den Markt, gefolgt von einer Beschimpfung. Eine Postkarte mit Kalimera! darauf rutschte zwischen meinen Füßen hindurch. Ja, nein, definitiv kein guter Morgen. Gleich danach wurde mein Sichtfeld von einem schwarzen Rahmen eingeengt und meine Beine bewegten sich nur noch instinktiv vorwärts. Spätestens als sich mein Herz anfühlte, als hätte es jemand in einen Schraubstock eingeklemmt, um danach dagegenzutreten, krümmte ich mich nach vorne.

»Was ist?« Weiche Hände legten sich auf meinen Rücken.

Sprechen gelang mir nicht, weswegen ich meinen Kopf schüttelte.

»Alles klar?« Die Männerstimme erkannte ich zwar, konnte sie aber gerade keinem Verkaufsstand zuordnen.

Der Pflasterboden unter mir verformte sich zu einer endlosen Spirale. Ein schwarzes Loch, das drohte, mich zu verschlucken.

»Hier, da rein, hinter mir«, sagte die Männerstimme, die sich mittler-weile wie durch einen Sampler gedreht anhörte.

»Danke, Alexis.« Die Worte standen nicht lange alleine da, als Daphne weitersprach: »Mist, Mist, Mist. Komm, da in die Seitengassen.«

Daphne zog mich weiter. Mein Kopf stieß gegen etwas Festes.

»Sorry.« Sie richtete mich auf.

Wir passten gerade so seitlich durch die Enge zwischen den Häusern.

Nachdem wir uns endlich durchgequetscht hatten, fiel ich wie ein Sack zu Boden. Irgendetwas in mir schaffte es noch, dass ich meinen Kopf nach links drehte, um nicht im wahrsten Sinne auf die Schnauze zu fallen. Tja, hatte ich bisher noch gehofft, all das wäre nur ein Trugbild, erkannte ich am schmerzhaften Aufprall, dass ich nicht träumte. Mein Wangenknochen knallte hart gegen den Boden, woraufhin ein Dröhnen in meinem Kopf einsetzte.

»Was ist denn nur mit dir los?« Daphne kniete sich neben mich und ich schaffte es mit Mühe, sie anzusehen. Wenn ich nur selbst wüsste, warum mein Körper gegen mein Überleben rebellierte.

Ich wollte nicht sterben. Diese Erkenntnis huschte so flink durch meine Gedanken, dass ich gar nicht bemerkte, wie meine Nase zu kitzeln begann und meine Sicht sich trübte. Bitte, das durfte nicht das Ende sein.

»Steh auf.« Daphnes Flehen wäre ich gerne nachgekommen, verließen mich nicht gerade meine Kräfte nach und nach.

Irgendetwas geschah in meinem Körper. Etwas breitete sich in mir aus, machte mich schwerer, als schlüge etwas in mir seine Wurzeln. Wie ein flüssiger Amboss, der meine Adern tonnenschwer machte, klebte ich am Boden fest.

Daphne wirbelte so plötzlich herum, dass ich innerlich zusammenzuckte. Dann hörte ich es auch. Mit dem einen Ohr am Stein-boden nahm ich das Getrampel wahr. Sie kamen von der anderen Seite. Doch ich würde hier nicht wegkommen, also …

»Hau ab.« Meine Zunge verwandelte sich ebenfalls in einen kiloschweren Metallklumpen. Sie haftete ausgetrocknet an meinem Gaumen fest und jede Silbe kämpfte sich schwer aus mir heraus.

»Niemals.« Wie ein Schutzwall stand Daphne vor mir.

Meine beste Freundin. Ihre zarten Fäuste zitterten. Nein, sie würde sich nicht für mich in Gefahr bringen, das ließ ich nicht zu. Lebte man auf der Straße, schloss man Frieden damit, irgendwann überraschend zu sterben und nicht in einem kuschligen Sterbebett, umgeben von den Liebsten und Bildern in Rahmen, die so wertvoll waren, dass ich eine Woche davon Essen kaufen könnte. Daphne durfte es nicht so ergehen.

»Daphne, geh.«

Sie drehte den Kopf in meine Richtung. Ihr Blick wirkte, als versuchte sie, herauszufinden, ob ich das ernst meinte. Natürlich dachte sie darüber nach. Wer hätte das nicht? Daphne war kein Mensch, der zu sterben bereit war. Ihr zu sanftes Herz schlug ihrem Überlebens-willen abermals ein Schnippchen und so schüttelte sie mit vorgestrecktem Kinn den Kopf. »Ich lasse dich nicht allein.«

Und das alles nur wegen gottverdammten zehn Euro. Ich hatte es gewusst. Überall munkelte man, dass der neue Restaurantbesitzer am Hafen nun zur griechischen Schutzgeldmafia gehörte. Sie trieben Gelder von den Gastrobetrieben am Meer ein und dafür machten sie ihnen nicht das Leben zur Hölle. Überall in Nordgriechenland spielte sich dasselbe ab. Das gehörte dazu. Niemand redete darüber. Nie hätte ich damit gerechnet, dass die ernst machten. Vermutlich wollten sie an uns das berühmte Exempel statuieren.

All meine Befürchtungen bestätigten sich, als zwei Typen um die Ecke kamen. Die Messer nicht mehr versteckt. Der Besitzer war wohl zurückgeblieben. Mord wollte er bestimmt nicht mit ansehen.

»Wir können euch die zehn Euro wiedergeben.« Der Satz platzte aus Daphne, als hätte sie ihn die letzten Minuten in ihrem Kopf geprobt.

Die beiden Kerle warfen sich einen Blick zu, als fänden sie ihren Auftrag, jemanden für zehn Euro abzustechen, selbst übertrieben. Vielleicht würden sie uns ja nur krankenhausreif prügeln? Oder nur, na ja, ein bisschen mit dem Messer verletzen? Hach, keine Ahnung. Innerlich brüllte, strampelte und schrie ich, aber mein Dreckskörper rührte sich nicht. War das die Strafe für das Leben, das ich führte?

»Dafür ist es zu spät«, sagte der Typ mit der Vollglatze.

»Ihr habt eure Chance gehabt«, beendete sein Zwillingsbruder.

Ihre schwarzen Tanktops waren über ihre Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Diese Schränke spaßten nicht. Wir, nein, ich hatte mich mit den falschen Leuten angelegt.

Daphne durfte nicht wegen mir sterben, das konnte ich nicht zulassen. Eine unglaubliche Hitze brannte in meiner Speiseröhre, als schösse die schlimmste Sodbrennattacke der Welt in mir hoch.

»Ich, wir. Es tut uns leid. Wir haben nicht nachgedacht und wir haben Hunger, wir leben auf der Straße und –«

Der Zwilling mit Halbglatze winkte ab und Daphne stoppte, scharf die Luft einsaugend. Es kümmerte sie nicht.

Meine beste Freundin auch noch schluchzen zu hören, brachte mich – abgesehen von der fiesen Migräne – um den Verstand. Zusammen mit der Schwüle im kleinen Hinterhof, in dem Tropfen vom vorherigen Platzregen in Tonnen plumpsten, quälten mich meine Schmerzen, sodass ich mich fragte, wie diese Messerklingen das noch toppen konnten. Sie könnten es.

Sie kamen näher.

Daphne wackelte einen Schritt zurück und stieß gegen mich, als hätte sie vergessen, dass ich da lag. Ich, die ihrem Leben ein Ende setzte. Ich, die alle enttäuschte.

