Im Angesicht der Wahrheit - Silke Ziegler - E-Book
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Im Angesicht der Wahrheit E-Book

Silke Ziegler

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Beschreibung

Nach einem traumatischen Erlebnis vor achtzehn Jahren hat die Französin Estelle Miroux ihre Heimat verlassen und ein neues Leben in Deutschland begonnen. Aber als ihre Großmutter stirbt und Estelle ein kleines Hotel hinterlässt, kehrt sie kurz entschlossen nach Südfrankreich zurück, um die Auberge zu neuem Leben zu erwecken. Schnell treffen die ersten Gäste ein und ihr attraktiver Nachbar Tom Bauvall geht Estelle zur Hand, wo er kann. Eigentlich könnte alles perfekt sein. Doch dann wird Argelès-sur-Mer von einer Mordserie heimgesucht und die junge Frau gerät unter Tatverdacht. Denn den Opfern wurde ein Datum in die Stirn geritzt – das Datum der schlimmsten Nacht in Estelles Leben. Der neue Südfrankreichkrimi von Silke Ziegler!

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Seitenzahl: 611

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Silke Ziegler

Im Angesicht der Wahrheit

Rückkehr ins Roussillon

Kriminalroman

© 2017 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Seaphotoart (Hafen), Grisha Bruev (Strand)

eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-89425-726-2

Die Autorin

Silke Ziegler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Weinheim an der Bergstraße. Die gelernte Finanzassistentin arbeitet nach Anstellungen in diversen Kreditinstituten inzwischen an der Universität Heidelberg.

Die Reisen, die Silke Ziegler mit ihrer Familie unternimmt, inspirieren sie immer wieder zu neuen Geschichten.

Prolog

Die Wellen schwappten über ihre Füße. Die Kälte des Wassers ließ sie für einen kurzen Moment zurückzucken. Es war Mai, das Meer hatte noch keine zwanzig Grad. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Die Strandpromenade von Argelès-sur-Mer lag menschenleer hinter ihr, der schwache Schein der Straßenlaternen zeichnete dunkle Schatten auf den Weg. Sie spürte den nassen Sand an ihren Fußsohlen. Das Mondlicht spiegelte sich auf der glatten Meeresoberfläche. Entschlossen setzte sie einen Fuß vor den anderen.

Als ihr Rock in das Wasser eintauchte, presste sie die Kiefer fester zusammen. Der Stoff wölbte sich um ihren Körper. Ein Schrei gellte in ihren Ohren. Sie presste die Hände an den Kopf. Doch die Stimme verstummte nicht. Verzweifelt verstärkte sie den Druck ihrer Finger. Unerbittlich schritt sie weiter durch das flache Wasser.

Als sie sich umdrehte, war der Strand in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen. Die leichten Wellen umspülten mittlerweile ihre Oberschenkel.

Die Schreie wurden schriller. Erst als sie bis zur Hüfte im Wasser stand, registrierte sie, dass es ihre Kehle war, der die schmerzerfüllten Töne entwichen.

Erschrocken verstummte sie und dachte an den zurückliegenden Abend, ließ die Geschehnisse noch einmal Revue passieren. Die Demütigungen, das höhnische Gelächter, das Gegröle. Sie hasste sie. Wenn sie sich ins Gedächtnis rief, was sie ihr heute angetan hatten, konnte sie die Erinnerung, die furchtbaren Gedanken kaum noch ertragen.

Wieder blickte sie sich um. Sie war ganz allein. Niemand, der sich um sie scherte. Niemand, der sich für sie interessierte. Nein, ihr blieb nur dieser eine Ausweg aus ihrem Schmerz. Ein Schmerz, der sich so tief in sie hineingebohrt hatte, dass er ihr kaum noch Luft zum Atmen ließ. Der so unerbittlich ihr Innerstes zerfraß, dass sie sich nach Erlösung sehnte. Nach Vergessen.

Als ihre Arme in das kalte Wasser eintauchten, stöhnte sie leise auf. Nur noch wenige Sekunden. Schwerelos ließ sie die Hände durch das Wasser gleiten. Ihr Rock klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper. Müde legte sie den Kopf in den Nacken und starrte in den schier unendlichen Sternenhimmel.

Ja, sie hasste sie. Noch nie in ihrem Leben hatte sie in dieser Intensität empfunden. Würde jemand sie vermissen? Was würde das Meer mit ihrem Körper anstellen? Würde die Strömung sie hinaus in die Weite ziehen oder würde sie an irgendeinem x-beliebigen Strand angeschwemmt werden? Wenn sie ehrlich war, erschreckte sie die Vorstellung, nicht zu wissen, wo sie hintreiben würde. Aber war das letztendlich nicht egal? Zählte nicht nur das Ergebnis?

Als das Wasser ihren Oberkörper erfasste, hielt sie kurz den Atem an. Sie war nur noch einen Wimpernschlag von ihrer Rettung entfernt. Traurig schloss sie die Augen und lauschte dem sanften Plätschern des Meeres. Sog den Salzgeruch ein und ließ los.

Der nächste Schritt ging ins Leere. Mit ausgestreckten Armen trieb sie im Wasser.

Wie lange würde es wohl dauern?

Vorsichtig schlang sie die Arme um ihren Körper und ließ sich in die Tiefe gleiten. Ihr Herzschlag wummerte in den Ohren. Sie öffnete kurz die Augen, konnte aber nichts erkennen. Die Dunkelheit war undurchdringlich.

Ihre Lungen begannen zu rebellieren. Ihr Körper zuckte, wehrte sich gegen den Druck, wollte zurück an die Wasseroberfläche. Langsam verschwammen ihre Gedanken. Sie spürte die Kraft des Meeres von allen Seiten. Spürte die verlockende Rettung.

Als sie nach oben schaute, erkannte sie undeutlich den Mond. Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte sich ihre Umgebung fast taggleich. Das Wasser um sie herum schien durchsichtig zu sein.

Sie atmete aus und strebte mit aller verbleibenden Kraft nach oben. Japsend durchbrach sie die Wasseroberfläche und schnappte gierig nach Luft. Sie konnte kaum noch klar denken, sammelte ihre letzte Energie und schwamm mit hastigen Armbewegungen zum Strand zurück.

Als sie aus dem Wasser kroch, klebte die Kleidung an ihrem Körper. Völlig erschöpft ließ sie sich in den kalten Sand fallen. Sie rollte sich auf den Rücken und wartete, bis ihr Atem sich endlich beruhigt hatte.

Tausende Sterne funkelten am Nachthimmel. Nein, so leicht würde sie es ihnen nicht machen. Sie würde nicht einfach verschwinden, als ob sie nie existiert hätte. Ohne Spuren, ohne Konsequenzen. Nein, ihr Dasein sollte einen Sinn haben.

Irgendwo hinter ihr im Gebüsch schrie eine Katze. Sie setzte sich langsam auf und starrte auf das Meer, das sich endlos und unheimlich vor ihr erstreckte. Alle Welt sollte von ihr wissen. Sie war kein kleines Mädchen, das man demütigen und erniedrigen konnte, wie es einem beliebte. Nein, es käme der Tag, an dem sie bereuen würden, was sie ihr heute angetan hatten. Alle. Sie würde sich rächen. Und wenn es Jahre dauern sollte. Sie hatte Zeit. Keiner von ihnen käme ungestraft davon. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Eine tiefe Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Sie würde sich rächen. Für alles. Sie brauchte nur Geduld, musste abwarten.

1

Achtzehn Jahre später Montag, 25.Oktober Argelès-sur-Mer

Estelle richtete sich auf und strich sich abwesend eine Haarsträhne hinters Ohr. Ihr Rücken schmerzte nach dem stundenlangen Streichen. Vorsichtig dehnte sie ihren Nacken. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete nachdenklich ihr Werk.

