Liebe unter Mandelblüten - Silke Ziegler - E-Book + Hörbuch

Liebe unter Mandelblüten E-Book und Hörbuch

Silke Ziegler

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Beschreibung

Leicht und herzerwärmend wie die erste Liebe. Ein bezaubernder Liebesroman mit Wohlfühlgarantie. Linda Martens eröffnet nach mehreren persönlichen Rückschlägen an der idyllischen Bergstraße gemeinsam mit ihrer Großmutter Henny ein kleines Büchercafé. Bei dem Versuch, ihre Lieblingsautorin für eine Lesung zu gewinnen, begegnet sie dem gut aussehenden Literaturagenten Daniel Hübner, der ungeahnte Gefühle in ihr weckt. Bis sich herausstellt, dass er ein schwerwiegendes Geheimnis hütet, und wieder einmal alles schiefzugehen droht …

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Seitenzahl: 420

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Zeit:9 Std. 30 min

Sprecher:Jasmine Kadisch

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Silke Ziegler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als ihr während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs die Idee für ihr erstes Buch kam. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist oder an einem ihrer Romanprojekte schreibt, geht sie gern wandern oder liest.

www.autorin-silke-ziegler.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive lookphotos/Ernst Wrba, shutterstock.com/mapman

Lektorat: Dr.Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-032-7

Roman

Originalausgabe

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Für all meine Leserinnen und Leser,

Glücklich allein ist die Seele, die liebt.

1

Linda

Das Fachwerkhaus, das meine Oma vor Kurzem geerbt hat, entspricht genau meinen Erwartungen. Ich drehe mich um die eigene Achse und begutachte den gesamten Raum. Er ist groß, aber nicht unpersönlich, gemütlich, aber nicht kitschig. Die Holzbalken, die über die Fläche verteilt die Decke stützen, wirken warm und heimelig. Die Theke des ehemaligen Bastelgeschäfts würde sich prima als Tresen für die Torten eignen. Und die lange hintere Wand? Ich lächle stumm in mich hinein. An dieser Wand sehe ich bereits gedanklich das Regal, das ich in meinem Büchercafé anbringen werde. Ich kneife die Augen zusammen und schätze die Höhe ab. Mindestens fünf Böden könnten übereinanderpassen. Wenn ich das mit der Breite von … ich taxiere die Mauer und beziffere sie auf ungefähr fünf Meter. Fünf mal fünf Meter, ich kann mein Glück kaum fassen. Wie viele Bücher kann ich dort unterbringen? Ein Regalboden für all die Liebesromane, die unser und vor allem mein Herz erwärmen, einer für Krimis, das muss einfach sein, auch wenn ich mit diesem Genre nur wenig anfangen kann. Ein Regal für Kinder- und Jugendbücher, eines für phantastische Romane und eines für … alles Mögliche. Alles, was sich nicht in ein bestimmtes Genre zwängen lässt. Ach, am liebsten würde ich sofort mit den Planungen beginnen. Hier und jetzt.

Ich drehe mich um und mache einen Schritt auf Oma zu. »Was sagst du?«

Sie wiegt ihren Kopf und verzieht den Mund. »Ich weiß nicht … Das Haus ist sehr alt.«

Ich schüttle den Kopf. »Das Haus ist alt, aber es ist ein … Traum. Oma, es gehört jetzt dir. Die beiden Wohnungen oben sind schon toll, aber diese Räumlichkeiten hier unten …« Ich zeige um mich herum. »Kannst du es dir vorstellen?«

Sie seufzt und zieht die Brauen hoch. »Ich bin mir nicht sicher.«

Ich verdrehe die Augen. Seit wir vor drei Stunden in Köln losgefahren sind, habe ich unaufhörlich auf sie eingeredet. Ich habe ihr die Nachteile aufgezeigt, die ihre Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug in der Kölner Innenstadt zukünftig für sie haben könnte. Ich habe ihr all die Vorzüge des Lebens in einer kleineren Stadt dargelegt, obwohl ich erst zwei- oder dreimal kurz in Weinheim war. Doch Dr. Google hat mir treue Dienste erwiesen, und so habe ich ihr von den verschiedenen Sehenswürdigkeiten erzählt, von den zwei Burgen, dem Schlosspark, dem Gerberbachviertel mit seinen pittoresken Fachwerkhäusern, wo Oma nun selbst eines dieser herrlichen Gebäude besitzt. Ich habe ihr von Heidelberg und seinem romantischen Schloss vorgeschwärmt, das ich mir übrigens selbst erst vor zwei Tagen zum ersten Mal im Internet angesehen habe. Ich habe wirklich alles getan, um Oma davon zu überzeugen, dass ein Neubeginn hier im Norden Baden-Württembergs genau das ist, was wir beide jetzt brauchen.

Da sie noch immer zögerlich durch den Raum geht, öffne ich die Ladentür und trete auf das Kopfsteinpflaster der Gasse. »Komm bitte mal her, Oma.«

Als sie neben mir steht, zeige ich den Weg hinauf. »Sieh dir doch mal diese Idylle an. Der kleine Bach unten fließt gemächlich vor sich hin. Diese Häuser … Eines ist schöner und gepflegter als das andere«, fahre ich fort. »Und die …«

»Linda«, unterbricht sie mich lächelnd. »Ich bin hier aufgewachsen. Ich kenne dieses Viertel seit fünfundsiebzig Jahren.«

»Dann gib dir doch bitte einen Ruck. Es ist deine Heimat. Du könntest mir alles zeigen. Simone lebt hier. Sicher würde sich deine Tochter freuen, wenn du zu ihr in die Nähe ziehst.« Dass ihre andere Tochter Tina, meine Mutter, von unserem gemeinsamen Wegzug hingegen wenig begeistert wäre, lasse ich selbstverständlich unerwähnt. »Und Agnetha und Björn fänden es bestimmt auch sehr cool, wenn sie ihre Oma öfter zu Gesicht bekämen.«

»Ach, Linda.« Sie wendet den Kopf und sieht die Straße entlang.

Die grünen Klappläden am Nachbarhaus sehen aus, als seien sie frisch gestrichen. Rote Geranien blühen in den hölzernen Blumenkästen vor den Fenstern. An der ebenfalls grün gestrichenen Haustür hängt ein Kranz aus Stroh, auf dem sich drei gelbe Stoffvögelchen tummeln.

»Sieht es nicht aus wie im Märchen?«, schwärme ich weiter.

Oma lacht. »Also, dass jemand Weinheim als märchenhaft bezeichnet …«

»Ja«, bekräftige ich mit ernster Stimme. »Alles ist so sauber, so gepflegt, so ruhig.« Ich drehe mich um und zeige zur Tür. »Kannst du dir das Schild vorstellen?« Ich lasse meinen Blick über das Gebäude wandern. »›Kleines Büchercafé‹, weiße Schrift auf grünem Untergrund. Ein wenig schnörkelig, aber nicht zu sehr.« Ich berühre Oma am Oberarm. »Bitte, streng deine Phantasie an.«

»Ach, Linda«, wiederholt sie leise.

»Was ist?« Ich betrachte ihr Gesicht. Sie wirkt nachdenklich, fast wehmütig. »Du willst nicht«, folgere ich enttäuscht.

»Das habe ich nicht gesagt«, widerspricht sie gedehnt. »Es ist nur …«

»Wir könnten neu anfangen, Oma«, wage ich einen letzten Versuch. »Du und ich, hier in Weinheim. Björn und Agnetha könnten uns helfen. Und Simone und Ralf ebenfalls. Wir wären nicht allein.«

»Was ist mit deinen Eltern? Und deiner Schwester?«, fragt Oma, während sie mich ansieht.

