Liebe auf den letzten Blick - Lilli Beck - E-Book
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Liebe auf den letzten Blick E-Book

Lilli Beck

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Beschreibung

Vier Umzüge und ein Todesfall ... Eigentlich sind die vier die perfekte Besetzung für das, was sie vorhaben: Mathilde Opitz, patente Chefbuchhalterin in Frührente, die gut konservierte Star-Stylistin Irma, der gemütliche Gustl, der endlich den Tod seiner Frau überwinden will, und die lebenslustige Amelie, die ihm nur zu gern dabei behilflich wäre. Sie bringen alles mit, was eine WG in ihrer Altersklasse braucht: Erfahrungen mit den Kommunen der 68er, Kochkünste und die Erkenntnis, dass Altwerden nichts für Feiglinge ist. Und schließlich sollte man mit sechzig doch so abgeklärt sein, dass das Zusammenleben leichter fällt als in Sturm-und-Drang-Zeiten. Doch im Gegenteil: Schon bald gerät die WG in die Krise, und Mathilde ist auf der Suche nach zahlungskräftigen Mitbewohnern. Ausgerechnet dann taucht ein Mann auf, der sie so begeistert, dass ihr ihre Hitzewallungen wie Kinderkram erscheinen. Allerdings ist der noch nicht einmal fünfzig. Aber geht nicht der Trend zum jüngeren Mann? Charmant und unglaublich komisch erzählt Lilli Beck von WG-Liebschaften, vergessenen Haschkeksen, altersbedingter Sturheit und anderen Problemen ihrer Golden Girls.

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Seitenzahl: 330

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Lilli Beck

Liebe auf den letzten Blick

Roman

Impressum

Lilli Beck, Liebe auf den letzten Blick

ISBN 978-3-8412-0370-0

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Aufbau Taschenbuch,

einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Mediabureau Di Stefano, Berlin

unter Verwendung einer Illustration von Gerhard Glück

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Alter schützt vor Liebe nicht,

aber Liebe vor dem Altern.

Coco Chanel

1

»Ach, komm schon, Mathilde! Es geht doch um zwei wichtige Anlässe.«

Irma flötet so süßlich, als wollte sie mir einen neuen Haarschnitt aufschwatzen. Wozu sie mich nicht überreden müsste. Meine beste Freundin ist seit vielen Jahren die Friseurin meines Vertrauens und außerdem eine bekannte Starstylistin. Für ihre Vorschläge wäre ich also jederzeit offen. Doch im Moment geht es nicht darum, mein kinnlanges brünettes Haar aufzupeppen.

Irma, Amelie, Gustl und ich sitzen beim Mittagessen in unserer Wohngemeinschaft, die wir vor einer Woche gegründet haben.

»Nein!«, widerspreche ich entschieden. »Ich habe keine Lust zu feiern. Ich werde sechzig, warum sollte ich das feiern? Zumal ich heute beim Duschen ein graues Schamhaar –«

»Und deshalb bist du so mies drauf?«, unterbricht Irma mich. »Ich spendier dir ein Brazilian Waxing. Ist jetzt auch bei Älteren ein Trend. Wir bieten das seit kurzem bei uns im Salon an.«

»Heißes Wachs auf meine Mumu?« Schockiert starre ich sie an. »Niemals! Und vor allem, für wen? Mich guckt doch kein Mann an. Nicht mal im bekleideten Zustand! Wozu brauche ich ein enthaartes Eroscenter?«

Ich kann nicht anders: Ich habe einfach massive Probleme mit dem Älterwerden. Da hilft es wenig, wenn ich mir immer wieder sage, dass die einzige Alternative keine Alternative ist. Lebensmüde bin ich nämlich nicht. Meine Unzufriedenheit hat auch viel mit dem Verlust meines Jobs zu tun. Ich habe es immer noch nicht verwunden, dass ich in den Vorruhestand geschickt wurde. Sechs Monate ist das nur her. Vorruhestand! Was für ein schreckliches Wort. Klingt eindeutig nach jemanden, der vorzeitig schlappgemacht hat. Der es nicht bis ins Ziel geschafft hat.

