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Eine verschwundene Braut, ein Sensenmann als Gondoliere, eine blinde Malerin, ein seltsames Zeichen an einer Mauer, ein legendärer Stein und ein geheimnisvoller Orden - Guido hat sich seine Hochzeitsreise nach Venedig anders vorgestellt. Seine Schwägerin Ana Karina, die in München einen Antiquitätenladen betreibt, macht sich gemeinsam mit ihm in den Wirren des Karnevals, der durch die engen Gassen der Lagunenstadt tobt, auf die fast aussichtslose Suche nach Christina Maria und stößt dabei auf eine uralte Legende. Wer ist jene mysteriöse Hohepriesterin Julietta da Montefeltro, deren Bild Ana Karina bis in ihre Träume hinein verfolgt und die ihr so ähnlich sieht? Und was hat sie mit dem Verschwinden ihrer Zwillingsschwester zu tun? Nur ganz langsam setzen sich die einzelnen Puzzle-Steine zu einem Bild zusammen. Das Geschehen führt Protagonisten und Leser durch ein magisches Tor ins Venedig des 16. Jahrhunderts. Wird Ana Karina dort ihre Schwester wiederfinden? Noch ahnt keiner von der tödlichen Gefahr, die hinter dem Portal lauert.
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Seitenzahl: 269
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Nachwort
„Oh Isais, die du einst kamst aus dem Reich der Dämonen und aufstiegst zu uns in die Welt der Götter, rein ist dein Herz und licht deine Seele! Nur du vermagst es, den von niederen Geistern entwendeten Stein aus den Tiefen der Unterwelt zurückzuholen, wohin er geschaffen wurde, um die göttlichen weiblichen Kraftschwingungen für alle Zeiten von der Erde zu verbannen. So geh nun, und bring den Stein an einen sicheren Ort, auf dass er dort verwahrt werde, bis die Zeit gekommen ist, die weibliche und die männliche Lichtkraft, den Ilua und den Garil zu vereinen.”
Feuchter Nebel legte sich über die Stadt. Venedig im Februar … fröstelnd zog Guido die Schultern hoch.
„Au, verf…“, gereizt schaute er in das maskierte Gesicht eines Edelmanns, der sich galant vor ihm verbeugte.
Die Masse verkleideter Karnevalisten bewegte sich zäh Richtung Markusplatz. Eine bunt gemischte Schar. Der Edelmann verschwand in der Menge, und Guido fasste nach der Hand Christina Marias, die jetzt hell auflachte vor Vergnügen. Karneval in Venedig, das war natürlich ihre Idee gewesen. Es war ihre Hochzeitsreise, und Guido hatte eine Kreuzfahrt auf einem dieser Luxusschiffe in der Karibik vorgeschlagen, aber nein: Christina Maria bestand auf Venedig, und wie immer setzte sie ihren Willen durch.
„Dort hast du genug Wasser, und Schiffe gibt es da auch!“, argumentierte sie.
Ja, er musste zugeben, dass die Gondelfahrt gestern durchaus etwas Romantisches an sich gehabt hatte. Und die Pension war gemütlich und nett … aber das Wetter, die Feuchtigkeit, die an den Fingergelenken beißende Kälte. All das schien Christina Maria jedenfalls nichts auszumachen.
Schon wieder rempelte ihn irgendjemand von hinten an. Er stolperte und musste die Hand seiner Braut loslassen. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, griff er ins Leere. Christina Maria war verschwunden. Verzweifelt arbeitete er sich durch die Menge. Natürlich hatte seine Frau auf Kostüme und Masken bestanden, und er musste sich eingestehen, dass sie jetzt nur noch eine von vielen war, die in der Masse einfach unterging. Er ließ sich Richtung Kanal treiben, und … da sah er sie wieder. Sie ruderte verzweifelt mit den Armen, während jemand sie in eine Gondel zerrte. Guido hastete weiter, unbarmherzig um sich stoßend bahnte er sich seinen Weg. Als er ankam, war es bereits zu spät, die Gondel hatte abgelegt.
„Christina Maria!“
Sie schien etwas zu rufen, er konnte es nicht verstehen. Der Gondoliere drehte ihm den Rücken zu, er trug ein schwarzes Gewand mit Kapuze. Ein sehr ausgefallenes Kostüm, fuhr es Guido unsinnigerweise durch den Kopf. Warum sprang sie denn nicht einfach? Außer ihr und dem Gondoliere war doch niemand an Bord, keiner, der sie festhalten könnte.
„Spring doch, spring!“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als der Fährmann sich plötzlich umdrehte. Unter der Kapuze war kein menschliches Gesicht. Fassungslos starrte Guido in die leeren Augenhöhlen eines Skeletts.
„Der Sensenmann …“, flüsterte er, bevor er zusammenbrach und das Bewusstsein verlor.