Das war nicht das Ende von Daphne. Mit dieser Sicherheit mobilisierte ich all meine Kräfte und stieß einen schmerzverzerrten Schrei aus. Mein gesamter Körper zitterte und kleine Lichtpunkte flogen aus meinen Poren, die um mich herum vibrierten.

Dann passierte alles ganz schnell.

Zwei

Was wäre mit mehr Furcht vor der Magie passiert?

Die Kletterpflanze, die vom Dach wuchs, zog sich wieder zurück. Langsam schlängelte sich der Efeu wie eine Welle die Steinmauer hinauf, bis er an der Stelle stoppte, an der sie vorher geendet hatte. Ein paar Ziegelteilchen blätterten dabei von der maroden Fassade ab und rieselten sanft auf den Boden.

Währenddessen zeigten meine beiden Hände zu den Typen vor mir auf den Boden. Zwei Schlafende, die aneinandergeschmiegt dalagen, sich nicht bewegten, und der friedliche Ausdruck in ihrem Gesicht machte alles noch unheimlicher. Na ja, und ich, ich stand wie festgefroren da. Daphne sog neben mir laut die Luft ein und atmete daraufhin so kräftig aus, dass ich glaubte, den Windstoß an meiner Wange zu spüren.

»Du hast nicht gerade wirklich –«

»O Gott, sag es nicht«, unterbrach ich sie.

Eine Wolke schob sich über uns und legte einen grauen Filter über das Szenario. Wieder tauchte er auf. Der plötzlich auftretende Platz-regen. Wasser prasselte auf mich hinab und als die ersten Tropfen mich trafen, kam es mir vor, als zischte mein aufgeheizter Körper. Meine Finger zitterten, doch ich wollte meine Arme nicht senken.

Der kahle Hinterhof verwandelte sich in einen dunstigen Schauplatz, als wären wir in einem Londoner Thriller gefangen. Die alten Häuser, die uns förmlich einkesselten, engten mich ein und ein wenig hatte ich die Befürchtung, dass sich die Mauern zusammenschoben. Der Spalt, durch den wir hierhergekommen waren, schloss sich und der Durchgang, den die beiden Typen benutzt hatten, wurde kleiner und kleiner, bis selbst ein Nadelöhr größer war. Okay, es war amtlich, ich drehte durch.

Ein Kopfschütteln später und alles sah wieder normal aus.

»Margo, du hast die Kerle mit zwei Ranken ausgeknockt.« Daphne ratterte diesen Satz so rasch hinunter, dass es mir unmöglich war, sie aufzuhalten.

So. Es war geschehen. Sie hatte es ausgesprochen. Zu allem Übel verließ mich die Kraft in meinen Armen und sie schlugen gegen meine Seiten. Die klitschnassen Klamotten gaben ein patschendes Geräusch von sich.

Ein Regentropfen traf genau meine Nase und spritzte in mein linkes Auge. Mit meinen Fingern wischte ich das Wasser weg und benutzte sie als Kamm, um meine feuchten Haare zurückzustreichen.

»Margo?«

Nein, noch konnte ich nicht antworten, daher legte ich meinen Kopf in den Nacken und blickte auf die Zuckerwattewolken. Zuckerwatte, die eher aussah wie dreckiger Schnee neben schmutzigen Straßen, lenkte mich für einen Moment ab. Mehr und mehr Tropfen benetzten mein Gesicht, bis ich das, was passiert war, nicht mehr verdrängen konnte.

Das Gedankenkarussell sprang an, schnallte mich ohne Erlaubnis fest und ich musste das Geschehene Revue passieren lassen.

Ein Film in meinem Kopf zeigte mir, wie Lichtpunkte mich umhüllt hatten, ich mich wieder hatte bewegen können, ich aufgesprungen war und ohne zu überlegen die Hände vorgereckt hatte.

Die restlichen Erinnerungen waren verzerrt.

Wie auf Befehl waren die Kletterpflanzen neben uns gewachsen, schlangengleich zu den Typen gekrabbelt, hatten ihre Knöchel umschlungen und ihnen dann den Boden unter den Füßen weggerissen. Zuerst hatten ihre Köpfe wieder Kontakt zum Steinboden gefunden, dann der Rest ihrer Körper.

»Margo, du … das … wow.«

»Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert ist.« Lange könnte ich es ohnehin nicht mehr abwenden, also guckte ich Daphne ohne zu zögern in die dunklen Augen. Was ich fand, war, was ich erwartet hatte. Furcht.

Meine beste Freundin zu verlieren, durfte nicht passieren. Sofort sauste ich zu ihr und stürzte auf die Knie. Direkt in eine Pfütze, die sich gebildet hatte.

»Daphne, keine Ahnung, was das für ein Scheiß gewesen ist. D-d-d, ähm, ich, was soll ich sagen? Kann das nicht irgendetwas Naturphänomenmäßiges sein? Du belauschst doch diese Alte vor der Kirche, die zu laut Podcasts hört.«

»Sie hört True Crime Podcasts, keine Physiklektionen.« Vermutlich wollte sie es unauffällig wirken lassen, aber ich merkte, wie sie sich stärker gegen die Steinmauer drückte.

»Daphne. Hast du Angst vor mir? Wir sind eine Familie, wir haben uns geschworen, uns so etwas nie anzutun.« Meine Empörung brach aus mir, ohne dass ich sie verbergen konnte.

»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.«

Ihre nassen Haare rahmten ihr Gesicht ein. Verzweiflung rumorte in meinem Magen und ich wischte mir genervt das Wasser aus dem Gesicht.

»Wie, du weißt es nicht?«

»Bist du eine Hexe?«

»Mach dich nicht lächerlich, Daphne. Ich? Du faselst doch ständig etwas von Universen, Karma und Schicksal.«

»Und du streitest alles ab, wie es Hexen tun würden.«

»Ich klaue mir auch Heftromane, in denen Lords Zofen verführen und bin deswegen keine Historikerin.«

Daphnes Mundwinkel gingen nach unten und sie biss sich auf die Unterlippe, wie sie es stets tat, wenn sie ein Lachen unterdrückte. Ein, zwei Sekunden versuchte ich es auch, bis wir beide loslachten und uns umarmten.

»Scheiße, Margo. Hat uns heute Morgen jemand von den anderen etwas in den Kaffee geschmissen?« Ihre Stimme an meinem Ohr beruhigte mich.

»Schon wieder?«

»Wenn du … Wenn du davon wirklich nichts gewusst hast, also von dem Hexending.«

»Daph!«

»Von dem Pflanzending. Besser? Dann, Shit, weißt du, was wir damit alles machen können?«

Wollte ich das wieder machen? Könnte ich das überhaupt wieder machen?

Ein rasselndes Husten holte mich zurück ins Hier und Jetzt.

»Sie wachen auf.« Daphnes Wispern wäre nicht nötig gewesen, ich hörte es ebenfalls.

»Komm! Weg von hier.« Ich zog sie auf die Beine und wir hauten durch den Spalt, durch den wir gekommen waren, ab.

Genussvoll leckte ich meine Finger ab, nachdem ich mir das letzte Stück Bougatsa in den Mund geschoben hatte. Der Blätterteig knisterte zwischen meinen Zähnen und ich schmeckte den Grießpudding mit der Zimt-Zucker-Mischung, der das perfekte Verhältnis von Süße und Würze hatte. Wie ich das genoss. Der Puderzucker, der Daphnes Mund wie ein Lippenstift zierte, zeigte mir, dass es ihr ebenso ging.