Fünfunddreißig Jahre war ich in der Buchhaltung einer Textilfirma tätig, die letzten zehn als Chefbuchhalterin. Wie bei vielen mittelständischen Firmen wurde dann die Produktion ins Ausland verlegt, die Angestellten wurden entlassen. In meinem Fall immerhin mit einer netten Abfindung. Natürlich ist so ein finanzielles Polster ein angenehmes Trostpflaster. Das frustrierende Gefühl, ausgemustert und vollkommen nutzlos zu sein, ruiniert dennoch das Selbstbewusstsein.

Irma lässt die Gabel sinken. »Du benimmst dich, als wärst du steinalt und könntest dich nur noch mittels Rollator bewegen.« Sie schüttelt verständnislos den rotgefärbten Kurzhaarschopf. »Hier ist keiner alt. Sechzig ist doch das neue Dreißig! Ich weiß, wovon ich spreche. Immerhin bin ich schon zweiundsechzig. Und ich versichere dir, in meinem Kopf hat sich seit dem Dreißigsten nichts verändert. Ich bin immer noch die leicht durchgeknallte Irma. Wenn’s drauf ankommt, kann ich jederzeit ’nen Gang höher schalten.«

Amelie kichert. »Denk nicht dran, Mathilde«, empfiehlt sie. »Stell dir einfach vor, du wirst mit jedem Tag jünger. Das macht glücklich!«

Amelie ist unsere Fachfrau für Esoterik und die Lebenslust in Person. Gestern schleppte sie zwei Kisten Prosecco an – damit wir für alle Eventualitäten gerüstet wären. Die Anspielung auf meinen Geburtstag war nicht zu überhören. Das erste Fläschchen wurde sofort geöffnet, nur zum Probieren. Amelie war früher meine Mitarbeiterin, aber obwohl sie wie ich in den Vorruhestand geschickt wurde, hat das ihrer guten Laune keinen Abbruch getan. Insgeheim nenne ich sie unseren esoterischen Glückskeks.

»Gute Idee, Amelie. Nach dieser Rechnung hätte ich morgen also gar nicht Geburtstag, und wir müssen den Tag auch nicht feiern, oder?«, kontere ich, schiebe mir ein Marzipan-Praliné in den Mund und nehme ein Schlückchen Portwein. Ich behandle meine schlechte Laune nämlich mit »natürlichen Drogen«. Und derartig frustrierende Gespräche ertrage ich nur mit einer Überdosis.

»Soll ich Tarotkarten für dich legen?«, wechselt sie eilig das Thema, wie immer, wenn es zu realistisch wird.

»Nein danke, aber vielleicht schaust du mal, wie die nächste Traubenernte für den Portwein ausfällt«, antworte ich betont freundlich.

Ich glaube nicht an Vorhersagen. Der ganze esoterische Kram ist sowieso Unfug. Amelie dagegen sieht in jeder Karte die große Liebe auf mich zukommen. Sogar in unserem Alter könne sie einem jede Sekunde über den Weg laufen, behauptet sie.

Dem letzten Mann, der mein Herz höher schlagen ließ, bin ich zwar erst vor einigen Tagen in der Weinhandlung begegnet, doch aus solchen Begegnungen wird ohnehin nie etwas. Als wir beide nach derselben Flasche Portwein griffen, berührten sich unsere Hände. Ich war wie elektrisiert, jedoch – wie immer – zu schüchtern, um ihn auch nur anzulächeln. Ich sollte Flirtunterricht bei Amelie nehmen. Doch machen wir uns nichts vor: Eher bricht der Weltfrieden aus, als dass eine Frau über fünfzig noch einen Mann findet. Männer in dem Alter sind entweder schwul oder verheiratet. Und wer sonst noch frei rumschlurft, sucht höchstens eine Krankenschwester. Ich für meinen Teil habe die rosarote Romantikbrille abgesetzt. Im Grunde braucht eine Frau einen Mann doch nur für zwei Dinge: Geld und Sex. Finanziell bin ich dank der Abfindung versorgt. Und Sex? In meinem Alter praktiziert man höchstens Extremsex – was soviel heißt wie: extrem selten.