Ich zucke mit den Achseln. »Mama und Papa werden es schon verstehen. Immerhin wäre es mein eigenes kleines Büchercafé.«

Allzu viel habe ich in meinem bisherigen Leben ja noch nicht auf die Reihe bekommen. Achtundzwanzig Jahre alt, abgebrochenes Abitur, abgebrochene Ausbildung, abgebrochene Beziehungen. So in etwa lässt sich meine Biografie bis zum heutigen Tag in Kurzform zusammenfassen. Nichts, worauf ich stolz sein könnte, nichts von Beständigkeit. Wahrscheinlich wären meine Eltern froh, wenn ich eine neue Aufgabe hätte. Der momentane Aushilfsjob in der Bäckerei ist mit Sicherheit nichts für die Ewigkeit. Und meine Schwester Miriam? Die würde nicht einmal merken, dass ich nicht mehr in Köln lebe. Im Gegensatz zu mir führt Miriam das perfekte Leben. Sie hat einen perfekten Job, sie ist nämlich Lehrerin. Außerdem hat sie einen perfekten Ehemann, mit dem sie eine perfekte Ehe führt und zwei sehr süße perfekte Kinder hat. Ach ja, und ein perfektes Haus haben sie auch. Also alles perfekt sozusagen.

»Es wäre ein großer Schritt«, merkt Oma an.

Ich nicke. »Aber kein größerer als der, meine Buchhändlerausbildung hingeworfen zu haben.« Ich kann noch nicht aufgeben. Die Verlockung ist zu groß. Mein Leben lang habe ich von einer eigenen Buchhandlung geträumt. Nachdem ich die Ausbildung abbrechen musste, na gut, abgebrochen habe, weil die Beziehung mit meinem damaligen Chef und … Freund in die Brüche ging, platzte dieser Traum wie eine Seifenblase. Ein kleines Büchercafé wäre der Inbegriff von allem, was ich mir in meinem Leben wünsche. Ich liebe Bücher, ich liebe es, in Geschichten einzutauchen. Ich liebe es, anderen Menschen die schönen Seiten des Lesens nahezubringen. Und ich liebe es zu backen. Ich könnte meine beiden schönsten Hobbys zusammenführen. Ich könnte alle Entscheidungen allein treffen, hätte niemanden, der mir sagt, was ich zu tun und was ich zu lassen habe.

»Lass uns den Neuanfang wagen, Oma. Bitte! Wir schaffen das. Ich bin mir sicher.«

Oma lachte. »Neuanfang«, wiederholt sie schmunzelnd. »Linda, ich bin fünfundsiebzig Jahre alt. In diesem Alter ist nicht mehr viel mit Neuanfang.«

Ich nicke. »Doch, du irrst dich. Das ist genau der richtige Zeitpunkt, um deinem Leben noch mal eine neue Wendung zu geben.« Ich schiebe sie wieder in den Laden zurück. »Sieh dir die Theke an. Dort könnten unsere Torten stehen.« Ich drehe sie um einen Viertelkreis. »Und dort könnten wir eine kleine Leseecke einrichten. Wir könnten Kindernachmittage veranstalten, an denen wir Bücher vorstellen und vorlesen. Klingt das nicht herrlich?«

Ich merke selbst, dass ich vor Begeisterung fast überschäume, aber ich kann mich nicht bremsen. Meine Phantasie reißt mich mit, ich kann die Euphorie nicht unterdrücken, die dieses Haus in mir auslöst. Und ich möchte es auch gar nicht.

»Du wünschst dir das wirklich sehr«, erwidert Oma und streicht mir übers Haar.

Wieder nicke ich. »Das Haus ist so super.« Ich halte inne. »Und zur Eröffnung liest Marie Federmann aus ihrer Trilogie.«

»Du weißt, dass diese Frau keine Lesungen abhält«, gibt Oma zu bedenken.

Ich sehe ihr fest in die Augen. »Eins verspreche ich dir: Wenn du mich mein Büchercafé eröffnen lässt, wird Marie Federmann ihre erste Lesung in unserem Etablissement abhalten.« Ich klinge sehr überzeugt, obwohl mir klar ist, wie unwahrscheinlich meine Ankündigung ist.

»Ich habe dich noch nie so schwärmerisch gesehen«, stellt Oma fest und klingt erstaunt.

»Es ist ein großer Traum, Oma. Mein großer Traum.«

»Und Träumen soll man bekanntlich nicht im Weg stehen«, antwortet sie und breitet die Arme aus.

Ich kann es kaum fassen. »Heißt das Ja?«

Um ihre Augen bilden sich unzählige Lachfältchen, als sie nickt. »Lebe deinen Traum, Linda. Und egal, was da auch kommen mag: Ich bin hier und helfe dir.«

Ich sinke in ihre Arme und muss meine Tränen zurückhalten. Mein eigenes kleines Büchercafé. So gerührt war ich, glaube ich, noch nie in meinem Leben.

2

»Jane Austen neben Scarlett oder doch lieber neben Jay Gatsby?«, murmle ich gedankenversunken vor mich hin, während ich meinen Blick über die Buchrücken schweifen lasse. So viele Liebesdramen geballt auf einem Flecken, ich kann mein Glück noch immer kaum fassen. In jedem der Regalböden ist noch etwas Luft, sodass ich die Sammlung kontinuierlich erweitern kann. Was gibt es Schöneres?

Ich stelle mir vor, wie ich nach einem arbeitsreichen Tag mein Café schließe, mich vor das Bücherregal stelle und mir überlege, ob mir der Kopf eher nach Mr. Darcy steht oder der unsterblichen Liebe von Romeo und Julia. Ich schließe kurz die Augen, weil mich meine Freude über die Entwicklungen der letzten Wochen erneut zu überwältigen droht. Mein eigenes kleines Büchercafé.

Es war nicht so einfach, wie ich es mir anfangs vorgestellt hatte, und fast wäre das Ganze an den Renovierungskosten gescheitert, die die Bank mir ohne Businessplan nicht finanzieren wollte. Als Oma dann überraschend anbot, mir einen privaten Kredit zu gewähren, kam mir das wie die buchstäbliche Rettung in letzter Minute vor. Ein Vorschuss auf dein Erbe, erklärte sie mir augenzwinkernd. Als mein Opa vor fünf Jahren starb, hatte Oma das gemeinsame Haus verkauft und war in eine kleinere Mietwohnung umgezogen. Damals wollte sie den ganzen Ballast wie die aufwendige Gartenarbeit, die mit dem großen Grundstück einherging, sowie das mühsame Reinigen von einhundertsechzig Quadratmetern Wohnfläche loswerden.

Ich weiß, dass sie mit ihren Töchtern vereinbart hatte, den Verkaufserlös eines Tages auf ihre vier Enkel zu verteilen. Ich kam mir trotzdem schäbig vor, als sie mir die Summe überwies. Daher nahm ich mir fest vor, dass ich den Betrag ratenweise schnellstmöglich an sie zurückzahlen würde, sobald das Café erste Erträge abwirft. Ich möchte keine Schmarotzerin sein, kam mir aber nach dieser Aktion genau so vor.

»Frau Martens?«, tönt es vom Hof hinter dem Haus.

Notgedrungen lasse ich den restlichen Bücherstapel vor dem Regal liegen und löse mich von meiner Einräumaktion.

Als ich ins Freie trete, scheint die Sonne von einem wolkenlosen azurblauen Himmel. Die Rosen in der linken Ecke des Hinterhofs verströmen einen betörenden Duft.

»Sehen Sie mal«, sagt der junge Handwerker, der seit fünf Tagen dabei ist, die gebrochenen Platten um das Haus herum zu ersetzen.

Ich stelle mich neben ihn und folge seinem Blick. »Klasse.«

Er strahlt mich von der Seite an. »Finden Sie wirklich?«

Ich nicke. »Man erkennt kaum einen Unterschied zwischen den alten und den neuen Platten. Das haben Sie richtig toll hinbekommen.«

Die Firma ist eine Empfehlung meiner Tante Simone gewesen und jeden Cent ihres Angebots wert.