Der Coffee to go, den wir uns teilten, wog schwer in meiner Hand. Zu teuer, sagte mein Gehirn. Mein Herz schrie: Das habt ihr euch nach der Aufregung verdient. Außerdem habt ihr das Geld gerade eh wieder jemandem geklaut, ihr Unbelehrbaren!

Mit einem beherzten Sprung von der Backsteinmauer landete ich auf dem Gehweg vor der byzantinischen Kirche, die gegenüber eines neuen Einkaufszentrums stand. In Thessaloniki roch man quasi, wie sich Antike und Moderne die Hand gaben.

Die Tüte in Daphnes Hand raschelte, als sie ebenfalls neben mir aufkam und wir über die Straße eilten. Zum Glück hatten wir die Sachen vom Kioskgott abgeholt. Als wir auf der anderen Seite angekommen waren, spazierten wir unter dem uralten Galeriusbogen hindurch. Das spätrömische Relikt stellte sich meistens als idealer Platz zum Betteln heraus, da der Triumphbogen ein Touristenmagnet war. Schade nur, dass es nie lange dauerte, bis die Polizei einen vertrieb.

»Zur Seite, Margo. Die machen da ein Selfie.« Daphne zeigte zu einem Pärchen und ich huschte sofort zur Seite.

»Sygnómi.« Das Pärchen betrachtete mich verwirrt, also mussten es Touristen sein. »Sorry«, schrie ich übersetzt hinterher.

»Hach, ist die süß.« Daphne sah dem Mädchen mit den asch-blonden Haaren nach, als ich sie bereits vorwärts drängte. »Ob ich auch jemals eine Freundin haben werde?«

»Klar, irgendeine von der Straße, vielleicht findest du sogar eine, die nicht durchgeknallt ist.« Ich war in Höchstform, positiv und optimistisch wie eh und je. »Wer will schon jemanden von der Straße?«

»Na, danke auch. Kannst du nicht irgendetwas machen? So als Zauberin?«

»Daph.« Wie oft sollte ich noch erwähnen, dass ich nie wieder darüber sprechen wollte. Denn: Sprach man nicht darüber, war es auch nicht passiert.

»Wir können das nicht totschweigen.«

Ich beschleunigte meine Schritte. Daphne ließ sich nicht ablenken. Nicht mal als ich runter zum weißen Turm eilte, der sich vor dem Meer auftat. Überall lagen Studierende, genossen den Tag, warfen sich Getränkedosen zu und lachten zu Handyvideos.

»Ich Sin Boy-e dich.«

Abrupt hielt ich an und drehte mich zu Daphne, die mich mit in die Hüften gestemmten Händen ansah. Ihre Augenbrauen zog sie beide hoch, weil sie nicht nur eine heben konnte.

»Das machst du nicht.« Das war unser geheimer Quasi-Zauberspruch. Sie nutzte unser Geheimwort, um sich einmal im Jahr etwas von der anderen zu wünschen, dafür? Nun zog sie da auch noch unseren griechischen Lieblingsrapper Sin Boy mit rein.

»O doch.« Die Sonne ging gerade unter, als das orangerote Licht auf Daphnes Gesicht fiel und sie in einem wunderschönen Ton zeichnete. Jetzt tat es mir leid, ihr gesagt zu haben, sie würde nie eine Freundin finden, die nicht auf der Straße lebte, träumte sie doch davon, von hier wegzukommen. (Weg von mir?) Diesen Anblick von Daphne würde ich hoffentlich mein Leben lang als verblasstes Bild in mir tragen.

»Fein. Was genau willst du von mir?«

»Du versuchst das mit der Magie nochmal.« Wie bei einer Verschwörung sah sie sich um, damit uns auch niemand hörte.

Konnte ich mich da noch rauswinden? Vermutlich eher nicht. Ein langes, dramatisches Seufzen kam als Antwort aus mir. »Bitte. Dann gehen wir nach Hause.«

Wenn Daphne noch länger im Kreis lief, würde sie unseren Unterschlupf durchbohren. Damit mich kein Schwindel überkam, drehte ich mich von ihr weg und blickte aus dem nicht vorhandenen Fenster des Rohbaus. Der harte Beton drückte sich in meine Unterarme, als ich mich dagegen lehnte. Selbst der Geruch von Zement hing noch in der Luft. Für unser ständiges Umziehen kam es mir jedoch gelegen, dass die Leute überteuerte Kredite zum Häuserbau bekamen, die sie dann irgendwann nicht mehr begleichen konnten und mitten im Bau stoppen mussten. Überall in Nordgriechenland ragten die halb-fertigen Rohbaugebäude mitten in der Pampa hervor, die ich liebevoll unsere Villen nannte.

Der Sternenhimmel erstreckte sich über Thessaloniki und ich sah über die ganze Stadt, bis zum Meer hinunter. Dort fing das Wasser das Glitzern des Nachthimmels auf, verzerrte es und rahmte das Mondlicht ein, das über der Oberfläche tanzte.

»Lass uns doch wieder in den Keller abhauen und schlafen gehen. Hier oben ist es ziemlich windig.« Hoffnungsvoll wartete ich auf ein Ja von Daphne.

»Okay, du kannst kein Feuer machen, fliegen willst du nicht probieren …« Aus nachvollziehbaren Gründen! »Und schweben lassen kannst du auch nichts.«

»Ich habe dir doch gesagt, ich bin keine Hexe. Wer weiß, was wir uns da zusammengereimt haben.«

»Genau, beide haben wir uns gleichzeitig dasselbe eingebildet.« Daphne folgte mir mit ihren Argumenten bis in den Keller.

Dort empfingen uns unzählige Kerzen in Flaschen, in Löchern am Boden, auf Tellern, in Tassen oder Teekannen und eine Regenbogenwand aus zusammengeklebten Fertigcroissantverpackungen. Hatte ich erwähnt, dass Daphne die liebte? Das Licht des Feuers brach sich auf den bunten, spiegelnden Verpackungen. Mein Liebling war allerdings der stinkende, uralte, orientalische Teppich, den ich von einer Wäscheleine bei unserem Ausflug in Kallithea geklaut hatte.

»Vielleicht eine dieser komischen, unerklärlichen Begebenheiten. Sowas gibt es doch.« Müde ließ ich mich zurückfallen. Die Matratze quietschte und bohrte mir wie gewohnt ihre Federn in den Rücken. Ohne sie schlafen? Konnte ich gar nicht mehr. Gezielt packte ich meine bronzefarbene Kette, die auf dem Nachttischeimer lag und machte sie mir um. Das einzige Teil, das ich, seitdem ich denken konnte, besaß. Ein Teil meiner Vergangenheit. Etwas, das eine Geschichte besaß, die mir verschlossen blieb und mir, könnte es nur sprechen, sagen könnte, woher ich kam. Wer ich war.

»Da muss mehr dahinter sein.« Daphne legte die Klamotten zusammen, die wir gestern im Waschsalon gewaschen hatten. Zum Glück waren wir heute sogar in die Sporthalle gekommen, da der Aufpasser nach dem Rauchen die Hintertür wieder nicht verschlossen hatte. Wie ich eine heiße Dusche liebte.

Daphne schnappte sich die Gabel, auf die sie einen Rasierkopf gesteckt hatte, und rasierte sich ein paar Härchen von den Ober-armen weg.

