Liebe am Pflegebett - Lieselotte Kamper - E-Book

Liebe am Pflegebett E-Book

Lieselotte Kamper

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Beschreibung

"Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden"Anni, die seit vielen Jahren ihren Mann Joachim pflegt, nimmt sich eine langersehne Auszeit.An ihrem Urlaubsort an der Nordsee trifft sie unverhofft ihre Jugendliebe Manfred wieder. Obwohl inzwischen einige Jahrzehnte vergangen sind, erwachen sofort wieder die alten Gefühle zueinander. Anni genießt die unbeschwerten Tage mit Manfred in vollen Zügen, für eine kurze Zeit kann sie ihre täglichen Sorgen vergessen. Doch der Pflegealltag holt sie schnell wieder ein und fordert sie immer mehr, bis an ihre Grenzen. Hat sie je eine Chance, Manfred wiederzusehen?Wird er auf sie warten?In diesem bewegenden Roman hat sich die Autorin ihre eigenen Erfahrungen aus dem Pflegealltag mit den vielen aufreibenden Schwierigkeiten zunutze gemacht. Dabei vergisst sie nicht, Kritik an dem heutigen Gesundheitssystem zu üben.

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"Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden"

Anni, die seit vielen Jahren ihren Mann Joachim pflegt, nimmt sich eine langersehne Auszeit. An ihrem Urlaubsort an der Nordsee trifft sie unverhofft ihre Jugendliebe Manfred wieder. Obwohl inzwischen einige Jahrzehnte vergangen sind, erwachen sofort wieder die alten Gefühle zueinander. Anni genießt die unbeschwerten Tage mit Manfred in vollen Zügen, für eine kurze Zeit kann sie ihre täglichen Sorgen vergessen. Doch der Pflegealltag holt sie schnell wieder ein und fordert sie immer mehr, bis an ihre Grenzen. Hat sie je eine Chance, Manfred wiederzusehen? Wird er auf sie warten?

In diesem bewegenden Roman hat sich die Autorin ihre eigenen Erfahrungen aus dem Pflegealltag mit den vielen aufreibenden Schwierigkeiten zunutze gemacht. Dabei vergisst sie nicht, Kritik an dem heutigen Gesundheitssystem zu üben.

Erschienen im

Scholastika Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Rühlestraße 2

70374 Stuttgart

Tel.: 0711 / 520 800 60

 

www.scholastika-verlag.com

E-Mail: [email protected]

 

Zu beziehen in allen Buchhandlungen,

im Scholastika Verlag und im Internet

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2020 Scholastika Verlag UG, 70374 Stuttgart

ISBN 978-3-947233-12-0

Titelbild: Esther Niederhammer

Druck: Druckerei Hallwich GmbH

 

1 - Verdiente Auszeit

Anni wünschte sich sehnlichst eine Auszeit. Dieser Gedanke hatte sich schon vor Wochen tief in ihre Seele gebohrt und ließ sie seitdem nicht mehr los. Einmal abschalten können, einmal die Seele baumeln lassen und in den Tag hinein trödeln.

Anni stand vor dem großen Spiegel im Badezimmer und plagte sich schon wieder mit Gewissenskonflikten. Kräftig rubbelte sie ihre Haut mit einem Handtuch ab, als wollte sie damit alle unnötigen Gedanken verscheuchen. Sie massierte sich die Arme, die Beine und den Bauch, dabei betrachtete sie ihren nackten Körper und konnte mit dem, was sie sah, zufrieden sein. Sie wunderte sich nur über ihre frische Gesichtsfarbe. Hatte sie doch wieder eine unruhige Nacht hinter sich, aber ein wenig länger schlafen kam nicht in Frage. Ganz im Gegenteil. Anni war sogar noch früher aufgestanden als sonst, damit sie sich in Ruhe anziehen und frühstücken konnte. Das musste sie sich einfach herausnehmen, denn vor ihr lag wieder ein langer, anstrengender Tag. Ein Tag, der ihr hoffentlich nicht wie gestern den letzten Nerv raubte, ihr Herz vor Mitgefühl und Selbstmitleid zerriss und sie in Hilflosigkeit verfallen ließ.

In manchen Momenten glaubte Anni tatsächlich, sie wäre am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte. Und nur deshalb wollte sie neue Energie tanken, um sich vor einem Zusammenbruch zu schützen, vor dem sie sich so sehr fürchtete. Wie konnte sie damals nur im Entferntesten ahnen, wie belastbar sie sein konnte, wenn es darauf ankam.

Aber in dieser Stunde dachte sie an die ganzen lästigen Vorbereitungen einer Ferienreise, und schon kamen ihr wieder die größten Zweifel. Oh, wie sie es hasste, sich mit dem Für und Wider auseinanderzusetzen. So kam sie nicht weiter. Im Spiegel sah sie ein viel zu ernstes Gesicht. Mein Gott, was haben wir nur getan, fragte sie sich im Stillen und spürte ein Brennen in ihren Augen. Sie wollte nicht weinen.

Lieber wollte sie über eine Pause nachdenken. Jetzt erst recht, befahl sie sich, es gibt doch auch erfreuliche Dinge im Leben. Sie wird diese Freude einfach suchen. Das Schlimmste war, dass sie alles alleine entscheiden musste, und woher sollte sie überhaupt noch wissen, was richtig oder unvernünftig war? Woher noch die Kraft nehmen?

Während sich Anni anzog und fertig machte, träumte sie sich in eine Landschaft hinein, die sie noch von früher her kannte. Nicht so weit fort vom eigenen Wohnort, das würde ihr die ganze Sache erleichtern. Sie würde sich morgens nach dem Frühstück gleich in den Bus setzen und wäre zur Mittagszeit schon an der Nordseeküste. Dort könnte sie schon auf dem Deich stehen und aufs weite Meer hinausblicken, die wärmende Sonne auf ihrer Haut und den Wind in ihren Haaren spüren und das aufgeregte Kreischen der nach Nahrung suchenden Möwen hören. Wie einfach es doch war, sich in Urlaubsträume hineinzuversetzen. Anni sah sich schon durch den Sand stapfen und bei Ebbe weit hinaus ins Watt mit den unzähligen Spaghettihäufchen laufen. Selbst schlechtes Wetter würde sie nicht abschrecken, diese langersehnte Auszeit zu genießen. Auch dann würde sie am Strand spazieren gehen, sich gegen die starken Windböen stemmen, die unermüdlich an ihrem schützenden Anorak zerrten, vielleicht würde der heftige Wind sie auch im Übermut vor sich herschieben, rücksichtslos, ob sie es wollte oder nicht. Sie konnte nur hoffen, dass er gnädig alle sorgenvollen und trüben Gedanken ins weite Meer hinauswehen würde, um sie in ein Nichts zerfallen zu lassen.

