...draußen wartet die Angst - Lieselotte Kamper - E-Book

...draußen wartet die Angst E-Book

Lieselotte Kamper

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Beschreibung

Man beschreibt Angst gerne als Phänomen. Ein Ereignis, das der gestrige als nicht existent, der heutige als Kick bezeichnet. Man stürzt am Gummiseil in Häuserschluchten oder im Boot über Wasserfälle hinab. Warum? Um zu überwinden, was man nie zeigen durfte? Angst? Lieselotte Kamper beschreibt nicht diese absurde Suche auf dem Weg zu einem als Droge empfundenen Adrenalinstoß. Sie beschreibt schonungslos aus eigener Erfahrung Angstzustände. Ursache, Neurose, Therapie und Überwindung. Das klingt wie "Psychologie heute", ist es aber nicht. In verständlicher Sprache schildert die Autorin den Weg ihrer Ehe, die mit der großen Liebe begann und in Demütigungen und unfassbaren Exzessen – Mann gegen Frau – endete. Der lang andauernde Versuch Familie und Ehe zu retten, stürzt die Frau in Angstattacken. Dramatisch und anrührend zugleich schildert Lieselotte Kamper eine Katastrophe, die auch heute noch viele Frauen erleiden und erdulden, weil man über "so etwas" nicht spricht! Die Autorin bricht mit diesen Tabus in schonungsloser Offenheit. Lesenswert. Für Mann und Frau.

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Seitenzahl: 526

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Über dieses Buch

Eine Liebe, die Lilo für einmalig hielt, endet in Psychoterror, Angst und zehn Jahren Therapie. Die Hass-Liebe zwischen ihrem Ehemann und seiner Mutter und ihre »Geduld der Frauen« zerstört ihr Selbstbewusstsein und ihren Lebenswillen. Selbst als sie sich von ihrem Mann löst, wird sie von Angstattacken gequält. Die Ursache dafür sieht sie in der psychischen und physischen Gewalt, die sie in der Ehe erlitten hat. Sie lernt, mit der Angst zu leben.

 

Die Autorin

1937 geboren in Schleswig-Holstein, wuchs in einem harmonischen Elternhaus und ländlicher Idylle in Sachsen-Anhalt auf. Mit neunzehn geht sie in den »Goldenen Westen«, lebt vier Jahre sorglos und unbeschwert in Krefeld bei Verwandten. Dann lockt die Großstadt und sie zieht nach Hamburg. Dort heiratet sie und bekommt auch ihre beiden Kinder. Aus beruflichen Gründen kommt sie Jahre später wieder ins Rheinland. Heute lebt die Autorin zurückgezogen in Norddeutschland.

 

© 2020 Scholastika Verlag

Rühlestraße 2

70374 Stuttgart

Tel.: 0711 / 520 800 60

 

www.scholastika-verlag.com

E-Mail: [email protected]

 

Zu beziehen in allen Buchhandlungen,

im Scholastika Verlag und im Internet.

 

© Umschlaggestaltung: Gert Niethammer, 21784 Geversdorf

Layout: Dagmar Scheffermann

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

 

Druck der Print-Ausgabe: Druckerei Hallwich GmbH

ISBN der Print-Ausgabe: 978-3-947233-37-3

 

ISBN der eBook-Ausgabe: 978-3-947233-36-6

eBook-Entwicklung:

 

LIESELOTTE KAMPER

 

... draußen wartet die Angst

 

 

 

Scholastika Verlag

Stuttgart

 

 

Mein ganzer Dank gilt meiner Tochter und meinem Sohn.

Den Weg in die Freiheit fand ich durch ihre Liebe.

 

Lieselotte Kamper

Vorwort

Draußen wartet die Angst ...

 

Na ja, dachte ich, denn Mann ist ja nicht ängstlich.

Wo aber ist draußen?

War das die Frage, die mich nach dem Manuskript greifen ließ?

Kaum.

Und als ich die gebündelten Blätter aus dem Umschlag zog, waren Finger und Hand spitz und eisig unterkühlt. So, dachte ich, liest man kein Frauenbuch ...

Was soll denn das, Frauenbuch? Nein, schrie ich, so geht das nicht, Mann!

Und dann las ich doch.

Ergriffen von dem, was da in geballter Ladung an Leid und Ängsten, aber auch an krankhaft gesteuerter Brutalität über eine Frau hereinbrach. Vielleicht werden manche Mitmenschen diese Demütigungen und unfassbaren Exzesse, die Mann gegen Frau angewandt hat, gar nicht begreifen können.

Dieses Buch macht Angst vor dir Mann. Ich bin auch einer und ich schäme mich. So kann man nicht Mann sein. So nicht.

Nie mehr!

Lieselotte Kamper schont ihre Leserinnen und Leser nicht. Da muss man durch!

Ihren Weg der Angst nochmals gehen, heißt begreifen lernen und Lehren ziehen.

Mann, das fordert zu nachhaltigem Nachdenken heraus.

Fazit: Ein erschütterndes und lesenswertes Buch für Menschen – nicht nur für Frau oder Mann – sondern für jeden, der Menschenwürde nicht nur als Wort begreift.

 

Roman Romanow

Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch
Die Autorin
Vorwort
In den Krallen der Angst 1989
Glückliche Kindheit und unbeschwerte Jugend 1937 - 1960
Die große Liebe 1961/62
Die ersten Ehejahre 1962 - 1969
Herberts Geliebte 1969/70
Neuer Versuch 1970/71
Hilfesuche bei der Eheberatung 1972
Ehehölle 1973/74
Im Teufelskreis von Angstattacken 1974 – 1978
Gemeinsame Psychotherapie 1978
Flucht ins Frauenhaus 1979
Leiden der Kinder 1980/81
Angst nur Einbildung? 1981
Hilfe von Freunden 1981/82
Der Wille zum Leben 1982
Weg in die Freiheit 1983
Die Angst ist nicht vorbei 1986
Zurück in die Gegenwart: Mehr Therapie 1989 – 1996

Prolog

In den Krallen der Angst1989

Wie eine Dampfwalze, die den Rest meines Selbstwertgefühls niederdrücken wollte, schob sich die Besuchergruppe von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz. Schon wieder und so viele, schoss es mir durch den Kopf.

Mein Herz schlug eigenartig laut. Mein Brustkorb wurde eng. Ein Schwindelgefühl erfasste mich. Mir ging es entsetzlich. Die Besucher blieben nach Gutdünken mal hier, mal dort stehen und schauten zu, wie meine Kolleginnen an ihren automatischen Bestückungstischen mit geschickten Händen Dioden, Widerstände und viele andere Bauteile in die vorgeschriebenen Lötlöcher steckten.

Mir brach der Schweiß aus allen Poren, wenn ich nur daran dachte, dass ich dort sitzen müsste. Ruhige Hände brauchte ich auch für meine Arbeit, aber ich musste die kniffligen Sachen nicht grade dann verrichten, wenn ich beobachtet wurde. Diesen Vorteil nutzte ich voll und ganz für mich aus. Trotzdem jagten die Besucher mir immer wieder Angst ein und ich war deswegen ständig auf der Hut, um mich vor schrecklichen Situationen zu schützen. Dadurch war ich jeden Tag in Dauerstress und Alarmbereitschaft. Ich musste schwierige Arbeiten aufholen, weil ich sie beiseite gelegt hatte. Um mich wiederum vor diesem Druck zu bewahren, erledigte ich diese Sachen lieber zuerst, vorausgesetzt, dass niemand neben mir stand.

Mein Herz raste und setzte kurz aus. Die Angst steigerte sich dadurch erheblich. Atme ganz ruhig, befahl ich mir und fühlte gleichzeitig ein Stechen in der Herzgegend. Ich blickte auf. Die Gruppe schob sich wie eine Gefahr langsam immer näher heran. Zu langsam. Als wollten die Besucher es auskosten, mich zu quälen, im wahrsten Sinne des Wortes, diese Minuten, die mir wie Ewigkeiten erschienen, waren eine einzige Qual. Aber rücksichtslos kamen die Männer auf meinen Tisch zu. Dankbar war ich immer, wenn sie sich mehr für die jungen Frauen als für unsere Arbeit interessierten. Manchmal aber hatte ich das Pech, dass ein Herr mittleren Jahrgangs gerade mich ansprach. Er wäre sicher weitergegangen, wenn er gewusst hätte, was er mir damit antat. Angespannt und in Schweiß gebadet, saß ich an meinem Arbeitsplatz, als die Gruppe an mir vorbeischlenderte. Diese Momente kamen jedes Mal einer Katastrophe gleich. Wie gerne hätte ich sie aus meinem Leben gestrichen. Die Aufregung legte sich erst nach Stunden, die Enttäuschung über mein Verhalten, mein Versagen, konnte ich so schnell nicht verwinden.

 

Die nächste teuflische Situation musste ich gleich am nächsten Tag verkraften.

»Bitte, Lilo, hier ist mir die Lasche abgebrochen, kannst du mir eine neue einsetzen?« Marga stand neben mir und legte das kleine Gerät auf meine Arbeitsfläche.

»Aber ja doch«, antwortete ich ganz locker.

