Deine Willkür - Meine Bürde - Lieselotte Kamper - E-Book

Deine Willkür - Meine Bürde E-Book

Lieselotte Kamper

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Beschreibung

Wenn einem Willkür und Hass entgegenschlagen, hilft nur eins: sich abwenden … Als seine Familie auseinanderbricht, wird Jonas aus der Bahn geworfen und gerät ins Straucheln. Verzweifelt sucht er nach Auswegen. Aus Liebe zu seinen Kindern gerät er dabei ungewollt in eine Opferrolle. Halt und Beistand findet er bei Gleichgesinnten in einer Selbsthilfegruppe. Durch das, was Jonas erleben musste, konnte er nur noch mit einem Tunnelblick auf sich und sein Umfeld schauen. Er sah keinen Sinn mehr für ein Weiterleben. Erst durch den Kontakt mit der Selbsthilfegruppe war er in der Lage, sein Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Langsam gewann er wieder Freude und Zuversicht am Leben. So bestätigt sich die Aussage, die heute in aller Munde ist: Alles wirkliche Leben ist Beziehung! Der Leidensweg des »entsorgten Vaters« Jonas beruht auf wahren Begebenheiten. Er ist geprägt durch die Suche nach Gelassenheit und Weisheit.

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Lieselotte Kamper

Deine Willkür – Meine Bürde

Die Geschichte eines entsorgten Vaters

Roman

Copyright: © 2019: Lieselotte Kamper

Umschlag & Satz: Erik Kinting – buchlektorat.net

Um die Anonymität betreffender Personen zu wahren, wurden alle Namen und Orte verändert. Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-7497-3639-3 (Paperback)

978-3-7497-3640-9 (Hardcover)

978-3-7497-3641-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1

Zentimeter für Zentimeter hatte sich Jonas schon in die Tiefe geschaufelt, um mit Hilfe von Betonringen einen Brunnen zu bauen. Durch einen Wünschelrutengänger hatte er auf seinem Grundstück nach einer Wasserader suchen lassen und dabei Glück gehabt. Es wurde eine gefunden, an deren Stelle er nun eimerweise das Erdreich aushob. Durch Sand- und Kiesschichten, durch klumpigen Lehm und durch Wurzelausläufer einer alten Kastanie, die hier früher mal irgendwo gestanden haben soll, hatte er sich in den letzten Monaten so nach und nach durchgearbeitet. Es war eine mühevolle Arbeit, zumal der Spaten, mit dem er grub, schaufelte und die Erdkruste abschlug, der Enge wegen einen gekürzten Stiel hatte. Aber Jonas scheute weder Kraftanstrengung noch Mühe und Zeitaufwand, wenn es darum ging, sein Umfeld zu verschönern oder etwas Sinnvolles zu gestalten. Er war auf dem Bau beschäftigt, die Arbeiten und Veränderungen auf seinem Grundstück waren sein Hobby. Jonas hatte hier schon viel getan. Ein Zweifamilienhaus mit Einliegerwohnung hatte er für seine Familie und sich gebaut, anschließend auch einen Swimmingpool. Nun wollte er mit einem Brunnen das kostenlose Grundwasser nutzen, zugleich sollte er aber auch Zierde für den Garten sein.

An diesem Tag ging es Jonas nicht gut. Erfüllt mit trüben Gedanken saß er zusammengekauert auf einem alten umgestülpten Zinkeimer in dem tiefen Loch und starrte in die sich langsam bildende Pfütze zu seinen Füßen. Nach oben sehen? Da war auch nicht viel, was er hätte sehen können. Was man eben sah, wenn man sich schon in das Erdreich von zirka fünf Meter Tiefe und noch etwas mehr mit einem Durchmesser von 1,20 Meter gebuddelt hatte. Ein Stückchen blauen Himmel mit vorüberziehenden Wolken würde er sehen, mehr nicht. Aber an diesem Samstag war weit und breit kein Wölkchen zu entdecken. Sommerhitze hatte noch einmal eingesetzt, und diese Schönwetterperiode wollte Jonas nutzen. Mit Feuereifer hat er sich im letzten Frühjahr an diese Arbeit gewagt, und nun gab es neuerdings Stunden in seinem Leben, in denen er nicht mehr wusste, für wen er sich abrackerte. „Ich könnte hier unten verrecken, und sie würde es nicht bemerken“, kam es ihm in den Sinn, „und Schuld daran ist allein dieser Lump von gegenüber“. Nachdem diese Gedanken aufgetaucht waren, verlor sich Jonas in Grübeleien mit tausend Zweifeln.