»Genau so war es mein Wunsch«, fahre ich fort, während ich mir eine dunkle Holzbank neben dem Wohnungseingang vorstelle, daneben ein Orangen- oder Zitronenbäumchen. Weinheim liegt in einer Gegend, die wegen ihres Klimas »die Toskana Deutschlands« genannt wird, unter anderem auch wegen der frühen Mandelblüte. Mein Onkel Ralf hat uns erklärt, dass Zitrusfrüchte hier eine gute Überlebenschance hätten.

»Das freut mich«, sagt der junge Mann neben mir und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Bis heute Abend bin ich fertig.«

Ich sehe ihn an. »So schnell?«

Er lacht. »Na ja, so viel war nun auch wieder nicht zu erneuern.«

Ich runzle die Stirn. »Aber Sie sagten doch, dass Sie nicht genau wüssten …«

»Ich kalkuliere lieber immer etwas länger, sonst sind die Kunden enttäuscht, wenn es dann doch nicht so schnell fertig wird wie erwartet. Lieber eine positiv überraschte Kundin als eine genervte.« Wieder lacht er. Um seine Augen bilden sich kleine Fältchen.

Er sieht nett aus, denke ich, verdränge aber sofort den Gedanken. Der Kerl ist Anfang zwanzig. Was soll er mit einer alten Schachtel von achtundzwanzig wie mir? Ich schüttle den Kopf angesichts meiner absurden Überlegungen.

»Stimmt etwas nicht?« Sein Gesicht nimmt einen irritierten Ausdruck an.

Ich winke ab. »Nein, nein, alles in Ordnung. Ich bin … sehr zufrieden. Wirklich.«

»Dann mache ich mich mal wieder an die Arbeit, dass ich den anvisierten Zeitplan auch tatsächlich einhalten kann.«

Ich wende mich ab und möchte in den Laden zurückgehen, als ich Oma erblicke, die mit meiner Cousine Agnetha gerade die Gasse heruntergelaufen kommt.

»Huhu, Cousinchen.« Die rothaarige Agnetha winkt mir zu.

»Ich habe sie in der Fußgängerzone getroffen«, erklärt Oma, während sie den Einkaufskorb abstellt.

»Der Hof wird heute fertig.« Ich zeige mit dem Daumen hinter mich.

»Super. Wie weit seid ihr denn?«, möchte meine Cousine wissen.

»Komm mit«, fordere ich sie auf und schiebe sie in den Laden.

»Ich räume die Lebensmittel weg«, ruft Oma von draußen und schließt die Tür auf, die zu den beiden Wohnungen über dem Laden führt.

Agnetha sieht sich mit offenem Mund um. »Das ist … Linda, das ist wunderschön geworden.«

Ich nicke zufrieden. Die unterschiedlich farbigen Sessel, die wir in Gruppen um runde Holztische gestellt haben, verleihen dem zukünftigen Café fast eine Wohnzimmeratmosphäre. In der Ecke gegenüber der Theke haben wir verschieden große Kissen drapiert, sodass dort eine gemütliche Leselounge entstanden ist, in der wir entweder kleinere Veranstaltungen durchführen oder in die sich Gäste mit einer Tasse Kaffee oder Tee zurückziehen können, wenn sie in eines der unzähligen Bücher hineinschmökern möchten. An den Wänden habe ich alte Lesungsplakate angebracht, die ich bei diversen Verlagen angefragt hatte. Die Theke blitzt und blinkt und wartet nur darauf, mit unseren ersten Tortenkreationen bestückt zu werden.

»Dir gefällt es«, stelle ich fest und kann meinen Stolz nicht verbergen.

»Machst du Witze, Linda?« Agnetha schüttelt den Kopf. »Das Café ist … wundervoll.« Sie zeigt zu dem Regal. »Und all die Bücher.«

Ich lächele. »Das Herzstück des Cafés.«

»Dürfen sich die Leute die Bücher auch ausleihen?«

Ich überlege. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich möchte natürlich nicht, dass die Bücher auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Andererseits … jeder soll sich willkommen fühlen und sich bedienen dürfen.«

Agnetha fährt mit ihrer Hand über eine Schmuckausgabe von Shakespeare. »Wow«, entfährt es ihr andächtig. »Einige davon sind doch sicher sehr wertvoll.«

Ich zucke mit den Achseln, aber Agnetha hat schon recht. Ich schätze, dass die Hälfte des Geldes, das ich in meinem Leben je verdient habe, in diesem Regal steckt. Eindeutig ein Argument gegen das Verleihen.

»Du hast hier wirklich etwas ganz Tolles geschaffen«, flüstert meine Cousine voller Ehrfurcht, während sie sich umsieht.

»Na ja, allein hätte ich das niemals geschafft. Deine Eltern haben uns dankenswerterweise enorm beim Streichen geholfen, Björn hat sich um die Lampen gekümmert, und du warst eine große Hilfe bei unserer Putzaktion.«

»Aber es war deine Idee«, widerspricht Agnetha und umarmt mich. »Ich wünsche dir allen erdenklichen Erfolg. Die Weinheimer und auch die Menschen aus der Umgebung werden dieses Café lieben. Es hat Charme. Es empfängt dich mit einem freundlichen Gesicht. Man fühlt sich auf Anhieb wohl.«

Ihre Worte entlocken mir ein Lächeln. »Vielen Dank. Das ist sehr lieb von dir.«

Ich freue mich ehrlich über Agnethas Rückmeldung. Außerdem bin ich sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Hatten mir die Räume bereits bei unserem ersten Besuch vor drei Monaten sofort gefallen, so bin ich mittlerweile regelrecht verliebt in die behagliche und heitere Atmosphäre. Daher kann ich es kaum noch abwarten, bis ich das Café offiziell eröffnen darf.

3

Henny

Während ich in der Bäckerei warte, bis ich an der Reihe bin, überschlagen sich meine Gedanken. Habe ich einen Fehler gemacht, als Linda und ich uns für den Umzug nach Weinheim entschieden haben? Henny, was machst du eigentlich, frage ich mich wieder und wieder. Man kann vor seinen Erinnerungen niemals fliehen. Diese bittere Erfahrung habe ich vor über fünfzig Jahren schon einmal machen müssen. Und in diesen Tagen geht es mir ähnlich. Seit Siegbert gestorben ist, plätscherte mein Leben in Köln mehr oder weniger ereignislos vor sich hin. Ab und zu traf ich mich mit einer alleinstehenden Bekannten. Tina habe ich ebenfalls alle zwei Wochen gesehen. Wir sind Kaffee trinken gegangen, oder sie und ihre Familie luden mich zum Mittagessen zu sich ein. Man nimmt sich so viele Dinge vor, während man berufstätig ist, die man alle im Rentenalter umsetzen möchte. Man schmiedet Pläne, möchte reisen, will die Welt noch einmal neu entdecken.

Und dann stirbt dein Mann ganz unerwartet und mit ihm ein Teil von dir selbst. Alles, was sich zu zweit unglaublich verlockend und aufregend anfühlt, macht allein einfach keinen Sinn. Wohin sollte ich reisen? Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, mich allein in ein Flugzeug Richtung Australien zu setzen. Oder eine transatlantische Kreuzfahrt in einer Einzelkabine zu erleben. Allein am Katzentisch beim Captainsdinner? Niemals. Ein Schicksalsschlag kann von jetzt auf nachher sämtliche Prioritäten in deinem Leben verschieben.

Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass Lindas Idee mit dem Büchercafé gerade zum richtigen Zeitpunkt kam. Wobei Olgas Tod den Stein eigentlich erst ins Rollen brachte. Über meine drei Jahre ältere Schwester weiß ich nach wie vor nur wenig Gutes zu berichten, doch der Zeitpunkt ihres Todes hätte tatsächlich besser nicht sein können. Gut, das kann ich so nicht stehen lassen. Trotz aller Konflikte war sie immer noch meine Schwester, auch wenn ich sie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte. Wir wuchsen zusammen auf und hatten in unserer Kindheit und Jugend richtig gute Zeiten miteinander. Und doch … Verzeihen konnte ich ihr nicht, kann ich ihr immer noch nicht, ganz davon abgesehen, dass sie mich nie um Verzeihung gebeten hat.