»Wir müssen das weiter beobachten.«

Daphne eilte an unserer Feuerstelle, über der ein umgekippter Einkaufswagen lag, den wir als Grillrost verwendeten, und holte unser Moskitonetz von der Truhe dahinter hervor. Es wunderte mich jeden Tag, wie Daphne den Einkaufswagengrill so sauber halten konnte.

»Warum hast du dir ein Erdbeercroissant genommen?«, fragte sie, als sie die Tüte ansah. »Du magst die doch nicht.«

»Ich weiß, aber es ist deine Lieblingssorte, die du dir fast nie kaufst, um die neuen Varianten auszuprobieren.«

»Ach, Margo. Ich kann auf mich achten. Danke. Und du leiste lieber deinen Beitrag und lern besser hexen.«

Dieses Versteck gefiel mir besser als das davor. Ich verfolgte die batterie-betriebene bunte Lichterkette, die sich über den Keller erstreckte, startend bei der Croissantmauer und endend über dem Palettenstapel, der unsere Couch sein sollte. Auf ihm lag der uralte Laptop, den wir gerettet und beim eineinhalb Augen Eric – fragt nicht – aufpoliert hatten. Es reichte zumindest, um geklaute DVDs zu gucken.

»Was erwartest du von mir, dass ich mit den Fingern schnippe und es erscheint ein Geldkoffer?« Ich verschränkte meine Hände hinter meinem Kopf und gähnte laut. Dieser Tag würde mir länger in den Knochen stecken. Nur langsam legte sich die Anspannung, die sich hartnäckig in mir hielt.

»Zum Beispiel. Du musst schon ein wenig – Machst du die Füße kurz hoch? – mitarbeiten.«

Gesagt, getan. Daphne warf das Moskitonetz über den Haken.

»Willst du das echt jeden Tag aufs Neue machen?«

»Wir haben nur das eine und wenn sich tagsüber ein Tier darin verhakt, ist es kaputt. Und: Lenk nicht ab.«

Ich schnippte mit den Fingern. »Siehst du. Kein Geldkoffer.«

Daphne hielt in ihren Kunststücken inne, die sie vollführte, um das Netz zu befestigen. »Du bist furchtbar.«

»Mit Geldkoffern kann ich nicht dienen, –«

Wer sprach da?

»Daphne, hol das Messer!« Noch während ich aufsprang und den Mann, der an der Treppe stand, nicht aus den Augen ließ, verhedderte Daphne sich in dem Moskitonetz.

Drei

Was wäre bei der anderen Abzweigung passiert?

So schnell konnten sich Meinungen ändern. Hatte ich mich bei unserem Umzug noch geärgert, dass wir die freie Stelle in der Außenwand für das Tor zum Keller abkleben mussten, war ich heilfroh gewesen, dass wir dadurch abhauen konnten. Ganz ehrlich? Mich kotzten diese Verfolgungsjagden an.

»Einmal fliehen hätte heute gereicht.« Meine Worte klangen gehetzt und innerlich ärgerte ich mich, dass wir von Thessaloniki wegliefen, anstatt in die Stadt hinein. Ein bescheuerter Fehler. Leider hatte mich das Auftauchen des Kerls mit den türkisfarbenen Haaren durcheinandergebracht.

»Na ja, es ist nach Mitternacht.«

Meinte Daphne das ernst? Morgen war, wenn ich aufwachte.

Nun ja, wenn ich über die Schultern guckte und Türkistyp abdriften sah, erlaubte ich mir, ein wenig gelassener zu werden. Der Schreck saß tief. Wir waren nicht zum ersten Mal in einer Unterkunft von Fremden überraschen worden. Oft jagte uns einer weg, damit wir nicht zurückkamen, indessen besetzten die anderen das Versteck. Besser wurde es deswegen nicht und wann immer ich die ständig präsente Angst davor in mir spürte, erkannte ich, dass ich eben kein normales Leben hatte, sondern mein Geist rund um die Uhr in Alarm-bereitschaft war. Meine Existenz bestand aus täglichem Fliehen.

Es fiel mir zunehmend schwerer, den steilen Weg über die ausgetrockneten Hügel zu erklimmen, bis wir auch noch Oleander-sträuchern ausweichen und in Zickzacklinien zwischen Aleppo-Kiefern laufen mussten. Fabelhaft. Gleichzeitig klopfte die Umhängetasche, die ich geschnappt hatte, gegen meinen Oberschenkel, was das Laufen nicht vereinfachte.

Daphne bog scharf nach rechts ab. Ich tat es ihr nach, wodurch der Kies unter meinen Füßen kratzte. Wir tauchten in das Labyrinth des kleinen Waldes ein. Der Duft von Harz lag in der Luft.

Gerade wollte sich Erleichterung in mir breitmachen, als ein Wurfmesser an mir vorbeizischte und in einem Baum stecken blieb. Shit. Wie hatte er uns so rasch eingeholt?

»Margo! Alles okay?«

»Mhm.« Mehrere Tropfen Schweiß bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht.

Daphne preschte vor. Zwischen mehreren ineinandergeschlun-genen Bäumen verschwand sie aus meinem Blickfeld. Der Gedanke, dass sie mich zurückließ, stachelte die Todesangst in mir an.

Wo war Daphne? Wie sollte ich überleben? Meine Sicht trübte sich. Der Wald verschwamm zu einem dunklen Albtraum. Gerade als ich dachte, meine Gefährtin verloren zu haben, packte mich jemand am Arm. Automatisch schlich ein Schrei meinen Hals hinauf. Eine Hand legte sich jedoch über meinen Mund, die mein Rufen unterdrückte. Zarte Haut, die nach Erde roch.

»Shht.« Es dauerte Sekunden, bis ich Daphnes Stimme identifizierte.

Binnen weniger Augenblicke legte sich eine drückende Stille um den Wald, die so laut in meinem Kopf dröhnte, dass ich nicht wusste, ob man sie nicht doch wahrnahm. Das Knacken eines Astes sowie das Rascheln mehrerer Blätter änderte das.

»Hättest du nicht mein Angebot annehmen und mit mir mitkommen können?«

Warum wollte er, dass ich mit ihm mitkam? Suchte er Frauen, die er verkaufen konnte? Neue Leute für seine Bande? Wieso nur ich?

Herzklopfen übertönte meine Gedanken. Ein Surren breitete sich in mir aus. Ich hörte nichts mehr. Bewegte ich mich auch nicht zu viel? Atmete ich zu laut? Immer stärker presste ich meine Lippen und meine Augen zusammen. Alles in mir spannte sich an. Meine Zähne biss ich so fest aufeinander, dass ich Angst hatte, meine Kiefer-knochen würden brechen.

Ein leichtes Ziehen an einer Haarsträhne versetzte mich in Aufruhr. War das Daphne? Was wollte sie sagen? Mist, ich wollte die Augen nicht aufmachen. Nochmal ein beherzteres Ziehen.

Okay. Ich öffnete meine Augen und sah zu Daphne. Sie deutete mit ihrem Kinn nach vorne. Langsam, ganz langsam, bewegte ich meinen Kopf in die Richtung. Nur einen Millimeter. Dann noch einen. Ich schluckte, aber die Spucke blieb mir im Hals stecken, als ich es auch erkannte. Meine Kehle schnürte sich zu.

Hunderte kleine Äste und Wurzeln schlichen sich in der Luft beinah lautlos auf uns zu. Sie schwebten näher in meine Richtung. Ein Ruck zuckte durch meinen Körper und ich wollte loslaufen. Daphne hielt mich. Bis ich erahnte, warum. Der Wald hatte uns eingemauert.