Jeden Tag baute ich dieses Teil ein, das bei der Montage leicht abbrach. Es war nichts Besonderes, eine Arbeit, die zu den leichtesten gehörte. Marga legte mir jeden Tag ein paar Module oder schon zusammengebaute Geräte hin, ging in der Zeit, in der ich sie einbaute, zur Toilette oder zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Dieses Mal blieb sie neben mir stehen. Ich nahm das Gerät, stellte es so hin, dass ich die abgebrochene Lasche bequem ausbauen konnte. Nahm den Lötkolben in meine rechte Hand, mit der linken hielt ich das Lötzinn. Unter den Blicken von Marga konnte ich meine rechte Hand nicht zu der Lötstelle führen, weil sie zitterte.

Warum nur? Marga tut mir nichts. Sie hat nicht mehr zu sagen als ich. Diese Arbeit könnte sie nicht erledigen, also beherrsche dich!

Vor Aufregung stieg mir das Blut in den Kopf, als würde er platzen. Endlich fand der Lötkolben an dem Bauteil Halt. Die Lötstelle wurde im Bruchteil von Sekunden heiß. Mit der linken Hand hob ich das Gerät leicht an und das abgebrochene Teil fiel heraus. Mein Herz raste, meine Knie schlotterten. Jetzt kam das Schlimmste. Ich musste die Lötstelle freisaugen und Marga sah noch immer zu. Was denkt sie wohl? Kann sie nicht woanders hinsehen? Womit kann ich sie ablenken?

Meine Aufregung steigerte sich ins Unermessliche. Inzwischen war ich vollkommen nassgeschwitzt. Krampfhaft überlegte ich, was ich fragen könnte, um sie abzulenken.

»Wie geht es deinen Kindern«, fragte ich, doch es interessierte mich nicht im geringsten. Auf jeden Fall nicht in diesem Zustand, in dem ich mich befand. Meine Hände zitterten und ich bekam die Lötstelle nicht frei. Meine Linke hielt den Absauger nicht nahe genug an die heiße Lötstelle. Würde ich zu dicht an den Lötkolben kommen, würde die Spitze des Absaugers schmelzen. Dazu brauchte man eine absolut ruhige Hand. Ich versuchte es ein paar Mal, dann hatte ich in meiner Not die Ausrede gefunden: »Er ist verstopft.«

»Ach, meinen Kindern geht es gut. Sie machen mir kaum Sorgen. Sie gehen sogar gerne zur Schule«, gab sie mir zur Antwort.

Umständlich reinigte ich das Gerät und hoffte, dass Marga mal woanders hinsah. Ich drehte es wieder zusammen und meine Unsicherheit steigerte sich, weil mir die Ausrede mit dem verstopften Absauger nicht genutzt hatte. In meinem Kopf fing es an zu rauschen.

Bleib ruhig – bleib ruhig.

Ich zog meine Schublade mit den Ersatzteilen auf, sah eine Lasche und schob sie unter die Widerstände. Nun hatte ich eine Ablenkung für Marga gefunden, bevor ich einen neuen Versuch startete, um die Lötstelle frei zu saugen.

»Kannst du schon mal zu Marlies gehen und mir ein paar Laschen holen? Ich habe heute schon so viele einbauen müssen.«

Sie wendete sich ab. Ich lötete die Stelle frei und baute blitzschnell meine Lasche ein.

»Ach, Marga, ich habe doch noch eine gehabt«, sagte ich, stellte das Gerät zur Seite und setzte meine Arbeit fort. In den wenigen Sekunden, in denen sie abwesend war, hatte ich die Lasche einbauen können. Mein Herz aber raste und klopfte laut und unregelmäßig. Noch immer zitterte ich am ganzen Körper. Deshalb stand ich auf, ging zum Toilettenraum und versuchte, mich zu beruhigen. Unglücklich und verzweifelt war ich, dass mich eine Arbeit, die im Schlaf erledigt werden konnte, so durcheinanderbrachte.

Ach, nein, doch nicht die Arbeit. Marga war es, nur weil sie danebenstand. Nur weil sie zusah. Nein. Auch nicht Marga.

Ich war es.

 

Aber warum? Warum nur, fragte ich mich jeden Tag aufs Neue. Schon lange wusste ich, dass ich es nicht alleine schaffen würde, meine Angst zu überwinden. Immer und immer wieder wurde ich der Spielball dieser Angst, wenn ich von ihr in die grausige Tiefe gerissen wurde. Früher war ich doch ein lebensbejahender Mensch, dass es mir fast unwirklich und rätselhaft erscheint, dass ich so geworden bin, wie ich jetzt bin.

In meinem Elternhaus habe ich doch eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht, um die mich viele beneiden würden. Trotzdem war mir die Erinnerung an diese Zeit in den späteren kummervollen Jahren kein Trost. An diesem Tag tröstete mich nur der Gedanke, dass ich Hilfe bei einer Psychotherapeutin annehmen würde. Nach einer Angstattacke hatte ich einen Termin bei ihr vereinbart. Wenige Tage später saß ich ihr erwartungsvoll gegenüber. Ihren Vorschlag, an einer Gruppentherapie teilzunehmen, wies ich entsetzt zurück.

»Warum lehnen Sie eine Gruppentherapie ab?«

»Das ist doch gerade mein Problem, ich mag nicht sprechen, wenn mehrere Leute versammelt sind«, antwortete ich auf ihre Frage.

»Was passiert dann mit Ihnen?«

»Ich werde schrecklich unsicher.«

»Wie macht sich das bemerkbar?«, forschte sie weiter.

»Ich bekomme Angst.«

»Was macht die Angst mit Ihnen?«

Was soll ich darauf antworten, dachte ich. Meine mühsam gewahrte Ruhe war schon wieder wie weggepustet. Doch ich versuchte eine Antwort:

»Diese Angst, sie will mich erdrücken«, sagte ich total verunsichert. Mir fiel es wahnsinnig schwer weiterzusprechen, doch der ruhige Blick von Frau Dietrich gab mir Mut. »Nein, sie erdrückt mich. Sie drückt mich nieder. Ich verliere die Kontrolle über mich. Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. … Ich … ich kann einfach nicht mehr klar denken. Es ist … es ist jedes Mal furchtbar, wenn mich …« Eine Faust legte sich auf meinen Mund, meine Kehle war wie zugeschnürt, ich brachte keinen Ton mehr heraus. Ich könnte jetzt von meinen Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen reden, könnte endlich einmal alles loswerden, was mich quält, könnte sagen, wie mich die Angst schwitzen und anschließend frieren lässt, wie sie mein Blut durch den Körper peitscht, dass ich rot werde und glaube, mein Kopf zerspringt, könnte ihr anvertrauen, wie sie mich zittern lässt … am ganzen Körper vibrieren. Müsste zugeben, wie ich mich in diesen Situationen schäme. Wie sehr ich mich schäme, dass ich mich von einem einzigen Menschen so klein machen ließ. Aber nichts von diesen Gedanken kam über meine Lippen. Ich versuchte, tief einzuatmen. Es ging nicht, es verunsicherte mich noch mehr. Ich hatte das Ausatmen vergessen, glaube ich, und war gleichzeitig erleichtert, dass ich überhaupt schon etwas gesagt hatte. Frau Dietrich sah mich still an und wartete. Ich muss jetzt sagen, was ich immer empfinde, dachte ich, und die Gedanken kreisten in meinem Kopf herum. »Ich glaube, ich vergesse zu atmen. Gleichmäßig weiter zu atmen wenn mich die Angst überfällt, meine ich. … Diese Situationen, sie machen mich so hilflos. So klein«, presste ich aus mir heraus und fühlte mich, als bezichtigte man mich einer Untat. »So erbärmlich klein … Die Angst … sie lässt mich … nicht leben.«

Das war zu viel für mich. Ich spürte das Zucken meiner Mundwinkel. Frau Dietrich ließ mir Zeit, mich zu beruhigen. Dann stellte sie Fragen nach meiner Kindheit und meinem Elternhaus und ich erzählte.

»Ihre Augen leuchten, wenn Sie erzählen«, bemerkte sie.

Ich musste lächeln. Ja, meine Kindheit. Sie war wunderschön.

Nach dieser ersten Sitzung hatte ich ein verlängertes Wochenende vor mir. An diesen Tagen schweiften meine Gedanken, angereizt durch das Gespräch mit Frau Dietrich, zurück in die Vergangenheit.

Glückliche Kindheit und unbeschwerte Jugend1937 - 1960

Als Jüngste von sieben Kindern wuchs ich, von allen geliebt, umhegt und beschützt, heran. Ich sehe mich noch neben meinem Papa stehen, wenn er sich die Gemüsebeete im Garten ansah. Ich sehe meine Mama, die immer für mich da war, sehe mich an der Hand meiner Brüder durch die Gegend streifen, in der schattigen Laube mit einer Puppe spielen oder mit den Nachbarsjungen streiten. Heinz und Franz, die beiden ältesten Brüder, waren damals schon bei der Wehrmacht. Auch Eva, achtzehn Jahre älter als ich, war schon außer Haus. Sie nutzte aber jede Gelegenheit, um Mama und Papa zu besuchen und mich mit einem neuen Kleidungsstück zu überraschen, das sie mit viel Geschick und Liebe selbst angefertigt hatte. Von Kurt, der dreizehn Jahre älter als ich war, weiß ich nur, dass er uns ab und zu besuchte. Er wurde schon in sehr jungen Jahren an die Front geholt.

Mit Günther und Jens, sieben und fünf Jahre älter als ich, verlebte ich einige Jahre meiner Kindheit, aber sie waren mir mehr Beschützer als Spielkameraden, denn unsere Interessen gingen verständlicherweise weit auseinander.