Ana Karina gähnte laut und griff gelangweilt zum Hörer. Ein ätzender Tag, es war Spätnachmittag, und sie hatte gerade mal zwei Tassen und eine alte Teekanne verkauft. Sie besaß einen kleinen Laden in einer Seitengasse von München und handelte mit Antiquitäten oder mit wertlosem Plunder, den sowieso niemand mehr haben wollte - wie ihr Schwager Guido immer boshaft behauptete.
Nun, das alte Scheusal befand sich ja zum Glück außer Reichweite, nämlich auf der Hochzeitsreise mit ihrer Zwillingsschwester. Ana Karina hatte nie verstanden, was Christina Maria an diesem arroganten Weichei von Mann fand. War es vielleicht das Geld? Schließlich war er ein erfolgreicher Geschäftsmann, wesentlich erfolgreicher als Ana Karina zumindest.
Seufzend hob sie den Hörer ab.
„Um Himmels Willen, Guido, jetzt beruhige dich erst einmal … was?”
Guido. Natürlich, was konnte diesen grauen verregneten Tag noch schlechter machen?!
„Sie ist was?“
Eine aufgeregte Stimme klang aus dem Hörer: „Ja, sie ist verschwunden. Du musst sofort herkommen, ich brauche deine Hilfe! Hör mal, ich sitze hier an der Rezeption, und die Frau spricht kein Deutsch. Christina Maria hat den Zimmerschlüssel in der Handtasche, ich kann nichts machen …“
„Warst du schon bei der Polizei?“ Ana Karina sah es von der praktischen Seite.
„Die Ausweise …“
„… sind auf dem Zimmer“, vollendete seine Schwägerin zynisch den begonnenen Satz.
„Also gut, hör zu, ich mache meinen Ramsch-Laden dicht und schwinge meinen Hintern in den nächsten Flieger, okay! Jetzt gib mir mal deine Wirtin.“
Es folgte ein kurzes Gespräch in fließendem Italienisch, schließlich war das im wahrsten Sinne des Wortes die Muttersprache der beiden Schwestern. Und siehe da: Guido bekam problemlos den Zweitschlüssel ausgehändigt. Nebenbei fragte Ana Karina noch nach Namen und Adresse der Pension.
Also, auf nach Venedig! Es ging ihr weniger darum, dass sie sich um ihren verschwundenen Zwilling sorgte, als vielmehr um die Abwechslung. Schlagartig war die Müdigkeit wie weggeblasen. Munter vor sich hinpfeifend drehte Ana Karina das Türschild um, so dass von außen jetzt GESCHLOSSEN zu lesen war, und warf die Tür schwungvoll hinter sich ins Schloss.
Wenn es etwas geben konnte, das Ana Karinas Laune verschlechterte, dann war es Guido. Der Schwager wartete bereits mit finsterem Gesicht an der Rezeption.
„Wieso hat das so lange gedauert?“, maulte er zur Begrüßung.
„Na hör mal …“, konterte Ana Karina.
„Krieg mal auf die Schnelle während der Karnevalszeit einen Flug nach Venedig! Alles ausgebucht, ich hatte Glück, heute überhaupt noch einen Platz zu ergattern. Und das auch nur, weil jemand umgebucht hat.“
Guido sah auf seine Uhr und runzelte die Stirn.
„Sagtest du heute? Es ist bereits nach ein Uhr …“
Das ging nun entschieden zu weit. Ana Karina ließ langsam ihre Reisetasche zu Boden gleiten und stemmte die Arme in die Hüften.
„Also jetzt hör mal ganz genau zu, mein Lieber! Wegen dir lasse ich meine wertvollen Antiquitäten im Stich und setze alle Hebel in Bewegung, um hierher zu kommen.“
Das Wort Antiquitäten ließ sie genussvoll über ihre Zunge gleiten, was Guido nicht entging.
„Und außerdem, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Es ist immer heute!“, fügte sie spitz hinzu.
Es sollte noch schlimmer kommen. Nicht nur die Flüge waren um diese Jahreszeit restlos ausgebucht, sondern auch die Zimmer in der kleinen Pension. Der alte Mann, der die Nachtschicht an der Rezeption schob, wunderte sich, dass die Braut des Deutschen auf einmal ein Einzelzimmer verlangte. Ana Karina war zu kaputt, um lange Erklärungen abzugeben.
„So, lieber Schwager, dann wirst du wohl heute Nacht dein Zimmer mit mir teilen müssen. Morgen werden wir eine andere Lösung finden.“
Murrend schleppte der liebe Schwager die schwere Reisetasche die Treppe hoch, denn natürlich gab es keinen Lift.
„Du lieber Gott, was ist denn da drin, willst du Venedigs Straßen damit pflastern?“, schnaufte er ungehalten mit hochrotem Kopf.
„Nur ein bisschen Reiselektüre, Schätzchen“, schnurrte sie zurück.
Kurz darauf sah sie sich stirnrunzelnd in dem kleinen Zimmer um. Typisch, je mehr Geld die Leute hatten, desto geiziger wurden sie erfahrungsgemäß. Als Abteilungsleiter einer großen Handelsfirma - und immerhin sollte dies die Hochzeitsreise sein. Vielleicht war Christina Maria ja einfach nur davongelaufen, schoss es ihr durch den Kopf.