»Glaubt ihr, ihr könnt euch vor mir verstecken?«

Krächzend verbog sich das Pflanzenwerk. Ein kleiner Durchgang öffnete sich. Türkistyp schritt hindurch und nahm einen Zylinder ab. Einen Zylinder! Er musste ein Psychopath sein. Selbst sein Bart leuchtete türkis im Mondlicht.

Daphne ließ mich los. Es war ohnehin vorbei.

»Was willst du von uns?«

Meine Bewunderung für Daphne, dass sie noch sprechen konnte, schoss höher als jeder Aktienkurs.

Er schüttelte den Kopf. »Von dir will ich gar nichts, sondern von ihr.« Sein langer, dünner Zeigefinger deutete auf mich. Sein Fingernagel lief spitz zu.

Da mir die Worte im Halse stecken blieben, zeigte ich auch nochmal auf mich.

»Ja, genau.«

»Was willst du von Margo?«

»Margo. Na, ob das dein Name ist?«

Was meinte er? Woher wusste er, dass ich meinen richtigen Namen nicht kannte?

Was oder wer er auch war, ich ließ mich nicht verarschen. Eine Energie in mir köchelte, doch tief in dieser Energie erkannte ich Potenzial für mehr. Also schritt ich zu ihm vor, bis ich bei seinem Dolchfingernagel zum Halten kam.

»Was willst du?«

»Dass du mit mir kommst. In meinem Zuhause kann ich dir alles besser erklären.«

»Und wenn ich nicht will?« Abwehrend verschränkte ich meine Arme vor der Brust.

»Ohhh.« Zylindertyp betrachtete mich wie ein kleines Kind und schnippte mit den Fingern.

»Margo!« Daphnes Aufkreischen ließ alle Alarmglocken bei mir losschrillen.

Als ich mich umdrehte, schlang sich Wurzelwerk der Bäume aus dem Boden um sie, bis sie völlig eingewickelt war. Nur alles oberhalb ihrer Nase war frei. Sie konnte nichts sagen. Dafür schrien ihre Augen Panik.

Die köchelnde Energie in mir brodelte.

»Du willst mitkommen.« Er baute sich vor mir auf und wie er da stand, mindestens zwei Meter groß, spindeldürr und mit einem Grinsen auf den Lippen, das den Teufel erschaudern ließe, ahnte ich: Dieser Tag würde nicht friedvoll enden.

Etwas in mir ließ mich glühend heiß werden. Die Konturen meines Körpers wurden von Lichtpunkten eingerahmt. Sie pulsierten, färbten sich gelb, dann rosa, später lila, ehe sie mit mir verschmolzen und die Blätter um uns zu rascheln begannen. Sie stellten sich auf, versammelten sich, wirbelten wie ein Hurrikan um mich und erschufen einen Schutzwall. Meine Haare nahmen die Aufforderung des Blätter-strudels an und tanzten in der Mitternachtsmusik des Waldes.

Was geschah nur mit mir?

»Hübsch.« Erstaunt sah er sich um. »Nur leider wirkungslos.« Mit einem Kopfnicken erstarrten die Blätter und wiegten sich in der Luft in den Schlaf, ehe sie zu Boden glitten.

Er bekam, was er wollte, und umfasste mein Gesicht. »Du bist der Schlüssel.«

»Lass sie in Ruhe!«

Wer war das nun wieder? Rettung? Noch jemand Schlimmeres?

Bei der Stimme zuckte der Zylindertyp zurück. Seine Augen weiteten sich und Todesangst zeichnete sich in seiner Mimik ab. In Windes-eile wirbelten die Blätter und Äste auf, legten sich um ihn, bis er von ihnen umhüllt wurde.

»Zeig mir dein Gesicht.« Die Frauenstimme näherte sich uns. Sie stellte sich vor mich. Ihr Haar war zu einem Turm hochgesteckt. »Geht es dir zumindest okay?« Sie warf nur einen knappen Blick über die Schulter.

»Äh, ja, ich denke schon.«

»Wer bist du?« Sie näherte sich ihm. Unmöglich mit dieser Kutte und der Kapuze zu erkennen, wie die Frau aussah, außerdem spielte die Nacht ihr in die Karten.

Er wich zurück. Trotz ihrer Deckung wirkte es, als erkannte er sie.

»Hat er seinen Namen genannt?«

»Nein, nicht dass ich wüsste, oder Daphne?«

Ihre Augen straften mich mit einem bösen Blick. Oh, ja, sie konnte gerade nicht sprechen.

»Können Sie meiner Freundin helf-« Noch bevor ich meinen Satz beendet hatte, schnappte mich ein Ast, der meine Hand umklammerte, und zog mich seitlich weg.

Mein Kopf schlug gegen etwas Hartes. Schon wieder. Der Schmerz zog sich wie ein Blitz von oben bis unten. Langsam wurde meine Sicht Schwarz. Schon wieder.

»Liebes! Darf ich dich retten? Darf ich dich mit mir nehmen?«

Mitnehmen? Retten? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Jammernde Geräusche drängten sich aus mir heraus. Angst schwoll in mir an. Lange konnte ich mein Bewusstsein nicht mehr aufrechterhalten, also musste ich mich beeilen.

»Sag! Sag es!«

Wie sollte ich in diesem Augenblick entscheiden, wie ich wählen sollte? Daphne war sonst der Kopf in diesen Dingen. Niemandem trauen. Mit dieser Devise lebte ich seit Jahren besser als früher, als ich naiv gedacht hatte, es gäbe nette Menschen.

»Ich brauche deine Erlaubnis.« Stimmfetzen flehten mich an und auch, wenn ich es bereute, kam ein unmissverständliches Geräusch aus mir: »Mhm.«

Nachdem ich ihre Frage bestätigt hatte, fraß mich die Dunkelheit mit Haut und Haar auf.

Vier

Was wäre ohne die Klippe passiert?

Getrocknete Rosenblätter gemischt mit frisch gemähten Grashalmen. Diese Duftkombination kam mir als Erstes in den Sinn.

Nach und nach wachte mein Bewusstsein auf und die unendliche Schwärze, die mich in ihrem Nichts gefangen hielt, wurde weniger schwer. Ein Lichtstrahl inmitten der Dunkelheit. Trotzdem konnte ich nicht diesen einen Gedanken fassen, der mir sagte, warum ich schlief. Ich wusste, tief in mir steckte die Gewissheit dessen, was passiert war. Leider gelang es mir nicht, sie zu fassen.

Immer mehr Sinne erwachten. Ich fühlte, dass es feucht war. Meine innere Stimme taute auf. Das krächzende »Wach auf, du blöde Kuh«, hallte in meinem Kopf, erzielte nicht den gewünschten Effekt. Irgendetwas in mir hatte sich fest verschlossen, als wollte mich meine Seele vor etwas schützen.

»Margo!«

Daphnes Stimme? Daphne! Da war doch etwas.

Ich kniff die Augen fester zusammen. Der kleine Finger zuckte. Die Freude darüber hielt jedoch nicht lange, als ich merkte, wie die Migräne an meine Schläfen klopfte.

Abrupt kehrten all meine Kräfte in meinen Körper zurück und ich schreckte hoch. »Daphne!«

Die Helligkeit überraschte mich und es dauerte, bis meine Augen sich an die Umgebung gewöhnt hatten. Verschwommen erblickte ich Grün, Braun und andere bunte Farben.

War es nicht eben noch Nacht gewesen?