»Also, mein Burzeldach im Oktober wird ganz groß gefeiert«, erklärt Amelie. »Ich lade alle meine Freunde ein, und wir lassen es richtig krachen. Da könnt ihr euch schon drauf freuen.«

Amelie stammt aus dem fränkischen Bamberg, wo man auf die Welt purzelt, was mir gut gefällt. Sie käme nie auf die Idee, diesen wichtigen Tag ausfallen zu lassen. Ein feucht-fröhlicher Abend mit möglichst vielen Männern – und ihre Welt ist himmelblau wie ihre Augen. Sie gehört zu den Frauen, die in männlicher Gesellschaft aufblühen wie eine ausgetrocknete Topfpflanze, die endlich gegossen wird.

»Zum dreißigsten Burzeldach,« wiederholt Gustl mit Augenzwinkern, »backe ich dir eine dreistöckige Torte, Mathilde. Für jedes Jahrzehnt eine Etage.«

»Herzlichen Dank, Gustl. Aber mir ist nicht nach Kuchen. Obwohl ich deine Torten sehr schätze. Sie sind wirklich die besten der Stadt.«

Die Kreationen unseres WG-Quoten-Manns, eines Konditors im Ruhestand, schmecken so lecker, dass ich mich glatt reinlegen könnte. Doch den eigentlichen Grund verschweige ich. Mein Stoffwechsel hat sich seit der Menopause auf fast null eingependelt. Die Zeiger der Waage mahnen mich zur Zurückhaltung, wenn ich wenigstens die Kleidergröße zweiundvierzig halten möchte. Im Grunde müsste ich mindestens einen Null-Diät-Tag pro Woche einlegen oder meinen Pralinenkonsum drastisch einschränken. Und natürlich den Portwein weglassen.

»Dann backe ich ein paar Haschkekse. Davon bekommst du auf jeden Fall bessere Laune.« Amelie zieht eine Schnute.

»Wenn ihr mir unbedingt ein Geburtstagsgeschenk machen wollt«, lenke ich um des lieben Friedens willen ein, »freue ich mich über ein frisch geputztes Bad und ein aufgeräumtes Wohnzimmer. Außerdem stehen im Flur noch Umzugskisten rum. Das nervt. Weiß jemand, wem die gehören?«

Die Anspielung gilt Irma, die gern verdrängt, wenn sie mit Putzen der Gemeinschaftsräume an der Reihe ist. Laut Abmachung war das gestern der Fall. Im Wohnzimmer sieht es aus, als wären wir heute erst eingezogen. Ganz zu schweigen vom chaotischen Badezimmer.

»Locker bleiben und keinen Stress, Mathilde«, sagt Irma. »Ich habe es nicht vergessen, falls du das glaubst. Obwohl ich mich noch im Urlaub befinde, bin ich dir zuliebe heute früher aufgestanden, um im Wohnzimmer Staub zu wischen.«

Verwundert mustere ich sie. »Und im Stehen wieder eingeschlafen?«

»Nein, ich konnte den Staubwedel nicht finden! Jemand muss ihn geklaut haben.«

Ungläubiges Schweigen breitet sich aus, in das sich Amelies Glucksen mischt.

»Hast du wieder Tomatenkraut geraucht?«, fragt Gustl mit zweideutigem Grinsen.

Irma zuckt gelangweilt mit den Schultern. Stumm schiebt sie ihren Teller beiseite und lehnt sich auf der Eckbank zurück. Mit einem zufriedenen Seufzen hält sie ihre Nase in die hereinscheinende Mittagsonne.

Amelie mustert Gustl neugierig. »Tomatenkraut kann man rauchen? Das wusste ich gar nicht. Meine Mutter hat mit dem Gestrüpp immer die Beete abgedeckt.«

Wir sehen uns schmunzelnd an.

»Würde mir bitte mal jemand verraten, wo die Stelle zum Lachen ist?« Amelie blickt irritiert in die Runde und klimpert mit den Wimpern. »Gustl!«

»Na ja …« Gustl schiebt sich ein Stück Brezel in den Mund und nuschelt undeutlich, dass wir eigentlich über ihre Bemerkung lachen würden.

Sie hebt die Augenbrauen, grübelt einen Moment und fängt dann an zu lachen. »Ach ja, Rauschgift!«

»Pssst!« Ich bedeute ihr, leise zu sein.