„Du schläfst dort auf dem Sofa“, sagte sie entschieden. Er schaute dumm aus der Wäsche, wie konnte es auch anders sein. Ana Karina schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und zeigte dabei zwei niedliche Grübchen. Es war das gleiche Lächeln, das er an Christina Maria so liebte, stellte er verwirrt fest. „Schließlich kannst du ja nicht verlangen, dass ich das Bett mit dir teile. Und morgen möchte ich dann die ganze Geschichte hören!“
Elegant schleuderte sie die Schuhe von den Füßen und streckte sich auf dem Bett aus. Bevor Guido noch was sagen konnte, war sie bereits eingeschlafen. Leise Schnarchgeräusche erfüllten den Raum.
Auch das noch! Wütend versuchte Guido, seine Decke vom Bett zu ziehen, aber die steckte unter dem Körper der Schwägerin fest. Schließlich musste er sich mit einem Sofakissen zufriedengeben. Fröstelnd verbrachte er die Nacht auf dem ungemütlichen Sofa, während im weichen Doppelbett erbarmungslos ein ganzer Wald abgesägt wurde.
Christina Maria hatte Todesangst. Die Wassermassen wurden immer düsterer und unheimlicher. Dicke wabernde Nebelschwaden hingen in der Luft, und es war bitterkalt. Alle Geräusche erstarben, nur der gleichmäßige monotone Ruderschlag des Kapuzenmannes war zu hören. Einmal hatte der Fährmann sich zu ihr umgedreht, doch da war kein Gesicht - nur ein Totenkopf, der sie hämisch angrinste.
„Lieber Gott, lass mich hier lebend wieder rauskommen … “, stumm bewegte sie ihre Lippen.
Sie starrte in das dunkle Wasser, wollte springen, aber die Beine gehorchten ihr nicht. Es musste ein Albtraum sein, einer der schlimmsten Sorte. Das hier konnte doch einfach nicht wahr sein. Sie musste nur aufwachen, das war alles. Sicherlich war der schwere Wein vom Vorabend schuld.
Hätte sie nur weniger getrunken! Eigentlich war sie trotz allem munter erwacht und hatte sich den Tag über recht wohl gefühlt. Nicht die Spur von einem Kater. Aber konnte dies real sein? So etwas gab es doch nur in Horrorfilmen oder in den billigen Gaslichtromanen, die Ana Karina so gern las.
Der Tag ging in die Nacht über, ohne dass man es merkte. Alles war grau in grau. Das Wasser, die tristen bröckelnden Hausmauern, der Himmel. Ein anderes Venedig, fern ab vom fröhlichen Karnevalstreiben und den eindrucksvollen Palästen. Vor ihnen tauchte plötzlich eine Mauer aus dem Nichts auf. Christina Maria hätte sie vielleicht gar nicht bemerkt, wenn da nicht dieses seltsame violett leuchtende Zeichen gewesen wäre. Es schimmerte durch die Finsternis und schien dem Fährmann seinen Weg zu weisen. Er steuerte mit voller Geschwindigkeit direkt auf die Mauer zu. Christina Maria kniff krampfhaft die Augen zu. Das war das Ende. Jeden Augenblick würden sie gegen die Mauer prallen.
Christina Maria zitterte wie im Fieber, doch der von ihr erwartete Aufprall blieb aus. Die Gondel durchfuhr die Mauer einfach wie ein Stück weiche Butter. Langsam und zögernd öffnete Christina ihre Augen. Noch immer klapperten ihre Zähne wie im Krampf aufeinander, und sie konnte sich nicht unter Kontrolle bringen. Der Wasserspiegel war niedriger geworden, die Häuserfronten wurden nur schwach von flackernden Laternen erleuchtet, aber es wirkte alles ganz anders, vertraut und doch fremd. Geheimnisvoller …
Mit einem Ruck hielt die Gondel an einem hölzernen Steg, der sich neben einem gut erhaltenen weißen Haus, nein, eher schon einem Palast, befand. Der Fährmann drehte sich langsam um und reichte Christina Maria galant die Hand. Die junge Frau erstarrte abermals. Da, wo vorher nur ein Totenkopf war, schaute ihr jetzt das markante Gesicht eines jungen Mannes unter der Kapuze entgegen.
„Willkommen im Venedig des 16. Jahrhunderts, Duca Julietta. Schön, dass Ihr wieder hier seid“, in seinen blauen Augen lag ein warmes Leuchten.
Eine Grotte erhellt von Fackeln, Frauen und Männer in mittelalterlichen Gewändern. Dann unruhiges Gemurmel und eine Bewegung in der Masse. „Duca Julietta, Julietta …“ immer lauter wird das Raunen.
Guido erwachte von einem spitzen Schrei und rieb sich schlaftrunken übers Gesicht. Ana Karina saß mit weit aufgerissenen Augen auf dem Bett und sah im Dämmerlicht des Morgens totenblass aus. Verärgert streckte er die steifen Glieder.