Jonas reagierte sehr sensibel und empfindsam, wenn er sich angegriffen fühlte. Fühlte er sich verletzt, fragte er nicht nach dem Warum. Nein, er schwieg. Und weil er schwieg und sich lieber in sein Schneckenhaus zurückzog, statt sich zu verteidigen, konnte kein Missverständnis an Ort und Stelle geklärt werden. So bemerkte auch niemand etwas von seiner Missstimmung. Nicht einmal die guten und aufmerksamen Gesprächspartner. Doch bei passender oder auch bei ganz unpassender Gelegenheit konnte er, unabhängig vom Thema, zurückschlagen, indem er die alten Kamellen plötzlich hervorkramte, die die anderen längst vergessen hatten. Ja, so war er. Wer ihn aber zum Freund hatte, konnte sich gratulieren. Jetzt ging es aber um andere Dinge, wo ausnahmsweise Abwarten angebracht war, obwohl seine Gefühlswelt total durcheinandergeraten war. Beobachtungen führten zu Vermutungen, Vermutungen wiederum zu genaueren Beobachtungen mit Misstrauen, Zweifel und Befürchtungen. In bedachtsamen Momenten wünschte er sich, ihm würde seine Ahnung nur einen bösen Streich spielen, aber die Abwesenheit seiner Frau war nicht zu übersehen. Abwesend, auch wenn sie bei ihm war. Sie sprach mit ihm, machte eine Bemerkung und nahm die Antwort, die er gab, schon gar nicht mehr auf. Jonas übersah nicht, wie Hellas Augen während ihrer Hausarbeit und selbst im Gespräch mit ihm immer wieder durch das Küchenfenster zum gegenüberliegenden Nachbarhaus wanderten. Zu diesem wunderschönen Prachtbungalow, den er vor einigen Jahren für seinen besten Freund Alfred und seine Frau Marlene gebaut hatte. Nun war dieser beste Freund, von allen nur Freddy genannt, plötzlich sein Rivale. Bis jetzt hatten sie sich alle miteinander blendend verstanden. Hella und Jonas waren seit fast dreizehn Jahren verheiratet und glücklich miteinander. Bisher! Glaubte er. Töchterchen Hanna kam erst nach sechsjähriger Ehe auf die Welt. Ob Marlene und Freddy eine so glückliche Ehe führten, wusste Jonas nicht. Darüber hatte er nie weiter nachgedacht. Freddy war einige Jahre jünger als Marlene und ein armer Schlucker gewesen, bis er Marlene heiratete, die durch eine Erbschaft gut betucht war. Kinder hatten sie nicht, dafür wurde Freddy von seiner Frau bemuttert und auch ein wenig bevormundet. Ihren Stolz und die Freude über ihren Besitz teilte sie allerdings nicht mit Freddy, dafür aber die Freude an schönen Urlaubsreisen. Außerdem pflegten sie die enge Freundschaft zu Jonas und Hella gemeinsam, in der auch die kleine Hanna liebevoll mit einbezogen wurde, indem sie das Mädchen mit ausgefallenen und sinnvollen oder manchmal auch unsinnigen Aufmerksamkeiten verwöhnten. „Sie ist auch unser Kind“, sagten sie scherzhaft, doch Jonas hatte schon manches Mal bemerkt, dass sich sein Töchterchen bei Umarmungen der Nachbarn sehr zurückhaltend verhielt. Viel lieber würde sich Hanna mal von der Mutter herzen und umarmen lassen. Ein wunder Punkt in der Beziehung zwischen Hella und Jonas. Er vermisste es sehr, dass Hella die Kleine nie gefühlvoll in ihre Arme nehmen konnte. Noch mehr. Es hatte ihm immer weh getan, wenn sie das Mädchen mit abwehrenden Händen von sich wegdrückte, als Hanna noch in kindlicher Anhänglichkeit zärtliche Annäherungsversuche gewagt hatte. Aber seine Hanna entwickelte sich glücklicherweise zum Papa-Kind. Ja, seine Frau Hella blieb dem Kind gegenüber von kühler Natur, und wenn sie dem Schillmann in Sachen Zärtlichkeit jetzt auch so kühl begegnen würde, dann sollte es Jonas mehr als recht sein. Distanziert verhielt sie sich ja nun auch ihm gegenüber. Es kam keine Frage mehr von Hella: „Kann ich dir etwas zu trinken bringen?“, wenn er hier am schuften und schwitzen war, wie noch vor Wochen. Oder ein Scherz, „Lebst du da unten noch?“ Manchmal war sie auch gekommen, um nur mal nach ihm zu sehen. „Alles in Ordnung?“, hatte sie gefragt. Einfach so. So, wie man sich eben kümmert, wenn man sich liebt. Nein! Nun kam nichts mehr. Nichts! Keine Blicke, die sein Gesicht zärtlich streichelten, keine besorgte Frage mehr, nicht einmal eine gespielt freundliche Bemerkung, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Nicht die kleinste Mühe gab sie sich noch. Seit wann ging das eigentlich so?, überlegte Jonas, aber fand keine Antwort. Wenn sie Streit gehabt hätten, könnte er sich ihre Veränderung erklären. Aber sie hatten nicht gestritten. Alles lief glatt wie immer. Er ging morgens in der Frühe aus dem Haus, Hella versorgte die kleine Tochter Hanna und brachte sie, nachdem sie im August eingeschult worden war, neuerdings zum Schulbus, anschließend ging sie drei oder viermal in der Woche stundenweise einer Tätigkeit als Übersetzerin in einer Firma nach, und wenn er am Spätnachmittag nach Hause kam, war alles wie immer. Außer den Vermutungen, die ihn neuerdings quälten. Er könnte Hella einfach fragen. Er versprach sich aber mit voreiligen Worten keine Lösung der Problematik, sondern unnötigen Unfrieden, falls er mit seinen Verdächtigungen danebenlag. Sinnvollerweise wollte er seine Vermutungen nicht preisgeben, solange er keinen handfesten Beweis hatte. War nicht gerade er im Kreise seiner Kollegen derjenige, der andere mit den Worten „mach die Pferde nicht unnütz scheu“ beschwichtigte? Nun musste er sich im Zaum halten und merkte bei der Umsetzung, wie schwer es war, sich zurückzuhalten. Eigentlich wollte er Hella auch gar nicht verdächtigen. Er hatte ihr immer vertraut. Er war auch nicht eifersüchtig wie so mancher bedauernswerte Mensch, der sich mit krankhaftem Misstrauen unnötige Leiden schaffte. Er war auch kein Schwarzseher. Aber jetzt spürte Jonas, dass er total durch den Wind war. Ja, seine Stimmung war tief gesunken. So tief, dass er statt oben in der wärmenden Sonne eine Verschnaufpause einzulegen, in dem kalten, engen Loch saß, als wollte er von der Welt dort oben nichts mehr wissen.

Jonas starrte gegen die raue Wand aus grauen Betonringen, die dem Schacht mit ihrer Stabilität den erforderlichen Halt gaben. Fünf von diesen schweren Betonringen hatten hier schon passgenau übereinander gestapelt ihren Platz gefunden, noch etwa dreißig bis vierzig Zentimeter ausschachten, dann würde, von oben gesehen, auch der sechste Ring von der Erdoberfläche verschwunden sein. Ein bisschen verrückt das alles. Er hätte auch einen im Durchmesser kleineren Brunnen ausheben können. Wollte er aber nicht. Wenn schon, denn schon, hatte er gedacht und auch noch frohgemut erklärt, dass er alle Zeit der Welt dafür hatte und nicht morgen oder übermorgen fertig sein musste. Zusätzlich kam er noch mit dem glaubhaften Argument, dass er sich bei diesem Durchmesser in dem ohnehin schon engen Loch etwas mehr bewegen konnte, und außerdem sollte die Pumpe ja auch genügend Wasser hergeben.

Der Boden unter ihm war schon ziemlich sumpfig, und als er an diesem Morgen mit seiner Arbeit beginnen wollte, musste er zuerst eine Menge Grundwasser aus diesem Loch schöpfen. Er hatte es also bald geschafft. Nur freuen, nein, freuen konnte sich Jonas im Moment nicht darüber. „Am besten die ganze Scheiße hier liegen lassen, Deckel oben drauflegen und fertig!“, dachte er, stand aber auf, griff stattdessen zum Spaten, löste mit kräftigen Schlägen ringsherum festes Erdreich und scharrte ihn vom Rand zur Mitte, bis die Betonringe wieder gleichmäßig einige Zentimeter nach unten gesackt waren. Hatte sich im Urlaub etwas verändert, den sie zusammen mit diesem Hornochsen verlebt hatten?, überlegte Jonas und hielt schon wieder inne. Freund wollte er diesen Mistkerl nicht mehr nennen. Nicht einmal in Gedanken. Sein Nachbar blieb er. Leider! Bei dem Wort Nachbar wurde ihm fast übel. Sie hatten als gute Freunde sogar öfter den Urlaub miteinander verbracht. Sie hatten ihn vorher zusammen geplant, waren am Urlaubsort gemeinsam gewandert, hatten gemeinsame Touren unternommen und an so manchem vergnügtem Abend bei Bier oder Wein gescherzt und gelacht und getanzt. Auch noch im letzten Urlaub vor ein paar Wochen waren sie zusammen in Österreich gewesen. Da war nichts gewesen, was sein Misstrauen irgendwie hätte wecken können. Und Hella war mit dem zweiten Kind schwanger, und sie freuten sich doch beide auf dieses Baby. Jonas war schon viel zu Ohren gekommen, aber dass sich eine Frau während der Schwangerschaft auf eine Liebschaft einlässt, nein, das hatte er noch nie gehört. Abwarten und Tee trinken war bisher immer seine Devise, schließlich war er gebürtiger Ostfriese. Alles erst mal in Ruhe an sich herankommen lassen, gut überlegen und dann handeln, damit alles Hand und Fuß hat. Immer und immer wieder kreisten dieselben Gedanken in seinem Kopf herum, und er kam nicht von diesen scheußlichen Mutmaßungen los. Aber abwarten? In dieser Situation? Tee trinken wäre jetzt gut, aber abwarten?

Er schaufelte den Eimer zum wer weiß wievielten Male voll und stieg auf der schmalen Leiter nach oben, um ihn zu leeren, kletterte abermals abwärts, füllte den Eimer und brachte ihn wieder nach oben. So ging es weiter. Und noch einmal und noch einmal.