Die Wand vor ihr erstrahlte in einem hellen Fliederton. Sie drehte sich um und musterte die weißen Holzmöbel. Ja, die Kombination gefiel ihr. Genauso hatte sie es sich vorgestellt. Estelle wollte aus jedem einzelnen Zimmer etwas Besonderes machen. Etwas Einzigartiges. Dies war erst der zweite von neun Räumen und ihr war klar, dass noch eine Menge Arbeit vor ihr lag.

Als sie vor zehn Tagen in Argelès angekommen waren, hatten die beauftragten Handwerker bereits ganze Arbeit geleistet. Das Dach war wie besprochen erneuert worden, die Sandsteinfassade gesäubert. Auch die Elektrik war bereits generalüberholt.

Estelles Blick fiel auf das bodentiefe Fenster. Sie ließ ihre Hand, die noch immer die Farbrolle hielt, sinken und trat an die Glasscheibe mit den breiten Sprossen. Das Zimmer befand sich auf der Rückseite der Auberge. Von hier aus hatte man einen freien Blick in den Garten des Nachbarhauses.

Estelle wusste bereits, dass in dem zweigeschossigen, gepflegten Gebäude eine Familie mit zwei kleinen Söhnen wohnte. In den letzten Tagen hatte sie die vier mehrfach beobachten können. Die Mutter schien zu arbeiten, während ihr Mann sich um die Kinder kümmerte. Zumindest hatte Estelle ihn schon öfter tagsüber im Garten gesehen. Die beiden Jungen schätzte sie im Grundschulalter.

Sie wischte sich über die Stirn. Als ihr Blick auf die Uhr im Flur fiel, registrierte sie, dass sie vier Stunden lang gestrichen hatte. Ob Noah schon zurück war? Er wollte heute Morgen in die Stadt gehen und einige Besorgungen erledigen. Sie hatte ihn jedoch nicht heimkommen hören. Wahrscheinlich saß er noch am Meer. Schließlich waren die Nähe zum Wasser und das warme Wetter ihre entscheidenden Argumente gewesen, um ihn von dem Umzug nach Südfrankreich zu überzeugen.

Als Estelle vor zehn Monaten über den Tod ihrer Großmutter informiert worden war, hatte sie nicht ahnen können, dass sich ihr Leben im Laufe des Jahres komplett ändern würde. Damit, dass ihre Oma ihr die Auberge vererbte, hatte Estelle nicht gerechnet. Als sie an jenem Tag den Absender auf dem Brief erblickt hatte, die französische Adresse in Argelès-sur-Mer, war ihr gleichzeitig heiß und kalt geworden. Im ersten Moment hatte sie die aufkeimenden Gefühle, die mit den Erinnerungen an ihre alte Heimat verbunden waren, kaum ertragen können. Glücklicherweise war Noah in der Schule gewesen und hatte sie nicht in diesem Zustand erleben müssen.

Sie hatte sich mehrfach gefragt, was ihre Großmutter mit der Aktion bezweckte. Natürlich war Estelle tieftraurig gewesen, als sie vom Tod der alten Frau, die weit über achtzig gewesen war, erfahren hatte. Aber warum sollte Estelle erben? Ihre Schwester Emily und ihr Vater lebten noch in Argelès. Warum hatte die Großmutter nicht ihnen das kleine Hotel am Stadtrand vermacht?

In den ersten Wochen hatte Estelle krampfhaft versucht, einen Makler zu finden, der die Auberge für sie verkaufen sollte. Doch von Heidelberg aus war das nicht so einfach gewesen. Die meisten ansässigen Experten vermittelten aus Prinzip keine Auslandsimmobilien. Als sie endlich jemanden gefunden hatte, der ihr zusagte, sich um die Angelegenheit zu kümmern, wurde sie sehr schnell ernüchtert. Der Preis, den sie sich vorgestellt hatte, war nicht annähernd realistisch. Das Interesse an kleinen südfranzösischen Hotels hielt sich in sehr engen Grenzen.

Nach langem Nachdenken war Estelle zu dem Schluss gekommen, ihrem Leben einen neuen Impuls zu geben. Sie lebte mittlerweile seit knapp achtzehn Jahren in Heidelberg. Das Hotel, in dem sie arbeitete, sollte in wenigen Monaten schließen, weil sich der Besitzer aus Altersgründen zur Ruhe setzen wollte. Estelle hätte sich eine neue Stelle suchen müssen, was nicht einfach geworden wäre, da sie auf ihrem damaligen Posten den Betrieb praktisch allein geführt hatte. Der Eigentümer hatte ihr bei allen Entscheidungen freie Hand gelassen und Estelle hatte keine Lust gehabt, woanders wieder von vorne anzufangen. Daher war langsam der Gedanke in ihr gereift, das Erbe ihrer Oma als Chance zu sehen. Ein Wendepunkt in ihrem Leben.

Als sie Noah von ihrer Idee erzählte, war der alles andere als begeistert gewesen. Er hatte zwar in der Schule Französisch gelernt und vor Jahren im Rahmen eines Schüleraustausches einmal eine Woche in der Bretagne verbracht, konnte sich aber nicht vorstellen, für immer dort runterzuziehen. Sein ganzes Leben spielte sich in Heidelberg ab.

Doch Estelle ließ nicht locker. Im Juni hatte Noah seinen Schulabschluss gemacht und sie rang ihm das Versprechen ab, zumindest für ein Jahr mit ihr nach Argelès zu kommen. Wenn die Vormundschaft im nächsten Jahr erlosch, weil er volljährig wurde, dürfte er selbst entscheiden, ob er mit ihr in Frankreich bleiben oder lieber nach Heidelberg zurückkehren wolle. Nach tagelangen Diskussionen hatte er sich schließlich auf ihr Angebot eingelassen.

Obwohl sie noch keine zwei Wochen hier waren, hatte Estelle das Gefühl, dass Noah sich schon etwas eingelebt hatte. Gestern hatte er ihr erzählt, er habe eine Gruppe Jugendlicher am Strand kennengelernt.

Sie drehte sich um und erblickte im angrenzenden Garten den Nachbarn mit seinen beiden Söhnen. Der Größere der beiden hielt einen Fußball in der Hand, während sein kleiner Bruder an der Hand des Vaters zerrte. Unwillkürlich trat Estelle einen Schritt zurück, da sie unentdeckt bleiben wollte. Der ältere Junge schoss den Ball zu seinem Bruder, der augenblicklich den Vater losließ.

Neugierig betrachtete Estelle den Mann. Er war groß und hatte dichtes blondes Haar, das ihm wirr in die Stirn fiel. Sie schätzte, dass er und seine Frau etwa im gleichen Alter wie sie selbst waren.

Als der Nachbar gerade auf den Ball zustürmen wollte, fasste er sich hastig an die Gesäßtasche und zog ein Handy heraus. Er bedeutete den Jungen, dass er kurz telefonieren müsse. Estelle beobachtete, wie er aufs Display sah und sein Gesicht genervt verzog.

Die Söhne rannten aufgeregt dem Ball hinterher, während ihr Vater wild gestikulierend am Rand des Gartens entlanglief. Ab und zu warf er den Kindern einen Blick zu, hörte aber nicht auf, wütend in das Telefon zu sprechen.

Die Szene versetzte Estelle einen kleinen Stich. Wie musste es sein, heimzukommen und von einem liebenden Ehemann begrüßt zu werden, der auf die Rückkehr seiner Frau wartete?

Die Mutter hatte sie heute noch nicht gesehen, wahrscheinlich arbeitete sie wieder bis in den späten Abend.

Wie gebannt starrte Estelle auf das Grundstück, musterte die hohen Zypressen, die zur Straße hin wuchsen, und bemerkte zu spät, dass der Vater der Kinder sich umgedreht hatte und zu ihr hinaufsah. Noch immer sprach er unentwegt in das Handy, doch er wandte den Kopf nicht ab, sondern blickte weiter in ihre Richtung.