„Ich hatte einen seltsamen Traum“, stellte seine Schwägerin fest und sprang mit beiden Beinen gleichzeitig aus dem Bett.
Guido ahnte nichts Gutes, als sie nach ihren Sachen griff und lautlos im Bad verschwand.
Wenig später saßen sich Ana Karina und Guido bei einem eher dürftigen Frühstück gegenüber.
‚Der Kaffee ist grottenschlecht, schmeckt wie Abwaschwasser, und wenn man bedenkt, dass dies die Hochzeitsreise ist‘, dachte Ana Karina missmutig. Guido schien ihre Gedanken zu erraten.
„Hör mal, es ist nicht meine Schuld, dass deine Schwester ein Zimmer in dieser Spelunke gebucht hat. Ich wollte eine Kreuzfahrt mit ihr machen, aber nein, es musste ja dieses Kaff sein und das auch noch im Februar!“
Ana Karina schnappte hörbar nach Luft. Abgesehen davon, dass Guido Venedig soeben als Kaff bezeichnet hatte, konnte sie ihm diesmal also keine Schuld zuschieben.
„Christina hat das ausgesucht?“, fragte sie fassungslos.
Sie nannte ihre Zwillingsschwester nie beim vollen Namen - im Gegensatz zu Guido. Der schien gerade ein Stück auf seinem Stuhl zu wachsen. Seine Freude währte jedoch nicht lange, denn jetzt musste er den Rest der Geschichte berichten.
„Eine Gondel mit einem Sensenmann darin, willst du mir einen Bären aufbinden, Guido? Nein, mein Lieber, da musst du dir schon was anderes einfallen lassen!“, wütend funkelte sie ihn an.
Sie hat Katzenaugen, das Grün ist viel intensiver als bei Christina Maria, dachte er verwirrt. Traurig sah er sie an: „Es ist die Wahrheit und nein, ich hatte nichts getrunken.“
„Okay, wir gehen zur Polizei“, die Antwort kam sehr entschieden.
Bei der Polizei erfuhren sie, dass es noch viel zu früh war, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Man musste wenigstens die nächsten zwei Tage abwarten. Schließlich handelte es sich um eine erwachsene Frau und kein vermisstes Kleinkind. Die ganze Geschichte klang zudem mehr als unglaubwürdig.
„Auch gut“, resignierte Ana Karina laut. „Bist du dir sicher, dass sie nicht einfach mal nur eine Auszeit brauchte und irgendwann wieder auftaucht?“
Guido wurde blass: „Was meinst du damit? Dass mir meine Frau auf der Hochzeitsreise weggelaufen ist? Ich dachte, du würdest sie besser kennen!“
Etwas in Ana Karina wehrte sich noch immer gegen die Geschichte mit dem Sensenmann. Grübelnd sah sie in das trübe Wasser eines Seitenkanals. Guido stieß ein seltsam gurgelndes Geräusch aus und zeigte auf etwas. Zögernd hob sie den Blick und traute ihren Augen kaum. Er stand vor einem kleinen Geschäft mit Gemälden, und eines davon zeigte einen Sensenmann auf einer Gondel, der auf eine Mauer zufuhr. Ana Karina fasste einen Entschluss und betrat den Laden. Ihr Schwager stand noch immer wie angewurzelt vor dem Schaufenster.
Der alte Mann hinter dem Tresen begrüßte sie freundlich und fragte nach ihrem Begehr. Ana Karina fragte in fließendem Italienisch nach dem Bild, und der nette Herr holte es sogleich aus dem Schaufenster. Es sei ein neueres Bild, relativ günstig im Preis. Bei genauerer Betrachtung konnte sie nun sehen, dass auf der gemalten Mauer etwas gezeichnet war. Eine lilafarbene liegende 8 - das Zeichen für Unendlichkeit.
„Die begnadete Malerin ist übrigens eine Nichte von mir. Leider hat sie schon als Kleinkind ihre Sehkraft verloren“, erzählte der Ladenbesitzer.
„Wissen Sie Signora, gleich als Sie den Laden betreten haben ist mir etwas aufgefallen. Ich möchte Ihnen gern ein anderes Werk zeigen, ein wesentlich älteres Gemälde.“
Er verschwand kurz hinter einem Vorhang und kam mit einem etwas angestaubten Bild in einem verschnörkelten goldenen Rahmen zurück. Es war ein Frauenportrait. Ana Karina warf einen Blick darauf und erstarrte. Ihr eigenes Gesicht blickte ihr entgegen. Diese Frau hatte etwas längeres Haar als sie, aber genauso lockig und kastanienbraun, die gleichen Augen. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem Medaillon. Ein schwarzes Medaillon mit einer in Ornamente gebetteten weißen Rose. Es kam Ana Karina seltsam vertraut vor.
„Wer ist diese Frau?“, fragte sie mit belegter Stimme. „Das ist ein Portrait von Julietta da Montefeltro.“
Ana Karina zitterte plötzlich am ganzen Körper.