Hella hatte Töchterchen Hanna am späten Nachmittag zu den Nachbarn geschickt, um sie zum Nachmittagsplausch herüberzuholen. An sich nichts Besonderes. Hanna hüpfte gerne mal rüber. Kein Wunder, denn Marlene hatte immer etwas Süßes für die Kleine. Auch gut, dachte sich Jonas, da hatte er die beste Gelegenheit, Hella zu beobachten, wie sie sich Freddy gegenüber verhielt. Jonas hatte geduscht, sich umgezogen und sich anschließend auf die Terrasse gesetzt. Um sich zu entspannen, griff er zu der Tageszeitung.

Hanna kam schon wenige Minuten später mit einem Eis in der Hand zurück und setzte sich auf die Schaukel. Nicht um zu schaukeln, sondern um dort, abseits von den Erwachsenen, ihre Leckerei zu schlecken. Gleich darauf tauchten Marlene und Freddy auf und blieben eine Weile neben Hella auf der Rasenfläche stehen, während Jonas die Zeitung durchblätterte und dabei die Überschriften überflog. Jonas war ein Mann mit Beobachtungsvermögen und sah immer mehr, als er zu bemerken schien. Er registrierte die ihn umgebende Atmosphäre, saß dabei behaglich in seinem Gartenstuhl hinter einer Zeitung und bekam alles mit, was um ihn herum geschah. Dieses Bild war für Nebenstehende so täuschend, dass auch Hella und Freddy nicht merkten, dass jede Bewegung, jede Geste bewertet und jeder Blick von ihnen gedeutet wurde, denn sie sahen nur Jonas und die Zeitung.

„Möchtet ihr einen Eistee trinken?“, fragte Hella, nachdem sie zu viert in der Runde saßen, „oder soll ich uns einen Eiskaffee machen?“

„O ja, Eiskaffee. Das ist doch genau das Richtige“, meinte Marlene.

Sie hatte es kaum ausgesprochen, als Freddy, als aufmerksamer Kavalier, sofort aufsprang. „Finde ich auch“, sagte er spontan. „Machen wir uns einen Eiskaffee, und ich helfe dir.“

Das war doch klar, dass dieser Hund die Gelegenheit beim Schopfe packte, dachte Jonas. Trotzdem schenkte er diesem Verhalten keine weitere Beachtung. Ist doch alles im grünen Bereich, beruhigte er sich. Nur flüchtig blieben seine Augen an einem Bericht aus der Region hängen, aber das war es dann auch schon. Zu mehr Interesse an dem Zeitgeschehen reichte es an diesem Tag wegen seiner Unkonzentriertheit nicht.

„Sieh an, sieh an. Habe ich nicht einen hilfsbereiten Ehemann? Den würde ich mir zu Hause wünschen.“ Wahrscheinlich sollte dieser Einwurf eine spaßige Bemerkung sein, doch ein scharfer Ton steckte dabei in Marlenes Stimme, und der freundliche Ausdruck auf ihrem Gesicht war plötzlich verschwunden.

Freddy musste die Worte seiner Frau gehört haben, nahm aber keine Notiz davon, drehte sich nicht einmal nach Marlene um, sondern folgte Hella und verschwand mit ihr im Haus.

„Aber wenn uns die beiden verwöhnen wollen, dann sollen sie, was Jonas?“, meinte sie mit einem Lächeln.

War Marlene also vollkommen frei von irgendwelchem Argwohn? Oder hörte Jonas aus dem ernsten Vorwurf einen bitteren Unterton oder auch Misstrauen heraus? Erging es ihr so wie ihm? Jonas sah sie an und versuchte, in ihren Gesichtszügen zu lesen. „Du verwöhnst ihn zu sehr. Bei dir kommt er ja gar nicht erst zum Zug“, sagte er wie nebenbei und faltete seine Zeitung zusammen.

„Man kann sich doch gegenseitig verwöhnen.“

„Man kann. Aber natürlich. Wenn es auf Gegenseitigkeit beruht, ist es doch in Ordnung. Aber du trägst ihm doch alles hinterher.“

„Tu ich das?“

„Ja, das tust du.“

„Vielleicht, weil wir keine Kinder haben.“

„So wird es sein.“

„Es macht mir eben Spaß, und ich glaube, ich kann gar nicht anders sein.“

„Ja, wenn es dir Spaß macht, ist es doch gut. Fragt sich nur, ob es immer richtig ist, was du tust.“

„Richtig. Nicht richtig. Wer kann das schon beurteilen.“

„Da hast du wohl recht.“

„Du gehst zum Beispiel davon aus, dass alles von alleine läuft.“

„Ich?“

„Das ist eben meine Meinung. Bei euch ist alles so selbstverständlich.“

Jonas entgegnete nichts darauf, dafür horchte er mit Anspannung auf die Geräusche, die aus der Küche kamen.

„Steht etwas Besonderes in der Zeitung?“, fragte Marlene.

„Nein. Möchtest du mal hineinsehen?“ Er reichte sie ihr.

„Ich will nur mal die Traueranzeigen durchsehen, mehr nicht.“

Jonas fand es gut, so brauchte er sich auf kein Gespräch mit ihr einzulassen. Dafür vernahm er leises Gemurmel und verhaltenes Lachen und überlegte, über was die beiden in der Küche sprachen. Ob sie miteinander flirteten? Oder … er wollte nicht weiter denken. Eben war noch Geschirrgeklapper zu hören, dann albernes Gelächter, jetzt war es still. Verdächtig still.

„Ich finde im Moment alles ziemlich anstrengend“, hörte er Marlene sagen. „Ich auch“, seufzte Jonas leise in sich hinein, sodass Marlene es gar nicht wahrnahm, weil sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war.

„Ob die beiden da drinnen Hilfe brauchen?“, fragte sie unruhig, nachdem sie die Zeitung wieder zur Seite gelegt hatte. In Jonas entwickelte sich derweil ein eigener Spürsinn.

„Ich will mal nachsehen“, sagte Marlene kurz darauf entschlossen und stand ruckartig auf, sodass der Stuhl dabei beinahe nach hinten gekippt wäre.

„Huch“, sagte sie halblaut und konnte sich sofort wieder beruhigt hinsetzen, denn Freddy kam im selben Moment aus dem Haus. Wie ein gelernter Kellner jonglierte er übermütig das Tablett mit den Getränken vor sich her, und Jonas wünschte, es würde ihm vor die Füße knallen. Aber natürlich rutschte es diesem selbstsicheren Kerl nicht aus der Hand, so konnte er die Gläser mit den schmelzenden Eiskugeln auf heißem Kaffee aufgekratzt servieren.

„Bitte sehr, mein Herr“, lachte er Jonas an, als er ihm das Getränk hinstellte, aber Jonas verzog keine Miene, und es fiel ihm auch nicht ein, sich dafür zu bedanken.

„Oh, dem Chef des Hauses ist eine Laus über die Leber gelaufen“, stellte Freddy leichthin fest.

„Keine Laus.“

„Sondern?“

„Ein hinterhältiger, bissiger Hund.“

„Dann schlag dem doch den Schädel ein“, scherzte Freddy.

„Was meinst du wohl, was ich vorhabe. Nach dem ersten Biss ist der weg.“

„Gehst du noch weg?“, fragte Hella und sah Jonas erstaunt an. Sie kam gerade mit einem Kuchenteller aus dem Haus und hatte die letzten Worte noch gehört.