Mein Magen zog sich zusammen und die Hektik, die in mir einen Marathon lief, heizte mich auf. Was war hier los? Ich wollte Antworten. Ich rieb meine Augen, riss sie auf, zog die Lider mit den Fingern hoch. Ich wollte sehen. Ich wollte erkennen. Und ich wollte es jetzt.

Ein Garten? Ein Garten. Warum wachte ich in einem Garten auf?

Das konnte doch nur ein Scherz sein, oder? Hatte mich diese Frau hierhergebracht? Vorsichtig stand ich auf. Wohin ich meinen Kopf auch drehte, überall empfingen mich Bäume, Gras, Kletterpflanzen, die sich unter einer Kuppel aus milchigem, schmutzigem Glas als Decke durch den Garten schlängelten.

Ich stand vor einem weitläufigen Blumenfeld mit den verschiedensten Arten, einige, nein, viele, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Farbenpracht erschlug mich. Wie konnte ein Indoorgarten derart groß sein?

»Gefällt dir der Ursprungsgarten?«

Ich zuckte zusammen. Diese Nacht ließ einen lebensveränderten Geschmack zurück und doch hatte ich die Hoffnung, wieder in mein altes Leben zurückgleiten zu können.

»Wo bist du?« Die Stimme war überall und nirgends.

Langsam drehte ich mich um und tat, als verfolgte ich eine Spur von Gänseblümchen, während ich meine Hände knetete. Sie sollte nicht denken, dass ich nervös war.

»Weshalb so nervös?«

Verdammt.

»Bin ich nicht.« Kopfschüttelnd seufzte ich. Das brachte doch nichts. »Weil du mich entführt hast?«

»Entführt? Ich habe dich gerettet.« Ihre Stimme tauchte hinter mir auf.

Wie konnte das sein? Ich wandte mich zu ihr.

Der schwarze Umhang samt Kapuze auf dem Kopf passte nicht zum Bild des bunten Blumenfeldes.

»Wo ist meine Freundin?« Die Fragen explodierten in meinem Kopf und ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen, welches Thema ich verfolgen sollte.

Ihre Finger verhakten sich ineinander und sie hielt die Hände gelassen vor sich. »Ich weiß es nicht.«

Fältchen umgaben ihre Lippen, die ich durch den nach unten hin mehr transparent werdenden Schleier erkannte.

»Warum nicht?«

»Soll ich dich anlügen?« Dass sie so ruhig und gelassen sprach, ließ den Zorn in mir hochkochen.

Sie tat, als wäre nichts, und doch war so viel.

»Warum zeigst du dich mir nicht? Nimm deine Kapuze ab.«

Andächtig umfasste sie mit ihren dünnen Händen, deren Haut beinah durchsichtig war, die Kapuze und zog sie zurück. Darunter offenbarte sich mir nur der Schleier. Ein Schleier, der ab der Nase fast blickdicht war. Wollte die mich verarschen?

»Lady –«

»Callidora Poutachidou.«

Je ruhiger sie blieb, desto mehr geriet ich in Rage. Ich konnte nicht mehr an mich halten und begann, von links nach rechts hin- und herzulaufen. »Lady, ich …« Ja, was wollte ich überhaupt sagen? Ich strich mit meinen Fingern meine feuchten Haare zurück. »Lady Poutachidou. Ich will wieder nach Hause.«

»Du bist zu Hause.«

»In einem Garten?«

»Wäre das wirklich dein schlechtester Schlafplatz? Das ist doch nicht so. Außerdem habe an dem Morgen, an dem ich dich gerettet habe, gespürt, dass etwas in Thessaloniki nicht stimmt, wie eine Vorahnung. Okay, und eine Prise Tarotpflanzenhilfe. Bin extra mit der Limousine angereist. Zum Glück – so konnte ich rasch bei dir sein.« Wie eine Statue stand sie vor mir, während ich wie ein störrischer Esel im Kreis wanderte.

Ach, war sie das in der Limousine vor dem Hotel gewesen? Die musste ja Asche haben.

»Überheblichkeit mag ich nicht.« Mit meinem Zeigefinger fokussierte ich sie, ehe ich erneut kopfschüttelnd weiterlief.

»Wie hast du es geschafft, deinen magischen Fußabdruck zu verwischen?« Ihre Worte blieben ein Rätsel und ich verstand nichts.

»Meinen, was?«

»Okay, das habe ich mir gedacht.« Sie legte ihren Finger an ihr Kinn. »Trinken wir einen Lavendel-Baldrian Tee, der bringt dich runter.«

»Oh! Wohoho! Nein, nein. Ich trinke keine Tees mit dir.« Über das Wort Tees hängte ich mit den Fingern Gänsefüßchen dran. »Und dann wache ich in einem Folterkeller auf.«

Jetzt seufzte sie.

Nervte ich sie?

Ich, sie?

»Dann fangen wir von vorne an. Setz dich.« Callidora zeigte neben sich.

»In die feuchte Wiese?«

Sie verneinte. »Sieh genau hin.«

Zwei Bäume. Sollte ich auf den Baum klettern? Ich verstand die Welt nicht mehr. Bis sich etwas bewegte. Ein fragender Blick zu Callidora.

Die Äste der Eichen wuchsen. Sie streckten sich, bewegten sich schleifenförmig nach unten, bis ich erkannte, was dort geschah. Die Äste formten sich zu zwei Stühlen.

Callidora drehte ihre Handfläche nach oben und hob sie an. Gleichzeitig mit dieser Bewegung platzte der Boden zwischen den Aststühlen auf und ein Pilz in der Größe eines kleinen Bistrotisches zeigte sich.

»Setz dich.«

Ein Traum. O Mann. Das war’s. Ich blöde Kuh. Ich träumte noch. Meine Finger hatte ich in Zwickstellung gebracht. Während Callidora zu einem Stuhl schritt, näherte ich mich meinem Unterarm.

»Bitte zwick dich nicht und vergeude nicht noch mehr Zeit. Denkst du, das bringt dir etwas? Das ist doch nicht so.«

»Was? Ich …«

»Das Gras unter dir. Es überträgt deinen Herzschlag bis zu mir. Du hast diesen typischen, nervösen Träume ich?-Herzschlag.«

Das Gras? Es tat was?

Ich zwickte mich. »Au.«

»Siehst du.«

Fein, ich ließ mich auf das Spiel ein. Anders käme ich nicht weiter.

Vor dem Stuhl hielt ich an. Ob er mich aushalten würde? Ich zog eine ängstliche Grimasse, als ich mich auf die Stabilität des Stuhls verließ. Er knarrte etwas, blieb aber sonst heil.

»Also?«

»Also, was?« Diese Frau raubte mir den letzten Nerv.

»Du hast gesagt, wir fangen ganz von vorne an. Wo wäre das denn?«

»Ah, das meinst du. Du musst anfangen, dich deutlicher auszudrücken.« Ihre emotionslose Art trieb mich bis ans Ende meiner ohnehin schon kurzen Zündschnur.

»Ich gebe mich geschlagen. Bitte, hör auf mit diesem Herum-geeier. Erzähl mir, wer du bist, wo ich bin, was hier vor sich geht.«

Callidora, die mich an eine Nonne erinnerte, hob den Kopf leicht an, badete ihr Gesicht im Sonnenstrahl, der durch die mit Ornamenten verzierte Glasdecke hindurchschien. »Ich bin die Leiterin des Lidwicc Island College für Pflanzenmagie. Callidora Poutachidou. Und du – auch wenn du das nicht gefragt hast – bist eine von uns.«

Nach meiner Flucht sah ich mich in dem Gebäude um. Zwischen meinem Fingernagel und dem Abbild davon auf dem Spiegel blieb ein kleiner Spalt. Ein Trick einer Ex-Agentin, die aufgrund ihrer Paranoia auf der Straße gelandet und mir in Athen öfter über den Weg gelaufen war. Berührten sich Fingernagel und das Spiegelbild direkt, stand man vor einem Monitor oder einer Einwegscheibe, hinter der man beobachtet wurde, oder Ähnlichem. Niemand beäugte mich gerade.