Anni atmete tief durch. Für sie hieß es nun handeln. Sie wollte ihrem Spiegelbild noch ein Lächeln abringen, stattdessen aber formten ihre Lippen den Namen des Mannes, dem ihr ganzes Herz zugefallen war: „Joachim“.

Sie fühlte sich ausgebrannt und erschöpft und so entsetzlich einsam. Abrupt wandte sie sich ab. Ihr blieb keine Zeit zum Weinen, tapfer musste sie sich dem Alltag stellen.

 

2 - Jugenderinnerungen

Anni ging wie auf Wolken und ihr war in dieser Stunde so leicht ums Herz, als wäre sie in eine andere Haut geschlüpft.

Selbst ihr angespannter Gesichtsausdruck löste sich und wich einem kleinen Lächeln. Am frühen Nachmittag unternahm sie einen ausgedehnten Spaziergang und war stolz auf sich, weil sie es doch tatsächlich, allen Widerständen zum Trotz, geschafft hatte, sich durchzusetzen. Jede Stunde, jede Minute, ja jeden Atemzug empfand sie ganz bewusst als ein Geschenk. Am liebsten hätte sie diese Stunden, die sie so ganz ohne Zeitdruck, ohne Hektik und ohne Pflichten erlebte, festgehalten. Nur ein paar Wochen. Nur so lange, bis die Sehnsucht sie wieder nach Hause trieb.

Nun war alles da, was sie sich erträumt hatte. Das glitzernde Wasser im Sonnenlicht, der weiße Strand, die wiegenden Halme der Dünengräser, das Kreischen der Möwen, die vielen Strandkörbe, in denen Urlauber ihre braungebrannten Körper der Sonne aussetzten, und zufriedene Kinder, die mit oder ohne Strohhütchen ihre eigenen Deiche um ihre Sandburgen anlegten. Auf der Terrasse eines Strandcafés gönnte Anni sich einen großen Eisbecher mit Sahne und Früchten, bevor sie den Weg am Strand entlang zurückging. Zum Laufen war das Wetter an diesem Tag ideal, dünne Schleierwolken hielten den Himmel leicht bedeckt, so milderten sie angenehm die Strahlen der brennenden Sonne. Erst am späten Nachmittag zeigte sich ein klarer blauer Himmel.

Auch am Abend zog es Anni noch einmal ans Wasser. Doch sie hatte ganz und gar vergessen, dass um diese Zeit Ebbe war. Ins Watt wollte sie aber heute nicht mehr gehen. Sie zog sich ihre leichte Jacke über, die sie über dem Arm trug, setzte sich auf eine der vielen Bänke auf dem Deich und beobachtete das Treiben um sie herum. Sie wunderte sich darüber, wie wenige Leute sich um diese Zeit am Strand aufhielten. Im Zentrum des Ortes gab es kaum ein Durchkommen, in den Imbissläden standen die Menschen Schlange und in den Restaurants, an denen sie vorbeigekommen war, war es brechend voll gewesen, soweit sie es beurteilen konnte. Es hatte den Anschein, als würden alle Gäste im Urlaub ihr Abendessen zur selben Uhrzeit einnehmen. Umso besser, dachte Anni, dann ist hier weniger Trubel.

Inzwischen hatte die untergehende Sonne das ganze Watt mit den größeren und kleineren Seen in flüssiges Gold verwandelt. Selbst die Wasseransammlungen zwischen den Wattrippeln wurden nicht vergessen. Es war himmlisch anzusehen. Schon kurz darauf veränderten sich die Farbtöne und es spiegelte sich ein glutroter Abendhimmel in allen Gewässern, um sich ein wenig später wie von Zauberhand violett zu verfärben. Wie gebannt erlebte Anni dieses Wunder, dabei war es so außergewöhnlich ruhig, kein Windhauch war zu spüren und keine Möwe zu hören.

Fasziniert blickte sie über die endlose Weite.

Sie war ergriffen, dass ihr die Tränen in den Augen standen.

„Ach, Joachim“, seufzte sie, „warum können wir dieses Naturschauspiel nicht gemeinsam erleben? Du wärest davon genauso ergriffen wie ich, du hättest liebevoll deine Arme um mich gelegt und wir hätten beglückt miteinander geschwiegen.“ Anni hatte sich vorgenommen, nur die schönen Erinnerungen auszugraben, wenn die Gedanken an Joachim sie einholen würden. Zeiten, in denen sie beide glücklich waren. Glücklich deshalb, weil sie, trotz böser Erfahrungen, noch naiv an Gerechtigkeit und an die Güte des Schicksals geglaubt hatten. Aber auch die guten Zeiten stimmten sie wehmütig, denn nichts konnte je wieder so werden, wie es einmal war.

Anni wischte sich übers Gesicht, als wollte sie sich damit in die Gegenwart zurückholen. Die Luft war merklich abgekühlt. Die Menschen, die weit ins Watt gegangen waren und wie kleine Striche in der Landschaft gewirkt hatten, kamen zusehends näher. Natürlich. Sie wollten doch nicht dort draußen von der Dunkelheit überrascht werden.

Vielleicht würde sie morgen auch hinausgehen, vielleicht auch an einer Wanderung teilnehmen. Anni stand auf, knöpfte ihre Wolljacke zu und in der Hoffnung, dass im Ort nicht mehr so viel Trubel sein würde, machte sie sich auf den Weg dorthin, um ein wenig durch die Straßen zu bummeln und sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen. Gleich im ersten Geschäft entdeckte sie ein hübsches Shirt. Nebenan im Souvenirladen hatten es ihr zwei kleine Eulen aus Porzellan angetan. Ja, dachte sie, das wäre ein hübsches Mitbringsel für Joachim. Langsam schlenderte Anni von Schaufenster zu Schaufenster und staunte über die Veränderung dieses kleinen Urlaubsörtchens. Nur im Zentrum erkannte sie noch einige Geschäfte und Restaurants. Manche allerdings unter einem anderen Namen. Aber sonst hatte sich alles verändert und der Ort war um ein Vielfaches gewachsen. An Kreuzungen mit Ampelanlagen konnte sich Anni überhaupt nicht erinnern. Vor einem Haus blieb sie stehen, hier hatte sie vor vielen Jahren einmal bei einer älteren Dame Quartier gefunden. Anni fing an zu rechnen. Wie lange war das schon her? Dreißig Jahre? Von dem riesengroßen Garten, in dem sie damals einen Blumenstrauß für ihr Zimmer pflücken durfte, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen waren Ferienwohnungen mit Balkonen gebaut worden.