„Ich nicht, nein“, war Jonas‘ knappe Antwort, und er warf Freddy einen vielsagenden Blick zu, der so ahnungslos tat, als wüsste er nicht, wovon Jonas sprach. Konnte er seine Hände wirklich in Unschuld waschen?, dachte Jonas irritiert. Oder spielte hier einer den anderen etwas vor?

„Dein Holder hat Mordgelüste“, lachte Freddy und ließ sich neben Marlene in den Gartenstuhl fallen.

„Wen willst du denn umbringen?“, wollte Hella wissen und sah Jonas betroffen an.

„Das bleibt abzuwarten“, antwortete Jonas kurz angebunden.

„Er hatte nur ein bisschen Ärger“, sagte Freddy zu Hella gewandt und sprach dann Jonas an: „Lass dich einfach von uns ablenken. Morgen sieht schon wieder alles anders aus.“

Du Idiot, dachte Jonas, sagte aber nichts darauf. Er hatte keinesfalls vor, die Beherrschung über sich zu verlieren.

„Wie weit bist du denn mit dem Brunnenschacht?“, wollte Marlene wissen. „Kommst du voran?“

„Doch, ja.“

„Wie tief bist du schon?“

„Ich bin bald tief genug.“

„Wie schön. Mann, das ist eine Leistung! Und musst du die Betonwand dann auch noch abdichten? Ich meine, damit sie wasserdicht ist?“

„Für was sich meine Frau alles interessiert“, warf Freddy ironisch ein.

„Du solltest auch mal für so etwas Interesse zeigen, statt alles von anderen machen zu lassen“, parierte Marlene schlagfertig. Dieser ziemlich bissige Unterton in der Bemerkung war nicht zu überhören und verriet ihre ganze Unzufriedenheit.

Jonas ging gerne auf Marlenes Frage ein: „Die Betonringe sind wasserdicht“, sagte er.

„Ich habe eben andere Qualitäten“, musste Freddy noch zwischendurch einwerfen, bekam jedoch keine Antwort von Marlene, aber in Hellas Augen blitzte es kurz auf, und über ihr Gesicht huschte ein merkwürdiger Ausdruck zwischen Warnung und Erschrecken. Aber er verflog so schnell, dass Jonas glaubte, sich getäuscht zu haben.

„Die Dinger sind doch wahnsinnig schwer. Wie kriegst du sie dahin, wo sie hin sollen?“

Jonas sah wieder zu Marlene. Er war immer erstaunt darüber, dass Marlene sich für seine Arbeit interessierte, jetzt war er sogar darüber erleichtert, denn ohne ihre Neugierde oder ihr Interesse wäre der Nachmittag ziemlich belastend für ihn geworden. Dabei war er ihr auch nicht gerade gut gesonnen, denn insgeheim gab er auch ihr ein wenig die Schuld, dass sich Freddy auf Abwegen befand. Jonas wusste, dass Freddy seine Marlene schon öfter betrogen hatte. Soll er, dachte er, aber dass er sich nun an seine Frau heranmachte, war eine andere Sache.

„Man muss eben mehr mit dem Kopf als mit den Muskeln arbeiten“, antwortete Jonas. „Da gibt es gewisse Tricks, verstehst du?“

„Aha. Jaja.“

„Ich hätte sonst ja auch einen Gabelstapler von der Firma bekommen.“

„Ach ja, natürlich.“

„Geht alles, wenn man nur will“, sagte Jonas leichthin, doch wer genau hinhorchte, vernahm einen gewissen Spott.

„Und bald beginnt dann die schönste Arbeit, was? Ich meine die Arbeit oben.“

„Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, dann ja“, meinte Jonas zweideutig. Aber wer sollte das schon heraushören. Bei allem, was er sagte und antwortete, hatte er so seine eigenen Gedanken.

„Und wenn die Pumpe fertig ist, kannst du das Wasser mit so einem … mit so einem Schwingel oder Schwenkarm hochpumpen?“

„Schwengel, meinst du. Mit dem Schwengel und auch elektrisch kann ich dann das Wasser hochpumpen.“

„Und damit wird es bei dir keine braune ausgetrocknete Rasenfläche mehr geben, nehme ich an.“

Freddy und auch Hella benahmen sich auffällig aufgekratzt, was Jonas schon wieder wachsam werden ließ. In ihm arbeitete es. Wenn man jemandem hätte ansehen können, wie es in den Köpfen arbeitete, Jonas Kopf hätte vom vielen Brüten und Denken gequalmt, trotzdem machte er an diesem Sonnabendnachmittag gute Miene zum bösen Spiel. Freuen konnte er sich nur, wenn Hanna zwischendurch ihr Spiel unterbrach und sich vertrauensvoll an ihn schmiegte. Das Verlangen, sich ihrer Mutter zu nähern, unterdrückte sie, denn sie hatte schon als Kleinkind instinktiv begriffen, dass ihre Mama ihr keine Zärtlichkeit schenken konnte. Ansonsten blieb Jonas ziemlich wortkarg, doch weil er ein ruhiger Typ war, fiel es bei der Gesprächigkeit der anderen nicht weiter auf. Aber es verletzte ihn in den letzten Tagen, dass Hella seine schlechte Stimmung entweder nicht bemerkte oder einfach ignorierte. Marlene war es, die sich für seine Arbeit im Garten interessierte, und Jonas wusste mit einem Male nicht mehr, ob ihn ihre Fragen störten oder ob er sich darüber freuen sollte. Sie war ja nicht aufdringlich und lenkte ihn mit ihrem Interesse von seinen Sorgen ab, gleichzeitig wünschte er sich zum wer weiß wievielten Male, Hella würde sich nur ein wenig für seine Tätigkeiten interessieren oder nur halb so viel wie Marlene für die Gartenarbeit begeistern. Ach, nur ein Zehntel würde schon reichen. Es wäre schön. Es wäre etwas Gemeinsames. Wahrscheinlich hatte Marlene den gleichen Wunsch bei Freddy, denn ihm fiel es im Traum nicht ein, sich nach heruntergefallenem getrocknetem Geäst zu bücken oder verblühte Blumen abzuschneiden.

„Wo lässt du denn die ganze Erde?“, holte Marlene ihn aus seinen Gedanken.“

„Die lass ich genau da, wo ich sie hingetragen habe.“

„Ehrlich? Du machst Witze.“

„Nein, das ist kein Witz, da kommt Mutterboden und Torf drauf, so wird es ein schöner Hügel für ein Steinbeet, hab‘ ich mir gedacht.“

„Mannomann, ja! So etwas könnte mir auch gefallen!“, begeisterte sie sich und mischte sich auch gleich in das Gespräch der beiden anderen und sagte: „Mensch Hella, dein Mann hat ja wirklich tolle Ideen.“

„Hat er die? Welche denn nun schon wieder?“, fragte sie verwirrt.“

„Na, das neue Beet.“

„Ein Beet? Ach ja, er lechzt ja förmlich nach Arbeit.“

„Soll das eine Vorhaltung sein?“, wollte Jonas wissen und warf Hella einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Aber nein, das war doch nur so dahingesagt. Gott bewahre, nein. Ich sagte es nur so“, beschwichtigte sie Jonas.