Der Grund ist Cengiz, unser Hausmeister. Er ist sehr hilfsbereit und sympathisch, aber neugieriger als ein klatschsüchtiges Marktweib und taucht gern wie aus dem Nichts auf, um unschuldig den Kehrbesen zu schwingen, wenn man ihn ertappt. Ich befürchte sogar, dass er für den Hausbesitzer spioniert, weshalb ich extrem vorsichtig bin und nicht möchte, dass Irma in dem zur Wohnung gehörenden Garten ihre »Tomaten« züchtet. Meinetwegen könnte sie auch Fliegenpilze züchten. In unserer WG leben weder Hunde noch Katzen und schon gar keine Kinder, die sich vergiften könnten. Aber wenn das Cengiz mitbekommt, könnte es Ärger bedeuten.

»Wie dem auch sei«, wechsle ich das Thema. »Ich wäre euch dankbar, wenn wir einfach so tun könnten, als sei morgen ein ganz normaler Tag.« Ich schaue fragend über meine Brille, ernte aber von meinen Mitbewohnern nur verständnislose Blicke.

»Und was ist mit dem Sieben-Tage-Jubiläum unserer WG?« Amelie lässt nicht locker. »Sieben ist eine magische Zahl. Esoterisch gesehen ist es also ein superwichtiger Tag. Außerdem haben wir zunehmenden Mond. Wir müssen eine Zeremonie abhalten, das verscheucht die bösen Geister, bringt Glück und lässt einen guten Stern über unserer Wohngemeinschaft aufgehen.«

Ich hätte es wissen müssen. Amelie lässt keine Gelegenheit aus, um auf den Putz zu hauen. Notfalls bemüht sie eben den Mond, sämtliche Himmelskörper oder sonstige Magie.

»Ich fände es auch schade, zu tun, als wäre nix«, unterstützt Gustl sie. »Das Leben braucht Höhepunkte. Und die Tatsache, dass wir diese traumhafte Fünf-Zimmer-Wohnung in Friedhofsnähe gefunden haben, ist ein echter Glücksfall und muss gebührend gefeiert werden.«

»Sag ich doch.« Amelie nickt eifrig. »Nicht zu vergessen die Adresse: Nachtigalstraße! Bei der Besichtigung habe ich sofort die positiven Schwingungen gespürt und gewusst: Das ist unsere Wohnung, sie hat auf uns gewartet! Gemütliche Küche, zwei Bäder, Terrasse und Garten. Erinnert ihr euch, wie der Makler gegrinst hat, als er hörte, dass ich Specht heiße?«

»Das ausschlaggebende Argument bei der Wohnungsvergabe«, bestätige ich. »Amelie Specht, Nachtigalstraße, klingt aber auch zu schön. Jeder Brief an dich wird der Postbotin ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Viel erstaunlicher finde ich jedoch, dass wir es schon sooo lange miteinander aushalten.« Ich gebe Irma einen freundschaftlichen Schubs.

»Stimmt.« Irma grinst verschmitzt, während sie mit dem Finger ein Herz aus den Brotbröseln formt – statt sie zusammenzuwischen. »Sieben Tage sind ’ne Ewigkeit für uns zwei … ähm … grundverschiedene Schrullen. Psychologische Analysen verkneife ich mir jetzt mal.«

Schweigend nicke ich. Niemand würde uns als Traumquartett bezeichnen. Müsste man jeden von uns mit wenigen Worten charakterisieren, könnte sich das ungefähr so anhören:

Amelie, die esoterische Naive.

Irma, die chaotische Kreative.

Gustl, der liebevolle Ruhepol.

Und ich, die akkurate Rationale.

Ich bin diejenige, die für Ordnung sorgt und den finanziellen Überblick behält. Ein ziemlich mieser und selten anerkannter Job, aber einer muss ihn ja machen.

Irma und ich haben am wenigsten gemeinsam. Zugegeben, ich bin extrem ordentlich, und Irma ist eher das Gegenteil, um nicht zu sagen: schlampig. Sie bezeichnet sich als Sammlernatur und mich als Pedantin. Worüber man streiten kann. Aufräumen heißt bei Irma, alles in einen Raum werfen, Tür zu, fertig. In der Abstellkammer, die gemeinschaftlich als Garderoben- und Schuhschrank benutzt wird, würde man keinen einzigen Schuh finden, wenn wir anderen nicht Ordnung hielten.