Parkende Autos auf den Stellplätzen ließen vermuten, dass sie gut belegt waren. Diese kleine, ruhige Straße war damals die letzte in der Gemeinde gewesen, jetzt aber zog sich der Ort scheinbar endlos in die Länge, denn wenige Schritte weiter an der Hauptstraße sah sie in der Ferne rote Ampeln an einer Straßenkreuzung aufleuchten. Dort, wo einst eine wilde Landschaft grünte, sah sie nur noch Häuser, nichts als Häuser. Mit weißen Türen, weißen Fensterrahmen und schmucken Vorgärten. Lebhaft wirkten auch die Fassaden der größeren Gebäude mit den vielen Balkonen, auf denen farbige Markisen und Sonnenschirme ein buntes Bild abgaben.

Sie machte kehrt und ging in die andere Richtung. In die Wohngegend, die es schon damals gab. Auch hier waren Pensionen in Ferienwohnungen verwandelt worden.

Übernachtung mit Frühstück gehört wohl nicht mehr in die heutige Zeit, dachte Anni. Schade. Sie hatte es in bester Erinnerung, wenn sich die Vermieterin nach dem Frühstück dazugesellte und spannende Geschichten aus dem Urlaubsort erzählte. Auch ein Gedankenaustausch zwischen Einheimischen und Urlaubern konnte interessant sein.

Erwin Koselowski – Schuhreparatur las sie auf dem Namensschild über einem Hauseingang. Annis Blick wurde davon magisch angezogen. Langsam ging sie auf das Haus zu und blieb vor einem kleinen Schaufenster stehen.

Herren-, Damen-und Kinderschuhe waren hier ausgestellt, aber das beeindruckte sie wenig. Der Name dafür umso mehr. Ob das der Erwin aus meinem Heimatort ist, fragte sie sich. Erwin Koselowski und sein Bruder waren ein und zwei Jahre älter als sie, waren aber mit ihr zusammen in eine Klasse gegangen, weil sie während ihrer Flucht aus den Ostgebieten, damals nach dem Zweiten Weltkrieg, viele Schulbesuche versäumt hatten. Als sie ihre Schulzeit beendet hatten und sich schon auf dem Tanzboden amüsierten, war es Erwin, der sich in sie verliebt hatte.

Annis Herz aber entflammte für seinen Freund Manfred.

Anni hatte sich später öfter gefragt, wieso sie Manfred vorher nie beachtet hatte, denn auf dem Lande kannte doch jeder jeden, also mussten sie sich schon oft begegnet sein.

Alleine schon deshalb, weil Manfred ein ausgesprochen schöner Mann war mit den schwarzen Haaren, blauen Augen und dem charmanten Zahnpastalächeln. Im Laufe seines Lebens werden sich noch viele Frauen in ihn verlieben, hatte sie oft gedacht.

Immer wenn sie in den Zeitschriften eine Abbildung von dem französischen Schauspieler Alain Delon entdeckt hatte, musste sie wegen der großen Ähnlichkeit unwillkürlich an Manfred denken. Und es gab Zeiten, in denen sie oft an ihn erinnert wurde, denn an der Seite von Romy Schneider sah man den Filmschauspieler lange Jahre. Anni merkte, dass sie lächelte. Es war damals mit Manfred eine bitter-süße Liebesgeschichte gewesen. So schnell diese Liebe erwacht war, so abrupt ging sie dann auch zu Ende. Einzelheiten hatte sie im Laufe der Jahrzehnte vergessen, aber sie wusste noch, dass sie sich schon am Tage inmitten von Freunden und Bekannten gesehen hatten. Heimlich, damit die anderen nichts bemerkten, verabredeten sie sich für den Abend. Aber sie gingen nicht zum Tanz. Irgendwo in der freien Natur zog er sie in die Einsamkeit, und nach dem ersten zögerlichen Kuss gab es kein Halten mehr und sie ließen sich ins hohe Gras fallen. Doch trotz der heißen Küsse war er einer der ganz wenigen Männer in ihrem Leben gewesen, dem sie nicht die fordernden Hände wegschieben oder festhalten musste. Nicht einen Versuch machte er, um sie zu verführen, obwohl alles so romantisch war in dieser lauen Sommernacht und zu später Stunde der Sternenhimmel über ihnen funkelte.

Mein Gott, was war das für ein schöner Abend, seufzte Anni. Einmalig und unvergesslich. Als sie sich dann doch noch in dem Tanzlokal blicken ließen, konnte jeder sehen, wie verliebt sie ineinander waren. Sie mit ihren langen, zerzausten Haaren, einem zerknitterten Kleid und strahlenden Augen. Lachend hatte er ihr noch einen Grashalm aus den goldblonden Locken gezupft, sie an die Hand genommen und übermütig auf die Tanzfläche gezogen. Sie hätte wetten können, dass alle, die sie so sahen, keine gute Meinung mehr von ihr hatten. Aber es war ihr egal gewesen. Sie waren einfach verrückt, wie nur Verliebte es sein können. In der kleineren Ortschaft war so ein Verhalten schon ein Wagnis. Die Klatschmäuler hatten etwas zu reden, man wurde beobachtet, man wurde verurteilt und auch gemieden. Anni aber tanzte mit Manfred, mal ausgelassen, mal eng umschlungen bis in die frühen Morgenstunden … und das alles mit ihren siebzehn Jahren.

Mein Gott, wie jung sie war. Blutjung, noch unschuldig und unbeschwert fröhlich. Als Manfred sie dann nach Hause brachte, vertraute sie ihm etwas an, das ihr zum Verhängnis hätte werden können. Sie erzählte ihm, dass sie mit dem ersten Zug Richtung Westen fahren wollte und nicht mehr zurückkommen würde. Natürlich kippte die Stimmung.

Tragisch schön wie in einer Abschiedsszene im Kino endete diese Liebesgeschichte zweier junger Menschen, die spürten, dass sie sich niemals wiedersehen würden.