Hella machte sich Sorgen um Freddys Zukunft, und bei allem was er darüber erzählte, erntete er einen verständnisvollen Blick von ihr. Wegen Insolvenz seiner Firma hatte er gerade seinen Arbeitsplatz verloren und musste sich nun um eine neue Tätigkeit bemühen. Schon wieder, konnte man sagen. Nach Arbeit musste dieser Pechvogel schon öfter suchen und Schuld waren immer die anderen. Aber weil sich Hella übertrieben um ihn sorgte, benahm sich Jonas ihr gegenüber wie ein gemeiner Schuft. Als ihr die Kuchengabel aus der Hand rutschte und zwischen ihr und ihm am Boden lag, fiel es ihm nicht im Traum ein, sich danach zu bücken, und weil sich Hella durch die weit fortgeschrittene Schwangerschaft nicht mehr so gut nach vorne beugen konnte, stand sie auf, rückte umständlich den Stuhl zur Seite, ging langsam in die Hocke und hob die Kuchengabel auf. Durch ihre betont langsamen Bewegungen setzte sie dieses Vorkommnis unverkennbar in Szene. Betretenes Schweigen war die Folge dieses Zwischenfalls. Die Blicke von Freddy und Jonas kreuzten sich. Nur für Sekunden. Feindselig anklagender Vorwurf stand einer jahrelangen Freundschaft fortan im Wege.

2

An dem spätsommerlichen Tag mit hochsommerlichen Temperaturen lief auf der Baustelle alles schief. Besser ausgedrückt, es lief nichts. Die Baustelle stand still. Eigentlich sollte an diesem Montag Beton geliefert werden. Schon morgens um sieben hatte Jonas als Polier auf den ersten LKW gewartet, und dann sollte es Schlag auf Schlag gehen. Den ganzen Tag bis zum späten Nachmittag. Drei Tage lang hintereinander sollte Beton geliefert werden. Sattelzug-Auflieger mit den großen Betonmischern wurden hier auf den Großbaustellen eingesetzt. Mit Verzögerung der Lieferung konnte schon mal gerechnet werden. Meistens durch Staus durch den aufkommenden Berufsverkehr am frühen Morgen oder durch einen Unfall, ansonsten konnte er sich auf die Firmen und die Fahrer verlassen. Aber als sich auch nach einer halben Stunde kein Fahrer blicken ließ, wollte er durch einen Anruf in der Baustofffirma Zusicherung erhalten, dass die erste Lieferung unterwegs sei. Aber Jonas wurde mitgeteilt, dass an diesem Tag nicht geliefert würde. Irgendjemand hatte sich im Datum vertan. „Morgen früh kann es losgehen. Leg‘ einen freien Tag ein, Kollege. Tut doch auch mal gut, am Montag.“ So eine unvorhergesehene Auskunft konnte Jonas nicht aus der Ruhe bringen, dafür würde sich sein Chef aber gleich höllisch aufregen und sich die Haare raufen. Ja klar, Termine mussten eingehalten werden. Doch Jonas konnte sich auf seine Leute verlassen, und mit Überstunden würden sie den befürchteten Engpass verhindern. Mit dieser Zusage konnte er seinen Chef dann sogleich wieder beruhigen.

Damit lag vor Jonas ein freier Tag. Ein Tag, den er nie mehr vergessen sollte. Schon auf dem Nachhauseweg war ihm plötzlich flau im Magen. Zuerst glaubte er noch, er könnte mit seiner Frau etwas Schönes unternehmen, falls sich die Eltern von Hannas Freundin nach Schulschluss um sie kümmern würden, oder sie würden nur mal einen erholsamen Waldspaziergang in der nahen Eifel machen, irgendwo in einem Ausflugslokal einkehren und miteinander reden, damit er endlich seine Zweifel aus der Welt räumen konnte. Das war ihm außerordentlich wichtig, obwohl er sich am liebsten erst einmal aufs Ohr gelegt hätte. In der letzten Nacht hatte er schlecht geschlafen. Er hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, warum sich seine Frau einem anderen zuwendete. Fühlte sie sich vielleicht vernachlässigt? Er war sich keiner Schuld bewusst. Jonas ließ die letzten Wochen und Monate und Jahre Revue passieren und fand keine Erklärung für ihr ablehnendes Verhalten. Ja, er hatte viel gearbeitet. Er hatte immer viel gearbeitet. In all den Jahren seiner Ehe. Von alleine entsteht kein Haus, und Hella wusste, dass es nicht selbstverständlich war, das Haus so groß zu bauen, dass auch ihre Eltern darin ihre Wohnung bekamen. Natürlich waren sie nicht mehr so verliebt wie am ersten Tag, aber als sie sich nach der Euphorie im Rhythmus des Alltags wiederfanden und ihre Leidenschaft ein wenig nachließ, waren sie sich so vertraut, dass sie glaubten, sie stünden auf einem festen Fundament. „Auf einem Fundament von dir gegossen“, hatte Hella, aufgrund seines Berufes, einmal zu ihm gesagt. „Aus Stahlbeton“, hatte er gescherzt, und sie hatte lachend erwidert „oh, Jonas, wie unromantisch. Aus Liebe und Glück natürlich!“ „und Vertrauen“, fügte er hinzu, und ihm wurde bei dieser Erinnerung klar, dass das Fundament einen tiefen Riss bekommen hatte, weil er an Hellas Treue zweifelte. Ihm erschien alles so rätselhaft. Sie hatten niemals einen ernsthaften Streit, der ihre Beziehung gefährdet hätte. Hella war gerade neunzehn geworden, als er sie kennenlernte, er war zehn Jahre älter, und bis dahin liebte er als Junggeselle sein Vagabundenleben in einem Wohncontainer einer großen Firma. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass er sein Leben immer so fortführen würde. Frei und ungebunden. Ja, und dann kam alles anders. Als er sie kennenlernte, stand für ihn sofort fest, das ist sie, und sie führten eine gute Ehe. Hella und Jonas hatten in den Sommermonaten gerne die lauen Abende im Garten verbracht, die Schwalben am Abendhimmel beobachtet und auch gemeinsam in die Stille gehorcht. Auch noch in diesem Sommer. Jonas hatte sich so heimelig wohl gefühlt, dass er, geborgen wie in Mutters Schoß, nach einem arbeitsreichen Tag in der Hollywood-Schaukel eingeschlafen war, und Hella hatte ihn so manches Mal verständnisvoll schlafen lassen, wenn sie schon ins Haus ging. Putzmunter war er ihr dann ein Stündchen später gefolgt. Oh, er könnte sich heute, an seinem freien Tag, auch in die Schaukel legen und den Schlaf der letzten Nacht nachholen, und schon waren seine Gedanken wieder in der Gegenwart.