Estelle fühlte sich ertappt und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte sich noch nicht vorgestellt, da sie kein Bedürfnis danach verspürte, nachbarschaftliche Beziehungen zu knüpfen. Unbeholfen hob sie ansatzweise ihre Hand, bevor sie sich hastig abwandte. Sie wollte für sich bleiben. Allein.

Wieder blickte sie zu der frisch gestrichenen Wand. Ein Bild wäre hübsch, schoss es ihr durch den Kopf. Eine schöne große Schwarz-Weiß-Fotografie. So könnte sie jedem Zimmer seine individuelle Note verleihen.

Estelle ging in das kleine angrenzende Badezimmer, um die Farbrolle auszuwaschen. Ihr Rücken schmerzte noch immer. Sie würde erst morgen damit beginnen, den Nebenraum zu streichen. Da noch keine Buchungen eingegangen waren, konnte sie sich mit der Renovierung Zeit lassen.

Als sie aus dem Zimmer trat, erblickte sie den massiven Holzschrank, der in der Mitte des Flures thronte. Estelle erinnerte sich daran, dass das Möbelstück schon vor achtzehn Jahren hier gestanden hatte.

Sie näherte sich dem Schrank und fuhr langsam mit der Hand über das dunkle Holz. Sie würde ihn hier stehen lassen. Er passte an diesen Platz und verlieh dem Gang das gewisse Etwas. Einen Hauch von Gemütlichkeit. Sie könnte Handtücher und Bettwäsche für die Gäste darin lagern.

Estelle drehte vorsichtig an dem Knauf und öffnete die Türen. Der Schrank war leer. Als sie vor einigen Monaten angereist war, um die Auberge zu begutachten, waren alle Zimmer mit alten Möbeln vollgestellt gewesen. Mittlerweile hatte sie die Räume entrümpeln lassen. Diesen Schrank wollte sie jedoch nicht weggeben.

Sie fuhr über einen der Einlegebögen und blieb plötzlich an etwas Hartem hängen. Im Dämmerlicht des Flures konnte sie nichts erkennen. Sie nahm den Gegenstand hoch und trat damit ans Fenster. Es war ein nicht allzu dickes, schwarzes Notizbuch im DIN-A4-Format. Estelle schlug den Deckel auf und kniff überrascht ihre Augen zusammen, als sie auf dem ersten Blatt ihren Namen las. Irritiert blätterte sie die Seite um.

Estelle, meine geliebte Enkelin. Solltest Du jemals diese Zeilen lesen, ist meine schlimmste Befürchtung eingetroffen.

Es war die Schrift ihrer Oma. Der Anblick der kleinen, akkuraten Buchstaben weckte in Estelle tief vergrabene Erinnerungen. Erinnerungen an ihre Kindheit, als sie jede freie Minute hier bei ihrer Großmutter verbracht hatte und ihr an den Wochenenden half, das Frühstück für die Gäste herzurichten. Sie erinnerte sich an den alten Thierry, der nur fünf Häuser weiter gewohnt hatte und trotzdem jeden Morgen sein Croissant und seinen Kaffee bei ihrer Oma bestellte. An den Geruch der Reinigungsmittel, wenn neue Gäste erwartet wurden. An die Hektik, wenn das Hotel ausgebucht war.

Auf einmal wurde Estelle von einer entsetzlichen Trauer übermannt. Trauer um ihre viel zu früh verstorbene Mutter, um ihre Oma, die sie so lange nicht gesehen hatte. Trauer um das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, als sie Argelès verließ.

Sie sank zu Boden und lehnte sich gegen die offene Schranktür. Das Buch klappte sie zu und hielt es mit beiden Händen umklammert. Ihre Oma hatte ihr einen Brief geschrieben. Vielleicht eine Art Abschiedsbrief?

Estelle war zu spät gekommen. Wie gern hätte sie ihre Großmutter ein letztes Mal in den Arm genommen. Ein letztes Mal mit ihr herumgealbert. Wenn sie ihre Augen schloss, tauchte das gütige Gesicht der älteren Frau in ihren Gedanken auf. Sie hatte sie so geliebt. Vielleicht wurde ihr erst jetzt bewusst, wie sehr.

Im nächsten Moment schlichen sich verschwommene Erinnerungsfetzen in ihre Gedanken. Düstere Bilder, denen allerdings Kontur fehlte. Und doch hatte Estelle nichts davon vergessen, empfand sie denselben Schmerz wie damals. Tief in ihrem Inneren wartete ein Teil von ihr bis heute auf Erlösung. Auf Vergessen. Und auf Rache.

Das war der zweite Grund für ihre Rückkehr nach Argelès. All die Jahre hatte sie auf ausgleichende Gerechtigkeit gehofft. Auf ein Wunder, dass all die furchtbaren Momente auslöschen würde. Doch Estelle hatte vergebens gewartet, die Albträume begleiteten sie bis heute. Als sie in Deutschland mit dem Gedanken gespielt hatte, die Auberge zu übernehmen, nahm das Gefühl der Vergeltung einen immer größeren Stellenwert in ihren Überlegungen ein.

Als ihr Handy klingelte, schrak Estelle zusammen. Obwohl die inneren Zwiegespräche ihr allein vorbehalten blieben, fühlte sie sich unsinnigerweise schuldig. Sie blickte aufs Display. »Tatti«, begrüßte sie erleichtert ihre Freundin.

»Hallo, meine Liebe, wie geht es euch?«

Estelle berichtete ausführlich von den Renovierungsarbeiten, die langsam, aber stetig voranschritten.

Sie hatte Tatjana Hartmann kurz nach ihrem Umzug nach Heidelberg kennengelernt. Tatjana war etwas älter als Estelle und hatte sich all die Jahre um ihre Belange gekümmert. Sie arbeitete seit über zwanzig Jahren bei der dortigen Stadtverwaltung. Über die lange Zeit hatte sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt. Wenn es eine Person gab, die Estelle von ganzem Herzen vermisste, dann war es Tatjana. Die Gespräche mit ihr, ihre Ratschläge, ihr Humor und ihre unendliche Geduld. Als sie nun der Stimme ihrer Freundin lauschte, wurde ihr fast wehmütig zumute.

»Was macht Noah?«

Tatjana hatte Estelle vor vielen Jahren auch bei der Vormundschaft für Noah geholfen, kurz nach Silvias Tod, deren letzter Wille es war, dass Estelle die Vormundschaft übernehmen sollte.

Estelle und Silvia hatten eine Zeit lang gemeinsam in einem kleinen Hotel in Dossenheim gearbeitet. Als feststand, dass die Freundin einen unheilbaren Hirntumor hatte, wollte sie unbedingt die Zukunft ihres Sohnes gesichert wissen. Estelle war damals noch sehr jung gewesen, hatte aber keine Sekunde gezögert. Da Silvia keine lebenden Verwandten gehabt hatte, hätte Noah ansonsten übergangsweise in einem Kinderheim unterkommen müssen. Dieses Schicksal wollte Estelle ihm um jeden Preis ersparen. Der Junge war damals drei Jahre alt gewesen.

»Er ist mit Bekannten unterwegs«, antwortete sie auf die Frage ihrer Freundin.

»Er hat also schon erste Kontakte geknüpft.« Tatjana klang zufrieden.

»Sieht so aus«, stimmte Estelle zu.

»Und du?«

Sie schwieg einen Moment.

»Estelle?«

»Es ist nicht so einfach …« Sie zögerte.

»Du wusstest, dass es nicht einfach werden würde.«

Estelle seufzte. »Du hast recht. Es ist nur …« Sie brach ab. Von ihrem Termin am späten Nachmittag wollte sie Tatjana nichts erzählen. Sie wusste, dass ihre Freundin die Aktion nicht gutheißen würde.