Irgendwo in einem Vorgarten brach Manfred eine weiße Rose ab, steckte sie ihr ins Haar, küsste sie sanft und nahm sie still in seine Arme, bis sie sich trennen mussten.

Aus dem fahrenden Zug sah sie ihn noch einmal, als er an einem Weidezaun gelehnt der Eisenbahn hinterherschaute, und sie hatte ihr Gesicht so lange gegen die Scheibe gedrückt, bis er ihren Blicken entschwunden war. Seine Hand hob er nicht zum Gruß, da war sie sich sicher gewesen, dass er sie nicht verraten würde. Ihre Mutter hatte sie eindringlich ermahnt: „Mädchen, mach dich nur nicht unglücklich und verrate niemandem, dass du in den Westen gehst! Auch nicht deiner Freundin, du darfst keinem trauen, hörst du?“ Sie hatte ihr auch ausnahmsweise erlaubt, ja sogar dazu geraten, dass sie so lange wie möglich auf dem Tanzboden bleiben sollte. „Dann schöpft mit Sicherheit niemand Verdacht“, hatte sie gemeint. Oh ja, das hatte sie ausgenutzt. Liebend gerne. Und sie hatte sich damals sehr gewünscht, dass sie Manfred einmal wiedersehen würde.

Nun stand sie vor dem rotbraunen Klinkerhaus. Sie sollte einfach hineingehen und sich bei den Leuten im Haus erkundigen, dann würde sie wissen, ob der Mann in diesem Haus der ehemalige Schulfreund war. Nicht jetzt. Aber morgen. Sehr langsam, in Gedanken versunken ging Anni weiter.

Auf dem Rückweg blieb sie noch einmal vor dem Schuhgeschäft stehen. Schuhmacher, dachte Anni. Alleine dieser Beruf hätte zu Erwin gepasst. Er wäre kein Beamter oder Angestellter bei der Behörde geworden. Er war jemand, der nicht in ein weißes Oberhemd passte. Ein Handwerksberuf? Ja, dafür war er geboren. Und wenn sie jetzt sofort ihre Neugierde stillen würde?

Unsinn! Sie hatte sich vorgenommen, sich auf sich zu besinnen, und morgen Vormittag würde ihr Sohn sie hier besuchen, um wenige Tage bei ihr zu bleiben. Abrupt drehte sie sich um. Den Abend beendete sie in einem Lokal bei einem Glas Rotwein, anschließend ging sie in ihre Pension

Mit Gedanken an Joachim fiel sie nach diesem langen Tag in einen erholsamen Schlaf.

 

3 - An der Nordsee

Anni hatte wunderbar geschlafen. Vielleicht lag es an der Luftveränderung oder an dem Glas Rotwein. Wohlig räkelte sie sich unter ihrer Bettdecke, rollte sich noch einmal auf die Seite und beobachtete das Schattenspiel, das die Morgensonne an der gegenüberliegenden Wand und an der Zimmerdecke hinterließ. Ihre Gedanken wanderten zum gestrigen Tag und noch weiter zurück zu den vielen Vorbereitungen für diese kleine Auszeit. Bei Joachim blieben sie eine Weile hängen, dann sprang sie mit einem Schwung aus dem Bett. Heute ist ein schöner Tag, sagte sie sich. Schon alleine deshalb, weil es noch früher Morgen war. Anni stellte sich unter die Dusche und machte sich fertig. Eigentlich brauchte sie nie zu überlegen, was sie anziehen sollte. An diesem Morgen aber tat sie es und entschied sich für eine khakifarbene Bermuda-Hose mit weißem Top. Beides neu. Bestellt in einem Katalog. Wie sonst. Für Anni war es die einfachste Methode, um an neue Sachen zu kommen, weil ihr das Anprobieren in den Geschäften tagsüber zu zeitraubend war. Deshalb blätterte sie abends den Katalog durch und suchte sich die passende Kleidung oder Haushaltssachen aus. In Sachen Bekleidung war sie anspruchslos. Sie war sich bewusst, dass sie in ihren ältesten Klamotten immer noch besser aussah als manch andere Frau, selbst wenn diese jünger war als sie selbst. Anni war vor wenigen Tagen neunundsechzig Jahre alt geworden. Doch sie fühlte sich nur alt, wenn sie abends total erschöpft war. Aber sonst? Sie wurde immer zehn bis fünfzehn Jahre jünger geschätzt. Dann freute sie sich, weil ihr damit bestätigt wurde, dass Sorgen, Kummer und permanent schlaflose Nächte nicht unbedingt älter machten, und dankte einer höheren Macht für dieses Geschenk. Allzu oft erlebte sie auch im Alltag, dass sie spontaner zupacken konnte als manche junge Frau und außerdem beweglicher und schneller war. Dass sie oft Dinge, die schnell erledigt werden mussten, mit Überlegung handhabte, konnte sie der Erfahrung ihres Alters verdanken. So brachten die vielen Jahre, die sie bisher leben durfte, auch ihre Vorteile. Wenn kleine Wehwehchen sie plagten, tröstete Anni sich mit dem Gedanken, dass sie auch in jungen Jahren von ihnen gequält worden war. Schließlich war es kein Vergnügen, mit einem Hexenschuss kleine Kinder zu versorgen , wenn sie kränkelten und lieber auf Mamas Arm durch die Wohnung getragen werden wollten, als in ihren Bettchen zu liegen. Manches Mal glaubte Anni, dass sie mit Scheuklappen durchs Leben ging, weil es so eintönig verlief. Immer wenn sie der Dummheit unterlag und sich mit denen verglich, die viele Reisen unternahmen. Wurde sie aber von geschwätzigen Leuten angesprochen, die das kleine Glück erhaschen wollten und nicht bemerkten, dass sie es schon besaßen, dann wusste Anni, trotz ihres brutalen Alltags irrte sie nicht gedankenlos in ihrer Welt herum.

 

Sie war freudig überrascht, als Michael mit einem strahlenden Lachen und mit den Worten „Da staunst du, was?“ an ihrem Frühstückstisch auftauchte.

„Michael. Jetzt schon. Ein Langschläfer hat schon so eine weite Fahrt hinter sich?“, begrüßte sie ihn.

Michael wohnte im Kölner Raum. War aber schon am Vorabend Richtung Norden zu seiner Schwester gefahren und hatte bei ihr übernachtet.