Als meine Eltern im Jahre 1941 in ein kleines Dorf in der Altmark zogen, war ich gerade vier Jahre alt.

Dieses Dorf lag etwas tiefer als die umliegenden Ortschaften und war umgeben von Wiesen und Feldern. In der Ferne sah man die Kiefern- und Mischwälder, die sich kilometerweit in die Landschaft erstreckten. Nur sechsundzwanzig große und kleinere Bauerngehöfte und zwei Einfamilienhäuser standen links und rechts längs der leicht gekrümmten Dorfstraße. In dem Einfamilienhaus an dem einen Ende des Dorfes wohnte der Lehrer, in dem anderen, am anderen Ende, etwas abgelegen, wohnten wir.

Und in diesem winzigen, anschaulichen Dorf verlebte ich meine Kinderzeit mit unendlich vielen schönen Erinnerungen. Was mir als kleines Mädchen nicht gefiel, war, dass ich, wenn ich mal eben in den Garten huschen wollte, durch den Hühnerauslauf gehen musste. Ich hatte aber Angst vor diesem Federvieh. Doch wann immer es möglich war, meine Brüder begleiteten mich verständnisvoll durch die Gefahrenzone. Einmal hob mich Günther mit so einem Schwung auf seine Schultern, dass ein Huhn dermaßen erschrak und in Panik wild flatternd zum Flug ansetzte, dabei aufgeregt gackernd an meinem Kopf vorbeiflog, um auf dem Fenstersims des Hühnerstalls zu landen. Ich muss schreckenserfüllt aufgeschrien haben, weil ich glaubte, das Huhn wollte mich angreifen. Aber Günther sorgte für Abhilfe. Er nahm mich gleich darauf an die Hand und führte mich zu den Hühnern, drückte mir eine Schüssel mit Körner in die Hand, die ich dann verstreute. Ich sah nur noch friedlich tuckernde Hühner um mich herum, die nach den Körnern pickten. Meine Angst war vergessen. Unsere Pute wird nie Angst gehabt haben. Sie war anhänglich wie ein treuer Hund. Selbst wenn mein Vater Holz hackte, stand sie neben ihm.

»Komm, Amanda, leg deinen Kopf auf den Hackklotz, du wirst jetzt geschlachtet«, forderte er die Pute auf. Und Amanda gehorchte. Mit lang ausgestrecktem Hals wartete sie. Er hob das Beil, schwang es hoch, damit das Schauspiel besonders gut wirkte, und ließ es dann sachte bis zum Putenhals nieder. Er berührte dabei aber gerade mal vorsichtig die Federn, aber Amanda hielt still, bis die Vorführung beendet war. Danach schüttelte sie so kräftig ihr Gefieder, dass man hätte meinen können, sie freute sich ihres Lebens. Irgendwann wurde es ernst. Amanda sollte in den Kochtopf. An dem Tag, als meine Mutter das Tier schlachtete, reiste Papa in die Kreisstadt und war den ganzen Tag verschwunden. Bei den Mahlzeiten verzog er an den nächsten Tagen das Gesicht. Vom Fleisch rührte er nichts an. Er trauerte um seine Amanda.

 

Etwa hundert Meter von unserem Haus entfernt, Richtung Dorf, lag ein braches Stück Land. Auf einer kleinen Erhöhung lagen Findlinge in verschiedenen Größen. Im Laufe der Jahre wurden von den Dorfbewohnern viele Steine dazu geworfen. Für uns Kinder war es ein herrlicher Spielplatz. Ich mochte ihn besonders gerne, weil dort zwischen den Steinen Wildblumen und Gräser dekorativ ihren Platz gefunden hatten. Mein Lieblingsplatz war es, wenn dort der Fingerhut oder die Weidenröschen blühten.

Ich war sieben Jahre alt, als ich dort von Stein zu Stein hüpfte und auf meine Mama wartete. Sie war ins Dorf gegangen. Als sie zurückkam, hatte sie ihre Schürze vor das Gesicht gezogen. Meine Mama. Ich lief ihr entgegen und sah, dass sie weinte. Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen. »Heinz ist tot«, schluchzte sie in ihre Schürze.

Sie hatte ein Telegramm erhalten.

Gefallen für das Deutsche Reich. Mein ältester Bruder Heinz.

Das war im April 1945, wenige Tage vor Kriegsende.

Die traurige Stimmung spürte ich auch noch am darauffolgenden Weihnachtsfest. Die Eltern saßen auf dem Sofa, während ich mit den Brüdern auf dem Teppich spielte. Ein Blick zu ihnen ließ mich im Spiel innehalten und nachdenklich werden, denn Mutters feuchte Augen verrieten ihren Schmerz. Sie stand gleich danach auf und verließ das Zimmer. Vater folgte ihr, aber er kam bald zurück und setzte sich wieder still in die Sofaecke.

Mutter kam an diesem Heiligen Abend nicht mehr zurück ins Weihnachtszimmer. Ich wusste, dass sie um ihren toten Sohn weinte und daran dachte, wie er das vorige Weihnachtsfest bei uns verlebt hatte. Er und seine blutjunge, hochschwangere Frau. Auf seinen Schoß hat er mich gehoben und hin- und hergeschaukelt.

Meinem Bruder Franz schrieb ich Briefe an die Front und malte viele kleine, runde Kreise auf die Ränder. Jeder Kreis war ein Küsschen von mir, ich war doch sein kleiner Liebling. Franz war bereits zwanzig Jahre alt, als ich geboren wurde, und während der Kriegsjahre hatte ich ihn nur zweimal gesehen. Nach dem Krieg hörten wir lange Jahre nichts mehr von ihm und wir wussten nicht, ob er den Krieg überlebt hatte.

 

An warmen Sommerabenden saßen die Bäuerinnen und Bauern mit den Mägden und Knechten zusammen auf den Bänken vor ihren Höfen oder Häusern an der Dorfstraße. Einfach so. Um den Feierabend zu genießen, um ein bisschen zu plaudern oder den Kindern beim Spiel zuzusehen. Mitten im Dorf, auf einem großen freien Platz neben der Kirche, trafen sich die Kinder und vergnügten sich beim »Der Plumpsack geht um« oder »Ringlein, Ringlein, du musst wandern«. Wir kannten viele Kreisspiele, die alle Spaß machten. Ein anderes Mal sprangen wir mit dem Seil, spielten »Hüpfekästchen« »Bäumchen wechsel dich« oder mit dem Ball. Ich spielte am liebsten Treibball und Völkerball. Spaß brachte es auch, wenn alle miteinander spielten. Die jüngeren mit den älteren, die schon aus der Schule waren und im Berufsleben standen, sowie die Mädchen mit den Jungen. »Räuber und Gendarm« gehören in meiner Erinnerung mit zu den Sternstunden meiner unbeschwerten Kindheit. Wir spielten es am liebsten in den Sommerferien, wenn wir lange aufbleiben durften. Die Räuber versteckten sich im ganzen Dorf, in jedem Winkel, auf jedem Bauernhof und in den Scheunen. Sie liefen über die Hinterhöfe, durch die Gärten bis zu den Wiesen, um am anderen Ende des Dorfes aufzutauchen, um den Gendarmen zu entkommen. Nach geheimnisvoller Stille schallte übermütiges Geschrei und fröhliches Lachen durch das ganze Dorf. Dieses Entkommen und die Verfolgungsjagd war ein Spiel über Stunden, bis die Räuber von den Gendarmen festgenommen und gefangen wurden.

Danach lief ich verschwitzt zu meinen Eltern, die auf der Bank vor unserem Haus saßen. Mama zog mich zu sich auf die Bank und strich mir liebevoll die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als die Dunkelheit einsetzte, steckten wir zu später Stunde die Kerzen in den Lampions an und die Nachbarn gesellten sich dazu.

»Kein schöner Land«, sang meine Mutter und alle stimmten mit ein. Es klangen noch viele Abendlieder durch die Dunkelheit. Sogar Papa brummelte ein wenig mit an diesem wunderschönen Sommerabend.

Wir sangen überhaupt viel. Mama hatte ständig ein Lied auf ihren Lippen. Beim Putzen und beim Kochen. Unvergessen sind auch die vielen Spaziergänge durch die Natur. Wenn das Getreide hoch stand und im Wind auf und nieder wogte wie die Wellen auf dem Wasser.

»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre« sangen wir einmal, denn ich hatte es gerade in der Schule gelernt.

Die Sorgen und Nöte in den schweren Jahren der Nachkriegszeit, die ganze belastende Realität um uns herum haben die Eltern immer von mir ferngehalten. Geschehnisse, die in mir haften geblieben sind und die ich heute als dramatisch beurteile, haben meine Kinderaugen gesehen, aber meine Geistesgaben nicht umsetzen können.

In die Schule ging ich nicht besonders gern. Um eine Durchschnittsschülerin zu sein, musste ich mich immer anstrengen. Chemie und Mathematik waren für mich mehr Qual als Vergnügen. Aber in Sport, Musik, Zeichnen und Handarbeit lagen meine Stärken. In Sport konnte ich meine gute Note trotzdem nicht halten, weil ich vor den Abschlussprüfungen schwer an Masern erkrankt war und mich lange Zeit nicht davon erholen konnte.