»Was darf es sein?«, reißt mich die Verkäuferin aus meinen Grübeleien.

»Ich hätte gern ein Vollkornbrot.«

Ich lasse meinen Blick über die Reste des Tages schweifen. Drei Stück Marzipan-Nuss-Torte, zwei Stück Schoko-Sahne und eine halbe Schwarzwälder Kirschtorte. Erdbeer-Joghurt, Frankfurter Kranz, Quark-Pfirsich und Käsesahne sind aus. Hinter den entsprechenden Schildern herrscht gähnende Leere. Ein gutes Zeichen für Lindas Café? Ohne meine Konditorinnenausbildung hätte sie den Gastronomiebetrieb gar nicht anmelden dürfen. Dass ich in meinem Alter nochmals einen Arbeitsvertrag unterschreiben würde, hätte ich mir vor einigen Monaten auch nicht träumen lassen.

»So, bitte schön.« Die junge Frau reicht mir das Brot, und ich bedanke mich und zahle.

Während ich nach Hause laufe, setzt sich mein Gedankenkarussell ein weiteres Mal in Gang. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Linda es schafft. Sie hat in der Vergangenheit nicht allzu viel Disziplin bewiesen. Schon immer war sie die Sprunghaftere im Vergleich zu ihrer Schwester. Aber Menschen sind verschieden. Nicht jeder findet ohne Umwege seinen Platz im Leben. Gerade ich sollte das doch am besten verstehen. Es war nie mein Plan, nach Köln zu gehen und für immer dort zu bleiben. Nach den damaligen Ereignissen wollte ich einfach nur weg. Weg von Weinheim, weg von meinen Eltern, weg von Olga, aber vor allem weg von … Bin ich nicht töricht, nach all den Jahrzehnten noch immer an diesen lange zurückliegenden Geschichten festzuhalten?

Die Fachwerkhäuser in der Nachbarschaft wurden während meiner langen Abwesenheit fast alle saniert und renoviert. Die gepflegten Fassaden wirken wie aus einer anderen Zeit. Was hat Linda gesagt? Wie im Märchen? Unrecht hat sie mit ihrer Aussage nicht. Trotzdem hängen die Erinnerungen wie Blei zwischen den Gebäuden. Ja, es ist unglaublich lange her. Und ja, ich hatte ein wundervolles Leben, einen wundervollen Mann, der leider viel zu früh verstorben ist, habe wundervolle Töchter. Dennoch ist dieser kleine Restzweifel bis heute nie ganz verschwunden. Dieses berühmte »Was wäre gewesen, wenn …?«.

Ich bin alt und weiß genau, dass es müßig ist, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Was in meinem Alter zählt, ist einzig die Gegenwart. Nur in ihr sollte ich mich aufhalten, um meine Zeit bestmöglich zu nutzen. Leider ist es nicht immer so einfach. Gefühle und Gedanken kann man nicht an- und ausschalten wie einen Lichtschalter, man kann sie nicht lenken wie ein Fahrrad oder ein Motorrad. Nein, sie bahnen sich ihre ganz eigene Richtung, mal folgt man ihnen gern, mal sträubt man sich mit allen Kräften und kann sich doch nicht gegen ihren Sog wehren.

Ich seufze und gebe meinen inneren Widerstand auf. Unzählige Erinnerungen prasseln wie Hagelkörner auf mich ein. Olga und ich mit unseren langen Zöpfen, auf einem Bein auf dem Kopfsteinpflaster hüpfend. Wir waren noch Kinder. Die Nachbarsjungs haben aus dem Fenster gesehen und laut gejohlt, wenn eine von uns auf den Kreidestrich gesprungen ist. Welch eine unbeschwerte Zeit das damals war! Meine Mutter führte einen kleinen Krämerladen in den ehemaligen Räumlichkeiten des Büchercafés. Mein Papa war Handwerker. Er konnte einfach alles. Er verlegte Leitungen, reparierte Heizungen, setzte Waschbecken und Badewannen. Im Gegensatz zu Siegbert mit seinen zwei linken Händen war mein Vater ein Alleskönner. Wenn er etwas auf den ersten Blick nicht einschätzen konnte, setzte er sich so lange hin und tüftelte, manchmal tagelang, bis er eine Lösung gefunden hatte.

Meine Augen werden feucht. Schon lange hat mich das Andenken an meine Eltern nicht mehr derart aufgewühlt. Sie leben schon so furchtbar lange nicht mehr. Und auch mit fünfundsiebzig wünsche ich mir immer wieder, ich könnte die beiden um einen Rat fragen. Kind bleibt man sein Leben lang, auch wenn ich mittlerweile selbst schon vierfache Oma bin.

Trübsinnige Überlegungen an einem im Grunde erfolgreichen Tag. Der Hof am Haus ist fertig. Mit der Einrichtung des Cafés hat sich Linda die größte Mühe gegeben. Als ich vorhin losgegangen bin, war sie gerade dabei, die letzten Bücher einzuräumen. Ein Büchercafé. Allein der Gedanke daran zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen. Ich hoffe inständig, dass Linda mit ihrer Idee Erfolg haben wird. Ich habe sie selten so enthusiastisch an eine Sache herangehen sehen. Sie hat es verdient, endlich ihr Glück zu finden. Die Voraussetzungen sind gut, wie ich meine. Und vielleicht schaffe ich es früher oder später doch noch, durch diese verwunschenen Gassen zu laufen, ohne dass düstere Erinnerungsfetzen in meinem Gehirn herumgeistern. Linda hat recht. Es ist nie zu spät, neu anzufangen. Und es gibt durchaus schlechtere Orte als Weinheim, um noch mal durchzustarten.

Ich rufe mir die positiven Aspekte meines Neubeginns ins Gedächtnis. Ein Teil meiner Familie lebt hier, ich habe eine neue Aufgabe, ja, ich werde gebraucht. Und das ist ein überwältigendes Gefühl, das ich in dieser Form schon so lange nicht mehr verspürt habe. Tina habe ich versprochen, auf Linda aufzupassen, wobei ich sicher bin, dass dies gar nicht nötig sein wird.

Meine Laune hebt sich, und ich beginne, vor mich hin zu pfeifen. »Dancing Queen« von ABBA. Ja, ich fühle mich so beschwingt, dass ich die restlichen Meter am liebsten hüpfend und tanzend zurücklegen würde. Aber ich besinne mich meines Alters und beschränke mich amüsiert aufs Pfeifen.

4

Daniel

Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal in Heidelberg war? Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern. Einige Geschäfte kenne ich überhaupt nicht, vieles hat sich verändert. Ich lasse mich vom Strom amerikanischer und asiatischer Touristen mitziehen, lausche dem Sprachenwirrwarr um mich herum und stelle fest, dass ich Menschenmassen in diesem Ausmaß überhaupt nicht mehr gewöhnt bin. Wie hat es nur so weit kommen können, dass ich nun seit mehr als fünf Jahren in der Einöde außerhalb Weinheims lebe und mich komplett in der Einsamkeit vergraben habe? Manchmal wundere ich mich wirklich über mich selbst. Und doch kenne ich die Antwort ganz genau. Und ich bin nicht unglücklich mit der Situation, oder?

Als ich am Ende der Fußgängerzone ankomme, wende ich mich nach rechts. Vor der Bergbahn hat sich eine lange Menschentraube gebildet, die Leute wollen entweder zum Schloss oder auf den Königstuhl, den Hausberg von Heidelberg, fahren. Nein, auf diesen Trubel habe ich überhaupt keine Lust. Ich bin jung und gut zu Fuß und entscheide mich für den Treppenaufgang zum Schloss.