Wie eine lodernde Flamme flackerte plötzlich sein Misstrauen in ihm auf, als er sich seinem Wohnort näherte. Seit Jahren fuhr er jeden Tag diese Strecke. Er liebte diese ländliche Gegend. Als gebürtiger Ostfriese kannte er, bevor er in die Welt hinauszog, nur die flache Küstenlandschaft mit reetgedeckten Häusern, Windmühlen und Leuchttürmen, mit Kühen auf endlosen Weiden, weiße Sandstrände und Wasser bis zum Horizont. Auch schön. Die steife Brise der rauen Nordsee blieb unvergesslich, und unauslöschlich in ihm blieben auch die traumhaft schönen Sonnenuntergänge über dem Wattenmeer. Trotzdem. Als es ihn dann in diese Gegend verschlug und er Ausschau nach einem Grundstück hielt, kam ihm diese Region mit den verträumten Ortschaften zwischen sanften Hügeln mit dem kräftigen Grün und den umliegenden Wäldern wie eine Märchenlandschaft vor. Aber über beide Landschaften spannte sich derselbe Himmel, und über beide Landstriche schien dieselbe Sonne, und wenn keine heftigen Stürme die Wellen hochjagten oder Orkanböen in den Baumkronen tobten, strahlten beide Landesteile mit ihrer unterschiedlichen Natur eine friedliche Ruhe aus. So war die Gegend im Norden seine Heimat, diese hier wurde sein Zuhause. Jonas galt als harter Kerl. Knallhart sagten die einen, männlich sagten die anderen. Wer jedoch genau hinsah und ihn einmal erlebt hatte, mit welcher Behutsamkeit und Engelsgeduld er mit Tieren umging oder wie rücksichtsvoll er auf hilfebedürftige Menschen einging, wurde eines Besseren belehrt. Allerdings war Jonas an diesem Tag unbekannten Gefühlen hilflos ausgeliefert, denn ein Sturm voller Argwohn zerrte an seinem Herzen, während schreckliche Gedanken wie ein Feuersturm durch seine Seele tosten. Vielleicht wollte es der Zufall so, dass die Baustelle durch einen kleinen Irrtum stillstand, um sich an einem unverhofft freien Wochentag Klarheit zu verschaffen.

Er hatte an diesem Tag keinen Blick für die Schönheit der Natur. Jonas drosselte das Tempo und fuhr den Wagen im Schritttempo durch die Seitenstraßen, bis er vor seinem Haus hielt. Es erschien ihm mit einem Mal so seltsam fremd. Jonas schalt sich einen sentimentalen Trottel. Hier war doch sein Garten, sein Hobby, seine Welt mit seiner Familie. Hier war sein Daheim. Hier war alles, wofür er lebte. Er fuhr den Wagen nicht wie gewohnt in die Garage, sondern ließ ihn am Straßenrand stehen. Als er die Gartenpforte öffnen wollte, hielt er inne. Um jedes Geräusch zu vermeiden, stieg er wie ein Dieb über dieses niedrige Hindernis, und von einer bösen Ahnung ergriffen näherte er sich dem Haus, schloss leise die Haustür auf und horchte in die Räume. Alles war still.

„Hallo?“, sagte er mit halblauter Stimme. Jonas wollte seine Frau nicht erschrecken. Auch aus der oberen Wohnung war kein Laut zu hören. Die Schwiegereltern verbrachten gerade ihren Urlaub in den Bergen, es konnte sein, dass Hella die Zimmerpflanzen ihrer Eltern versorgte und ihn deshalb nicht hörte. Plötzlich störte ihn die Stille. Obwohl er sie ansonsten genießen konnte, erschien sie ihm in diesen Minuten fast unheimlich. Ja, er empfand sie als bedrohlich. Wie konnte er überhaupt davon ausgehen, dass sie im Hause war? Er war im Begriff, laut nach Hella zu rufen. Er tat es nicht, denn seine zwiespältigen Gedanken stritten heftig miteinander: Sie betrügt mich. – Ich spinne, ich bilde mir nur alles ein. – Und wenn doch? – Nein, soweit würde sie nicht gehen und sich hier in unserem Haus, nein … Wenn ich den Kerl hier mit meiner Frau erwische, schlag ich ihn zusammen!

Er schlug ihn nicht zusammen. Als Jonas die Wohnzimmertür öffnete, sah er seine hochschwangere Frau in den Armen seines Nachbarn. Erschreckt über sein Kommen, fuhren sie auseinander. Hella, mit halb entblößtem Oberkörper, zupfte hastig den hochgeschobenen Pulli runter, Freddy hingegen hob die Arme und hielt ihm abwehrend seine Hände entgegen, als hätte dieser schon zum Schlag ausgeholt.

Jonas fühlte sich bei diesem Anblick wie vom Blitz getroffen. Er wischte sich mit der Hand über die Augen, aber das aufschlussreiche Bild, das für ihn so etwas wie Weltuntergang bedeutete, stand wahrhaftig vor ihm. Meine ungute Vermutung hat mich nicht getäuscht, war sein erster Gedanke, an diesem verantwortungslosen Kerl mache ich mir doch nicht die Hände schmutzig, war sein nächster. „Raus hier, sonst breche ich dir sämtliche Knochen“, drohte er trotzdem. Und zuzutrauen war es diesem starken Mann, der durch dauerhaft schwere Arbeit auf dem Bau hart zupacken konnte. Das wusste auch Freddy. Ohne sich nach Hella umzusehen, huschte er an Jonas vorbei, der einen Schritt in den Raum getreten war, um den Flüchtenden an ihn vorbei zu lassen. Ein vernichtender Blick traf Hella, dann drehte sich Jonas um und verließ den Raum. Er fand keine Worte. Er blieb sprachlos.

Wie betäubt fand er sich im Garten wieder, aber auch hier konnte ihn nichts halten. Hella hatte vergebens versucht, mit Jonas zu reden, doch er konnte sich die billigen Ausreden auf das Wieso und Warum und die Worte „das hat nichts zu bedeuten“, nicht anhören. Sie rauschten an ihm vorbei wie ein Wirbelsturm. Er hatte nur das Bedürfnis, von ihr wegzukommen. Selbst die Beteuerung „ich liebe nur dich“, konnte ihn nicht erreichen. Alles Lüge, alles Lüge, konnte er nur denken. Der Vorwurf, der unweigerlich folgte: „Du bist kalt!“ traf ihn wie ein Schwertschlag. Wie konnte sie nur so etwas sagen, und wie ungerecht sie war. Wer von ihnen hegte und umsorgte denn die kleine Hanna mit der ganzen Liebe, Zärtlichkeit und Fürsorge, die ein Kind benötigte, um in Geborgenheit aufzuwachsen? Wer? Aber er schwieg. Kein einziges Wort kam über seine Lippen. Auch kein Vorwurf. Nachdem seine Gedanken in den letzten Tagen auf Hochtouren tausend Zweifel durchgearbeitet und hin und her gewälzt hatte, war er nun wie betäubt.

Später fand er sich in seinem Wagen wieder, der ihn in Richtung Siebengebirge trug. Damit ging er auch seinem Töchterchen aus dem Weg. Sie würde ihm seine miese Stimmung anmerken, und diese Situation wollte er der Kleinen ersparen. Theaterspielen war nicht sein Ding, das konnte er Hella überlassen, sie hatte ja bewiesen, wie gut sie es konnte. Bis morgen würde er sich etwas einfallen lassen. Morgen! Morgen? Morgen würde es in ihm nicht anders aussehen. „Du bist kalt!“, dieser Satz wurmte ihn gewaltig.

Irgendwo auf einem Parkplatz hielt er an. Zu einem Spaziergang konnte er sich nicht aufraffen, dafür fehlte ihm jede Motivation. Wie hätte er auch in diesem Zustand, in dem er sich befand, einen Blick für die schöne Gebirgslandschaft haben können. Er, der die Natur so liebte. Er, den es an jedem freien Tag hinauszog. In den Garten, in die Wälder, an den Rhein oder irgendwohin in diese Umgebung.

So blieb er also im Wagen sitzen, drehte das Seitenfenster zu seiner Linken herunter und gab sich seinem Kummer hin, später drehte er irgendwann auch seinen Sitz zurück, und erschlagen an Leib und Seele fiel er in einen erlösenden Schlaf.