»Das wird schon alles.« Tatjanas Stimme hatte wieder diesen mitfühlenden Unterton. »Ganz bestimmt.«

Estelle traten Tränen in die Augen. »Sicher.« Sie schluckte.

»Hast du denn den einen oder anderen netten Mann getroffen?« Ihre Freundin bemühte sich um Unverfänglichkeit.

Dankbar griff Estelle den Themenwechsel auf. »Na ja, mein Nachbar …« Sie dachte daran, wie er vorhin zu ihr heraufgestarrt hatte.

»Dein Nachbar?« Tatjana lachte. »Ich hoffe, er passt nicht in dein übliches Beuteschema.«

»Er wohnt dort mit seiner Familie.« Estelle grinste. Natürlich wusste Tatjana, dass sie sich grundsätzlich nur für Männer interessierte, die nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung waren.

»Dann solltest du die Finger von ihm lassen.« Die Stimme der Freundin klang ernst.

»Du bist doch sonst nicht so ein Moralapostel.«

»Estelle! Du kannst dich doch nicht auf einen Mann einlassen, dessen Frau du jeden Tag auf der Straße begegnest.«

»Wer hat denn gesagt, dass ich mich auf ihn einlassen möchte?« Estelle spielte Empörung vor. »Bis jetzt habe ich noch kein Wort mit ihm gewechselt. Er sieht einfach nett aus.«

»›Einfach nett‹! Ich kenne dich. Bitte lass die Finger von ihm. Du handelst dir nur Ärger ein.«

»Danke für deinen Ratschlag, Mama.« Sie lachte. Im Stockwerk unter ihr wurde die Eingangstür geöffnet.

»Estelle! Wo bist du?«

»Hier oben«, rief sie etwas lauter. »Tatti, Noah ist gerade gekommen. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir.«

»Alles klar. Grüß ihn ganz lieb von mir.« Tatjana machte eine Pause. »Und Estelle?«

»Hm?«

»Lass die Finger von deinem Nachbarn.«

Schmunzelnd verabschiedete sich Estelle von ihrer Freundin, als Noah auch schon auf dem Treppenabsatz auftauchte.

»Was machst du denn hier auf dem Boden?«

Unauffällig schob sie das schwarze Notizbuch in den Schrank zurück, bevor sie sich hastig erhob. »Ich mache eine Pause. Tatti hat gerade angerufen.«

»Bist du mit dem Zimmer schon fertig?« Er sah sie überrascht an.

Sie deutete in den Raum hinein. »Schau es dir an.«

»Wow!« Noah war sichtlich beeindruckt. »Ist zwar nicht meine Lieblingsfarbe, aber …«

Estelle lächelte, als sie sich neben ihn stellte.

Der Jugendliche überragte sie um einen ganzen Kopf. Manchmal fragte sie sich, wo die Zeit bloß geblieben war. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie Noah zu sich genommen hatte. Es fühlte sich an, als wäre es gestern gewesen.

Sie wandte ihren Kopf und sah ihn von der Seite an. »Wie war dein Tag?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ganz gut, schätze ich.«

»Wo warst du?« Sie wollte ihn nicht ausfragen, aber es war ihr wichtig, dass er sich hier wohlfühlte.

»Wir waren am Strand.«

Estelle nickte. Am Strand also. Sie selbst war seit achtzehn Jahren nicht mehr dort gewesen.

»Du warst nicht allein.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Noah nickte. »Nein, ich habe mich mit einigen Leuten aus dem Ort getroffen.«

»Ich freue mich, dass du schon Bekannte gefunden hast.« Estelle meinte es ernst. »Ich muss gleich noch mal weg.«

Noah sah sie an. »Ein Date?«

Sie lachte und stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite. »Ich und ein Date! Nein, ich habe …«, sie zögerte, »… ich habe noch einen Termin.«

Obwohl Noah sie weiter fragend anschaute, beließ sie es dabei. Sie konnte ihn auf keinen Fall mit ihren Problemen belasten.

2

Matthieu Clereau hatte die Anklageschrift bereits zum dritten Mal gelesen und wusste trotzdem immer noch nicht, was er seinem Mandanten sagen sollte. Er stützte seinen Kopf in die Hände und starrte frustriert auf die vor ihm liegende Akte. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren.

Seine Gedanken drehten sich unablässig im Kreis, während sein Blick auf das Foto fiel, das am Rand des Schreibtisches stand. Es zeigte seine Frau Michelle am Strand in Spanien. Ihre Arme hatte sie um Nicole und Etienne gelegt. Das Bild war vor zwei Jahren entstanden. Seine Familie. Sein Leben. Das er sich nicht zerstören lassen würde. Von niemandem. Der Abend der Abschiedsfete fiel ihm ein. Es kam Matthieu fast vor, als habe seine Schulzeit in einem anderen Leben stattgefunden.

Er kratzte sich am Kinn und schob die Akte zur Seite. Es hatte keinen Sinn. Sein Mandant erwartete erstklassige Arbeit, zu der er heute nicht in der Lage war.

Nachdenklich ließ er seinen Blick durch das Büro wandern. Die hochwertigen Tapeten, die mit Fachliteratur vollgestellten dunklen Mahagoniregale.

Matthieu arbeitete seit sieben Jahren in der angesehensten Anwaltskanzlei Argelès’. Ihre Mandanten setzten sich fast ausschließlich aus Größen der Region zusammen. Industrielle aus Perpignan, viele Winzer, die ihre Besitztümer immer weiter vergrößerten. Diese Leute erwarteten, dass man stets hundert Prozent gab.

Im vorliegenden Fall ging es um die Beschuldigung eines ehemaligen Angestellten, der Matthieus Mandanten des Betrugs und der Verleumdung bezichtigte. Nichts Außergewöhnliches.

Matthieu war klar, dass seine Unruhe nichts mit der Arbeit zu tun hatte. Wieder überlegte er, was er tun sollte. Er musste unbedingt wissen, was auf ihn zukommen könnte. Mit seiner Frau konnte er darüber nicht reden. Wenn er ehrlich war, gab es nur drei Personen, denen er bei diesem Thema vertraute.

Er nahm den Telefonhörer langsam auf, sträubte sich jedoch noch immer aus Sorge, eine Lawine loszutreten, wegen etwas, das sich im Nachhinein als heiße Luft herausstellen könnte. Bevor er weitergrübeln konnte, tippte er schnell die Nummer in den Apparat.

Es klingelte mehrmals. Matthieu wollte schon auflegen, als am anderen Ende doch noch abgehoben wurde.

»Dugout.«

»Patrick? Hier spricht Matthieu.«

Einen Moment lang herrschte Stille. »Matthieu!« Patrick Dugout klang überrascht. »Was verschafft mir die Ehre? Wir haben uns ja ewig nicht gesprochen.«

Matthieu räusperte sich. »Die Auberge eröffnet wieder.« Als keine Antwort kam, befürchtete er schon, sein Freund aus Jugendtagen habe aufgelegt. »Patrick?«

»Ich bin noch dran.«

Matthieu hielt irritiert inne. »Du klingst nicht überrascht.«

»Emily hat mir erzählt, dass Estelle die Auberge geerbt hat. Von der alten Miroux.«

Matthieu bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Wie lange weißt du schon davon?«

Patrick zögerte. »Eine Weile.« Er klang unsicher.

»›Eine Weile‹?« Matthieu konnte es kaum glauben. »Und du hast es nicht für nötig erachtet, uns darüber zu informieren?«

»Ich dachte nicht, dass es relevant wäre.«

Matthieu lachte bitter auf. »Sie war fast zwanzig Jahre weg. Was will sie hier? Was sagt Emily?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Patrick gedehnt. »Emily hat ihre Schwester seit damals nicht gesehen.«

»Die beiden haben keinen Kontakt?«

»Nein, Estelle hat wohl mit der ganzen Familie gebrochen.«

Matthieu schnaubte verächtlich. »Was will sie dann hier?«, wiederholte er seine Frage.