Oben angekommen bleibe ich schwer schnaufend stehen, da ich zum einen meine Fitness über- und zum anderen den Höhenunterschied unterschätzt habe. Nachdem sich meine Atmung wieder normalisiert hat, betrete ich den weitläufigen Schlossgarten. Die imposante Ruine mit ihren dicken Mauern ragt vor mir empor. Eine Gruppe niederländischer Touristen hat sich um einen Fremdenführer versammelt, der gerade die wechselhafte Geschichte des Schlosses zum Besten gibt. Ein wenig habe ich mich gestern ebenfalls in das Thema eingelesen, daher weiß ich, dass die erste Bauphase des Heidelberger Schlosses auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert wird. Ich schlendere an mehreren Kleingruppen vorbei zum steinernen Geländer, von wo aus ich einen phantastischen Ausblick habe.

Die Altstadt Heidelbergs mit ihren hübschen Häusern erstreckt sich direkt vor meiner Nase. Auf dem Neckar entdecke ich ein Ausflugsschiff mit voll besetztem Oberdeck auf dem Weg Richtung Neckargemünd. Mein Blick schweift zum Horizont. Es herrscht bestes Tourenwetter. Ein Junitag wie aus dem Bilderbuch. Kein Wunder, dass viele eine ähnliche Idee wie ich hatten. Und doch … Die unschönen Erinnerungen an diese Stadt überwiegen noch immer, sind allgegenwärtig. Vielleicht sollte ich mich ernsthaft bemühen, diese mit schöneren Erlebnissen zu überlagern und sie damit letztlich aus meinem Gedächtnis zu streichen. Auf keinen Fall darf ich zulassen, dass mich die Vergangenheit ein weiteres Mal aus der Bahn wirft.

Ich stütze meine Hände auf der Mauer ab und schließe kurz die Augen. Hier oben weht eine leichte Brise, meine Haut beginnt zu kribbeln. Ja, es ist gut, dass ich mich zu diesem Ausflug entschlossen habe. Es bekommt mir nicht, nur zu Hause zu sitzen.

Ein junges Paar stellt sich neben mich. Der Mann erzählt seiner Partnerin, dass Heidelberg die älteste Universität Deutschlands besitzt. Ich lächle in mich hinein. Diese Tatsache ist mir natürlich bekannt.

Mein Blick wandert von der Alten Brücke zu den mondänen Villen am gegenüberliegenden Neckarufer. Wie lebt es sich mit dieser Aussicht aufs Wasser? Welche Art von Menschen wohnt in diesen Gebäuden, die sich der Großteil der Bevölkerung niemals leisten kann? Da ich von Natur aus neugierig bin, würde ich nur zu gern mal in eine dieser Villen hineinlinsen können.

Eine vierköpfige Familie bleibt an der Mauer stehen. Der Vater erzählt seinen beiden Kindern, dass er als junger Mann in Heidelberg studiert hat, und deutet auf einen Punkt irgendwo unter uns, wo er vor zwanzig Jahren in einer Wohngemeinschaft gelebt hat. Seine Tochter grinst, sein Sohn erwidert, dass er sich seinen Vater absolut nicht in einer WG mit anderen Studenten vorstellen kann. Der Vater empört sich lächelnd über den Kommentar.

Ich wende mich ab und steuere auf eine der Holzbänke zu. Nachdem ich mich gesetzt habe, hole ich mein Handy hervor und kontrolliere kurz meine Mails. Fünf Nachrichten von Absendern, deren Namen mir nichts sagen. Drei Werbemails, eine Mail von einer Versicherung wegen meines Autos und eine Mail des Verlags. Ich runzle die Stirn und öffne die letzte Nachricht.

Liebe Frau Federmann,

mein Name ist Linda Martens, und ich bin ein riesengroßer Fan Ihrer tollen Bücher, insbesondere Ihrer Trilogie »Du und ich bis ans Ende der Welt«. Diese Geschichte ist eine der berührendsten, die ich je gelesen habe. In jedem Satz steckt so unglaublich viel Feingefühl und Empathie. Jedem einzelnen Wort merkt man an, wie viel Herzblut und Liebe Sie in diese Romane gesteckt haben. Selten habe ich so sehr beim Lesen weinen müssen. Und wie die tiefe Trauer sich letztlich in eine derart hoffnungsfrohe und lebensbejahende Zukunft wandelt, ganz sanft, ganz behutsam, das ist einfach nur bezaubernd.

Aber nun komme ich zu meinem eigentlichen Anliegen, meiner Frage an Sie, liebe Frau Federmann. Ich eröffne demnächst ein kleines Büchercafé. Sie wundern sich jetzt sicher, wenn Sie das lesen. Und nein, es ist keine Filiale einer großen Kette, ich werde nicht Unmengen an Menschen darin unterbringen können. Aber es liegt in Weinheim, Ihrer Heimatstadt. Und ich habe genau wie Sie sehr viel Herzblut und Liebe in die Entstehung des Cafés gesteckt. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, in meinem Büchercafé eine Lesung zu Ihrem neuen Buch zu geben. Mir ist bekannt, dass Sie grundsätzlich keine Lesungen abhalten. Aber dieses Wörtchen »grundsätzlich« kann man doch auch so interpretieren, dass ein Grundsatz jederzeit überdacht werden sollte. Ein Grundsatz ist ja die Folge von etwas, möglicherweise einer zurückliegenden Erfahrung. Und mit diesen Erfahrungen entwickeln wir selbst uns kontinuierlich weiter, wir bleiben nicht stehen. So könnte es also auch möglich, eventuell sogar sehr sinnvoll sein, seine Grundsätze von Zeit zu Zeit zu überdenken. Liebe Frau Federmann, was meinen Sie nun? Können Sie sich vorstellen, Ihren Grundsatz, grundsätzlich keine Lesungen abzuhalten, zu überdenken? Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen mit meiner Anfrage einen kleinen Denkanstoß geben konnte, und freue mich über eine positive Rückmeldung Ihrerseits.

Herzliche Grüße

Ihre Linda Martens aus Weinheim

Der Verlag hat mir noch eine kurze Nachricht dazugeschrieben, dass sie mir die Anfrage nur deshalb weitergeleitet haben, weil sie den Text so wunderschön formuliert fanden. Mir geht es gerade genauso. Diese Linda Martens hat tatsächlich alle Register gezogen. Ich gebe ihren Namen in die Suchmaschine ein, zusammen mit dem Stichwort Büchercafé. Mit Bedauern stelle ich fest, dass mir kein Eintrag angezeigt wird. Sehr schade!

Ich überfliege den Text ein weiteres Mal und muss bei ihren Ausführungen zum Thema Grundsatz erneut schmunzeln. Wer ist diese Frau? Da ich ihre Worte erst einmal auf mich wirken lassen möchte, sehe ich davon ab, eine direkte Antwort zu schicken. Ich erhebe mich und mache mich an den Abstieg in die Altstadt hinunter.

5

Linda

Ich lese die Absage ein weiteres Mal und schlucke meine bittere Enttäuschung hinunter. Dabei hatte ich mich so bemüht, Marie Federmann von einem Auftritt bei mir zu überzeugen. Aber ich bin nun mal keine Autorin, ich kann nicht auf diese brillante Art mit Worten jonglieren, wie meine Lieblingsautorin das immer wieder aufs Neue schafft. Und ich habe so sehr gehofft, dass ich die Eröffnung des Cafés mit einem einmaligen Ereignis wie dieser Lesung verbinden könnte.

Mein Australian-Shepherd-Rüde Romeo sieht zu mir hoch und stupst mit seiner Schnauze gegen meine Hand. Er scheint mir den Dämpfer anzumerken. Frustriert lasse ich mich in einen Sessel fallen und blicke zu dem Bücherregal, während ich Romeo abwesend streichle. Ich fühle mich gerade wie Scarlett O’Hara nach der Zurückweisung durch ihre große Liebe Ashley Wilkes. Soll ich einen weiteren Versuch starten? Auch Scarlett hat niemals aufgegeben und trotz aller Ausweglosigkeit an ihrer Liebe festgehalten – bis es zu spät war. Ich ermahne mich selbst, dass ich die Situation gerade etwas überdramatisiere. Hier geht es nicht um Liebe, zumindest keine romantische zu einem Mann. Hier geht es um eine nicht stattfindende Lesung meiner Lieblingsautorin.