Die Idee, dass wir vier gemeinsam eine WG gründen, kam natürlich von Amelie, unserem Hippie, die schon vor Jahren in einer Kommune gelebt hat. Eine TV-Dokumentation über fünf Oldies war die Initialzündung. Das sei im Moment der Mega-Trend, berichtete sie, und nur eine Wohngemeinschaft könne uns vor Vereinsamung oder Seniorenheim retten. Wer von uns würde das schon wollen? In völlig überteuerten Verwahranstalten vor sich hinvegetieren, in denen man Frühstück um sechs, Mittagessen um zehn Uhr und Abendessen um vier serviert. Wo man keine Partys feiern darf, Tee aus Schnabeltassen und Alkohol nur in flüssiger Medizin bekommt. Auch Irma hatte in den Flower-Power-Jahren einige Monate in einer Kommune verbracht und war begeistert. Ich hingegen hielt das Ganze für eine Schnapsidee. Im Gegensatz zu meinen Freunden dachte ich nämlich auch an die Nachteile. Als Erstes fielen mir meine nächtlichen Toilettengänge ein. Von Irma wusste ich, dass auch sie nachts ein, zwei Mal raus muss. Da entsteht schnell mal peinliches Gedränge. Doch dann fanden wir diese Wohnung mit einem zusätzlichen Duschbad und einer zweiten Toilette, und mir gingen die Gegenargumente aus.

Mit nächtlichem Harndrang hat Amelie nichts am Hut. Sie möchte Gustl einfangen, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt hat. Oder muss man in unserem Alter eher von Liebe auf den letzten Blick sprechen? Bisher schien Gustl immun gegen Amelies »Honig am Höschen« zu sein, doch ich kenne ihn lange genug, um erste Anzeichen schlechten Gewissens bei ihm zu erkennen, das er wegen seiner vor drei Jahren verstorbenen Frau Susanne hat. Seit wir vier zusammenleben und er nicht mehr einsam und verlassen in der Wohnung sitzt, die er dreißig Jahre gemeinsam mit seiner Familie bewohnt hat, fängt er offensichtlich an, seine Trauer zu überwinden. Er besucht Susannes Grab nicht mehr täglich, seine Gerichte sind plötzlich stark gesalzen, und zum Schlafen trägt er ein ausgeleiertes T-Shirt mit dem Slogan: MAKE LOVE NOT WAR.

»Mathilde!« Irma reißt mich aus meinen Gedanken. »Was ist denn jetzt mit der Jubiläumsfeier? Ich habe extra meine Verabredung mit Otto verschoben.« Sie erhebt sich, um am offenen Küchenfenster eine Zigarette zu rauchen.

Irma pflegt seit Jahren eine platonische Freundschaft zu Otto Goldbach, einem erfolgreichen Schauspieler. Sie hat den berühmten Mimen im Salon »Chez Schorschi« kennengelernt, Münchens schickstem und teuerstem Coiffeur, wo sie seit Ewigkeiten Promis und Stars verschönert.

»Wenn ich mich hier so umsehe, sollten wir lieber die restlichen Umzugskartons auspacken, Ordnung schaffen und den Dreck wegputzen«, antworte ich. »Ich meine, solange ringsum so ein Chaos herrscht …«

»Dazu ist am Wochenende noch genug Zeit«, meint Gustl, stapelt aber immerhin Teller und Besteck, trägt das Geschirr zur Spüle und schnappt sich einen bereitliegenden Block. »Ich gehe einkaufen. Was wollt ihr morgen essen?« Er kommt zurück an den Tisch und setzt sich neben mich. »Du darfst dir was wünschen, Mathilde.«

Backen und Kochen sind seine Lieblingsbeschäftigungen. Als leidenschaftlicher Familienmensch liebt er es, uns alle zu bekochen. Und wenn es uns schmeckt, strahlt er wie der Gewinner einer Konditorenmeisterschaft.