„Nun bin ich hier und wir haben den ganzen Tag vor uns“, strahlte er seine Mutter an. „Du bist ausgeruht, ich bin putzmunter, nun können wir den vollen Tag ausnutzen, genießen und laufen und nichts als laufen. Du bist doch ausgeruht?“, fragte er dann doch fürsorglich nach und sah seine Mutter prüfend an. „Ich meine … du hast doch …“

„Gut geschlafen, meinst du? Ja, Michael, habìch. Ich fühle mich pudelwohl.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

Sie fühlte sich wirklich gut, wenn sie den Alltag ausblendete. Jetzt hatte sie ihn ausgeklammert.

„Ich mache mir Sorgen um dich.“

„Lass uns den Tag genießen und mit einem gemeinsamen Frühstück beginnen.“

Anni wusste, dass er sich um sie sorgte. Auch Marion, ihre Tochter. Beide waren der Meinung, sie hätte sich in eine Opferrolle drängen lassen. Sorgten sich, weil sie glaubten, Anni verschwendete keinen Gedanken daran, sich zeitweise daraus zu befreien. Auf diesbezügliche Anspielungen versuchte sie immer wieder, ihre Kinder vom Gegenteil zu überzeugen. Marion gegenüber konnte sie mit ihren Gegenargumenten wenig ausrichten, wenn es denn dazu kam. Sie hatte eine wunderbare Tochter, aber wann nahm sie sich denn noch die Muße, Zeit mit ihr zu verbringen?

Ein Konflikt, damals noch nicht absehbar, wohin er führte, nahm dadurch seinen Anfang. Anni hatte zum Kräftesammeln ihre eigene, nervenschonende Methode gefunden, für die sie nur bei wenigen Menschen Anklang fand. Sie bevorzugte, wann immer es ging, das Alleinsein.

Und Marion mit ihrer Familie war anstrengend. Zwei kleine Jungs tobten um sie herum, und für diese beiden süßen Rangen wünschten sich die Eltern eine Omi, die öfter zu Besuch kam. Wie sollte Anni ihnen erklären, dass Joachim durch seine Erkrankung für sie zum alles bestimmenden Mittelpunkt geworden war? Wie sollte sie ihnen Verständnis dafür abringen, wenn es keine Zeit für ausdauernde Gespräche gab?

Ja, Anni war häufig erschöpft, immer müde und oft verzweifelt. Darum hatte sie sich diese Auszeit genommen, dafür hatte sie Joachim in die Kurzzeitpflege gegeben.

„Gehen wir gleich ins Watt?“, holte Michael sie aus ihren Gedanken.

„Wat?“, reagierte sie burschikos.

Michael lachte.

Diese kurz angebundene Frage „Wat?“ war zwischen ihnen zu einer humorvollen Redewendung geworden und hieß so viel wie: „Wie bitte, ich habe dich nicht verstanden.“ Entstanden vor vielen Jahren und - wie sollte es anders sein - natürlich im Watt bei stürmischem Wetter.

Der Wind ließ damals die Kapuzen der Regenjacken so laut um die Ohren flattern, dass sie kein Wort von dem verstehen konnten, was der andere ihnen zugerufen hatte.

Angeschrien hatten sie sich, obwohl sie Seite an Seite durch das Watt gingen. „Ich gehe im Watt.“ – „Wat?“ – „Ich gehe im Watt.“ – „Wat?“ – „Es ist sehr matschig im Watt.“ – „Wat?“ – hatten sie sich zugerufen und sich über ihr kindliches Gerede kugelig gelacht. Auch noch an den folgenden Urlaubstagen amüsierten sie sich darüber.

Abends beim „Mensch-ärgere-Dich-nicht“-Spiel alberten sie über andere Dinge. Spaß hatten sie viel miteinander, obwohl das Alltagsleben schon damals viele Schattenseiten für sie bereit hielt.

An diesem Tag brauchten sie keinen Anorak, keine Regenjacke, keine Gummistiefel, und sie brauchten sich auch nicht anzuschreien. Dafür hatten sie eine Sonnenbrille auf ihrer Nase, leichte Jacken um ihre Hüften geschlungen und die Schuhe im Rucksack verstaut.

 

„Heute brauche ich nur Nordsee und den Wind.“ Anni breitete die Arme aus, warf den Kopf zurück und atmete die salzige Luft tief in sich hinein.

Barfuß liefen sie durch den feinen Nordseesand am Strand entlang, am späten Nachmittag gingen sie ins Watt der Flut entgegen, ließen sich von den Ausläufern der Wellen ihre Füße umspülen, am Abend spazierten sie am Strand, horchten auf das Geräusch der Brandungswellen und beobachteten die auslaufenden Wellen, die die Flut an Land warf.

„Ist das nicht herrlich?“, sagte Anni verträumt.

„Ihr hättet hier öfter mal Urlaub machen sollen“, meinte Michael.

„Reisen war nicht so sein Ding.“

„Aber der Schrebergarten.“

„Ja, der Garten“, antwortete sie schwärmerisch. „Das war doch auch schön.“

„Den hattet ihr jeden Tag und jedes Wochenende.“

„Trotzdem. Es war toll: kein Stau, kein Kofferpacken. Wir kamen freitags von der Arbeit und unser Urlaub begann.“

Michael hatte zugehört, aber er schwieg.

„Wir wollten einmal an die Mosel fahren. Wir waren sogar schon da. Aber es war in der Zeit schrecklich warm. Kaum auszuhalten. Wir hatten nicht einmal mehr Lust, uns ein Zimmer zu suchen.“

„Und dann?“

„Wir sind zurückgefahren. Als wir am nächsten Morgen in den Garten gingen, hingen alle Blumen schlapp herunter. Nicht einmal die Blumenkübel hat der Gartennachbar gegossen, obwohl er es uns versprochen hatte.“

„Der hat nicht gewusst, dass Pflanzen Wasser brauchen, oder wie soll ich das verstehen?“

„Nein. Hat er wohl nicht. Aber die Kübelpflanzen und Blumen hatten wir monatelang gehegt und gepflegt, die wollten wir doch für ein paar Tage Abwesenheit nicht vertrocknen lassen. Aber wir waren gerne dort. Ich liebte dieses Zigeunerleben.“