»Warum bist du so nervös?«

»Machst du dir keine Sorgen?«

»Warum sollte ich? Wir haben Estelle doch Ewigkeiten nicht gesehen.«

Matthieu schüttelte seinen Kopf. Patrick hatte Nerven. »Vielleicht solltest du Emily mal zu ihr schicken. Sie könnte doch mit ihr reden. Von Schwester zu Schwester. Insbesondere, da Emily jetzt mit dir zusammen ist.«

»Was soll das, Matthieu?« Patrick klang wütend. »Warum machst du dir in die Hose? Estelle ist zurückgekommen, um das Hotel ihrer Großmutter weiterzuführen. Das klingt für mich nach einem durchaus nachvollziehbaren Grund.«

»Ich traue ihr nicht. Nachdem, was …«

»Du hast sie doch seit damals überhaupt nicht mehr gesehen.«

»Genau deswegen befürchte ich ja, dass sie auf Ärger aus ist.« Matthieu machte sich ernsthaft Sorgen. »Erst haut Estelle ab und niemand weiß, wohin. Und dann taucht sie fast zwanzig Jahre später einfach aus dem Nichts wieder auf.«

»Matthieu, jetzt beruhige dich mal.« Patrick lachte. »Sie war damals siebzehn und ist eben umgezogen. Jetzt kommt sie zurück, weil sie das Hotel geerbt hat.«

Doch Matthieu blieb skeptisch. »Mir gefällt die ganze Sache nicht.«

»Warum machst du nicht einfach Feierabend, fährst nach Hause zu deiner Familie und kümmerst dich ein wenig um die Kinder? Das wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Patricks gönnerhaftes Getue erboste Matthieu noch mehr.

»Vergiss sie. Wirklich.«

»Ich hoffe, du hast recht. Ich kann mir nämlich keinen Ärger leisten.« Vorgestern hatte sein Chef mit ihm über seine beruflichen Perspektiven gesprochen. Für dumme Gerüchte oder rufschädigende Lügen wäre jetzt der absolut unpassendste Zeitpunkt.

»Was für Ärger?« Patrick schien nicht im Geringsten beunruhigt.

»Vielleicht sollten wir Jérôme und Yves informieren«, probierte es Matthieu ein weiteres Mal.

»Wozu?«

»Ich weiß es nicht, Patrick. Aber ich habe die dumpfe Vorahnung, dass hier irgendetwas vor sich geht, das böse für uns enden könnte. Solange sie weg war …« Hatten sie nichts zu befürchten gehabt, setzte er in Gedanken hinzu.

»Vergiss Estelle. Mach dir einen schönen Abend mit deiner Frau und lebe dein Leben.«

Patrick und seine Politikerfloskeln. Matthieu seufzte. So kam er nicht weiter. Immer noch beunruhigt, verabschiedete er sich und beendete das Gespräch.

Minutenlang starrte er gedankenverloren ins Leere. Er war noch nie der Typ gewesen, der den Dingen einfach ihren Lauf ließ. Er war ein Macher. Daher verachtete er Patricks ignorante Einstellung. Doch Politiker drehten sich die Tatsachen eben immer, wie sie sie brauchten.

Nein, er würde nicht abwarten. Er konnte nicht abwarten. Matthieu musste wissen, was Estelle Miroux vorhatte. Und wenn ihre überraschende Rückkehr auch nur im Entferntesten mit ihm zu tun hatte, würde er sich passende Maßnahmen überlegen. Matthieu Clereau hasste Überraschungen. Und er hasste das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Doch so weit würde er es gar nicht erst kommen lassen.

3

Das Büro von Albert Ardèche lag in einem unscheinbaren Haus am anderen Ende von Argelès. Der Mann wollte nicht auffallen, dachte Estelle, während sie ihren Wagen abstellte. Das Wohngebiet bestand fast ausschließlich aus Bungalows. Nicht gerade das typische Umfeld für die Wirkungsstätte eines Privatdetektivs. Keine heruntergekommenen Hinterhöfe, keine zwielichtigen Gestalten. Wahrscheinlich schaute sie zu viele schlechte Krimis.

Estelle umklammerte nervös den Griff ihrer Handtasche und durchquerte den Vorgarten. Der Lavendel, der neben dem gepflasterten Weg wuchs, duftete mit dem weißen Jasmin dahinter um die Wette. Vorstadtidylle, schoss es ihr durch den Kopf.

Nachdem sie geklingelt hatte, hörte sie hinter der Tür Schritte, bevor ein älterer Mann im Türrahmen erschien.

»Madame Miroux?«

Sie schätzte Albert Ardèche auf Ende fünfzig, Anfang sechzig. Sein schütteres Haar war bereits ergraut. Der Privatdetektiv war einen halben Kopf kleiner als Estelle, leicht untersetzt und machte auf sie den Eindruck eines Mannes, der mit sich und der Welt zufrieden war.

Sie nickte und reichte ihm die Hand.

»Bitte.« Ardèche trat zu Seite und ließ Estelle eintreten. »Gehen wir in mein Büro.«

Sie folgte ihm in den Keller des Hauses, der offensichtlich als Geschäftsräume diente und registrierte ein kleines Wartezimmer, dem sich, nur durch eine Glastür getrennt, ein Büro anschloss.

Der ältere Mann betrat den Raum und zeigte auf einen Stuhl vor dem breiten, unaufgeräumten Schreibtisch.

Estelle setzte sich und beobachtete schweigend, wie Ardèche bedächtig die herumliegenden Akten auf dem Schreibtisch übereinanderstapelte.

Als er fertig war, blickte er Estelle in die Augen und lächelte. »Madame Miroux«, wiederholte er ihren Namen. »Was kann ich für Sie tun?«

Estelle holte einen Notizblock aus ihrer Tasche und legte ihn vor sich. »Monsieur Ardèche, ich weiß nicht genau, wie ich …« Sie brach unsicher ab.

»Madame«, er beugte sich vor und verschränkte seine Finger ineinander. »Ich arbeite seit über fünfzehn Jahren als Privatdetektiv. Davor war ich zwanzig Jahre lang im Polizeidienst.« Er zwinkerte. »Glauben Sie mir, es gibt wenig, was ich noch nicht gehört oder gesehen habe.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Sind Sie mit der Familie Miroux verwandt, nach denen der vorzügliche Wein benannt ist?«

Estelle spürte seinen aufmerksamen Blick auf sich. Doch seine freundliche Art konnte sie nicht täuschen. Sicher hatte er bereits Nachforschungen über sie angestellt. Gehörte es nicht zu jedem neuen Auftrag eines Detektivs dazu, erst einmal Erkundigungen über den Auftraggeber einzuholen?

Aufgrund ihrer Überlegungen entschied sie sich für die Wahrheit, obwohl sie vermeiden wollte, zu viel von sich preiszugeben. Doch es wäre ein Leichtes für ihn, ihre Verbindung zu der wohlhabenden Winzerfamilie herzustellen, wenn er nicht sowieso schon darüber Bescheid wusste.

Sie nickte. »Pierre Miroux ist mein Vater.«

Ardèche verzog keine Miene. Estelle konnte nicht erkennen, ob ihm diese Tatsache bereits bekannt gewesen war. »Um was geht es, Madame Miroux?«

»Ich möchte …« Sie atmete tief durch und schob ihm ihren Notizblock hin. Der Privatdetektiv drehte ihn herum und betrachtete die Namen, die sie darauf notiert hatte. Als er seinen Kopf wieder hob, sah er sie fragend an.