„Julietta da Monte…“
„Montefeltro. Die Geschichte reicht bis ins Mittelalter zurück. Julietta war die Sacerdotessa Magna und Hohepriesterin des geheimen Bucintoro-Ordens. Sie verschwand im Jahre 1562 - ohne eine Spur zu hinterlassen.“
Ana Karina hielt den Atem an und schaute noch immer unverwandt auf das Bild.
„Ich möchte das Portrait gern kaufen. Wie teuer ist es?“ Sie wusste, der Preis würde zu hoch sein, sie würde es nicht bezahlen können, aber sie musste es einfach haben. Notfalls würde Guido ihr das Geld eben vorschießen. Er stand noch immer vor dem Schaufenster. Der alte Mann musterte Ana Karina prüfend und sagte dann: „Geben Sie mir dafür, was Sie für richtig halten, und es gehört Ihnen. Ich weiß, dass es so in Ordnung ist.“
„Ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, dass es viel zu wenig ist …“, murmelte Ana Karina, während 300 Euro und das Gemälde den Besitzer wechselten. Der Verkäufer lächelte und verpackte das Bild sorgfältig. Wie in Trance verließ Ana Karina den Laden und blinzelte draußen in die gleißenden Sonnenstrahlen, die plötzlich durch die dichte Nebelwand drangen.
Ana Karina saß im Hotelzimmer mit gerunzelter Stirn vor ihrem Laptop.
Julietta da Montefeltro war die wunderschöne Hochmeisterin eines alten venezianischen Geheimordens, der man magische Kräfte nachsagte. Niemand wusste, woher sie eigentlich kam. Sie tauchte buchstäblich aus dem Nichts auf und reiste angeblich zwischen Venedig, Rom, Neapel und Wien, Augsburg, Hamburg und Madrid so schnell hin und her, wie es sogar mit den modernsten Verkehrsmitteln späterer Zeiten unmöglich wäre, bis sie eines Tages auf mysteriöse Weise ganz verschwand.
Im Jahre 1515 übernahm sie die Leitung des geheimen mystischen Ordens Ordo Bucintoro, dessen politische Ziele weit in die Zukunft hineinreichten. Ein Imperium Novum sollte erschaffen werden, ein Reich unter italienischer und deutscher Führung, in dem nicht mehr die Kirche ausschlaggebend sein sollte, sondern der freie, über sich selbst bestimmende Mensch. Dem einfachen Bürger wurden persönliche Grundrechte zugestanden, etwas völlig Neues in der damaligen Zeit. Frauen sollten die gleichen Rechte besitzen wie Männer und der Wert des einzelnen nicht durch seine Herkunft und Abstammung, sondern allein durch seine Leistung bestimmt werden. Sogar ein neues Geldsystem war geplant, das Horten und Missbrauch von materiellem Reichtum ausschloss.
Ana Karina verdrehte die Augen und seufzte. Was war aus dem Geheimbund geworden? Ach wie weit war doch die heutige Menschheit von diesen edlen Zielen entfernt. Aber sie würde weiterforschen. Irgendwo hier musste der Schlüssel sein. Da war etwas, was zu erledigen war. Etwas, das sie versäumt hatte. Aber sie konnte sich nicht erinnern. Langsam wich das Licht einem trüben Nebel, gleich dem, der über den Straßen und Grachten Venedigs lag.
Als Guido wenig später ins Zimmer trat, fand er seine Schwägerin schlafend auf dem Stuhl an ihrem Laptop vor. Aus ihrem leicht geöffneten Mund drangen die ihm inzwischen schon vertrauten Schnarchtöne.
Guido stöhnte auf. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und sein Magen knurrte wie ein verhungernder Wolf. Unsanft fasste er die Schlafende an den Schultern und rüttelte sie wach. Schlaftrunken sah sie um sich, versuchte sich zu orientieren. Was war das für ein Zimmer, was suchte sie hier?
„Wollen wir denn vielleicht mal etwas essen, Frau Krempelsammlerin?“, donnerte eine verärgerte Stimme in ihrem Ohr.
Plötzlich war sie hellwach, Guido und seine Beleidigungen! Trotz des vielen Geldes war und blieb er ein ungehobelter Klotz, daran würde nichts etwas ändern. ‚Ein Maulesel bleibt ein Maulesel, auch im Pferdegeschirr‘, dachte sie wütend.
Aber sie hatte auch Hunger, das musste sie zugeben. Also würden sie zunächst ein Restaurant suchen und sich stärken. Und danach musste sie einen Plan entwerfen, um Christina zu finden. Ihr Blick fiel auf das Bild mit dem Sensenmann. Und plötzlich wusste sie, wohin sie gehen musste.