„Zigeuner sagt man nicht mehr.“

„Ach komm. Fange du nicht auch noch damit an, mit dem, was man sagt oder nicht mehr sagen darf. Ich weiß. Sie so zu bezeichnen, soll diskriminierend sein? So ein Quatsch. Wir haben sie früher bewundert. Die schönen Zigeuner und die bildhübschen Mädchen mit ihren schwarzen Haaren und den feurigen Augen. Sie waren Motiv für so manchen Maler. Als junges Mädchen und auch noch später habe ich mich im Karneval liebend gerne als Zigeunerin verkleidet. Und warum? Die Sehnsucht nach so einem Leben, wie sie es angeblich führen, steckt doch in uns allen. Ich meine die Sehnsucht nach Freiheit. Aber ganz abgesehen davon, im Garten fühlte ich mich frei.“

„Frei wie ein Vogel.“

„Vogelleben hört sich aber nicht so schön an.“

„Jetzt fühlen wir uns auch frei, oder?“

„Mir fällt gerade ein, dass ich schon als Kind immer Gärten angelegt habe. Sogar in der Sandkiste. Die Spitzen abgebrochener Äste waren dann die Blumenstauden oder Büsche und Hecken. Oh, mir fiel vieles ein. Nur im Gartenteich versickerte das Wasser immer zu schnell“, lachte Anni. „Plastikfolie gab es ja noch nicht. Auch später, wenn ich unsere Gänseküken gehütet habe, suchte ich mir ein Plätzchen, um meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Da stellte ich mir keinen Garten vor, sondern einen Park.“

„Du hättest Gartenarchitektin werden sollen.“

„Ach, Michael. Es ist einfach schön hier mit dir.“

„Warum nutzt du die Zeit nicht aus, in der Joachim im Heim ist?“, wollte Michael wissen.

„Tu ich doch.“

„Soviel ich weiß, dauert die Kurzzeitpflege achtundzwanzig Tage, also vier Wochen, warum bist du erst jetzt hierhergekommen?“

„Weil ich zuerst gründlichen Hausputz machen wollte. Sachen, zu denen ich sonst nie komme. Gardinen müssen auch mal gewaschen werden und dann der ganze Papierkram, ach eben alles. Deshalb.“

„Ich denke, dann könntest du den Rest der Zeit noch hier verbringen.“

„Mal sehen, vielleicht. Wenn das Wetter schön bleibt, überlege ich es mir.“

„Wäre doch die Gelegenheit, wenn du schon hier bist, meine ich.“

„Ich plane nicht so weit voraus, das setzt mich unnötig unter Druck, verstehst du?“

„Du solltest mehr an dich denken.“

„Soweit ich kann, mache ich es doch.“

„Wie denn? Wann denn?“

„Indem ich mich ruhig verhalte. Still bin. Einfach still.“

Still gingen sie dann auch eine Weile nebeneinander weiter.

 

Sie verlebten noch zwei erholsame Tage bei schönstem Sommerwetter. Dann war für Michael der Kurzurlaub beendet. Er musste zurück zum Arbeitsplatz und zu seiner Familie.

Anni hatte eigentlich vor, noch einige Tage zu bleiben.

Doch schon am Tag, bevor Michael abreiste, wurde sie von einer inneren Unruhe gepackt. Immer wieder sah sie Joachim entmutigt und hilflos vor sich. Und sie wusste, nur sie konnte ihm helfen.

„Wenn es dir nichts ausmacht, unterwegs eine Pause einzulegen, fahre ich mit dir zurück.“

„Jetzt übertreibst du aber mächtig mit deiner Fürsorge.“

„Nimmst du mich mit?“

„Kein Problem“, reagierte Michael gelassen. „Dich zum Bleiben zu überreden, wäre wohl sinnlos, denke ich. Aber vier Urlaubstage? Das ist doch lachhaft.“

„Du hast ja recht. Aber zu Hause kann ich es mir auch noch ein paar Tage schön machen.“

„Und putzen.“

„Nein. Ich sagte doch schon, ich habe alles überholt.“

„Überleg es dir. Noch bist du hier.“

Es gab nichts zu überlegen. Sie war Michael schon dankbar, dass er nicht versuchte, weiter auf sie einzureden.

Verständnis? Nein. Das erwartete sie nicht von ihm. Er konnte nicht wissen, wie Joachim sich fühlen musste. Sie aber wusste es. Entsetzlich einsam. Verlassen. Alleine gelassen, vom lieben Gott und auch von ihr.

 

4 - Das Appartement

Den Grund ihrer Sorge erzählte sie Michael während der Fahrt dorthin. „Ich wollte ihn dieses Mal nicht zu nahe an unserem Wohnort unterbringen, weil es für mich keine Erholung gewesen wäre, wenn ich Joachim jeden Tag besucht hätte. Ich wollte dem von vornherein entgegenwirken, und dort im Heim zeigte man auch das vollste Verständnis. Überhaupt hat jeder mein Handeln verstanden. Ein schöner Park ist dort, damit er sich ein wenig wie im Urlaub fühlt. Aber was man immer alles denkt und sich vorstellt. Später weiß man dann, dass man verkehrt gedacht hat. Was nützt der schönste Park, wenn er doch niemanden hat, der ihn spazieren fährt. Bei der Suche versprach man mir auch eine besondere Unterkunft. Ein eigenes Appartement sollte er bekommen. Wie sie das ausgesprochen und betont haben. Kein normales Krankenzimmer. Ein Appartement! Wie toll sich das auch anhört! Aber als ich Joachim dorthin gebracht habe, hätte ich ihn am liebsten gleich wieder mit nach Hause genommen. Die haben gewusst, dass er im Rollstuhl sitzt. Sie haben auch gewusst, dass er halbseitig gelähmt ist, trotzdem hat man ihn in so kleine Räume gesteckt. Unmöglich sage ich dir. Meine Befürchtung ist, wenn er es tatsächlich schaffen würde, in dieses enge Bad mit Mühe und Not hineinzufahren, so frage ich mich, wie er da wieder herauskommen soll. Er braucht nur zu klingeln, haben sie mir gesagt. Dass er aber nicht an die Klingel kommt, wenn er in der Tür hängen bleibt, so etwas sehen ausgebildete Pflegekräfte nicht.“

„Oh Mann“, erwiderte Michael.