Ich erhebe mich und beschließe, meinen Frust mit Backen zu bekämpfen. Das hat noch jedes Mal funktioniert. Romeo folgt mir und beobachtet aufmerksam jeden meiner Schritte. Ich gehe zum Kühlschrank und sehe nach, ob ich alle Zutaten vorrätig habe. Oma und ich waren erst vor zwei Tagen einkaufen. Die Erdbeeren, die Oma heute früh direkt beim Bauern gekauft hat, lächeln mich frisch und saftig rot an.

Erdbeer-Sahne also, entscheide ich spontan. Ich hole die Eier heraus, stelle mir eine Schüssel und die Küchenwaage zurecht und beginne, den Biskuitteig anzurühren. Das Geheimnis eines fluffigen Biskuits ist die Dauer des Rührens, hat mir Oma mehrfach eingebläut. Erst wenn der Teig fast zu schweben scheint durch all die eingerührte Luft, erst dann ist er perfekt.

Wie in Trance starre ich auf die vibrierende Masse, die sich in immer neuen Mustern um die Rührbesen des Handmixers legt. Ich sollte mir unbedingt eine Küchenmaschine anschaffen, wenn ich demnächst fünf bis acht Torten pro Tag benötige. Wieder muss ich an den Bankmitarbeiter denken, der von mir einen Businessplan gefordert hat. Acht Torten à zwölf Stücke. Pro Stück kann man zwischen zwei und drei Euro fünfzig verlangen. Das hochgerechnet erst auf den Tag, die Woche, den Monat … Ich schnaufe. Romeo neben mir seufzt tief.

»Das verstehst du auch nicht, stimmt’s?«, sage ich zu ihm und streichle ihm über den Kopf.

Ich möchte ein Büchercafé eröffnen, keinen Bachelor in Mathematik ablegen. Noch immer bin ich Oma unendlich dankbar, dass sie mich mit ihrem Kredit vor den Untiefen kalkulatorischer Aufstellungen bewahrt hat.

Als der Teig förmlich durch die Schüssel zu fliegen scheint, stelle ich den Handrührer ab und fülle die weiche, fließende Masse in die Backform. Dann schalte ich den Ofen an, und nein, er muss nicht vorgeheizt werden, eine weitere Weisheit von Oma, der ausgebildeten Konditorin.

Während der Teig vor sich hin backt, hole ich die Erdbeeren, den Quark und die Sahne aus dem Kühlschrank und mache mich an das Anrühren der Füllung. Beim Werkeln merke ich überhaupt nicht, wie die Zeit verrinnt.

Als kurz darauf jemand an die Glastür des Cafés klopft, schrecke ich zusammen, so vertieft war ich in das Verzieren der fast fertigen Torte. Romeo bellt kurz und rennt schwanzwedelnd zur Tür. Ich wische mir die Hände an einem Handtuch ab und winke Richtung Eingang. Es ist mein Cousin Björn, Agnethas älterer Bruder, mit seinem Geschäftspartner. Den Termin mit den beiden hätte ich fast vergessen. Eilig schließe ich die Tür auf und begrüße sie.

»Wann findet denn die große Eröffnung statt?«, will er wissen, nachdem die beiden eingetreten sind. Romeo wuselt emsig um die Männer herum und versucht eindringlich, ein paar Streicheleinheiten abzugreifen.

Ich zeige auf den Tisch direkt vor der Theke und biete ihnen Platz an. »Das steht noch nicht ganz fest.«

»Aber du übst schon mal.« Björns Geschäftspartner Martin deutet auf die Torte, die noch immer auf dem Tresen thront.

Ich schüttle den Kopf. »Eigentlich kann ich Erdbeer-Sahne im Schlaf. Ich musste mich nur …« Ich verziehe das Gesicht. »Ich musste einen kleinen Rückschlag verdauen und dachte, beim Backen bekäme ich den Kopf wieder frei.«

Björn runzelt die Stirn. Und ja, die Kombination der Namen Björn und Agnetha ist tatsächlich kein Zufall. Meine Oma ist wohl der größte ABBA-Fan unter dieser Sonne. Ihre Tochter Simone, meine Tante und die Mutter meines Cousins und meiner Cousine, steht ihr in ihrer Liebe zur Musik der vier Schweden kaum nach, sie würde ich mindestens als zweitgrößten Fan bezeichnen, daher die Namen ihrer Kinder. Direkt nach meiner Tante Simone komme übrigens ich, die ich ebenfalls bei meinen Besuchen bei Oma mit der Musik der Kultband beschallt wurde. Was nicht folgenlos geblieben ist. Ich kann jeden einzelnen Song auswendig mitsingen. Nur meine Mutter ist völlig aus der Art gefallen. Sie hasst ABBA.

»Was ist passiert?«

Ich lasse mich seufzend auf den freien Stuhl neben Martin fallen. »Nichts Dramatisches, oder doch, ich … mir schwebte da ein tolles Event vor, das sich nun allerdings erledigt hat.« Ich zucke mit den Schultern.

Martin beugt sich zu mir. »Du darfst dich nicht entmutigen lassen.«

Ich nicke. »Ich weiß, aber … Es wäre einfach super gewesen.« Dann stehe ich wieder auf und sehe von Martin zu Björn. »Lassen wir das. Mögt ihr ein Stück Torte?«

Björn grinst. »Ich dachte schon, du fragst nie.«

Ich verziehe das Gesicht.

»Danke, ich nehme gern eins«, gibt Martin zurück.

Nachdem ich den beiden jeweils ein Stück abgeschnitten und ihnen auch noch einen Kaffee eingeschenkt habe, kehre ich mit einem kleinen Holztablett zum Tisch zurück.

»Bitte sehr.«

Beide haben einen gesegneten Appetit und benötigen keine drei Minuten, bis ihre Teller leer gefegt sind.

»Lecker«, befindet Martin und putzt sich mit der Serviette die Mundwinkel ab.

»Backen kannst du, Cousinchen«, erklärt auch Björn und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. »Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass dein Café auch bekannt wird. Dass die Leute wissen, dass es dich gibt, und dich finden.«

Björn und Martin haben vor zwei Jahren zusammen eine IT-Firma gegründet. Sie beraten Unternehmen zum Thema Internetmarketing und zu diversen digitalen Programmlösungen.

Es war Agnethas Idee, dass sie auch mir in technischen Angelegenheiten etwas unter die Arme greifen könnten. Was diesen Bereich angeht, bin ich eine absolute Niete. Wenn mein Smartphone sich so verhält, wie ich es mir wünsche, bin ich glücklich. Sobald etwas Unvorhergesehenes auftritt, ein neues Update oder eine Meldung, die ich nie zuvor gesehen habe, gerate ich in Panik.

»Es ist nett, dass ihr euch bereit erklärt habt, mir eine Homepage zu erstellen. Ich weiß zwar nach wie vor nicht, ob ein Gastronomiebetrieb wie dieser tatsächlich davon profitieren wird, aber es kann ja auch nichts schaden.«

Martin legt mir eine Hand auf den Unterarm. »Linda, eine Homepage ist heutzutage der absolute Mindeststandard, um gesehen zu werden. Touristen oder auch Einwohner schauen zuerst im Internet nach, wenn sie ein nettes Lokal suchen. Wie soll dich jemand kontaktieren, wenn er dich nicht finden kann? Björn hat mir erzählt, du möchtest auch Veranstaltungen rund ums Lesen anbieten. Wie sollen die Leute auf dich zukommen? Per Brieftaube?«

Ich muss schmunzeln. Martin ist mir auf Anhieb sympathisch. Während mein Cousin schon auf den ersten Blick wie ein echter Computernerd wirkt, könnte Martin auch Eventmanager oder Architekt sein. Das blonde, strubbelige Haar fällt ihm kess in die Stirn. Seine blauen Augen blitzen belustigt auf, wenn er redet.