Estelle zeigte auf den Block. »Ich möchte, dass Sie herausfinden, welchen Dreck diese vier Herren am Stecken haben.« Sie senkte erleichtert ihre Schultern. Jetzt war es heraus.

Ardèche sah erneut auf ihre Notizen und nickte langsam. »Kein Problem. Haben Sie irgendwelche Tipps für mich, in welche Richtung meine Nachforschungen gehen sollten?«

Estelle zögerte kurz, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, keine bestimmte Richtung.«

Ardèche kaute auf seiner Unterlippe. »Sind Sie sicher, dass es bei den …«, er suchte nach den richtigen Worten, »… bei diesen Herrschaften etwas zu finden gibt?«

»Gibt es das nicht bei jedem?« Estelle sah ihn trotzig an.

Der Privatdetektiv wiegte langsam seinen Kopf. »Kommt darauf an.«

»Auf was?«

»Was Sie erwarten.« Jetzt blickte er ihr offen ins Gesicht.

»Ich möchte wissen, was diese vier Männer in den letzten zwanzig Jahren getrieben haben. Werdegang, private und berufliche Fehltritte, geheime Doppelleben, was auch immer Sie finden.«

Wieder nickte Ardèche. »Ich werde sehen, was ich tun kann, Madame. Dugout dürfte etwas schwierig werden. Er ist ein aalglatter Politiker. Und Clereau? Ein aufstrebender Staranwalt, der, wenn man den Gerüchten glauben mag, eiskalt agiert.«

»Sie kennen die Männer«, stellte Estelle ernüchtert fest.

»Sie sind hier in Argelès.« Der Detektiv lachte kurz auf. »Was haben Sie erwartet?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Cousteau ist ein bekannter Fotograf. Nur Lafayette …« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier. »Jérôme Lafayette. Der Name sagt mir nichts.«

»Ist es ein Problem, dass es sich um …«, Estelle hielt inne, »… um sogenannte Säulen der Gesellschaft handelt?«

»Nein, keine Sorge. Wenn Sie Informationen über diese Herren möchten, besorge ich sie Ihnen.« Der Detektiv holte ein Formular aus der Schreibtischschublade und begann, es auszufüllen.

»Ist es üblich, dass Sie Ihre Aufträge schriftlich festhalten?« Estelle nestelte nervös an ihrer Kette herum. Sie hatte gedacht, in der Branche sei Diskretion das A und O.

Wieder schenkte ihr Ardèche einen verständnisvollen Blick. »Alles, was wir besprechen, bleibt in diesem Raum. Sie müssen sich keine Sorgen machen.« Jetzt schmunzelte er. »Ich gehe nicht davon aus, dass Sie die Informationen, die Sie von mir bekommen, für das Ausüben einer Straftat verwenden wollen?«

Estelle sah ihn überrascht an und mühte sich ein erzwungenes Lächeln ab. »Ich brauche die Fakten für …«

Während sie krampfhaft überlegte, winkte der Detektiv bereits ab. »Sie müssen mir nichts erzählen, Madame.« Er schaute kurz auf das Formular vor sich. »Sie kaufen eine Dienstleistung. Nicht mehr und nicht weniger.« Er machte eine Pause. »Und ich liefere Ihnen diese Dienstleistung. Alles andere interessiert mich nicht.«

Estelle hob entschuldigend ihre Achseln. »Es tut mir leid, aber ich bin nicht … Ich habe so etwas noch nie gemacht.«

»Kein Problem. So geht es den meisten meiner Mandanten.«

»Was denken Sie, wie lange …?« Estelle wollte nicht ungeduldig wirken.

Ardèche verzog seinen Mund zu einem nachsichtigen Lächeln. »Ich mache mich noch heute an die Arbeit, Madame. Ich denke, ich werde Ihnen morgen schon erste Ergebnisse liefern können.«

Sie nickte zufrieden. »Ich möchte alles über die vier wissen, Monsieur Ardèche. Alles!«

Er sah sie einen langen Moment schweigend an, bevor er sich wieder dem Ausfüllen des Auftrags widmete. Estelle beschlich das ungute Gefühl, dass er sie durchschaut hatte. Doch war das überhaupt möglich? Und was konnte er über sie herausgefunden haben?

Als Estelle in den kleinen Empfangsraum der Auberge zurückkehrte, stand Noah am Tresen und telefonierte. Während er sprach, sah er sie an und schnitt eine Grimasse. Estelle musste ein Lachen unterdrücken.

»Nein, ich habe Eveline Miroux leider nicht gekannt.« Er verdrehte seine Augen. »Ja, das sagten Sie bereits.«

Sie sah sich in dem Raum um und versuchte, den Empfang mit den Augen eines Gastes zu sehen: die hell getünchten Wände, der moderne Holztresen mit den eingelassenen Glaselementen.

Hinter der Rezeption befand sich ein kleines Büro, das vorübergehend sowohl als Archiv wie auch als Arbeitsplatz dienen sollte.

Rechts vom Empfang führte ein Rundbogen in den großen Wintergarten, der sich um die gesamte Außenfassade des Hotels erstreckte. Er sollte als Frühstücksraum für die Gäste fungieren, mit seinen vielen Glasflächen, die die Sonne hereinlassen würden und einen Blick auf die mediterrane Bepflanzung davor freigaben. Direkt dahinter befand sich die kleine Küche.

Estelles Oma hatte den Umbau der Auberge nach deren Erwerb von einem Architekten planen und durchführen lassen. Die vorhandene praktische Anordnung der Räumlichkeiten hatte Estelle die Renovierungsarbeiten um einiges erleichtert.

Sie hatte vor einem halben Jahr einen Bauleiter aus Argelès mit der Überwachung der Umbauten beauftragt und war selbst nur zweimal persönlich vor Ort gewesen, um die Fortschritte zu begutachten. Der Mann war sein Geld wert, stellte Estelle ein weiteres Mal zufrieden fest. Es standen zwar noch einige Restarbeiten an, diese könnte sie aber entweder selbst erledigen, wie die Streicharbeiten, oder entsprechende Handwerker dafür suchen.

»Am Donnerstag?« Als Noahs Stimme sie aus ihren Gedanken riss, drehte sie sich um. Er sah sie fragend an.

Estelle hob ihre Augenbrauen und schüttelte unsicher den Kopf.

»Einen Moment bitte.« Noah betrachtete den Hörer stirnrunzelnd. Als er die Taste gefunden hatte, die er suchte, schnaufte er aus. »Eine Anfrage wegen eines Doppelzimmers. Die Herrschaften wollen bereits in drei Tagen anreisen. Die Dame meinte, sie seien jahrelang Stammkunden deiner Oma gewesen.«

Estelle überlegte kurz. Irgendwann mussten sie ins kalte Wasser springen. Warum also nicht jetzt? Es war Ende Oktober. Um diese Zeit kamen nicht allzu viele Touristen in die Region. Umso wichtiger war es, die wenigen, die sich doch hierher verirrten, nicht zu verprellen. Daher nickte sie langsam. »Das schaffen wir. Das Zimmer ist fertig gestrichen. Morgen rücken wir noch die Möbel zurecht und hängen ein paar Bilder auf. Das Bad ist ja Gott sei Dank bereits fertig.«

»Was ist mit der Küche?«, warf Noah ein.

Estelle zögerte. Er hatte recht. Die Arbeitsplatte war noch nicht montiert und sie hatte bisher auch keinen Handwerker engagiert. »Zur Not stelle ich einen Klapptisch nebendran. Irgendwie werden wir das mit dem Frühstück schon hinbekommen. Es sind ja nur zwei Personen.«

»Und wenn der Raum nicht fertig werden sollte, könnten wir die Möbel in mein Zimmer tragen«, ergänzte der Jugendliche eifrig.