 

Querfeldein gingen wir über Wiesen und Felder. Martin, mein Cousin, ging mal vor mir und mal neben mir. Wir kletterten durch Stacheldrahtzäune und sprangen über die vielen Gräben, die überall gezogen waren, um Überschwemmungen zu vermeiden. Dieses Land war in den Regenperioden sehr feucht, aber fruchtbar.

Die Sonne stand an diesen wundervollen Tag am wolkenlosen Himmel. Die Getreidefelder, durchsetzt von Kornblumen, Klatschmohn und Margeriten leuchteten uns im Sonnenlicht entgegen. Das Getreide stand schon hoch.

Ich streckte meine Arme aus und ließ meine Hände über die Halme gleiten, so als wollte ich sie streicheln.

Wir sprachen kaum ein Wort. Es war unser letzter Schultag.

Unsere Zeugnisse hatten wir noch in Empfang genommen, aber an der Abschlussfeier hatten Martin und ich kein Interesse mehr gehabt.

Eigentlich fuhren wir jeden Tag mit dem Zug nach Hause. Aber heute? Und bei diesem Wetter? Wir wollten frei sein.

Ich fühlte mich leicht und unbeschwert und war felsenfest davon überzeugt, dass das Leben von nun an besonders schön sein musste.

Mit meinen vierzehn Jahren fühlte ich mich erwachsen.

Martin war vor einem Jahr aus Hamburg zu uns gekommen. Seine Mutter führte ein Geschäft und konnte sich wenig um ihn kümmern. Im Internat hatte er sich nicht wohl gefühlt, so hatten meine Eltern ihn bei sich aufgenommen. Da meine Brüder älter waren und inzwischen längst das Elternhaus verlassen hatten, war es mir mehr als recht, greifbar nahe einen Spielkameraden zu haben.

Als ich längst erwachsen war, erkannte ich, wie herrlich unbeschwert diese Zeit für mich war. An Martin denke ich heute noch gerne, als wäre er mein gleichaltriger Bruder. Aber wir haben uns nie wiedergesehen. In mein Poesie-Album schrieb er: »Zur ewigen Erinnerung an deinen Bruder«.

Meine gewonnene Freiheit fing wunderbar an, denn als ein Bauer fragte, ob ich bei ihm arbeiten wollte, war ich hellauf begeistert. Natürlich wollte ich. Aufgeregt lief ich zu meiner Mutter.

»Ach, Lilofee, mein Kind«, meinte sie, »jetzt sind doch noch Sommerferien und du bist so zerbrechlich.«

Ihr gegenüber blieb ich hartnäckig. Ich war Feuer und Flamme und ich fühlte mich stark und ich wollte arbeiten. Sofort.

Von montags bis freitags ließ sie mich ziehen. Samstags sollte ich zu Hause helfen.

Ich war selig.

Auf dem Hof war ich der Wirbelwind, der Sonnenschein. Sogar die Oma mochte mich und das sollte bei dieser angeblich hartherzigen Frau etwas heißen. Ich durfte sogar ihre Räume betreten. Sie holte mich manchmal zu sich und lachte über meinen Übermut, schenkte mir einen Apfel und entließ mich mit der Bitte, bald wieder reinzuschauen.

Bald darauf zog eine Familie in das Haus des Bauern. Brigitte, die Tochter dieser Familie, war ein Jahr älter als ich und arbeitete nun auch mit ihrem Vater auf dem Hof.

Jetzt konnte ich Brigitte schon den Ablauf des Tages zeigen.

Abends kochten wir in einem großen Kessel die Kartoffeln für den nächsten Tag vor und morgens in aller Frühe, bevor die Feldarbeit begann, versorgten wir von nun an zusammen die vielen quietschenden und grunzenden Schweine. Die kleinen Ferkel bekamen ein besonderes Futter und die tragenden Säue eine größere Menge und etwas Nahrhaftes dazu.

Einmal in der Woche misteten wir beide die Ställe aus und verteilten großzügig neues Stroh.

Brigitte trällerte dabei die neuesten Schlager und Liebeslieder. Wir flüsterten und kicherten miteinander und fingen an, uns für die Jungs zu interessieren. Und was die eine nur ahnte, davon hatte die andere schon mehr gehört. Und das Interesse stieg, denn da gab es viel Geheimnisvolles. Brigitte war mit ihren langen schwarzen Locken und ihren fraulichen Formen ein hübsches Mädchen. Ein einschneidendes Erlebnis blieb mir aus dieser Zeit im Gedächtnis haften.

Wir arbeiteten in der Futterküche und wollten Feierabend machen. Brigitte kletterte auf eine Kiste und öffnete ein schmales Fenster. Sie sah auf einen Platz, wo sich Jugendliche trafen und sich auch schon einige aufhielten. Brigitte lachte übermütig und redete mit ihnen. Ich hörte auch die Frage eines Jungen:

»Worauf stehst du?«

»Auf einer Häckselkiste«, lachte Brigitte.

Die Jungen johlten. Sie nannten Brigitte von nun an nur noch Häckselkiste. Häcksel nannten wir die Abfälle vom Getreide, das wir mit dem Schweinefutter vermischten.

Weil Brigitte so genannt wurde, vermuteten andere, dass sich in der Häckselkiste ganz bestimmt etwas abgespielt haben musste. Sie habe es in der Häckselkiste getrieben, behauptete dann jemand. Nun war sie die Dirne des Dorfes. Die Jungen versuchten sie bei jeder Gelegenheit anzugrabschen oder in die Büsche zu ziehen.

Sie hatte nichts Böses getan, ich wusste es und ich wusste auch, dass sie ernstlich in einen jungen Mann verliebt war und er auch in sie.

Seine Eltern waren über die Wahl ihres Sohnes entsetzt. Er zog in ein anderes Dorf und nahm seine Brigitte mit.

Zum ersten Mal erlebte ich, was böser Tratsch anrichten konnte.

 

Die Arbeit in der Landwirtschaft machte mir weiterhin Spaß. Selbstbewusst glaubte ich sogar, meine Eltern belehren zu dürfen. Sie saßen sonntagnachmittags allzu gerne vor dem Radio und hörten das Wunschkonzert. Einmal kam ich dazu und machte eine dumme, herablassende Bemerkung über den »Soldaten am Wolgastrand«.

»Meine Güte, wie kann man sich nur so etwas Scheußliches anhören?«

In seiner ruhigen Art erklärte mir Papa:

»Dieses Stück wurde zum Gedenken an alle Gefallenen gewünscht und für die, die noch in Gefangenschaft leben, oder für die Männer und Söhne und Brüder, die noch vermisst werden.«

Ich hatte einen Kloß im Hals und sah meinen Vater aus großen Augen an. Erwidern konnte ich nichts, ich schämte mich. Papa legte liebevoll den Arm um mich und ich horchte auf die Stimme im Radio. Auf einmal kam mir der Gesang vor wie ein Gebet für meinen toten Bruder Heinz und für Franz, von dem wir so viele Jahre nach Kriegsende noch immer nichts gehört hatten.

Seit diesem Tag hatte ich ein Ohr für die ernstere und die klassische Musik.

 

Eines Tages war mein Bauer verschwunden. Bei Nacht und Nebel hatte er alles, was ihm lieb und teuer war, heimlich weggeschafft. Wochen vorher war eine Großbäuerin enteignet worden und er wollte nicht darauf warten, dass ihm dasselbe geschah. Er hatte den Zeitpunkt selbst bestimmt.

Die anderen Großbauern folgten seinem Beispiel, sie gingen alle in den Westen. Ich sah, wie sich unser kleines Dorf veränderte. Aus den Bauernhöfen wurde die LPG und in den Wohnhäusern machten sich Familien breit, die Jahre davor als Flüchtlinge aufgenommen worden waren. Einer von ihnen konnte gut von Politik und Kommunismus reden, von der Landwirtschaft musste er nicht viel verstehen. Er wurde LPG-Vorsitzender.

Jeder beobachtete nun jeden und die Arbeit, die der eine nicht erledigte, machte der andere auch nicht. Gleichgültigkeit machte sich breit und die Spuren dieser Nachlässigkeit sah selbst ich mit meinen fünfzehn Jahren.

 

Vorsichtig versuchten mich meine Eltern zu beeinflussen, in den Westen zu gehen. An Mut und Selbstvertrauen mangelte es nicht, aber wahrscheinlich schreckte mich in dieser Zeit doch noch unbewusst dieser endgültige, scharfe Schnitt. Schließlich trennte uns dann eine Grenze, und ein kurzer Besuch am Wochenende wäre damals nicht möglich gewesen. Am Ende waren meine Eltern doch froh, dass ich dageblieben war, denn als im zeitigen Frühjahr die Brutsaison in unserer Brüterei begann, gab es bis weit in den Sommer hinein viel zu tun. Und ich erlebte in dieser Zeit die erste süße Liebe, heimliche Verabredungen und die ersten zarten Küsse mit Arnold.

In einer so kleinen Gemeinde mussten wir höllisch aufpassen, dass niemand etwas merkte. Wenn wir uns am Tage zufällig trafen, würdigten wir uns keines Blickes, am Abend aber ließ ich mich von ihm umarmen.

Mit siebzehn war Tanzen und Flirten zum Mittelpunkt meines Lebens geworden.