»Überzeugt«, erwidere ich nun. »Ich habe auch darüber nachgedacht, einige Flyer zu bedrucken und diese an zentralen Orten auszulegen. Zum Beispiel in der Touristeninformation oder in Buchhandlungen, in der Stadtbibliothek.«

»Gute Idee«, stimmt Martin zu und sieht zu Björn, der ebenfalls nickt. »Dort findest du genau deine Zielgruppe.«

Ich strahle. »Der Flyer sollte romantisch, verspielt und … lecker sein.«

»Lecker?« Björn schüttelt den Kopf, während beide lachen.

Ich verdrehe die Augen. »Ich meine, dass auch ein paar Tortenkreationen darauf abgebildet sein sollten.«

»Klasse Vorschlag«, erklärt Martin. »Eine Kombination aus Büchern und Torten macht Sinn. Vielleicht gibt es berühmte Buchzitate, die man verwenden könnte.«

Meine Begeisterung wächst. »Buchzitate klingt super. Die könntet ihr auch auf der Homepage ergänzen.«

»Ja, wir können ein einheitliches Design erstellen«, schlägt Björn vor. »Das erhöht den Wiedererkennungswert deiner Marke.«

Wir diskutieren über verschiedene Aspekte, verwerfen Ideen, die uns nicht überzeugen, und bringen neue Vorschläge ein, bis Björn und Martin eine genaue Vorstellung haben, was ich möchte, und ich wiederum verstehe, was möglich und sinnvoll ist und was nicht.

6

Nachdem die beiden gegangen sind, steht mein erster offizieller Termin für das Büchercafé an. Ich betrachte mich kurz im Spiegel und streiche nervös über meine hellblaue Bluse. Es ist wichtig, dass ich überzeugend und sympathisch wirke. Das Café soll schließlich von der Liebe zum Lesen, zu den Büchern leben. Und wem könnte ich die Freude am Eintauchen in wunderbare Geschichten besser vermitteln als Kindern? Lesen ist so unglaublich wichtig für die Sprache, für das eigene Schreiben, für die Phantasie, aber auch dafür, Fremdartiges besser verstehen zu können und offen für Neues zu sein. Wer liest, durchlebt Hunderte Leben. Wer mit Büchern jedoch nichts anfangen kann, dem bleiben all diese Abenteuer traurigerweise verwehrt. Ich möchte einen kleinen Beitrag dazu leisten, die Jüngsten behutsam an den Umgang mit Büchern zu gewöhnen. Wer einmal Feuer gefangen hat, den lässt die Leidenschaft nur selten wieder los.

Während ich meinen Gedanken nachhänge, wird die Tür geöffnet, die ich nach Björns und Martins Besuch nicht wieder verschlossen habe. Ich drehe mich um.

»Guten Tag.« Ich gehe auf die Mittvierzigerin mit dem schwarzen Haar zu. »Ich bin Linda Martens.«

»Carola Anders«, stellt sich die Grundschulrektorin vor, und wir reichen uns die Hand. »Ich muss zugeben, dass mich Ihr Anruf neugierig gemacht hat.« Sie lächelt.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, frage ich sie. »Einen Kaffee oder einen Tee?«

»Ein Kaffee wäre nett, vielen Dank.«

Nachdem wir uns gesetzt haben und ich uns eingeschenkt habe, beugt sich Frau Anders vor und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. »Sehr schön. Sehr … gemütlich.«

»Danke. Ich liebe Bücher. Und ich liebe das Backen. Da hat es sich für mich nur natürlich angefühlt, beides miteinander zu kombinieren.«

»Eine wirklich schöne Idee«, stimmt die Rektorin zu. »Die Einrichtung ist geschmackvoll.«

»Was mir vorschwebt …«, beginne ich und konzentriere mich auf meine Worte, »… ist eine Art Gesamtpaket.«

Frau Anders’ Gesicht nimmt einen interessierten Ausdruck an.

»Ich denke an ein richtiges Ereignis für die Kinder. Mit allen Sinnen.« Ich zeige in die Leselounge. »Beginnen würden wir hier im Café. Die Kinder dürfen sich in die Kissen lümmeln und es sich richtig gemütlich machen. Anbieten würde sich zu Beginn die Geschichte des Grüffelo. Ich lese der Klasse vor, dann gibt es Kakao und Kuchen, und im Anschluss gehen wir zum Grüffelo-Pfad. Kinder in dem Alter können sich nur eine begrenzte Zeit lang konzentrieren. Das Vorlesen würde ich deshalb als Anfangspunkt setzen. Danach können sie sich stärken und später noch bewegen. Selbstverständlich können wir auch über die Geschichte reden und diskutieren, wenn die Kinder Fragen haben …« Ich wedle mit den Händen. »Ich dachte an ein Zeitfenster von etwa zweieinhalb Stunden. Was halten Sie davon?«

Frau Anders nickt. »Das klingt großartig. Im Unterricht ist leider oft viel zu wenig Zeit, um die Kinder abseits der Schulbücher für das Lesen zu begeistern. Aber eine Geschichte wie die des Grüffelo …« Sie überlegt. »Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Und wenn sie dann im Anschluss den Figuren noch leibhaftig begegnen, verstärkt das natürlich das ganze Event immens. Hören, schmecken, fühlen, sehen, riechen. Alle Sinne der Kinder würden angesprochen.«

»Ich freue mich sehr, dass Sie meine Einladung angenommen haben«, gebe ich ehrlich zu. »Ich war mir nicht sicher, wie meine Idee überhaupt ankommt. Heutzutage ist ja doch meist wenig Raum für Außerschulisches.«

»Und genau deshalb ist es umso wichtiger«, erwidert Carola Anders nachdrücklich. »Also, wenn Sie möchten, können wir gern konkrete Termine vereinbaren. Ich würde tatsächlich mit den zukünftigen Erstklässlern beginnen. Das neue Schuljahr fängt im September an, wir könnten also im Oktober starten. Erst mal sollten die Kinder in der Schule angekommen sein.«

»Das klingt fabelhaft.« Nach dem Rückschlag mit der abgesagten Lesung freue ich mich riesig über die Zusage der Rektorin. »Ich kann Ihnen gern eine ausführlichere Programmbeschreibung zukommen lassen, zusammen mit ein paar Terminvorschlägen.«

Sie nickt. »Das wäre prima. Dann könnte ich das im Kollegium besprechen. Gut wäre von der Uhrzeit her ab zehn. Nach der Veranstaltung ist mit den Kindern wohl kaum noch etwas anzufangen. Wir könnten die ersten beiden Stunden normalen Unterricht machen und in der großen Pause zu Ihnen kommen.« Sie streckt ihre Beine aus. »Haben Sie auch Ideen für ältere Kinder?«

»Ich bin gerade dabei«, antworte ich. »Ich könnte mir Abenteuergeschichten vorstellen, die man mit einem Besuch der Burgruine Windeck verbindet, oder Geschichten, die im Wald spielen, dann könnte man im Anschluss in den Exotenwald gehen. Der Schlosspark bietet sich ebenfalls an.«

Frau Anders lächelt. »Man merkt, dass Sie mit viel Begeisterung bei der Sache sind.«

Ich zucke mit den Achseln. Ihr Kompliment ist mir unangenehm. Noch habe ich nichts Bemerkenswertes geleistet. »Es ist mir wichtig. Und ich glaube, es ist genau das, was ich tun möchte. Menschen, egal, ob Kindern oder Erwachsenen, die Liebe zum Lesen weiterzugeben.«

»Eine sehr schöne Aufgabe«, erklärt sie. »Ich selbst bin auch eine richtige Leseratte.«

»Ich hatte die Idee zu einer Lesung mit Marie Federmann«, platzt es aus mir heraus. »Zur offiziellen Eröffnung des Cafés. Die Autorin kommt ja aus Weinheim, und ich … liebe ihre Bücher, insbesondere die Trilogie. Aber …«

»Aber?«, hakt die Rektorin nach.