„Meine Bedenken hat selbst Joachim für überflüssig gehalten, aber wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn hilflos und gefangen, und er kann sich weder vor-noch zurückbewegen.“

Anni musste erst einmal tief durchatmen. „Ach, Michael, es sind alles so lächerliche Kleinigkeiten, die niemand sieht“, erzählte sie weiter. „Für Joachim sind es aber unüberwindbare Hürden.“

„Ich weiß.“

„Hinzu kommt doch auch noch, dass ich vier Tage, bevor ich an die Nordsee gefahren bin, einen Anruf bekam, weil es Joachim nicht gut ging. Er war im Rollstuhl zusammengesackt und nicht mehr ansprechbar gewesen, sagte man mir am Telefon. Ich bin am nächsten Tag gleich zu ihm gefahren, aber inzwischen ging es ihm besser, weil er eine Infusion mit Antibiotika bekam. Anscheinend hatte er auch zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen und sich eine Blasenentzündung weggeholt. Mir kamen ernsthaft Gedanken, meine Reise abzusagen.“

„Auch das noch. Und das alles in der kurzen Phase deiner Auszeit.“

„Ach, es ist schön, dass ich dir alles erzählen kann und du zuhörst“, sagte sie nach einem erneuten tiefen Atemzug erleichtert.

 

Anni hatte sich vorgenommen, später, wenn Michael abgefahren war, mit Joachim im Park und in der Umgebung spazieren zu gehen. Die Sorge trieb sie durch die Gänge des Heims bis hin zu den Appartements. Damit war ihre langersehnte Auszeit beendet. In keinem Moment ihres Lebens hatte sie dieses Gefühl so stark empfunden, dass sie von einem Extrem ins andere geschleudert wurde. Joachims Tür war leicht angelehnt, ließ sich aber nicht öffnen. Anni wurde sofort mit der befürchteten Situation konfrontiert.

Nur weil sie schlank war, konnte sie sich durch den Türspalt quetschen. Weil die Tür des Duschraumes offen stand, ließ sich die Eingangstür nicht öffnen. Der Architekt musste eine Ahnung von Altenwohnungen gehabt haben wie eine Kuh vom Sonntag, dachte sie noch. Joachim stand mit seinem Rollstuhl schräg vor dem Waschbecken und kam nicht mehr zurück. Um sich mit dem Rollstuhl zu drehen, fehlte der Platz. Statt einer Begrüßung sagte Anni:

„Warte, ich helfe dir!“, bekam aber zur Antwort: „Lass mal, ich muss es alleine schaffen.“ Bei der Bemühung, ihm zu helfen, sah sie ganz kurz Joachims Spiegelbild. Es sagte ihr, wie es um ihn stand. Ihr fiel auch sofort auf, wie leise und kraftlos seine Stimme klang. „Ich wollte nur den Mund ausspülen“, hörte sie ihn nuscheln und nahm gleichzeitig seine vergeblichen Versuche wahr, aus dem engen Raum zu kommen.

Da war keine Freude und auch kein Erstaunen darüber, dass sie ihn unverhofft besuchte. Auch keine Verwunderung darüber, dass Michael dabei war, den Joachim im Spiegelbild gesehen haben musste. Und wie schlaff er im Rollstuhl saß. Sie setzte sich auf einen der Stühle im Zimmer, starrte auf das Krankenbett und den Toilettenstuhl für Behinderte, der weitere Befürchtungen bestätigte. Das Pflegepersonal konnte ihn wegen des Platzmangels nicht einmal auf die Toilette setzen. Zu Hause schaffte es Joachim alleine. Geduldig hörte sie seine Bemühungen.

Das Schleifen und Kratzen gegen den Heizkörper, das Schürfen und die Stöße am Türrahmen, das Schnaufen und Stöhnen als Folge der Anstrengung. Joachim war eingeklemmt wie eine Maus in der Mausefalle. Und noch etwas anderes. Nach ein paar Minuten wusste Anni es: Normalerweise würde er jetzt schimpfen und fluchen.

„Verdöllt noch mal!“ wäre sein erster Ausspruch, dann käme auch der Kraftausdruck „verdammte Scheiße!“. Und dann würde er es schaffen. „Geht doch!“ würde er befriedigt feststellen und ein kurzes Leuchten sein Gesicht überfluten.

In diesen Minuten hörte sie aber nur seinen vergeblichen Eifer, sich alleine zu befreien, unterbrochen von Pausen, die ihr unheimlich lang erschienen. Immer wieder dachte sie, was macht er denn nur, was überlegt er denn nur? Als sie ihm schließlich doch aus seiner misslichen Lage half, sagte er nichts, aber sie bemerkte, wie teilnahmslos er in seinem Rollstuhl saß. Anni setzte sich so hin, dass er sie hätte ansehen können, doch er hielt seinen Kopf gesenkt.

Sie wollte mit ihm reden. Wollte fragen, wie es ihm ging.

Sie ließ es. Gerade als sie seine Hand in ihre nehmen wollte, hob er schwerfällig seinen Arm und zeigte auf die Wasserflasche, die auf dem Tisch neben dem Glas stand.

Anni reichte ihm das Trinkglas mit Wasser. Begierig nippte er daran. Sie sprach über belanglose Dinge wie zu sich selbst, weil Joachim abwesend wirkte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass gleich eine Pflegerin kommen müsste, um Joachim zum Speiseraum zu bringen. Doch es kam keine. Auch auf dem Weg in die obere Etage, wo sich der Speisesaal für die Schwerbehinderten befand, begegnete sie keiner Schwester. Alle Patienten saßen schon auf ihren Plätzen und aßen. Auch Joachims Teller stand am Platz. Ein Stück Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Anni schnitt das Fleisch in kleine Stückchen, denn nur so konnte es Joachim, wenn überhaupt, essen. Anni blickte durch den großen Saal bis zum Eingangsbereich. Auch von der Küchenhilfe, die hier das Essen verteilt hatte, war nichts zu sehen. „Wer hilft dir denn sonst beim Essen?“, fragte sie dann, obwohl sie die Antwort erraten konnte.

„Keiner“, brachte Joachim mühsam hervor und schüttelte leicht seinen Kopf.

Er sah erbärmlich aus, musste Anni mit Schrecken feststellen. Seine sonst so schönen silbergrauen Haare waren fettig. Und wo war seine gesunde Gesichtsfarbe geblieben? Wo der willensstarke Mann, der sich trotz seiner Behinderung nicht aufgab? Wo waren seine interessierten Augen, die alles beobachteten? Joachim schob das Gemüse auf dem Teller lustlos hin und her, versuchte, die Kartoffeln zu zerkleinern und mit etwas zerdrücktem Blumenkohl in den Mund zu schieben. Das meiste davon landete auf seinem Schoß und kullerte auf den Boden. Er reagierte nicht darauf. Er ließ es einfach nach unten fallen. Merkte er es nicht? Wenn es ihm zu Hause passierte, bückte er sich sofort danach. Die nächste Frage tauchte auf: Wer band ihm sonst den großen Schlabberlatz um? War das hier überhaupt ein Pflegeheim? Anni sah zu den anderen. Sie aßen normal.