Amelie steht auf und tänzelt barfuß zum Kühlschrank, wobei der Rocksaum ihres bunten Blumenkleides wippt. Seit sie in die Frührente geschickt wurde, trägt sie wieder Hippiekleider, tonnenweise bunte Ketten, Ohrringe, Armschmuck und wilde Frisuren. Neulich kam sie mit einem Paar türkisfarbener Birkenstock-Sandalen an, angeblich von Heidi Klum entworfen.

»Wie wär’s mit Grillen? Für morgen ist Sonne angesagt«, schlägt sie vor. »Milch fehlt, Joghurt auch und Diätmargarine.«

»Also, wenn Fleisch, dann nur Bio«, bestimmt Irma und pustet malerische Rauchkringel nach draußen.

Irma ernährt sich seit Jahren bis auf wenige Ausnahmen vegetarisch. Angeblich sei sie deshalb faltenfrei, sagt sie. Manchmal behauptet sie auch, Rauchen würde konservierend wirken. In Wahrheit lässt sie sich regelmäßig Botox spritzen, um gegen ihre Promikundschaft nicht alt auszusehen.

Ein leises Frühlingslüftchen weht die Rauchschwaden zurück in den Raum. Sonnenstrahlen verfangen sich in Irmas roter Strubbelfrisur. Vogelgezwitscher ist zu hören.

Amelie unterbricht die Vorratskontrolle der Lebensmittel für einen Moment und lauscht dem Vogelgesang. »Ob da eine Nachtigall zwitschert?«

»Na klar«, bestätigt Irma mit gespielt ernster Miene. »Nachtigallen singen grundsätzlich zur Mittagszeit.«

»Ach, ich dachte, nur in der Nacht, weil sie doch so heißen«, sinniert Amelie. »Egal, ich finde es schön, dass wir in einer Straße mit einem Vogelnamen wohnen.«

»Da muss ich dich enttäuschen«, entgegnet Irma. »Sie wurde nach Gustav Nachtigal benannt, einem berühmten Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts. Und der schreibt sich nur mit einem L im Gegensatz zum Vogel. Hat uns doch der Makler verraten.«

»Echt?« Amelie ist sichtbar überrascht. »Kann mich gar nicht erinnern.«

»Macht doch nichts«, sagt Gustl.

Auch mir war es entfallen. Etwas anderes fällt mir aber in diesem Moment auf. »Gustl ist die Abkürzung von Gustav.«

Gustl lacht. »Genau!«

Amelie klatscht vor Freund in die Hände. »Na bitte. Ich hab’s gewusst, die Wohnung hat auf uns gewartet.«

Ich muss lachen. Diese seltsame Situation könnte sich auch in einer ganz normalen Kleinfamilie abspielen. Papa plant den Großeinkauf, die Kinder quengeln nach Überraschungseiern und Mama beobachtet das Ganze mit Wohlgefallen. Die genaue Rollenverteilung ist unwichtig. Nur der Part des »Familienoberhaupts« geht an mich, da der Mietvertrag auf meinen Namen läuft.

Zwei Stunden später stolpert Amelie mit einer prall gefüllten Plastiktüte im Arm durch die offene Küchentür. Irma und ich sind gerade dabei, das fertig gespülte Geschirr aus der Maschine zu räumen.

»Huhuuu! Wir sind wieder dahaaa«, trällert sie und streicht sich eine widerspenstige Locke aus dem geröteten Gesicht.

Sie sieht erhitzt und glücklich aus, fährt es mir durch den Sinn. Als käme sie von einem heimlichen Quickie und nicht vom Großeinkauf im Supermarkt.

Gustl folgt ihr mit drei vollen Tüten in den Händen. »Na, ihr zwei?«

»Habt ihr uns was mitgebracht?« Irma lugt neugierig in die Tüte, die Amelie vor uns auf dem Tisch abstellt.

»Wir sind noch im Baumarkt vorbeigefahren und waren auf dem Friedhof, Susanne besuchen«, antwortet Amelie, als sei Gustls verstorbene Frau ihre beste Freundin gewesen. Dabei hat sie Susanne nie kennengelernt. »Hier!« Sie fischt einen bunten Prospekt aus der Tüte und hält ihn uns entgegen.

Schmunzelnd greift Irma danach. »Gartenmöbel? Davon werde ich aber nicht abbeißen.«

»Sei nicht albern«, antwortet Amelie.