»Sie hat mir abgesagt«, gebe ich betrübt zurück. »Mir war natürlich bekannt, dass sie normalerweise nicht öffentlich auftritt. Ich hatte trotzdem gehofft, sie mit diesem Cafékonzept überzeugen und sie zu einer Ausnahme animieren zu können. Weil es hier eben sehr heimelig und überschaubar ist.«

»Haben Sie sie angeschrieben?«

Ich nicke.

»Und sie hat Ihnen geantwortet?«

»Der Verlag, ja. Leider eine Absage.«

Frau Anders zögert und rutscht in ihrem Sessel herum. »Es ist …«, beginnt sie, bricht dann aber ab.

»Ja?« Ich betrachte ihr ebenmäßiges Gesicht. Der scharf geschnittene Bob umschmeichelt ihre Wangen.

Sie kaut auf ihrer Unterlippe. »Also gut. Ich sage Ihnen das aber nur, weil ich tatsächlich den Eindruck habe, dass Sie sehr engagiert sind, und ich Ihnen viel Erfolg mit Ihrer Idee wünsche.« Sie fährt sich über die Stirn. »Daniel Hübner ist der Agent von Marie Federmann.«

Jetzt bin ich ganz Ohr.

»Das weiß ich von einer entfernten Bekannten«, erklärt sie gedehnt. »Die Trilogie von ihr habe ich ebenfalls gelesen. Und sie hat mich auch sehr berührt. Aber dass ihr Agent in Weinheim wohnt, war mir nicht bekannt. Ich wusste nicht einmal, dass sie einen hat.« Sie hebt ihre Hände. »Ich kenne mich da nicht wirklich aus. Jedenfalls lebt Herr Hübner außerhalb. Auf einem Anwesen Richtung Segelflugplatz.« Sie macht eine Pause. »Mit Marie Federmann zusammen.«

Ich kann es nicht glauben. »Sie kennen die Adresse von Marie Federmann?«

Sie nickt wieder. »Hören Sie, von mir haben Sie das nicht. Meine Bekannte weiß zwar, dass Federmann Bücher schreibt. Da sie aber nicht liest, ist ihr meines Erachtens gar nicht richtig bewusst, wie berühmt diese Frau ist. Vielleicht würde es ja nicht schaden, wenn Sie … direkt bei den beiden vorstellig werden? Der Verlag sitzt ja wahrscheinlich sonst wo. Aber die Autorin selbst …« Sie lacht verschmitzt. »Vielleicht können Sie die Dame mit Ihrem Charme doch noch überzeugen. Bei mir haben Sie es auch geschafft. Und zur Lesung würde ich definitiv kommen.«

Ich bin baff. An diese Möglichkeit hätte ich niemals gedacht. Aber warum eigentlich nicht? Ich habe nichts zu verlieren. Ich könnte mich Marie Federmann direkt und persönlich vorstellen und ihr noch mal ganz in Ruhe aufzeigen, wie wir eine derartige Lesung gestalten würden. Ich könnte ihr anbieten, sich vorab ein Bild von meinem Café zu machen. Wir könnten plaudern wie alte Freundinnen. Ich könnte …

Frau Anders erhebt sich. »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Frau Martens. Und ich drücke fest die Daumen, dass Sie die Autorin noch überzeugen werden.«

7

Henny

Der Schlosspark ist noch genauso wunderschön, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Nein, das stimmt nicht. Er ist sogar noch viel schöner.

Auch wenn ich Simone und ihre Familie in der Vergangenheit immer mal wieder besucht habe, habe ich es stets vermieden, durch Weinheim zu flanieren. Zu schmerzvoll waren meine Erinnerungen.

Ich lasse meinen Blick über den kleinen Teich vor dem Schloss wandern. Ein Mann mit einer Dogge läuft Richtung Marktplatz, eine Familie mit drei kleinen Kindern geht an mir vorbei. Mir wird schwer ums Herz, wenn ich daran denke, wie ich vor vielen Jahren mit Olga an der jährlich im August stattfindenden Kerwe unbeschwert zwischen den Bäumen und Büschen herumgejagt bin. Wir spielten Verstecken, und jede wollte den besten Unterschlupf finden, um nicht entdeckt zu werden. Zwei Mädchen aus Olgas Klasse, Gabriele und Maria, waren oft mit uns zusammen unterwegs. Manchmal bildeten wir Zweierteams, Olga und ich gegen ihre beiden Freundinnen. Wie leicht und unkompliziert sich die Zeit damals anfühlte! Das Leben war schön, unsere größte Sorge war, wie lange unsere Eltern uns erlaubten, ins Kerwetreiben einzutauchen.

Ich atme tief durch. Und wieder übermannen mich diese lang zurückliegenden Erlebnisse. Ich gehe weiter und steuere auf die Vogelvoliere zu. Ein stattlicher Fasan hüpft über den Sandboden. In einem anderen Käfig sitzt eine Gruppe farbenfroher Wellensittiche und zwitschert um die Wette. Auch die Kanarienvögel daneben stimmen ein neues Lied an.

»Die sind ganz schön laut«, sagt ein kleines Mädchen neben mir zu seiner Mutter.

»Aber es klingt schön, nicht wahr?«, erwidert die Frau lächelnd.

Das Mädchen nickt. »Können wir auch einen Vogel haben, Mama?«

Die Mutter streicht dem Kind übers Haar. »Mal sehen. Da sollten wir erst mal mit Papa reden.«

Schmunzelnd gehe ich weiter und setze mich auf eine Bank, die direkt am Teich steht. Die Meerjungfrau in der Mitte thront stolz und selbstbewusst über der Wasseroberfläche und scheint fast für die Besucher zu posieren. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe in den wolkenlosen Himmel. Wieder frage ich mich, ob meine Rückkehr eine gute Idee war. Als ich vorhin mit Linda gesprochen habe, hat sie mir von ihrem erfolgreichen Gespräch mit der Rektorin berichtet. Ich freue mich sehr für sie. Nach der Lesungsabsage war dieser neue Lichtblick mehr als nötig, um ihre Motivation nicht zu dämpfen. Ich habe mir von Anfang an gedacht, dass es nicht leicht werden würde. Und jeder noch so kleine Schritt Richtung Erfolg ist ein wichtiger. Für Lindas Durchhaltevermögen und für ihren Enthusiasmus.

In Weinheim gibt es viele alteingesessene Gastronomiebetriebe mit ihren Stammkunden. Es wird mit Sicherheit nicht einfach werden, hier ein neues Café nachhaltig zu etablieren. Doch wenn es jemand schafft, dann Linda. Sie brennt ja geradezu für ihren kleinen Laden.

Nach einer Weile erhebe ich mich wieder und schlendere an den steinernen Statuen vorbei weiter durch den Park. Die große Wiese sieht noch genauso aus wie in meiner Jugend. Ich passiere das Mausoleum, bei dem mich noch immer ein leichter Schauer durchläuft, wenn ich daran denke, was sich im Inneren des alten Gemäuers verbirgt, und entscheide mich für eine kurze Runde durch den Exotenwald.

Nachdem ich am Spielplatz vorbeigegangen bin, bleibe ich kurz stehen und schließe meine Augen. Es riecht herrlich ursprünglich nach Wald. Nach Laub, nach erdigem Boden, nach Moos, nach Frische. Schon früher habe ich mich gern hier aufgehalten. Als Jugendliche bin ich oft auf diesen Wegen spazieren gegangen. Allein oder auch mit …

Nein, nicht schon wieder, ermahne ich mich. Gibt es denn kein Fleckchen in dieser Stadt, das mich nicht an frühere Zeiten erinnert? Warum ist die Vergangenheit so unglaublich allgegenwärtig, egal, wo ich mich aufhalte? Wie soll ich je zur Ruhe kommen, wenn sich auf Schritt und Tritt immer wieder lang vergangene Bilder vor mein inneres Auge drängen?