Manche sogar mit Messer und Gabel. Aber niemand sprach ein Sterbenswörtchen. Sie blickte in leere Gesichter.

Standen hier etwa alle unter Drogen?

Ein wenig ratlos sah sie zu Michael, der ihr wie ein Geist gefolgt war. „Das habe ich nicht gewusst“, raunte er in gedämpftem Ton, als wollte er die seltsame Stille in diesem Speisesaal nicht unterbrechen.

Damit überhaupt etwas Essen in Joachims Magen kam, half Anni ihm. Wenn sie ihm Fleisch auf die Gabel gab, winkte er ab. Nach einigen Häppchen schob Joachim den Teller einem anderen Patienten zu, der schon gierig darauf gewartet hatte und darüber herfiel. Eine winzige Spur von Freude zeigte sich in Joachims apathischem Gesichtsausdruck, als er es sah. Zum Nachtisch gab es einen Becher mit Joghurt. Warum auch nicht? Aber ungeöffnet.

„Wer hilft hier denn überhaupt mal beim Essen?“, fragte Anni die Patienten, die mit am Tisch saßen. Sie sah nur Schulterzucken und verständnislose Blicke. Eine Antwort blieb aus. Sie schaute in die Runde. Gegessen hatten aber alle. Legten sogar ihre Servietten ordentlich zusammen.

Nur neben Joachims Teller und unter seinem Sitz lagen Essensreste. Und davon gar nicht mal so wenig. Anni öffnete den Joghurtbecher und hielt ihn fest, damit Joachim seinen Nachtisch essen konnte.

„Was hätte er eigentlich gegessen, wenn ich nicht gekommen wäre?“, fragte sie und blickte zu Michael, der sprachlos alle Geschehnisse in sich aufnahm.

Erst als alle anderen aufstanden, fiel ihr auf, dass kein einziger in diesem Saal in einem Rollstuhl sitzen musste.

Niemand war also halbseitig gelähmt. Niemandem musste geholfen werden. Und doch hatte keine Pflegerin Zeit, dem Einzigen, der in diesem Raum Hilfe benötigte, behilflich zu sein.

Kurzzeitpflege wurde doch den pflegenden Angehörigen immer wieder angepriesen. Mit schönen, vertrauenerweckenden Worten. Oft genug hatte Anni die großen Anzeigen verschiedener Einrichtungen in den Zeitungen gelesen. Auch zu Hause hatte sie Broschüren liegen. Bilder mit freundlichen Gesichtern der Pfleger und zufriedenen Mienen von Patienten. Dass diese Aufnahmen gestellt waren, war Anni klar. Und dass dem überforderten Pflegepersonal das Lächeln längst vergangen war, hatte sie auch schon gehört. Den gewissenhaften Pflegern, die aus Überzeugung diesen Beruf gewählt hatten, um mit Verantwortung den Dienst am Nächsten auszuüben, diese konnten nicht einmal mehr nach Dienstschluss lachen, weil sie von einem unbefriedigenden Gefühl geplagt wurden.

Weil es ihre Dienstzeit nicht erlaubte, auf die Bedürfnisse der Kranken einzugehen. So hatte es ihr mal jemand anvertraut. Unterlassene Hilfeleistung wird bei Gericht bestraft – im Gesundheitssystem aber gefördert. Genau diese Worte waren ihr daraufhin eingefallen. Anni konnte sich noch gut daran erinnern, was sie gesehen hatte, als Joachim im Krankenhaus lag. Genau deshalb wusste sie auch, um welche Zeit sie hier ankommen musste, um einschätzen zu können, ob er hier gut aufgehoben war. Und nur deshalb konnte sie auch mit dieser Situation fertig werden, denn jeder Angehörige, der eine solche unübersehbare Veränderung bei dem Patienten erleben musste, würde wohl entsetzt reagieren.

Immerhin kam eine Schwester, nachdem sie in Joachims Zimmer nach ihr geklingelt hatte. Sie war verwundert, als sie die Gäste sah. Wenige Sekunden später war Anni erstaunt, denn eine zweite Schwester betrat den Raum.

Beide waren freundlich und versorgten Joachim mit geübten Händen, und zu zweit brachten sie ihn auch für einen Mittagsschlaf ins Bett. Zu zweit, dachte Anni. Zu Hause schaffte sie es bisher alleine. Sie setzte sich ans Bett, streichelte seine Hände und sein Gesicht. Joachim hielt die Augen geschlossen. Vorsichtig schob sie ihre Hand unter seine Rechte.

„Nachher gehen wir im Park spazieren, wenn du ausgeschlafen hast, ja?“ Sie redete leise auf ihn ein: „Und morgen hole ich dich nach Hause und alles wird wieder besser. Nur noch eine Nacht musst du hier schlafen, Joachim. Und jetzt hältst du dein Mittagsschläfchen, und wenn du wieder aufwachst, bin ich bei dir.“ Sie spürte einen leichten Druck seiner Hand.

Anni blieb noch eine Weile bei ihm sitzen. Sie wusste, dass er jetzt eine gute Stunde ruhen konnte, bis er für die Kaffeezeit aus dem Bett geholt wurde.

 

Für Michael wurde es Zeit für die Heimreise. Betrübt gingen sie nebeneinander durch den Gang bis zu der großen Eingangshalle nach draußen. Anni war auf einiges gefasst gewesen, bevor sie hier ankam. Aber so eine Veränderung bei Joachim hatte sie nicht erwartet.

Still und in sich gekehrt setzte sie sich noch kurz auf den Beifahrersitz und schüttelte nur mit dem Kopf.

„Die letzten zwei Stunden haben dich wohl geschafft?“, meinte Michael verständnisvoll und Anni zuckte mit den Schultern. „Morgen hole ich ihn nach Hause!“, murmelte sie mehr zu sich selbst. „Hier lasse ich ihn keinen Tag länger als nötig!“, platzte es empört aus ihr heraus.

„Wenn ich Joachim noch nach Hause bringe, tue ich dir damit einen Gefallen?“