Als Jonas erwachte, musste er überlegen, wo er war und was mit ihm los war. Dann stürzten schlagartig alle Erinnerungen des Vormittags wieder auf ihn ein. Am liebsten hätte er sich nicht mehr von der Stelle gerührt, aber er wusste, dass es weitergehen musste. Aber wie? Diese Frage verfolgte ihn nun bei jedem Atemzug. Er hätte diese Frage laut hinausschreien können und wusste, die Antwort konnte er sich nur selber geben. Am späten Abend nahm Jonas den Rest seiner Energie zusammen, setzte seinen Wagen in Bewegung, hielt an der erstbesten Imbissbude, verdrückte eine Currywurst, fuhr anschließend nach Hause, machte sich frisch, zog sich um und verließ, ohne Hella eines Blickes zu würdigen oder nur ein Wort mit ihr zu wechseln, das Haus. In einem Bordell setzte er sich an die Bar und versuchte, Herr über seine Lage zu werden. Diese Häuser waren kein Neuland für ihn. In seiner Junggesellenzeit hatte er sie regelmäßig besucht, obwohl er noch nie mit einer dieser Damen intim geworden war. Er hatte sich mit den Mädchen und Frauen unterhalten, mehr nicht. Sie waren ihm immer sympathisch, und er fand an deren Beruf auch nichts Verwerfliches, solange sie dabei ehrlich waren und zu dem standen, was sie taten. Er mochte die Art, wie sie auf Männer eingingen, mochte ihre Kameradschaftlichkeit und Offenheit, und er entdeckte auch Mitgefühl für die Mädchen, mit denen das Schicksal manchmal recht stiefmütterlich umgegangen war, dass sie keinen anderen Ausweg fanden, als sich zu verkaufen. So manches Mal hatte er sich wie ein Vater oder wie ein Bruder oder wie ein Freund auf Zeit ihre Probleme angehört, nachdem sie wussten, dass er nicht als Freier, sondern nur als Gast gekommen war, um an der Bar ein Bier zu trinken. An diesem Tag, wollte er nichts hören und auch nicht reden. Er wünschte sich keinen Kontakt, trotzdem zog ihn bald eine Dame ins Gespräch.

„Schlechten Tag gehabt?“

„Das kannst du laut sagen“, brummelte Jonas, ohne sie anzusehen.

„Hat sie dich versetzt? Oder gar verletzt?“

„Versetzt? Verletzt?“ fragte er ironisch zurück.

„Betrogen?“

„Betrogen. Ja, betrogen hat sie mich.“

„Dann hab‘ ich ja gleich den Nagel auf dem Kopf getroffen.“

„Hast du. Ist wohl auch nicht schwer zu erraten.“

„Und nun?“

„Ich weiß nicht. Keine Ahnung.“

„Erst mal volllaufen lassen, wie?“

„Du meinst, zu dem einen Problem noch das nächste Übel herbeischaffen?“

„Willst du nicht?“

„Nee, hab‘ ich nicht vor.“

„Sehr vernünftig.“

„Ein Bier reicht. Ich trinke nur noch eine Cola.“

„Hätt‘ ich auch nicht zugelassen. Nicht hier bei mir.“

„Was?“

„Dass du dich volllaufen lässt.“

„Ist das dein Laden hier?“

„Zur Hälfte, ja. Willst du reden?“

„Worüber?“, fragte Jonas, obwohl er wusste, was sie meinte.

„Über deinen Kummer.“

„Kummer?“, fragte er erstaunt, als hörte er das Wort zum ersten Mal. „Ich bin stinksauer.“

„Auf wen?“

„Auf den hinterhältigsten Halunken, den ich kenne!“

„So wütend?“

„Ich möchte den umbringen.“

„Tust du aber nicht?“

„Ich weiß noch nicht.“

„Lass‘ es lieber.“

Und dann brach es doch aus Jonas heraus. In abgehackten Sätzen machte er seiner Enttäuschung Luft, und Melissa, geübt im Umgang mit verletzten Männern, ging mit guter Menschenkenntnis sensibel auf Jonas ein.

„Denke an deine Kinder, sie brauchen ihren Papa“, sagte sie zum Schluss.

„Und morgen früh wartet, ach nein, heute früh, meine ich, heute früh um sieben verlässt sich mein Chef auf mich. Ich muss jetzt gehen.“ Damit erhob Jonas sich schwerfällig, um nach Hause zu fahren. Stillschweigend holte er sein Bettzeug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer und ging damit ins Gästezimmer.

In den nächsten Tagen konzentrierte er sich voll auf seine Arbeit mit vielen Überstunden. Sie kamen ihm gerade recht, und ein Lob seines Chefs war ihm sicher. Das klärende Gespräch zu Hause konnte ihm niemand abnehmen.

Hanna hing mit inniger Liebe an ihren Papa, und Jonas schien es, als wäre die Liebe zu seinem Töchterchen durch das Geschehene noch gewachsen. Er hatte eine sofortige Trennung von Hella in Erwägung gezogen, weil er sich eine Beziehung ohne Vertrauen nicht vorstellen konnte. Doch bei diesen Gedanken drängte sich immer wieder Hannas Bild dazwischen, wie sie ihm entgegensprang, wenn er nach Hause kam, und mit welcher Anhänglichkeit sie sich an ihn schmiegte, wenn sie sich zusammen auf dem Sofa lümmelten. Die Welt hatte sich aus den Angeln gehoben, als er seine Frau in den Armen des anderen sah, aber sie war nicht untergegangen. Sie würde aber untergehen, wenn er seine Hanna nicht mehr bei sich hätte. Hella verhielt sich ruhig. Vielleicht das Beste, was sie in dieser Situation tun konnte. Sie wartete, dass Jonas sich ihr wieder näherte, und sie wartete auf die Niederkunft. Sie hatte Jonas erklärt, wie leid es ihr täte, und dass die Affäre nur ein Ausrutscher war, der mit Liebe nichts zu tun hatte.

„Ich will dich nicht verlieren“, hatte sie ihm gesagt. Mehr konnte sie nicht tun. Sie warf sich nicht in Tränen aufgelöst vor seine Füße, sie warf sich auch nicht mit tausend Liebesschwüren an seine Brust. In ihm wäre, wenn sie es getan hätte, mit Sicherheit so etwas wie ein Ekelgefühl aufgekommen. Sie war nicht aufdringlich, sie verhielt sich in dieser Situation genau richtig, so dass Jonas nicht auch noch die Achtung vor Hella verlor.

Hingegen fragte er sich, ob er sie eigentlich richtig beurteilte, ob sie mit ihren dreiunddreißig Jahren noch dieselbe war, die er geheiratet hatte. Darüber hatte er sich vorher nie Gedanken gemacht. Für sie war er, als sie sich ineinander verliebten, so etwas wie der Erlöser, der sich zuerst mit Charme und Geduld durch stachelige Dornen zu ihrer überängstlichen Mutter tasten musste, um deren Vertrauen zu gewinnen, bis er die wohlbehütete Tochter entführen durfte. Er hatte niemals einen Augenblick an Hellas Liebe zu ihm gezweifelt, obwohl er wusste, dass er sie mehr liebte als sie ihn. Das hatte er schon immer gewusst. Er wusste es schon vor der Eheschließung.