Die erste Liebe hielt nur kurz. Arnold war sehr enttäuscht, als er merkte, dass ich einem anderen schöne Augen machte. Ich verliebte mich immer aufs Neue. Tanzte ich mit dem einen, flirtete ich dabei schon wieder mit einem anderen, und wenn mich dieser nette junge Mann anschließend zum Tanz aufforderte, war ich zufrieden. Verliebt himmelte ich ihn an, und wenn er mich begehrte, war er mir schon wieder gleichgültig. Schon wieder lachte ich einem anderen zu und das Spiel begann von vorne. Ich spürte, wie ich auf das andere Geschlecht wirkte, und dieses Spiel fing an, mir Spaß zu machen.

Am Wochenende schwang ich mich aufs Fahrrad und fuhr mit meinen Freundinnen über die Dörfer zum Tanz. Irgendwo war immer etwas los, in der nahegelegenen Stadt auf jeden Fall. Mama freute sich mit mir und erzählte:

»Mädchen, ich habe auch so gerne getanzt, aber nie die Gelegenheit dazu gehabt. Ach, Lilofee, ich freue mich so für dich. Zieh doch heute dein weißes Bordürenkleid an, das steht dir so gut«, lachte sie mir zu. Mama nähte mir mit Begeisterung die schönsten Kleider, strahlte mich stolz an, wenn ich mich schönmachte und zum Tanz ging.

Wenn ich den Tanzsaal betrat, mein neugieriger Blick in die Runde ging und dabei ein fremdes Gesicht entdeckte, genügte ein kurzer Blick zu dem Fremden. Ich wusste, er würde mich zum Tanz auffordern. Und wirklich, die Musik setzte ein, aber er war nicht schnell genug. Ich tanzte und lachte mit einem anderen und fühlte mich beobachtet.

Beim nächsten Tanz war er schneller.

Am Sonntagmorgen brachte mir Mutter oft das Frühstück ans Bett und setzte sich zu mir. Begeistert erzählte ich vom Tanzabend, wer mich zuerst aufgefordert hatte, wer am häufigsten mit mir getanzt hatte und wer mich nach Hause gebracht hatte oder es wollte. Sie hörte geduldig zu.

Wie raffiniert, habe ich später oft gedacht, so war sie immer auf dem Laufenden.

»Steh man auf und übersieh Vaters vorwurfsvolle Blicke«, meinte sie dann. Nein, Vater hatte kein Verständnis für seine lebenslustige Tochter, die sich jetzt die Nächte um die Ohren schlug. Misstrauisch sah er mich an. Ich merkte ihm an, dass er gerne etwas gesagt hätte.

»Vielleicht hat er früher so viele Mädchen verführt und hat jetzt Angst, dass du auch so einem Casanova in die Hände fällst«, meinte sie und zwinkerte mir zu. Vater zog ein schiefes Gesicht, sagte aber nichts.

Ich wurde nie aufgeklärt, aber ich wusste trotzdem, worauf es ankam. Zum Glück lernte ich in dieser Zeit nur junge Männer kennen, die genauso gerne tanzten, lachten, Händchen hielten und sich mit einem Küsschen auf dem Heimweg zufriedengaben.

Irgendwann organisierte ich mit meiner Freundin eine Tanzveranstaltung, weil in unserem Dorf zu wenig los war. Bärbel und ich freuten uns, als die ersten Gäste eintrafen. Wir liefen aufgeregt nach draußen und hüpften und sprangen wie zwei aufgescheuchte Hühner auf der Dorfstraße herum, weil wir uns vorher ausgerechnet hatten, wie viele Gäste kommen müssten, damit sich die Veranstaltung bezahlt machte. Wir sahen immer neue Gäste ankommen. Jung und Alt aus den umliegenden Dörfern hatten sich aufgerafft, unser Fest zu besuchen. Später begann ich Wein auszuschenken. Ehrlich erstaunt war ich darüber, dass so viele Dorfbewohner Wein tranken. Ich glaubte, sie würden sich mehr für Bier oder Klaren entscheiden. Es kamen immer mehr Bauern, die an meinem Stand ein Glas Wein begehrten. Wir unterhielten uns über das Fest, über die Hühner und unsere Küken. Sie fragten nach meinem Vater und über die Gartenpflege wollten sie auch einiges wissen.

»Du hast doch bei Familie Ahrens die Gräber angelegt«, sagte Frau Schulz. »Würdest du unsere Gräber auch neu anlegen? Ich komme nicht so gut damit zurecht.«

»Ja, gerne, das mache ich«, freute ich mich über den Auftrag. Gräber pflegte ich gerne. So nebenbei kümmerte ich mich dann um ein paar verwahrloste, alte Gräber. Manchmal besorgte ich sogar ein paar Blumen dafür.

»Von mir bekommst du auch einen Auftrag«, rief mir Frau Junge zu.

»Und meins kannste ooch pflejen, wenn ick mal dod bin«, prostete mir Bauer Lüdecke lachend zu.

Vom Lachen bekam er einen Hustenanfall.

»Das scheint nicht mehr lange zu dauern, bis du unter die Erde kommst«, kicherte Frau Schulz und klopfte ihm kräftig auf den Rücken.

»Ach, Kleene, wenn ick noch ma zwanzich wär, denn wüsst ick, was ick täte. Du bist so eene schmucke Deern geworden«, meinte Herr Steube. Frau Gehrke meinte:

»Du wärst wirklich die richtige Schwiegertochter für mich, dich mag ich wohl leiden. Ja, das wärst du wirklich.«

Ich lachte. Gerade vorige Woche hatte mich ihr Sohn nach Hause gebracht, er konnte toll tanzen und gut küssen konnte er auch.

Ich lachte viel an diesem Abend, und als sich Mama zu später Stunde dazugesellte, bekam sie so manches Kompliment über ihre hübsche Tochter, die auch noch so tüchtig war und nun auch bald heiraten könnte.

Sogar Papa schien am nächsten Tag ganz zufrieden zu sein, sein schiefer, misstrauischer Blick von der Seite fiel diesmal aus. Dass ich mit Mama zusammen nach Hause gekommen war, fand er besonders in Ordnung. Er selbst ging nie zu diesen Dorffesten. Papa blieb lieber zu Hause und las ein Buch. Manchmal besorgte er Karten für die Oper und erklärte mir vorher die Handlung. Ich liebte es, gemeinsame Unternehmungen mit Papa zu machen. Einmal fuhren wir beide mit einer Reisegruppe in den Harz, ein anderes Mal mit einer Reisegesellschaft nach Potsdam, besichtigten Schloss Sanssouci und fuhren anschließend mit dem Dampfer auf der Havel.

Sichtlich genoss Papa diese Tage mit seiner großen Tochter.

Irgendwann wurde mir die Welt in diesem Dorf zu klein. Ich verglich mich mit meinen Freundinnen, die diesen Ort nie verlassen wollten. Manche von ihnen hatten schon einen festen Freund. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft war sogar schon verheiratet und bekam das erste Kind, obwohl sie erst siebzehn Jahre alt war. Manchmal beneidete ich die Mädchen in meinem Alter ein wenig. Sie alle hatten weibliche Figuren und üppige Busen. Mama lachte, als ich es einmal erwähnte.

»Lilo, mein Kind, wenn diese Mädchen dreißig sind, werden sie wie Vierzigjährige aussehen, du aber wirst mit vierzig wie eine Dreißigjährige aussehen, glaube mir.«

Ich lachte und freute mich über meinen schlanken Körper.

Aus der Kreisstadt kam eines Tages ein Fotograf ins Dorf.

Er ging von Haus zu Haus und fragte, ob er von jemandem in der Familie Aufnahmen machen könnte.

»Oh, ja, natürlich.« Ich flog die Treppe zur oberen Etage hoch und zog mir meine neue silbergraue Bluse aus Ripsseide zu meinem schwarzen Rock an, kämmte meine goldblonden Locken und strahlte kurz darauf den jungen Fotografen an. Er schob im Wohnzimmer einen Sessel so hin, dass Licht und Hintergrund günstig für eine Aufnahme waren. Er stolperte über einen Gegenstand, als er einen halben Schritt zurückging. Es war ihm peinlich und er bückte sich und legte diesen Gegenstand neben seine Tasche. Unser Hund kam und schnupperte an seiner Hand. Wir lachten und er streichelte meinen schwarzen Purzel. Er wollte gerade die erste Aufnahme machen, als meine Katze auf meinen Schoß sprang, sich schnurrend im Kreise drehte, um die richtige Schlafstellung zu finden. Wir lachten schon wieder und unser Hund fing an zu bellen und sprang die Katze übermütig an, die ich gerade nach unten setzen wollte. Sie fauchte den Purzel an und nun rannten die beiden wie wild um meinen Sessel herum. Wir hörten gar nicht mehr auf zu lachen. Mutter kam mit dem Kaffeegeschirr und wollte den Tisch decken. Jetzt musste auch sie lachen, weil ich bei der Aufnahme nicht ernst sein konnte. Ich setzte erst einmal die Tiere vor die Tür, und wenn der junge Mann nun noch gesagt hätte, bitte recht freundlich oder bitte lächeln, ich wäre wieder losgeplatzt vor Lachen. Er sagte aber nichts und war bemüht, ein geschäftiges Gesicht zu machen. Sie lud ihn zum Kaffee ein und er mich anschließend zu einer Fahrt mit seinem Motorroller.

Ganz klar, dass er weit ab vom Dorf anhielt und noch eine Aufnahme machte. Wir unterhielten uns gut und verabredeten ein Treffen. Ich war mal wieder bis über beide Ohren verknallt.