Ich drehte mich um und rutschte mit dem Spiegel im Rücken zu Boden. Der goldene Rahmen drückte unangenehm gegen mich. Die Verwirrung schmerzte in meinem Kopf einen Hauch mehr als die Verzierung, weswegen ich nicht zur Seite rutschte.

Weglaufen stellte sich zwar nicht als die erwachsenste Lösung heraus, aber ich hatte es bei dieser Frau nicht mehr ausgehalten. Da es auch nur eine Tür aus diesem Kuppel-Garten in das Gebäude gab, war die Flucht kein großes Problem gewesen. Mir unterbewusst stets einen Plan zum Fliehen anzufertigen, zählte ich zu meinen besseren Eigenschaften. Komisch, dass sie mich nicht verfolgt hatte.

Pflanzenmagie? Alles klar. Kack Möchtegernnonne. Obwohl ich mir abgewöhnt hatte, mir mit den Händen ins Gesicht zu fassen – auf der Straße wusste man nie, in welche Bakterien und Viren man griff –, massierte ich meine Stirn, meine Augenlider, meine Wangen und hielt die Luft an.

Wo zum Teufel befand sich Daphne? Wie sollte ich das ohne sie überstehen?

Der Korridor glich der Unendlichkeit. Der lila Läufer, die dumpfen Lampen an der Wand, die Kletterpflanzen, alles wiederholte sich. Wohin ich auch blickte, verflochten sich Efeu, Blauregen, Kletter-rosen und Hopfen zu einem Zopf aus Pflanzen, die wirkten, als wuchsen sie mir hinterher. Und warum zum Teufel erkannte ich diese Pflanzenarten?

»Ich will doch nur hier raus. Mist, verdammter.«

Meine innere Unruhe zeigte sich an meinen Beinen. Das Zittern bekam ich nicht unter Kontrolle. Diese Stille machte mich noch nervöser. Mein Kopf auf meinen Knien, meine Haare, die um mich fielen. Alles war dunkel und ich hoffte, wenn ich hochsah, war ich wieder in unserem Versteck.

Ich stellte mir Daphne vor, wie sie die Nase hochzog – ich kannte niemanden, der sonst ganzjährig Schnupfen hatte – und sagte: »Wirst schon sehen, morgen scheint wieder die Sonne.«

Was gar nicht stimmen konnte, da sie das noch nie gesagt hatte, aber es wäre bestimmt schön. Wie ich ihre rostbraunen Augen vermisste.

Argh! Meine Gedanken waren so laut.

»Ich will raus.«

Ich richtete mich auf. Noch immer in diesem Korridor. Etwas hatte sich verändert. Die Kletterpflanzen vor mir bildeten neue Blätter und formierten sich zu einem Pfeilmuster. Es zeigte nach rechts.

Das war doch Quatsch.

»Ich geh dem doch nicht nach.«

Ich ging dem nach.

Was sollte ich auch sonst machen? Durchgeknallt war ich ohnehin bereits.

Das Flackern von Kerzen, die auf den goldenen Halterungen zusätzlich Licht gaben, malte Schatten an die Wand. Sie machten mir natürlich keine Angst. Okay. Vielleicht ein bisschen.

Meine Schritte beschleunigten sich, wodurch ich sie beinah verpasst hätte. Eine kleine Holztür. Wind zog durch das morsche Holz.

Rasch zog ich daran. Nichts. Ich drückte sie nach außen und sie öffnete sich. Die Frische umwirbelte mich und mein Verstand beruhigte sich. Die Luft tat gut. So gut. Endlich konnte ich nach draußen fliehen.

Meine Beine trugen mich nicht mehr lange vorwärts. Ich spürte, dass mein Gang holprig wurde. Öfter als es normal war, knickte mein rechter Fuß weg, der dank eines Treppensturzes beleidigt genug war.

Für meine Umgebung hatte ich gar keinen Blick mehr. Irgendwann bemerkte ich, dass ich wieder durch einen Wald eilte. Flashbacks von der Flucht mit Daphne schnürten mir die Kehle zu und ihr Gesicht vor meinen Augen brachte mich endgültig aus dem Konzept.

Als ich stürzte, landete ich sanft. Hatte sich das Gras verdichtet und mich aufgefangen? Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Ich rollte mich auf den Rücken. Mitten auf einer Lichtung sah ich zur Sonne hoch. Das Licht brannte mir in den Augen, bis ich es nicht mehr aushielt und sie schloss.

Um mich herum hörte ich Geräusche. Wind, Geraschel und Wellen. Mit dem Meer in meiner Nähe fühlte ich mich nicht mehr ganz so allein. Nein, das stimmte nicht. Die Einsamkeit verschlang mich vollkommen. Seit Langem spürte ich das Verlorensein wieder extrem.

Niemandem durfte ich vertrauen. Denn sie alle verließen oder hintergingen mich früher oder später. Keinem konnte ich es erlauben, mir mit seinen Worten den Verstand zu verdrehen. Nicht einmal meinen eigenen Augen konnte ich mehr glauben. In welchem Wald auf der Welt gab es sonst einen Mix aus unzähligen Baumarten? Da stand eine Eiche neben einem Kirschblütenbaum, der sich neben einer Palme sonnte, und eine Schwarzpappel – woher kannte ich diese Namen? – gleich daneben.

Wieder mal stand, na ja, besser gesagt, lag ich völlig allein da. Allein und offenbar mit einem Gehirnschaden.

Daphne? Weg. Meine Familie? Nicht existent. Es gab nur noch mich.

Ich stieß ein jammerndes Geräusch aus, gefolgt von einem langen Seufzen. Meine Augen brannten, meine Nase kitzelte und ich spannte mich an.

»Komm schon.« Ich fächerte mir Luft in die Augen. »Komm! Weine!«

Nichts. Manchmal trübten Tränen meinen Blick, mehr nicht. Die Fähigkeit zu weinen. Wann hatte ich wandelndes Desaster auf zwei Beinen es verlernt, loszuheulen?

O Mann, ich brauchte dringend eine Therapie. Nur wann hätte ich mir die gönnen sollen? Der Therapieplatz der Straße lag genau dort. Auf der Straße, wenn man Betrunkenen seine Probleme anvertraute, von denen man wusste, sie hatten sie bis zum Morgengrauen vergessen.

Mein Gehirn spuckte die passende Erinnerung an meine letzte Heulsession aus. Unmittelbar danach verdrängte ich das Bild wieder. »Danke, Kopf. Ich wollte nicht wirklich eine Antwort darauf, wann ich zum letzten Mal geheult habe.«

»Margo, gib nicht auf.« Daphnes Flüstern sauste durch meine Ohren wie ein flüchtiger Windhauch.

Daphne sprach die Wahrheit. Allein durchstand ich Kämpfe, Fluchtversuche, Ohrfeigen und Schlimmeres. Trotzdem dauerte es ewig, bis ich wieder auf den Beinen war.