„Es war nur ein Flirt, Liebling“, sagte Hella vierzehn Tage später. „Wirklich nur ein Flirt“, versuchte sie die Affäre herunterzuspielen, so als wollte sie vor der Geburt des zweiten Kindes alles wieder in Ordnung bringen. Jonas konnte zwar erwidern, dass sie in seinen Augen die Schmerzgrenze weit überschritten hatte, auf einen Streit ließ er es an diesem Tag aber nicht mehr ankommen. Die ersten Wehen hatten eingesetzt, und Hella wollte vor ihrer Entbindung alles geklärt haben. Auf der Fahrt in die Klinik griff sie das Thema noch einmal auf. „Verzeih mir“, bat sie.

„Ist ja gut“, beruhigte er sie.

„Wird zwischen uns wieder alles gut?“

„Bestimmt“, antwortete Jonas und streichelte ihre Hand, die auf ihrem Schoß lag. Er zog seine Hand aber sofort wieder zurück und konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Er war fest davon überzeugt, dass wieder alles gut werden würde. Nichts wünschte er sich mehr, schließlich hatten sie bald zwei Kinder.

„Wird zwischen uns alles wieder so, wie es einmal war?“

„Bestimmt“, antwortete er noch einmal, und starrte nach vorne. Einen kurzen Moment schwenkte ein LKW-Fahrer vor ihm sein Fahrzeug sehr weit nach links, dass Jonas schon glaubte, er würde ausscheren, um den nächsten Transporter zu überholen.

„Ich wünsche es mir so sehr.“

„Ich mir auch.“

„Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch“, antwortete Jonas. Ja, er liebte sie noch immer, und er wollte bei ihr bleiben. Der Kinder wegen.

Wenige Stunden später wurde die kleine Anke geboren.

Es wurde alles gut. Nicht ganz so, wie es früher einmal war, denn das Vertrauen hatte einen ordentlichen Knacks bekommen. Doch im Laufe der Jahre verblasste die unschöne Begebenheit, schließlich hatten sie zwei gesunde, fröhliche Mädchen, hatten mit dem gemeinsamen Einkommen ihr gutes Auskommen, ihr Häuschen im Grünen und viele schöne Erinnerungen an viele glückliche, gemeinsame Jahre. Hella verhielt sich auch der kleinen Anke gegenüber sehr distanziert, so hielt Jonas zwei anhängliche Schmusekätzchen an seinen Händen. Er hatte sich nur anfangs sehr viele Gedanken darüber gemacht, warum es so war. Hella hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Kein zärtliches oder besonders anhängliches, aber sie kamen miteinander aus. Sie nahmen sich bei besonderen Gelegenheiten nicht in die Arme, wie man es oft auf Festen oder auf Familienfeiern bei den anderen beobachtete, aber diese besonders herzlichen Begrüßungen oder Gratulationen konnte man niemandem aufzwingen, sie mussten aus dem Herzen kommen, und ob diese Gefühle immer so ehrlich und immer so herzlich gemeint waren, konnte man schließlich auch in Frage stellen. Stillschweigend nahm er seine Hella so, wie sie war, und gab sich die größte Mühe, seine Mädchen dafür zu entschädigen, indem er ihnen seine ganze Zärtlichkeit, Liebe und Zuwendung schenkte. Er pustete Anke die kleinen Wehwehchen weg, wie er es bei Hanna getan hatte, klebte bei der kleinsten Schramme ein Pflaster darüber und legte zum Trost und zur schnelleren Heilung ein Stückchen Würfelzucker darauf, er ging mit ihnen beiden auf die Kirmes, sah sich zusammen mit den Kindern im Fernsehen „Heidi“ und auch „Sandmännchen“ an, nahm sie an die Hand und ging mit ihnen in die nahe Stadt und achtete streng darauf, dass er ihnen zwar alle Aufmerksamkeit schenkte, aber sie dabei nicht verhätschelte. Aber er ließ sich nicht von den Mädchen mit ihrem hinreißenden Lächeln und großen Kulleraugen um den Finger wickeln. Nein, bei aller Liebe, auf der Nase herumtanzen durften sie ihm nicht. Anke war ein wirklich entzückendes Mädchen. Sehr lebhaft und auch im Aussehen so ganz anders als ihre große Schwester, die ihrer Mutter sehr ähnelte, doch in den kindlichen Zügen von Anke konnte Jonas keine Ähnlichkeit mit Hella entdecken. Auch nicht mit ihm. Dann keimte unweigerlich der Verdacht auf, dass er gar nicht der Vater dieses Mädchens war, doch sofort schob er diese Bedenken beiseite, denn er liebte dieses kleine bezaubernde Wesen. So oder so. Er liebte sie ebenso wie er seine Hanna liebte, und als der Großvater einmal scherzte, die Kleine sei vom Gasmann, weil sie seiner Meinung nach so ganz aus der Art geschlagen war, tat Jonas so, als hätte er es überhört. Ein anderes Mal konnte Hella über die einfach so dahin gesagte Bemerkung ihres Vaters sogar lächelnd erwidern: „Also vom Schornsteinfeger ist sie auf jeden Fall nicht, dass wüsste ich.“ Ja, das konnte sie mit einem guten Gewissen behaupten. Immerhin gab ihm dieser Scherz die Gewissheit, wie ahnungslos Hellas Eltern waren, obwohl sie zusammen in einem Haus wohnten. Sie hatten also nie etwas Auffälliges beobachtet. Das sollte schon etwas heißen, denn die Schwiegermutter war ausgesprochen neugierig. Außerdem steckte sie allzu gerne ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten, so musste sie von ihrer Familie oft gebremst werden, weil sie allzu gerne das Regiment über alle in die Hand nehmen wollte und in ständig übertriebener Angst lebte, ihren Enkelkindern könnte etwas zustoßen.

Inzwischen ging Anke mit ihren vier Jahren schon in den Kindergarten und fühlte sich mächtig erwachsen. Mäuschen wollte sie von ihrem Papa nun nicht mehr genannt werden, auch nicht, wenn sie mit ihm kuschelte. „Ich bin kein kleines Mäuschen mehr“, tat sie beleidigt.

„Die kleinen Mäuschen sind aber doch so süß.“

„Nein.“

„Aber sie sind ganz, ganz niedlich.“

„Nein!“, schmollte sie und hob dabei ihre Schultern.

„Bist du denn meine Maus?“

„Nein!“

„Ich meine doch eine Maus, die schon erwachsen ist.“

„Bin ich auch nicht!“

„Bist du denn meine Ratte?“, fragte Jonas vorsichtig, und Hanna kicherte in die Sofakissen.

„Ja, ich bin eine Ratte“, war Anke einverstanden. Unbeeindruckt und mit einem ernsten Gesichtsausdruck übersah sie das heitere Gesicht ihrer großen Schwester.

Seit diesem Zeitpunkt war Anke Papas kleine Ratte. Hanna war und blieb sein Spatz. Seine große Tochter war eine gute Schülerin und besuchte mit ihren elf Jahren das Gymnasium in der nächstgrößeren Ortschaft. So führte Jonas mit seiner Familie ein zufriedenes Leben. Vielleicht hatte er in seiner Dankbarkeit dem Leben gegenüber den Schlüssel für seinen inneren Frieden gefunden. Es kümmerte ihn wenig, was andere hatten, was andere machten und wie andere lebten. Es zog ihn nicht in die weite Welt hinaus, er versuchte auch nicht, nach unerreichbaren Sternen zu greifen, um Unzufriedenheit zu züchten und zu nähren. Ihm reichte sein eigener Ehrgeiz, alles gut zu machen, was er tat, und so war er mit sich und der Welt zufrieden. Seiner Frau erging es ähnlich, so hielten Hella und Jonas das kleine Glück fest in ihren Händen.

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