Christina Maria schaute fassungslos auf die fürstlich gedeckte Tafel. Es gab Fleischgerichte aller Art, Wein, Süßspeisen und feines Gebäck, dazwischen standen Schalen mit Zitrusfrüchten und mit edlem Wein gefüllte Kelche. Die Männer waren seltsam und farbenfroh, ja fast pompös gekleidet. Weite Überröcke in Rot und Purpur über engen Westen bestimmten das Bild. Die Frauen trugen eher schlichte fußlange Gewänder. Eben ein solches mit Goldbrokat verziertes Gewand, aus heller Seide mit geschlitzten Ärmeln, hatte auch Christina Maria jetzt an. Noch immer wusste sie nicht, wie ihr geschah. Wo war sie und warum?
Mindestens 40 Menschen hatten inzwischen an der langen Festtafel Platz genommen.
„Julietta, meine Schöne, wie ist es Euch ergangen? Wir dachten schon, Ihr seid uns auf ewig verloren.“ Ein älterer Herr prostete ihr zu.
„Ich bin nicht Julietta, mein Name ist …“, entgegnete sie leise.
Doch ihre Stimme war nur ein Wispern im Raum, übertönt von Trinksprüchen, Gelächter, Stimmengewirr und Essgeräuschen. Die riesige Halle wurde lediglich von Kerzen beleuchtet, die in Ständern und Wandhalterungen befestigt waren. Die Decke war schwindelnd hoch und wie die Wände reichlich mit Ornamenten verziert. Es war so kalt. Christina zog fröstelnd ihre Schultern hoch. Und ganz allmählich wurde ihr klar, dass dies hier kein Traum war, aus dem man einfach wieder erwacht.
Irgendetwas war geschehen, als die Gondel die Mauer mit dem Zeichen passierte. Dies war ein anderes Venedig als das, welches sie kannte. Die Menschen trugen altertümliche Kleidung, drückten sich merkwürdig aus, es gab kein elektrisches Licht. Und plötzlich durchfuhr es sie wie ein Blitz: Wenn dies kein besonders verrückter Kostümball war, dann befand sie sich gerade in einem venezianischen Palast im finstersten Mittelalter.
Ana Karina öffnete vorsichtig die morsche Holztür, von der die grüne Farbe schon abblätterte und trat in einen üppig mit Grünpflanzen geschmückten Innenhof. Guido folgte ihr nur zögernd. Im Bilderladen hatte der alte Mann ihnen bereitwillig die Adresse der blinden Malerin gegeben. Auf einem Schaukelstuhl rekelte sich eine schwarze Katze, die jetzt träge ein Auge öffnete und herzhaft gähnte. Ana Karina strich ihr schmunzelnd über den Kopf, sie hatte eine Vorliebe für Katzen, und diese hier hätte sie am liebsten gleich mitgenommen. Ihr Schwager machte einen großen Bogen um den Schaukelstuhl. ‚Wahrscheinlich hat er Angst, dass er nachher ein paar Katzenhaare auf seiner feinen Anzughose findet‘, dachte sie spöttisch.
Dann sah sie forschend zu den geöffneten Fensterläden des Hauses hoch. Sie waren dunkelgrün gestrichen und harmonierten mit dem sandfarbenen Anstrich des Hauses. Überhaupt strahlte alles hier Ruhe aus, und irgendwie fühlte sie sich fast wie zu Hause. Von Guido konnte man das nicht behaupten. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen, er fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Die Katze erhob sich geschmeidig und streckte sich. Dann rieb sie sich schnurrend an Ana Karinas Beinen und verschwand durch eine offene Tür, die ins Innere des Hauses führte. Die junge Frau folgte ihr ohne zu zögern und fand sich in einem dämmerigen Flur wieder. Es war so vertraut, als sei sie schon einmal hier gewesen. Aber wann?
‚Vor sehr langer Zeit‘, raunte eine leise Stimme in ihr. Es war ihr nicht bewusst, warum sie gerade die dritte Tür, links auf dem langen Korridor, öffnete. Wahrscheinlich musste es einfach so sein. Vor dem Fenster saß eine junge Frau und sah hinaus. Als sie ihr Gesicht zur Seite wandte, erkannte Ana Karina, dass die Frau blind war. Es musste sich also um die Malerin handeln. Sie hatte aus dem Fenster geschaut und doch nichts gesehen, aber anscheinend etwas erwartet.
„Da sind Sie ja“, sagte sie auf Italienisch. „Ich wusste, dass Sie heute kommen.“
Ihre Stimme hatte jenen harmonischen Klang, der die italienische Sprache fast zum Gesang macht, ihr Gesicht war freundlich und irgendwie schön.
„Woher wussten Sie das?“ Ana Karina war erstaunt.
„Ich habe schon lange gewartet …“
„Mein Name ist Ana Karina, und ich habe gestern dieses Portrait gekauft … “
Ihre Stimme brach ab. Die Blinde konnte das Bild ja gar nicht sehen, das sie ihr entgegenhielt.
„Ich weiß“, lautete die ruhige Antwort.