Über den Gästezimmern befand sich im zweiten Stock der Auberge ein gemütliches Appartement, in dem Estelles Oma jahrelang gewohnt hatte. Estelle hatte die Wohnung für sich umbauen und renovieren lassen. Noah jedoch hatte auf ein eigenes Reich bestanden. Schließlich einigten sie sich darauf, dass er in das größte der Gästezimmer zog. Das besaß praktischerweise einen eigenen Flur, der durch eine Extratür von der restlichen Etage abgetrennt war. So hatte Noah ein Bad für sich allein, einen großen Wohn- und Schlafraum und war trotzdem von den Gästen separiert. Und wenn er Sehnsucht nach ihr hatte, konnte er jederzeit nach oben kommen, hatte Estelle ihm augenzwinkernd angeboten.

»Nein«, widersprach sie ihm jetzt. »Du hast dir dein Zimmer selbst hergerichtet. Der andere Raum ist doch fertig.«

»Vergiss nicht die Tür«, erinnerte Noah sie daran, dass sämtliche Türen der Gästezimmer ausgehängt worden waren, weil sie erst abgeschliffen werden mussten.

»Ja, das ist ein echtes Problem«, murmelte Estelle nachdenklich. Sie grinste. »Die Gäste wollen sicher nicht ohne Tür schlafen.«

»Nein, wohl kaum«, stimmte Noah lächelnd zu.

»Ich kümmere mich darum. Morgen«, erwiderte Estelle entschlossen. »Es kann doch nicht so schwer sein, einen Schreiner aufzutreiben, der mir ein wenig zur Hand geht.«

Der Teenager drückte erneut auf die Tastatur am Telefon und entschuldigte sich für die lange Unterbrechung. Er notierte sich die Daten der Gäste und sagte ihnen zu, dass das Zimmer in drei Tagen für sie bereitstehe.

Estelle hob ihre Hand und Noah schlug ein. »Unsere ersten Hotelgäste!« Zufrieden blickte sie ihn an.

Doch als sich die Eingangstür öffnete und ein großer dunkelhaariger Mann den Empfangsraum betrat, verflog Estelles gute Laune schlagartig.

Der Besucher blickte einen Moment lang verunsichert zwischen ihr und Noah hin und her, bevor er seine Fassung wiederfand. »Estelle.« Er nickte ihr leicht zu. Noah hingegen beachtete er nicht weiter.

Estelle stand wie angewurzelt vor dem Tresen, nicht fähig, sich zu rühren. Ihr Herz pochte wie wild. »Was willst du hier?«, fauchte sie ihn an, während sie nervös zu Noah blickte.

»Aber …«, begann der Mann, bevor er ebenfalls zu dem Jugendlichen sah.

»Würdest du uns bitte kurz allein lassen?« Estelle erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr. Sie spürte Noahs Verunsicherung. »Bitte, es ist alles in Ordnung«, bemühte sie sich angestrengt, die Situation zu entschärfen.

Der Teenager nickte knapp und ging Richtung Frühstücksraum.

Als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, atmete Estelle tief durch und versuchte, Ruhe zu bewahren. »Was willst du hier?«

»Das Gleiche wollte ich eigentlich dich fragen«, erwiderte ihr Besucher und lächelte süffisant.

»Ich glaube kaum, dass ich dir Rechenschaft schuldig bin«, entgegnete sie voller Zorn, während sie verzweifelt gegen die Bilder in ihrem Kopf ankämpfte, die grauenhafte Erinnerungen weckten.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du die Auberge deiner Großmutter geerbt hast.« Matthieu Clereau schien sich von Estelles Wut nicht beeindrucken zu lassen.

»Lass mich in Ruhe, Matthieu.«

Sie kochte. Doch auf keinen Fall durfte Estelle vor ihm Schwäche zeigen. Sie würde sich nie wieder von ihm demütigen lassen. Nie wieder.

Als sie spürte, wie ihr schwindlig wurde, hielt sie sich unauffällig an dem Empfangstresen fest.

»Warum so unfreundlich?« Er kam einen Schritt auf sie zu. »Ich wollte lediglich einer alten Freundin Guten Tag sagen.«

Sie betrachtete ihn: die spitze Nase, das vorstehende Kinn, die glatt frisierten Haare. Hass stieg in ihr auf. »Verlasse mein Hotel, sonst …« Den Rest ließ sie unausgesprochen. »Sofort.«

Matthieu schien einen Moment über seine Optionen nachzudenken, wandte sich dann aber zur Tür. Doch bevor er die Klinke berührte, drehte er sich noch einmal um.

Estelle beschlich das beklemmende Gefühl, ein unsichtbares Gewicht drücke erbarmungslos auf ihre Lunge.

»Ich warne dich. Keiner von uns will dich hier haben. Nur weil du eine Miroux bist …« Er machte eine Pause. »Wir wollen keinen Ärger. Alors, leben und leben lassen. Vergiss das nicht. Leg dich nicht mit den falschen Leuten an. Sonst kannst du dein Hotel ganz schnell wieder schließen.«

Estelle konnte kaum noch klar denken. Für wen hielt er sich, dass er ihr so unverhohlen drohte? Ausgerechnet er. Sie hatte den Ehering an seiner Hand registriert. Ein Wort zu seiner Frau und …

Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. »Raus«, schrie sie unbeherrscht. »Sofort raus hier!« Sie machte zwei Schritte auf ihn zu. »Und lass dich nie wieder blicken.«

Betont gleichgültig öffnete Matthieu die Tür und schüttelte leise murmelnd seinen Kopf.

»Lass mich in Ruhe«, schrie Estelle ihm hasserfüllt hinterher. »Falls nicht, bringe ich dich um!«

Im nächsten Moment herrschte eine gespenstische Ruhe. Die Worte klangen in der Stille nach.

»Vielleicht sollten wir lieber ein andermal wiederkommen?«, erklang eine leise Frauenstimme hinter Matthieu.

Der drehte sich ein letztes Mal um und winkte Estelle mit übertriebener Geste zu. »Sie scheint heute nicht ihren besten Tag zu haben«, hörte sie ihn noch sagen, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand.

Als Estelle erkannte, wer vor der Tür stand, erstarrte sie. Es waren ihre Nachbarn. Der gut aussehende blonde Mann, seine Frau und die beiden Jungen. Sie schloss kurz die Augen und versuchte, wieder Herr der Lage zu werden. Leise zählte sie bis zehn. Matthieus Bemerkung ignorierend, bedeutete sie den vieren einzutreten. »Bonsoir, kommen Sie doch herein.« Angestrengt versuchte sie, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bekommen.

»Salut.« Die Frau lächelte leicht und betrat das Hotel, während ihr Mann schweigend folgte.

Die Jungen stießen sich abwechselnd die Ellenbogen in die Seite und kicherten. Der Größere hatte einen Fußball unter den Arm geklemmt.

»Ich bin Caroline Bauvall. Das sind Louis und Théo.« Die Nachbarin streckte Estelle die Hand hin. »Wir wollen nicht stören. Anscheinend kommen wir gerade ungelegen …« Sie deutete über ihre Schulter.

»Nein, nein«, beeilte Estelle sich zu sagen. »Das war nur …« Sie hielt kurz inne. »Das war nur jemand, der sich für wichtiger hält, als er ist.«

Caroline nickte unbestimmt.

»Ich heiße Estelle Miroux.« Sie gab erst Caroline, dann deren Mann die Hand.

»Tom Bauvall.« Der Nachbar zwinkerte ihr zu. »Wir haben uns schon … gesehen.«

Estelle tat, als ob sie überlegen müsse. »Ja, stimmt. Als Sie mit den Jungs Fußball spielten.«

»Wir wollten uns einfach kurz vorstellen. Jetzt, wo wir Nachbarn sind.« Caroline musterte sie freundlich. Das brünette Haar umspielte ihre schlanken Schultern. Sie war genauso attraktiv wie ihr Mann, dachte Estelle.