Hartmut wohnte weit weg und konnte nur an den Sonntagen kommen. Meine Eltern schlossen ihn ins Herz, so durfte er uns schon bald darauf am Samstagnachmittag besuchen und bei einer Nachbarin übernachten. Hartmut fühlte sich wohl bei uns, denn seine Eltern hatte er schon als kleines Kind verloren. So wuchs er bei der Großmutter auf.

Hartmut und ich verstanden uns gut, so sah ich es gern, wenn er mit Mutter das Gemüse putzte und Vater in den Garten begleitete. Seine Augen aber suchten nur mich bei jeder Gelegenheit. Er half mir im Blumengarten und in der freien Zeit wanderten wir Hand in Hand durch Wiesen und Wälder.

»Was du für hübsche Beine hast«, sagte er bewundernd, als ich auf einem schmalen Pfad vor ihm herging.

»Und was für eine schmale Taille.«

Ich drehte mich um und lachte ihm zu.

»Und was noch?«, fragte ich kess.

»Deine Augen, du hast ein Paar Augen, sie haben mich verzaubert.«

Aber seine Augen, wie sie mich ansahen. Große braune Augen. Und wie treu er mich ansieht, dachte ich. Hoffentlich kann ich ihm treu sein. Noch immer hatte ich ihn gern, das war neu an mir. Ich wünschte mir, dass sich meine Gefühle zu diesem Mann nie ändern würden.

Mit ihm darf ich nicht spielen wie bisher mit allen anderen.

»Du bist eine Hexe. Du hast mich sofort verhext, als ich dich sah.«

Ich lächelte ihn an, gab ihm einen Kuss und rannte davon.

Er holte mich ein, umarmte mich und wir ließen uns ins hohe Gras fallen.

»Aua, nicht so stürmisch, junger Mann«, flirtete ich.

Es gefiel mir, wie er halb über mir lag, es gefiel mir, wie er mich umarmte, es gefiel mir, wie er mich küsste. Als wir wieder aufstanden, zupfte er mir das Gras aus dem Haar und ordnete meine Bluse.

Manchmal fotografierte Hartmut mich, wo ich saß und wo ich stand.

»So schön bin ich nun auch wieder nicht«, sagte ich, als es mir fast lästig wurde.

»Du kleine Hexe, du bist für mich die Allerschönste.« Munter knipste er weiter.

»Hör auf«, fauchte ich ihn an, drehte mich um und versteckte mein Gesicht. Hartmut kam und kitzelte mich. Wir alberten rum wie die Kinder.

An einem Sonntag waren wir weit hinausgegangen und setzten uns ins Gras. Hartmut pflückte eine Blüte und steckte sie mir ins Haar.

»Ach, meine Lilo, so möchte ich dich immer neben mir haben«, sagte er so zärtlich, dass ich eine Gänsehaut bekam. Er zog mich an sich und wir waren verliebt wie nie zuvor.

»Ich möchte immer mit dir zusammenbleiben.«

Ich lächelte ihn an. Hartmut beugte sich über mich und küsste mich zärtlich. Seine Hände streichelten mich, sehr sanft, dann leidenschaftlicher und fordernder.

»Willst du mich auch?«, fragte er leise.

Ich nahm seine Hand, die meinen Rock hochgeschoben hatte und legte sie um meine Taille. Dort hielt ich sie fest.

»Du wärst der Erste, ich möchte noch ein wenig warten.«

Hartmut drehte sich auf den Rücken und blickte in den Himmel. Dann stand er auf, zog mich hoch, umarmte und küsste mich.

»Du bist mein Mädchen, meine kleine Hexe. – Ich lasse dich nie wieder los. Hörst du? Nie wieder.«

Mir war ganz warm. Wäre er fordernder gewesen, ich glaube, ich hätte nachgegeben. Er wird der Mann sein, dem ich mich hingebe, dachte ich, als wir verliebt nach Hause gingen.

 

Ich war wirklich eine Hexe. Hals über Kopf verknallte ich mich mal wieder in einen Mann, der zufällig im Dorf war. Ein Blick genügte und wir standen abends verliebt in einer Toreinfahrt. Am nächsten Abend trafen wir uns schon wieder. Am dritten Abend habe ich mich verführen lassen.

Meine Eltern fielen aus allen Wolken, als ich ihnen sagte, dass ich mich nun richtig verliebt hatte.

»Und Hartmut? Was sagst du Hartmut?«, fragte Mama außer sich.

»Die Wahrheit natürlich, etwas anderes kann ich doch nicht sagen, Mama.«

»Überleg es dir gut, Lilo. Der Hartmut ist so ein lieber Kerl.«

»Ich mag ihn doch auch gerne, aber ich liebe ihn nicht.

Nicht so, wie ich Erhard liebe«, gab ich zur Antwort.

»Oh, oh. Wenn das nur richtig ist, was du da tust«, meinte Mama besorgt.

Hartmut kam am Sonntag und ohne zu zögern erzählte ich ihm, dass ich mich in einen anderen Mann verliebt hatte. Seine sonst so strahlenden Augen blickten mich fassungslos an. Er stotterte:

»Hast du? – Hat er? Hast – hast du dich mit ihm eingelassen?«

»Ja.«

»Ja, wenn es so ist.« Hartmut ließ seinen Kopf hängen.

»Hätte ich dich doch letzten Sonntag einfach genommen. Du wärst bei mir geblieben. Ganz bestimmt. Aber ich wollte vorsichtig sein, rücksichtsvoll. Ich wollte warten, bis du es auch wolltest.«

Hartmut wirkte danach so traurig, dass ich nicht wusste, was ich jetzt sagen sollte. Also sagte ich nichts. Jedes Wort wäre jetzt verkehrt gewesen. Er litt. - Er litt meinetwegen.

»Warum nur?«, hörte ich ihn leise fragen.

Er stand auf und sah mich an.

»Ich fahre dann«, sagte er.

»Nein, bitte, bleib trotzdem, bleib noch zum Essen.«

Ich fasste ihn an den Händen und wollte ihn zu der Bank ziehen, auf der er gesessen hatte.

»Nein, ich kann nicht.«

Er ging zu meinen Eltern ins Haus und verabschiedete sich. Ich brachte ihn bis zur Straße. Mich traf noch einmal sein tieftrauriger Blick, dann schwang er sich auf sein Fahrrad.

Da war der Ärmste sechzig Kilometer mit dem Fahrrad zu seiner Liebsten gekommen, um sich eine Abfuhr zu holen. Meine Eltern waren sehr still an diesem Sonntag und Papa sah mich halb besorgt, halb vorwurfsvoll an. Oft habe ich mich an diesem Tag gefragt, wie Hartmut wohl nach Hause gekommen ist. Ob er vor lauter Enttäuschung kräftig in die Pedale getreten oder ob er vor Trauer ganz langsam gefahren ist? Hat er vielleicht unterwegs angehalten und sich an den Straßenrand gesetzt und geweint? Ich war seine erste große Liebe.

Erhard traf ich am Abend und seine erste Frage lautete:

»Hast du es ihm gesagt?«

»Ja.«

»Meinst du, dass er noch einmal wiederkommt?«

»Das glaube ich nicht. Vielleicht wird er mal schreiben«, antwortete ich.

Darauf reagierte Erhard ärgerlich und machte eine abwertende Bemerkung über Hartmut und wir hatten den ersten Streit. Dass ich Hartmut verteidigte, machte ihn misstrauisch und eifersüchtig. Ich aber verstand nicht, warum Hartmut beleidigt werden sollte. Er war nicht anwesend und konnte sich nicht verteidigen, also tat ich es für ihn. Erhard lenkte ein.

»Lass es gut sein, Lilo. Ich habe nur Angst, dass du ihn noch liebst.«

Mutter gab sich Mühe, Erhard zu akzeptieren. Sie unterhielt sich viel mit ihm und setzte sich zu uns. Vater hielt sich noch nach Wochen zurück und daran merkte ich, dass er Erhard nicht mochte.

 

Es war Samstag und wir hatten an diesem Nachmittag noch viel zu tun. Erhard setzte sich auf die Bank, nachdem er uns begrüßt hatte. Mit Mama lockerte ich das Blumenbeet auf, zupfte Unkraut und anschließend harkte ich den Hof. Da haben wir alle drei viel Arbeit und Erhard rührt keinen Finger, dachte ich.

»Wo ist denn Erhard geblieben?«, fragte ich meinen Vater, der gerade aus dem Haus kam.

»Er ist im Wohnzimmer.«

Mein Vater sah mich nachdenklich an, dann ging er wieder an seine Arbeit. Ich legte meine Harke zur Seite und ging ins Haus. Da hatte sich der feine Herr aufs Sofa gelegt, als wäre er hier zu Hause.

»Komm zu mir«, freute er sich, als ich an der Tür stand. Ich sagte kein Wort, drehte mich um und ging wieder an meine Arbeit. Vater beobachtete mich, und als sich unsere Blicke trafen, fühlte ich mich von ihm durchschaut. Meine Verliebtheit verlor sich ganz schnell. Erhard kämpfte vergeblich um mich. Da hatte ich doch wahrhaftig geglaubt, dass aus Verliebtheit die große Liebe würde, wenn man sich einem Mann hingegeben hatte. Ich fragte mich, was mich an Erhard so fasziniert hatte. Reizte es mich, dass ihn alle Mädchen anhimmelten und ich die Auserwählte war? Oder weil er schon so erfahren wirkte? Oder weil er so toll aussah? Ich wusste es nicht.