»Pflanzenmagie, Kapuzenfrauen und sich bewegende Äste, die Pfeile und Stühle formen, auch das schaffe ich. Und sei es nur, um Daphne zu finden.« Es laut auszusprechen, half mir, es zu meinem Mantra zu machen.

Ich folgte dem Ruf des Meeres. Die Wellengeräusche zogen mich magisch an. Die Zypressen ragten in die Luft, als kitzelten sie den Himmel. Überall der Geruch von salziger Meeresluft, Harz, Erde und Holz. Das Knacken der unterschiedlichsten Blätter unter mir begleitete mich, obwohl ich mir manchmal einbildete, ein Aua zu hören. Ich brauchte Schlaf. Schlaf und eine Flasche Ouzo.

Dass die Umgebung mit satten Farben und den Pflanzen glänzte, konnte ich nicht abstreiten, aber es genießen? Fehlanzeige.

Um mich fühlte sich alles vertraut und zugleich fremd an. Vor mir offenbarte sich eine Klippe. Nur noch ein paar Schritte bergauf und schon stand ich vor dem Abgrund.

Das Erste, woran ich dachte: Lidwicc Island College. Island.

Eine Insel.

Das Meer bewegte sich ruhig in seinem gewohnten Rhythmus, als wollte es mich beruhigen, begrüßen und in Sicherheit wiegen. So sehr ich auch versuchte, dieses Gefühl anzunehmen, irgendetwas passte nicht. Wirkte fehl am Platz. Nein, nicht ich. Etwas anderes. Vor mir. Dort schimmerte die Umgebung. Nicht immer. Manchmal. Wenn der Wind drehte und die Sonne auf eine bestimmte Stelle schien, flirrte ein beinah durchsichtiger Regenbogenschleier umher.

Sachte streckte ich meinen Arm aus, reckte mich weiter nach vorne und spreizte meine Finger. Nichts. Ein bisschen noch in die Richtung beugen. Nichts. Auf einem Fuß balancierend reckte ich mich dem Schein entgegen.

Gleich hatte ich es. Ein, zwei Zentimeter noch und … Mist! Ich verlor das Gleichgewicht.

»Ahhh!« Viel zu spät bemerkte ich, wie weit ich mich über die Klippe gebeugt hatte.

Ich kippte vorne über nach unten. Mit dem Kopf voraus.

Der Sturz passierte so plötzlich, dass mir mein nächster Schrei im Halse stecken blieb. Panik ließ mich um mich schlagen, nach dem Nichts greifen, in der Hoffnung, mich retten zu können.

Ich ging, wie ich gekommen war. Allein. Einsam. Mit einem Lächeln. Vielleicht sollte das mein Ende sein.

Die Felswand, an der ich vorbeiflog, bereitete mich auf mein Ende vor. Wie eine absichtlich platzierte Falle ragten spitze Steine aus dem Wasser hervor. Nach ein, zwei Augenblicken hörte ich mit dem Herumfuchteln auf. War es nicht besser? Hatte ich nicht seit Jahren auf mein Ende gewartet? Ein Ende von diesem schwarzen Loch der Einsamkeit in mir, das selbst Daphne nicht füllen konnte.

Ich schloss die Augen und wartete auf den Schluss, der meine Existenz zum Platzen brachte.

Wartete, wartete und wartete. Vorsichtig öffnete ich ein Auge in voller Erwartung, mich gleich aufgespießt wiederzufinden, während mich das Leben auslachte, dass ich noch nicht hinüber war. Doch was ich sah, brachte meinen Verstand erneut an die Schwelle des Durchdrehens.

Ich hing in der Luft. Kurz über dem Schlund der Felsenfalle, der mir mit seinen Steinspitzen entgegenlachte.

»O mein Gott.« Sofort blickte ich nach oben und erspähte eine Art Liane, die sich unbemerkt um meine Beine geschnürt und mich aufgefangen hatte.

Jemand lugte über den Rand der Klippe. »Sag mal, bist du bescheuert oder so?«

»Ja!«

»Wolltest du dich umbringen?«

»Nein. Wollte mir die Felsen genauer angucken.«

»Aha, na dann. Tschüss.« Der Kopf verschwand. Er haute einfach ab.

»Hey!«

Grinsend tauchte er wieder in meinem Blickfeld auf. »Na, Schiss?«

Ja! »Nein. Zieh mich hoch.«

»Was bekomme ich dafür?«

Die Sonne glänzte auf seinen platinblonden Haaren.

»Me douléveis?«

»Ich will dich nicht verarschen. Auf der Welt bekommt man nichts geschenkt.« Er legte den Kopf schief. »Hol dich doch selbst hoch. Oder kannst du das nicht?«

»Ich habe nie Seilklettern mit Panikattacke gehabt in der Schule.« Die Schule, in der ich nie gewesen war.

Schweiß tropfte von meiner Nasenspitze und meiner Stirn. Er vermischte sich mit dem Meer. Die Hitze um mich und in mir verschlimmerte die momentane Situation, weswegen es mir schwerfiel, ruhig genug zu bleiben.

»Also?« Der Kerl meinte es ernst.

Fieberhaft überlegte ich, was ich zum Tausch bieten konnte. Was mir in meiner Situation nicht so leichtfiel. Etwas löste sich unter meinem Shirt und purzelte auf meine Nase. Meine Kette.

»Ich habe eine besondere Kette für dich.«

Ruckartig sackte ich nach unten.

»Langweilig.«

»Soll ich für dich kochen?« Musste ja niemand wissen, dass ich keine Spitzenköchin war.

Zack. Wieder weiter unten. Ein hoher Schrei stahl sich aus meinem Mund. Das brachte nichts. Ich musste mir etwas überlegen. Okay, ich tat mal so, als wäre diese Magiekacke real. Dann musste es etwas Außergewöhnliches sein.

Ah!

»Ich stelle dich einem Gott vor.« Hastig kniff ich die Augen zusammen.

»Welchem?«

»Georgios Kioskious.«

Schleppend schaffte ich es wieder nach oben. Bevor ich die rettende Klippe erreicht hatte, raste die Liane, an der ich hing, wieder nach unten. Jeder Mucks, den ich hätte machen können, verlor sich in meinem Schockzustand. Als ich die spitzen Felsen schon in mir ahnte, stoppte ich abermals und es schleuderte mich vor. Zuvor hätte ich nicht gedacht, noch mehr Panik empfinden zu können, aber als mein Sicherheitsseil sich von mir löste, brach das blanke Entsetzen in mir aus. Viel zu spät erst merkte ich, dass ich über die Felsen hinweg geworfen wurde und im Wasser landete.

Salziges Nass drang in meine Nase ein und spülte mich durch. Wie ich dieses Gefühl hasste. Meine Schleimhäute brannten und mir fiel es schwer, mich zu orientieren.

Nach und nach beruhigte ich mich, schloss meine Augen und zwang mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Meine Lider öffneten sich und die schaumigen Bläschen um mich lösten sich auf.

Dieser Kerl hatte mich ins Meer geworfen. Einfach so! Der Zorn in mir verlieh mir einen Düsenantrieb und schneller als mir lieb war, kam ich an die Oberfläche. Tiefes Einatmen wurde von einem Hustenanfall abgelöst.

»Du hättest dein Gesicht sehen müssen.« Seine freche, strolchige Stimme ließ mich nicht los.

»Du hast sie doch nicht mehr alle, du Arsch!«

»Ich habe dir das Leben gerettet.«

Leider hatte er irgendwie recht.

»Kannst du mich hochholen?«