»Ein Vorrecht des Alters«, kontert Irma. »Je oller, je doller! Daran musst du dich gewöhnen, wenn du mit uns alt werden willst.«

Alt werden!

Schon wieder dieses frustrierende Thema. Sofort habe ich das Gefühl, wieder eine Falte mehr bekommen zu haben. Amelie scheint das Problem allerdings nicht zu kennen. Selbst aus der Nähe betrachtet sieht sie nicht wie sechzig aus, eher wie fünfzig. Wäre da nicht Gustl, das Objekt ihrer Begierde, würde sie vielleicht gar nicht mit uns in der WG leben wollen. Für ihn hat sie sogar ihr Essverhalten geändert. Früher ließ sie grundsätzlich die Hälfte übrig – von was auch immer. Jetzt verspeist sie alles bis zum letzten Krümel – was auch immer Gustl uns serviert.

»Liegestühle … Sonnenschirme«, murmelt Irma, während sie im Prospekt blättert.

Ich blicke Amelie fragend an. »Und was sollen wir damit?«

»Für die Terrasse«, klärt sie uns begeistert auf. »Dank der hohen Hecken ist der Garten doch nicht von außen einsehbar. Wir können uns nackt sonnen!«

»Nackt sonnen!?« Meine Stimme überschlägt sich.

Unser Glückskeks strahlt übers ganze Gesicht, als sei es abgemacht.

Ich dagegen frage mich, ob ich mir einen entspannten Sommertag in unserer WG so vorgestellt habe. Wir liegen nackt im Liegestuhl, ein Joint geht rum, und wenn wir alle richtig high sind, gibt’s Fleisch vom Grill! Ich hatte ja nie viel mit den Hippies zu tun und habe auch nie in einer Kommune gehaust, aber nach dem, was Amelie und Irma so erzählen, machen Joints ziemlich hungrig.

Doch Amelie scheint zu vergessen, dass wir nicht in einem Einsiedlerhof leben. Wir wohnen in einem zweistöckigen Gebäude plus Dachgeschosswohnung. Von oben kann man problemlos auf unsere Terrasse blicken. Ganz zu schweigen von Cengiz. Er ist imstande, heimlich Fotos von uns zu schießen und sie dem Vermieter zu schicken. Der Hauseigentümer war sowieso ziemlich skeptisch, als er von unseren WG-Plänen erfuhr. Hat was von Alt-68ern, Hippiesaustall und Drogen gemurmelt und war nur bereit, an uns zu vermieten, wenn wir uns auf einen Dreijahresvertrag einlassen, der bei vorzeitiger Kündigung den Kautionsverfall beinhaltet. Wenn er jetzt noch von wilden Orgien erfährt, sieht er seine Vorurteile bestätigt. So schnell könnten wir unsere Schrumpelkörper gar nicht verhüllen, wie uns dann die Kündigung ins Haus flattern würde.

2

Sechs Uhr zeigen die Ziffern meines digitalen Weckers an. Ich muss zwar nicht mehr ins Büro hetzen, aber meine innere Uhr denkt gar nicht daran, sich umzustellen.

Mit halb geöffneten Lidern drehe ich das Kopfkissen um und genieße die angenehme Kühle der Unterseite. Wieder einzuschlafen gelingt mir jedoch nicht. Vermutlich hat mich bereits die senile Bettflucht fest im Griff. Senil oder nicht – dabei fällt mir ein, was heute für ein Tag ist.

Mein Sechzigster!

Wie auf Kommando kriecht mir eine heftige Hitzewelle über den Körper und steigert sich zum Schweißausbruch, als mir zu allem Übel auch noch einfällt, der Jubiläumsfeier zugestimmt zu haben. Irma hat im Gegenzug versprochen, ihre Umzugskisten wegzuräumen und endlich zu putzen. Amelie ist in die Birkenstocks gestiegen und wollte unbedingt in den Baumarkt sausen, um die Liegestühle zu besorgen. Gustl konnte es gerade eben verhindern, da er zu bedenken gab, dass es im April noch nicht heiß genug zum Nacktsonnen wäre. Wie ich sie kenne, wird sie früher oder später das geeignete Mondphasenargument finden, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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