„Aber wie …?“
„Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, die Dinge anders zu sehen als mit meinen Augen, denn ich bin von früher Kindheit an blind. Ich heiße übrigens Chiara.“
Ein feines Lächeln überzog ihr schmales Gesicht. Sie griff nach einer kleinen Glocke, und ein helles Bimmeln erschallte. Kurz darauf betrat eine alte Frau mit einem Tablett den Raum und servierte Kaffee und Plätzchen. Freundlich nickte sie in die Runde. Auch Guido war inzwischen eingetreten, konnte aber nichts von der Unterhaltung verstehen.
„Bitte nehmen Sie doch Platz.“
Chiara wies auf die gemütliche Sitzecke vor dem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer loderte. Ana Karina hätte schwören können, dass es noch nicht brannte, als sie den Raum vorhin betrat. Und vor dem Kamin lag die schwarze Katze …
Chiara stellte ihre Tasse geschickt auf die Untertasse zurück und strich sich eine Strähne ihres haselnussbraunen Haares aus der Stirn.
„Ich sehe Bilder vor meinen inneren Augen, wie man so schön sagt, und dann male ich sie. Wie und warum ich das kann, weiß ich nicht. Sagen wir, es ist eine besondere Gabe.“
Sie lächelte. Ihre Augen waren jetzt mit einer dunklen Brille bedeckt.
„Aber wie ist denn nun das Bild mit dem Fährmann entstanden?“, wollte Ana Karina wissen.
„Es ist noch ganz neu, ich habe es erst vor wenigen Tagen gesehen und dann auf das Papier übertragen …“
Jetzt war es an Guido, seine Geschichte zu erzählen. Chiara nickte: „Ja, ich habe die Braut gesehen, aber sie trug kein Brautkleid sondern ein Karnevalskostüm.“
Guido fuhr zusammen und starrte die Gastgeberin fassungslos an. Auch Ana Karina fröstelte plötzlich trotz der Wärme im Raum. Sie beugte sich entschlossen vor.
„Chiara, wo befindet sich diese Mauer? Und wo ist meine Schwester?“
„Ich weiß es nicht, ich kann nur das aufzeichnen, was ich sehe.“
Ratlos zuckte sie mit den Schultern. Ana Karina grübelte. So viele Fragen. Und was hatte das bisher gebracht? Trotz allem waren sie keinen Schritt weitergekommen. Plötzlich fiel ihr etwas ein.
„Wo warst du, als du das Bild gemalt hast? Hier im Raum?“ Die blinde Malerin schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich arbeite immer draußen an meinen Bildern. An einem ganz bestimmten Platz. Ich führe euch gern dorthin. Es ist gleich hinter dem Haus.“
Sie griff nach ihrem Stock und verließ zielsicher das Zimmer. An der Garderobe zog sie sich eine warme Kapuzenjacke an und entriegelte die Tür ganz hinten am anderen Ende des langen Flures. Sonnenlicht strömte herein und gab den Blick auf ein wildes Stück Garten frei. Chiara trat hinaus und tastete mit dem Stock den Boden ab. Ana Karina hielt den Atem an, als sie das flache überdachte Plateau mit der Staffelei direkt am Abhang sah. Das war sogar gefährlich, wenn man sehen konnte. Es gab nur ein niedriges Geländer, das, sollte man ins Straucheln geraten, kaum vor einem Absturz schützen konnte. Die Malerin lächelte und sagte beruhigend: „Nein, hier bin ich sicher, es kann mir nichts passieren.“
Sie winkte ihre Gäste heran und deutete nach unten. Ana Karina traute ihren Augen nicht. Fassungslos sah sie auf die Mauer, die den Kanal versperrte. Und auf der Mauer war ein lila Zeichen, eine liegende 8, genau wie auf dem Bild.
„Kann man dort irgendwie hinunter, Chiara, oder ist die Mauer nur auf dem Wasserweg zu erreichen?“
Chiara schüttelte den Kopf: „Soweit ich weiß, wird dieser Kanal schon lange nicht mehr befahren.“
Ja, warum auch? Schließlich war er wegen der Mauer unpassierbar geworden. Es gab weder Stufen noch eine andere Möglichkeit, den steilen Hang hinabzusteigen, ohne Gefahr zu laufen, sich das Genick zu brechen.
„Guido, wir müssen ein Boot beschaffen“, eröffnete sie ihrem Schwager, nachdem sie das Haus wieder verlassen hatten. Guido sah sie begriffsstutzig an. Im Denken war er wirklich nicht der Schnellste, und Ana Karina hatte sich schon so manches Mal gefragt, wie er es eigentlich geschafft hatte, in seiner Firma solch einen hohen Posten zu besetzen. Sicherlich hatte das berühmte Vitamin B dabei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.
„Ich möchte mir die Mauer am Kanal einmal genauer ansehen“, fügte sie erklärend hinzu.
Guido gab ein murrendes Geräusch von sich. Er war müde und hätte jetzt lieber ein kleines Nickerchen gemacht. Stattdessen kauften sie nun erst diverse Dinge ein: zwei Taschenlampen, Batterien, ein Seil, Verbandszeug und Proviant. Was glaubte seine Schwägerin wohl an der Mauer zu finden?