Meine Eltern schienen erleichtert zu sein und überredeten mich, nun für immer in den Westen zu gehen.

»Es wird gemunkelt, dass in Berlin eine Mauer zwischen Ost und West gezogen wird«, sagte Mama besorgt zu mir .

»Wie soll denn das funktionieren? Das glaube ich nie und nimmer.«

»Lilo, man weiß es nicht, später wird keiner mehr rauskommen. – Geh nach Krefeld zu Tante Josefa und Onkel Heinrich.«

»Ja, Mama, das werde ich tun. – Ich möchte jetzt wirklich weg.«

»Geh gleich morgen in die Stadt und besorge dir eine Aufenthaltsgenehmigung. Im Moment stellen sie die sofort oder innerhalb weniger Tage aus. Vielleicht hast du Glück.«

»Ja.«

»Oh, Mädchen, um Himmels Willen, rede nur nicht darüber. Sag es auch Erhard nicht«, warnte sie mich. »Er könnte dich verraten, denke daran!«

»Ich sage ihm nichts, ganz bestimmt nicht, Mama. Ich sage niemandem etwas.«

Sie sprach weiter auf mich ein.

»Du weißt nicht, wie er reagiert, wenn er merkt, dass er dich verloren hat. Wenn er redet, könnten sie dich verhaften und wir würden auch abgeholt. Hier im Dorf weiß jeder, dass wir im Westen Verwandte haben. Würden sie erfahren, dass du dort jemanden besuchen willst, dann wüssten sie auch, dass du dort bleibst.«

»Ich glaube nicht, dass mich Erhard verraten würde, aber ich sage nichts, Mama«

Meine Aufenthaltsgenehmigung bekam ich sofort. Meistens musste man viele Wochen darauf warten, zeitweise bekam man sie gar nicht. Damit niemand Verdacht schöpfte, packte ich nur wenige Sachen ein. Keine Kleider, keine Schuhe, nichts, was mich bei einer Grenzkontrolle verdächtig gemacht hätte. Eine größere Handtasche musste reichen. Abends traf ich mich mit Erhard. Meine Versuche, so fröhlich und munter zu wirken, wie ich immer war, scheiterten, als Erhard sich die Zukunft mit mir ausmalte.

»Ich würde dich am liebsten bald heiraten, ich weiß sogar, wo eine Wohnung frei wird. Lilo, wir beide werden sehr, sehr glücklich werden.«

»Wo wird denn eine Wohnung frei?«, fragte ich scheinbar interessiert.

»Bei Friedrichs im Haus wird die Wohnung frei.«

»Meinst du nicht, dass es viel zu früh ist, darüber nachzudenken?«, versuchte ich vorsichtig das Thema zu wechseln.

Erhard nahm mich in seine Arme und ich wehrte mich nicht, obwohl ich keine Zuneigung mehr für ihn empfand. In der Ferne sah ich Mutter vorübergehen. Ich wusste doch, wie groß ihre Angst um mich war. Erhard hielt mich nicht zurück, als ich mich von ihm verabschiedete. Ein leichter Kuss, dann lief ich nach Hause.

Besonders wohl fühlte ich mich nicht bei dem Gedanken, ihn in dem Glauben zu lassen, dass alles wieder gut wird.

Als ich nach Hause kam, riss Mama die Zimmertür auf.

»Du hast es ihm gesagt«, sagte sie außer sich.

»Nichts habe ich gesagt, er ist vollkommen ahnungslos, Mama«, beruhigte ich sie.

»Ihr habt euch doch umarmt, ich habe es gesehen.«

»Das hat nichts zu sagen, gar nichts. Mama, glaube mir.«

Am nächsten Morgen fuhr ich mit ihr in die Stadt. Keiner, der uns sah, schöpfte irgendeinen Verdacht, dass ich für immer diesen Ort verließ, da wir kein Gepäck bei uns hatten. Als ich in Klötze umstieg und der Zug sich in Richtung Oebisfelde und Richtung Westen in Bewegung setzte, war die Sorge in Mutters Gesicht verschwunden. Sie lächelte mir zu, obwohl ihr mit Sicherheit weh ums Herz war.

Im Zug dachte ich über die letzten Wochen und Monate nach. Über meine starken Gefühle und wie sie wie Seifenblasen zerplatzt waren. War das noch normal? War es unnormal? Na und wenn schon. So wie ich bin, so bin ich. Und ich habe keinem Mann die Treue geschworen.

Ich freute mich auf ein neues Leben in einer fremden Stadt. Neugierig war ich auf dieses neue Leben.

Der Zug ratterte und schnaufte und ich blickte einer neuen Zukunft entgegen.

 

Tante Josefa und Onkel Heinrich nahmen mich in Krefeld mit offenen Armen auf, obwohl wir uns noch nie gesehen hatten. Ihr Sohn Josef lebte mit seiner Frau Helga ein paar Straßen weiter und sie besaßen dort ein Kolonialwarengeschäft. Tante Josefa war eine herzensgute Frau, kochte leidenschaftlich gern und ging jeden Sonntag in die Kirche. Immer wieder versuchte sie, mich zu überreden mitzukommen, aber sie ließ es dann, als ich energisch ablehnte. Fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt fand ich Arbeit in einer Seidenweberei.

Ich wurde in der Endkontrolle eingearbeitet. In dieser Abteilung hatte ich fünfundzwanzig Kolleginnen und Kollegen. Die Stoffe aus Baumwolle, Seide, Taft und Acetat liefen von einer Rolle, die hinten eingespannt wurde, über eine Sichttafel. Vorne wurde der Stoff wieder aufgerollt. Sah ich nun einen Druck- oder Webfehler, ein Loch oder eine Farbabweichung, hielt ich die Maschine an und kennzeichnete die Stelle, indem ich an den Rand des Stoffes einen roten Faden einzog und verknüpfte. Die Arbeit machte mir Spaß, und als ich eingearbeitet war, kontrollierte ich auch Dekorationsstoffe, Tischdecken, Brokat und Spitze.

Und sonst? Sonst ging es mir ausgesprochen gut. Wohin ich auch ging, wo immer ich mich aufhielt, man mochte mich. Junge Ehepaare freundeten sich ohne jeden Argwohn mit mir an und luden mich vertrauensvoll zu sich nach Hause ein, ältere Kolleginnen schlossen mich in ihr Herz, ältere Kollegen spielten den Beschützer, gleichaltrige Mädchen wurden mir Freundinnen und die Vorgesetzten übernahmen ein wenig die Vaterrolle, denn für sie war ich zweifellos die Unschuld vom Lande. Ein gleichaltriger Kollege brachte mich nach der Spätschicht öfter nach Hause und nahm mich mit zu seinem Tanzlokal. Aus einer Not heraus hatte er mich einmal um Hilfe gebeten und dabei durchblicken lassen, dass er sich für Gleichgeschlechtliche interessiert. Dass es so etwas gab, hatte ich nicht gewusst. Woher auch? Irritiert hat es mich trotzdem nicht. Im Gegenteil. Ich fühlte mich an der Seite des netten Kollegen wohl, weil er nur einen echten Kumpel in mir sah.

Obwohl meine Mutter mir meine Garderobe so nach und nach per Post nachgeschickt hatte, brauchte ich doch Geld für einen schicken Mantel oder ein Paar neue Schuhe, deshalb nahm ich in einem Konfektionsgeschäft eine Nebenbeschäftigung an. Außerdem wollte ich mir mein Zimmer wohnlicher und nach meinem Geschmack einrichten. Aber als erstes kaufte ich mir eine neue Nähmaschine, da ich spottbillig an die schönsten Stoffe kam. So saß ich oft mit Eifer an der Maschine und nähte mir meine Kleider und Röcke selbst.

Stolz erfüllte mich bei allem, was ich tat. Mit meinen neunzehn Jahren war ich allein für mich verantwortlich, verdiente meinen Lebensunterhalt und lernte, gut mit meinem Geld umzugehen. Auf den Pfennig genau teilte ich es mir ein. Tante Josefa bewunderte mich und schrieb es meinen Eltern. Von meinem ersparten Zusatzverdienst erfüllte ich mir meinen Traum: eine Musikvitrine mit Plattenspieler und Radio. Als das gute Stück in meinem Zimmer stand, jubelte ich und Tante Josefa musste den Überschwang meiner Gefühle ertragen, indem ich sie packte und im Kreise herumwirbelte. Lachend ordnete sie ihre Haarsträhne, die sich aus ihrem hochgesteckten Haar gelöst hatte.

»Was bist du für eine verrückte Jule«, meinte sie.

 

Meinen ersten Urlaub empfand ich als Geschenk des Himmels. Onkel Heinrich neckte mich:

»Nun solltest du mal früh um fünf Uhr losmarschieren und dir die Natur ansehen.«

»Warum nicht?«, erwiderte ich. »Du hast doch auch Urlaub, kommst du mit?«

»Na klar komme ich mit«, lachte er.

Ich wusste, dass er nicht daran glaubte, dass ich als Langschläferin freiwillig so früh aufstehen würde. »Der soll sich aber wundern«, nahm ich mir vor, sagte aber nichts weiter als: »Abgemacht«. Am Abend mahnte ich ihn: »Also bis morgen früh, Onkel Heinrich. Um fünf geht es los.«

Ganz verdutzt schaute er mich an und stopfte schweigend seine Pfeife.