„Morgen früh geht’s los, heute ist es schon zu spät“, teilte dieselbe ihm freundlich mit und strahlte ihn aus grünen Katzenaugen an. Sie wusste instinktiv, dass sie auf der richtigen Spur war.
Marco starrte finster vor sich hin.
„Sie erinnert sich an nichts! Wie ist das möglich?“
Giuseppe runzelte die Stirn und legte dem Freund beschwichtigend seine Hand auf die Schulter.
„Lass ihr etwas Zeit, es ist alles noch zu neu. Sie kommt ja gerade aus einer ganz anderen Welt.“
„Ja, aber es ist doch nicht das erste Mal“, er sah plötzlich besorgt aus.
„Kann es sein, dass sie es gar nicht ist?“
Giuseppe schüttelte den Kopf.
„Sie muss es sein. Schau dir doch ihr Gesicht an, und außerdem trägt sie das Medaillon.“
„Ja, aber ich fühle nichts. Sonst war es irgendwie anders. Jetzt ist mir, als wären plötzlich alle Bindungen gekappt. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll …“ Marcos blaue Augen verdüsterten sich, und er sah sein Gegenüber ratlos an.
„Das ist allerdings seltsam“, gab Giuseppe zu.
„Bisher habt ihr euch immer gegenseitig erkannt, schließlich gehört ihr zueinander wie Sonne und Mond. Auch wenn sich eure Umlaufbahnen in letzter Zeit nur noch selten kreuzen.“
Er lachte auf und prostete dem Freund fröhlich zu.
Der Wein war köstlich und benebelte langsam aber sicher die Sinne. Alle schwermütigen Gedanken nahm er hinfort, und die düsteren Wolken am Firmament lösten sich in Wohlgefallen auf.
Marco wurde wieder zuversichtlicher. Morgen würde ein neuer Tag sein, er würde Klarheit bringen. Und wenn nicht, dann würden sie eben warten müssen und sich in Geduld üben. Julietta würde alle Zeit der Welt bekommen, um sich zu erinnern, wer sie war. Marco lächelte versonnen. Und dann würde alles wieder so sein wie immer, wenn sie von ihren geheimnisvollen Reisen zurückkehrte.
Christina Maria fröstelte. Im Mittelalter war es nicht weit her mit den Heizmöglichkeiten, und sie war sich inzwischen sicher, einen Zeitsprung gemacht zu haben. Wenn sie auch nicht wusste, wie so etwas möglich sein sollte. Das Italienisch klang ihr fremd, sie musste sich richtig Mühe geben, alles zu verstehen. Und dazu noch dieser Marco, der sie immer so von der Seite ansah, als würde er irgendetwas erwarten. Warum war sie hier? Was wollten all diese Fremden von ihr? Und wo war Guido?
„Julietta …“
Marco legte seine Hand auf ihre Schulter.
Unwillkürlich verkrampfte sie sich.
„Lass uns ein Stück spazierengehen.“
Langsam gingen sie die leere Straße hinunter. Erst als sie nach einer Weile einen belebten, von Tauben bevölkerten Platz erreichten, brach Christina Maria das Schweigen.
„Der Marcusplatz!“, rief sie überrascht. Marco sah sie zweifelnd an.
„Du erinnerst dich anscheinend wirklich nicht.“
„Mich erinnern? An was?“
„Wir waren so oft gemeinsam hier“, seine Stimme klang jetzt bitter, und das Blau seiner Augen wirkte nicht mehr so strahlend wie zuvor.
„Du solltest aufhören, in der Zeit zu reisen, es bekommt dir anscheinend nicht.“
Christina Maria fühlte Wut in sich aufsteigen.
„Ich reise nicht in der Zeit! Ein Skelett hat mich auf diese blöde Gondel gezwungen und entführt. Das weißt du ganz genau, weil du es selber warst! Ich bin nicht Julietta, mein Name ist Christina Maria, und … und ich war gerade auf meiner Hochzeitsreise!“, schleuderte sie ihm entgegen. „Niemals wäre ich freiwillig hierher gekommen! Alles ist so primitiv und dazu diese unbequeme Kleidung!“ Sie riss an dem steifen Kragen, der das Kleid oben abschloss. „Ich will wieder zurück zu Guido, in meine Zeit, hörst du!“
Marco versuchte vergeblich, die kleinen Hände festzuhalten, die jetzt verzweifelt auf ihn einschlugen. Die grünen Augen schossen Blitze ab.
„Bring mich zurück! Sofort!“
„Das geht nicht“, Marco hob hilflos die Achseln.
„Warum nicht?“
„Das Zeittor ist geschlossen, es öffnet sich nur an bestimmten Tagen. Du musst warten, bis es wieder so weit ist.“ Christina Marias Fäuste sanken kraftlos herab.
„Wie lange muss ich warten? Wann ist das Tor wieder passierbar?“
„In der Nacht der Toten, am 31. Oktober.“
„Am 31. Oktober erst, so lange …“, murmelte die junge Frau.
Benommen schwankte sie am Arm ihres Begleiters über den Markusplatz.