Hoffentlich werde ich rechtzeitig wach, war mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief.

Putzmunter stand ich am frühen Montagmorgen im Schlafzimmer von Onkel und Tante. Mein guter Onkel Heinrich lag noch im Bett und sah mich an, als stände ein Gespenst in der Tür.

Später wanderten wir durch die umliegende Landschaft, genossen die Ruhe und die noch kühle, feuchte Luft. Ich mochte es sehr, wenn ich die Feuchtigkeit in meinem Gesicht fühlte. Der Morgentau lag noch auf den Gräsern und den gesenkten Blütenköpfen. Als die Sonne aufging, glitzerten die vielen tausend Tautropfen wie Brillanten in den Spinnweben, die sich über die Grashalme spannten. Wir marschierten schweigend nebeneinander her, als die ersten Radfahrer an uns vorbeifuhren. In Arbeitshosen, karierten oder gestreiften Hemden, mit einer alten Aktentasche auf dem Gepäckträger geklemmt, waren sie auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Dieser Anblick ließ mich meinen ersten Urlaubstag noch mehr genießen. Die ganze Welt hätte ich umarmen können.

Eine wunderbare, unbeschwerte Zeit verlebte ich in Krefeld. Ich hatte Kolleginnen, die in Gartenkolonien wohnten und die mich in den Sommermonaten zu vielen Gartenfesten einluden, die ich besonders liebte. Eine besondere, romantische Kulisse bot sich mir, wenn bunte Lampions in den Büschen, an niedrigen Bäumen, Zäunen und Rankgerüsten befestigt waren und ihre gedämpften Lichter Schatten warfen, wenn lachende Mondgesichter an einer Leine im leichten Wind hin- und herwiegten, wenn die Gartenbesitzer vor ihren Häuschen saßen und der Musik lauschten, die zum Tanz aufforderte. Bunte Lichterketten erleuchteten die Tanzfläche und rund herum waren Tische und Stühle ins Freie gebracht worden. Vergnügte junge Leute, verliebte Pärchen und ältere Ehepaare saßen dort bei Wein und Bier und sahen den Tanzenden zu. Auch die Älteren erhoben sich hin und wieder, um ein Tänzchen zu drehen, um sich anschließend angeregt mit ihren Tischnachbarn zu unterhalten, zu lachen und sich zuzuprosten. Herrlich fand ich diese warmen Sommernächte, wenn ich mit meinem weißen, ärmellosen Kleid über die Tanzfläche schwebte, der weite Rock dabei flatterte und hinter mir her wehte und meine schmale Taille mit dem breiten, eng geschnürten Gürtel betonte.

Braungebrannt lief ich durch den Sommer, weil ich jede freie Minute im Schwimmbad verlebte. Kaum hatte ich Feierabend, stürmte ich nach Hause, nahm hastig ein paar Bissen zu mir und war schon wieder verschwunden. Oder ich half Bekannten bei den Gartenarbeiten und manchmal besuchte ich mit Tante Josefa diese alten Leutchen, die weit außerhalb der Stadt, an einem kleinen See wohnten. Dann lag ich dort im Liegestuhl, ließ mich braun braten und lauschte den Gesprächen der alten Damen.

Oft besuchte ich auch meinen Bruder Kurt und seine Frau Ursula in Hochfeld. Knapp eine Stunde Fahrt mit Bus und Bahn und ich war bei ihnen. Sie hatten drei Kinder und wohnten, besser gesagt, sie hausten dort in zwei Zimmern, winzigem Flur und kleiner Toilette im dritten Stock eines abbruchreifen Hauses. Das Treppengeländer war so wackelig, dass man sich besser nicht daran festhielt. Sie besaßen keine Küche und kein Bad. Um dort endlich bald rauszukommen, arbeitete Kurt neben seiner normalen Tätigkeit, am Hochofen einer Eisengießerei mit Früh- und Spätschicht, noch oft bis zu sechs Stunden in einer anderen Firma. In den wenigen Stunden, die er schlief, tobten so manches Mal die Kinder um sein Bett und Kurt wurde nicht wach. Er schlief wie ein Toter, selbst wenn eines der Kinder vor lauter Übermut über sein Bett krabbelte. Wenn ich am Freitagabend zu ihnen kam und nach meinem Klingeln die Tür aufgerissen wurde, flogen mir diese drei Rangen oft als Nackedeis entgegen, weil sie gerade baden sollten. Außer Rand und Band plantschten sie in der einfachen Zinkwanne, die in der Wohn-Küche mit Sofa und Wohnzimmerschrank auf den Boden gestellt wurde. Am Samstag ging ich mit den Kindern manchmal über die Rheinbrücke nach Rheinhausen zu einem Kinderspielplatz, so konnte sich Ursula mal zwei Stunden ohne Ablenkung der Hausarbeit widmen. Nachmittags kamen oft die Geschwister von Ursula mit ihren Ehepartnern zu Besuch. Kurt zog mich manchmal nach draußen. Er freute sich, wenn er einmal ein paar Minuten mit mir alleine reden konnte. Er sprach über seine Arbeit, seine Sorgen und besonders gerne über seine Bücher. Er war es auch, der mir das Tapezieren und das Anstreichen von Türen und Fenstern zeigte, wenn er seine Wohnung oder die von Onkel und Tante renovierte.

Auf dem Weg in die Stadt oder auf dem Weg zu meinen Freunden Leni und Hermann schaute ich oft bei Tante Josefas Sohn Josef und seiner Frau Helga rein. Einer hatte immer für ein kurzes Gespräch Zeit.

»Komm durch«, forderte mich Helga mit ihrer blütenweißen Schürze hinter dem Ladentisch auf. Wir gingen gemeinsam in die Wohnung. Viel zu erzählen brauchte ich dort nie, denn eigentlich waren sie durch Tante Josefa immer auf dem Laufenden über mich. Was ich wieder für einen Stoff gekauft hatte, wo ich am Sonntag gewesen war, welches Buch ich gelesen hatte, dass ich einen netten Verehrer hatte, der mir Schokolade mitbrachte, wenn er mich abholte. Alles wussten sie schon.

 

Meine Arbeit machte mir weiterhin Spaß. Da wir jede zweite Woche in der Spätschicht arbeiteten, machten wir mindestens einmal in der Woche eine längere Pause oder wir ließen sie ausfallen und machten früher Feierabend. Irgendjemand brachte Kuchen oder ein paar Plätzchen mit und wir setzten uns zusammen in eine Ecke zwischen den Wagen mit den Stoffballen. Hatte einer Geburtstag, so tranken wir mitgebrachten Kirschlikör aus Kaffeetassen und lachten und scherzten. Die Männer erzählten Witze und der Vorarbeiter ging durch die Nebenräume, um sicher zu sein, dass wir in Ruhe sitzen bleiben konnten.

Meine nächsten Urlaube verbrachte ich mit meiner Schwester Eva. Wir trafen uns entweder in Süddeutschland oder direkt am Urlaubsort. Wir verstanden uns prächtig. Eva war froh, dass sie den Urlaub nicht alleine verbringen musste. Einer musste sich um das Geschäft kümmern, deshalb machten sie und ihr Mann getrennte Ferien. Lustig war es, wenn wir die Berge der Gegend eroberten, lustig fanden wir es, wenn uns der Muskelkater plagte, weil wir uns tags zuvor übernommen hatten. Und mit jedem Urlaub wurden die Berge höher. Den letzten verbrachten wir gemeinsam in Zermatt. Weil es hier unmöglich war, die Berge ohne Führung zu ersteigen, fanden wir, dass die Berge von unten genauso schön seien. Es waren wundervolle Ferien, die wir immer zusammen verlebten.

In der Firma kam ich vorübergehend in die Dekorationsabteilung. Dort arbeiteten nur vier Leute, daher war es dort sehr ruhig. Der Abteilungsleiter, Herr Rosen, war ein eingebildeter, arroganter Typ, der jeden Morgen mit schlechter Laune und muffeligem Gesichtsausdruck an seinem Arbeitsplatz erschien. Er stand eine Weile an seinem Schreibtisch und sah sich um, als wäre er dort fehl am Platze. Dann verschwand er erst einmal in einer anderen Abteilung. Kam er zurück, war er nicht besser gelaunt. Aber da ich dort nur aushilfsweise beschäftigt war, zeigte er sich mir gegenüber von der besten Seite. Herr Rosen bemühte sich sogar darum, dass ich für immer in seine Abteilung überwechseln sollte. Da aber in allen Abteilungen viel Arbeit vorlag, ließ Herr Brandner nicht mit sich reden. Mir war es im Grunde genommen egal. Die Arbeit machte mir in beiden Abteilungen Spaß.

 

Eines Tages fühlte ich mich ständig müde und hatte das Gefühl, dass meine Beine mich nicht mehr tragen könnten.

Der Arzt stellte eine Anämie fest und binnen weniger Tage hatte ich einen Platz im Betriebserholungsheim im Schwarzwald. Der Zufall wollte es, dass Herr Rosen seinen Urlaub genau dort zu derselben Zeit verbrachte. Als wir uns in der Firma verabschiedeten, sagte Herr Brandner scherzend zu Herrn Rosen:

»Nun passen sie gut auf dieses Mädchen auf, damit sie keinem Dorfcasanova in die Hände fällt.«

»Mach ich, mach ich«, lachte Herr Rosen zurück. Und als er lachte, war er mir ganz sympathisch.