Verlegen strich sie sich eine kurze Haarsträhne aus der Stirn, als ihr etwas einfiel. »Einen Moment.« Sie wandte sich Richtung Frühstücksraum und rief Noah.

Als dieser durch den Rundbogen trat, war sein Gesichtsausdruck leer. Estelle konnte nicht erkennen, was er von dem Gespräch mit Matthieu mitbekommen hatte. Wenn er verunsichert war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

»Bonsoir.« Noah gab den vieren nacheinander die Hand und stellte sich ebenfalls vor.

»Sie haben das Hotel von Eveline übernommen?«, erkundigte sich Caroline höflich.

»Eveline war meine Großmutter.« Estelle nickte. »Sie hat mir die Auberge vererbt.«

»Sie war eine tolle Frau.«

Natürlich, die Bauvalls waren die Nachbarn ihrer Oma gewesen. Estelle kam es merkwürdig vor, fremde Leute von ihr reden zu hören, während sie selbst sie fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte.

»Sie waren im Ausland?«, schaltete sich nun Tom Bauvall in das Gespräch ein und sah sie eindringlich an.

Estelle wich seinem Blick aus. Diese braunen Augen! »Ja«, antwortete sie unverbindlich, während sie zu Noah sah.

»Wir kommen aus Deutschland«, erklärte dieser in gebrochenem Französisch. »Meine Mutter und Estelle arbeiteten zusammen in einem Hotel in Heidelberg. Als …«

»Ich denke nicht, dass die Nachbarn an unserem ganzen Lebenslauf interessiert sind, Noah«, unterbrach ihn Estelle in scharfem Ton.

»Ich dachte ja nur …«, murmelte der Teenager leise vor sich hin und verschwand ohne ein weiteres Wort in dem kleinen Büro hinter dem Tresen.

Caroline Bauvall räusperte sich und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. »Die Auberge ist wirklich kaum wiederzuerkennen.«

»Ja«, erwiderte Estelle, erleichtert über den Themenwechsel. »Es war ein ganzes Stück Arbeit, aber es hat sich gelohnt.«

»Wann eröffnen Sie?« Tom bedachte sie wieder mit diesem Blick.

Estelle bemühte sich um Gleichgültigkeit. Sie hatte noch nie zuvor solche Augen gesehen. »Am Donnerstag.«

»Schon?« Caroline sah sie überrascht an.

»Ja, es ist etwas kurzfristig«, gab Estelle zu. »Aber wir hatten vorhin die erste Anfrage. Und …« Sie brach ab. »Es ist fast alles fertig. Ich muss morgen nur dringend einen Schreiner beauftragen. Die Türen müssen gerichtet werden und die Arbeitsplatte in der Küche …«

»Einen Schreiner?«, erwiderte Caroline lächelnd und blickte zu ihrem Mann. Die Söhne rempelten sich hinter seinem Rücken an und stritten lautstark um den Fußball.

»Ja, kennen Sie vielleicht einen?«

»Allerdings«, erwiderte Caroline und grinste. Jetzt war sie es, die ihrem Mann den Ellenbogen in die Seite stieß.

Unwillkürlich musste Estelle schmunzeln.

»Tom ist Schreiner, er arbeitet zwar nicht mehr in seinem Beruf, aber …« Caroline sah ihn an. »Du hast doch heute Morgen noch gesagt, dass du mit dem Krimi fast durch bist?«

Tom hob die Augenbrauen. »Ja, schon …«

»Sie sind Autor?«, wollte Estelle interessiert wissen.

»Gott bewahre, nein. Ich bin Lektor.« Er grinste unbeholfen.

Deshalb war er also so oft zu Hause. Estelle war sein Zögern nicht entgangen, als seine Frau ihn aufgefordert hatte, Farbe zu bekennen. »Ich mache mich morgen auf die Suche. Sicher gibt es in Argelès einige fähige Schreiner.«

Caroline sah stirnrunzelnd von ihrem Mann zu Estelle. »Tom«, ergriff sie erneut das Wort. »Du hast doch die nächsten Tage Zeit.«

Er zuckte mit den Achseln und starrte auf den Tresen.

»Das ist wirklich nicht nötig«, versuchte Estelle ein weiteres Mal, ihm beizustehen.

Tom Bauvall hob seinen Kopf und sah sie einige Sekunden lang schweigend an. »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen morgen Vormittag helfen. Die Jungs sind in der Schule. Und du …« Er wandte sich an Caroline. »Du musst arbeiten.«

Seine Frau nickte zufrieden. »Genau.« Sie lächelte Estelle verschwörerisch an. »So kommt er wenigstens nicht auf dumme Gedanken.«

»Es ist wirklich …«, setzte Estelle erneut an, doch sein Blick ließ sie verstummen. Mein Gott, was hatte sie sich da eingebrockt? Der Kerl hatte zwei Kinder. Tatjanas Stimme erklang in ihrem Unterbewusstsein: ›Lass die Finger von deinem Nachbarn.‹ Leichter gesagt als getan.

4

Seit zehn Minuten hing Tom an derselben Stelle fest. Es war zum Verzweifeln! Er wusste genau, was die Autorin mit der Passage sagen wollte, sie hatte sich aber unglücklich ausgedrückt und er musste nun eine andere Formulierung finden. Es wollte ihm jedoch einfach nichts einfallen. Genervt starrte er auf den Stapel Papier, der neben ihm lag, und dachte nach. Abwesend fuhr er sich über seinen Kopf.

»Was ist denn mit dir passiert? Deine Haare stehen ja zu Berge.«

Tom hatte gar nicht bemerkt, dass Caroline schon wieder die Treppe heruntergekommen war. Als er irritiert aufsah, grinste sie und zeigte auf seinen Kopf.

»Es ist zum Verzweifeln«, erwiderte er und winkte ab. »Schlafen die Jungs?«

»Sie sind zumindest im Bett«, entgegnete Caroline und setzte sich ihm gegenüber auf die Couch. »Musst du noch viel überarbeiten? Ich dachte, du wärst so gut wie fertig.«

»Bin ich auch.« Tom schob den Stapel zur Seite. »Es sind nur noch wenige Stellen, die …«, er rümpfte die Nase, »… die noch nicht so richtig passen.«

»Soll ich dir helfen?«

»Nein, besser nicht.« Er lachte. »Dein kriminalistischer Spürsinn hat mich schon des Öfteren in Teufels Küche gebracht. Ich habe keine Lust, nach vierhundertfünfzig überarbeiteten Seiten nochmals Grundsatzdiskussionen über Polizeiarbeit oder andere Fehler in der Verbrechensbekämpfung zu führen.«

Caroline zog einen Schmollmund, bevor sie in sein Gelächter einstimmte. »Apropos Verbrechensbekämpfung.« Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Was hältst du von ihr?«

»Von wem?« Tom stockte kurz, bevor er kapierte. »Ach, von Evelines Enkelin?«

Caroline nickte und erhob sich. »Auch einen Schluck Wein?«

Er zuckte mit den Achseln und beobachtete, wie sie in die Küche ging. »Ja, warum nicht?«

Als sie mit zwei vollen Gläsern zurückkehrte, sah sie ihn neugierig an. »Und?« Sie hielt ihm eines der Gläser hin.

»Was, und?«

»Evelines Nichte«, erinnerte sie ihn ungehalten.

»Ach so.« Er überlegte. »Ich weiß nicht …«

»Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.« Caroline ließ den Wein in ihrem Glas kreisen.

»Was meinst du? Immerhin war es doch dein Vorschlag, dass ich ihr helfen soll.«

»Ja, ich weiß«, gab sie zu. »Aber du hast doch gehört, was sie diesem Kerl hinterhergerufen hat.« Ihre Augen funkelten ihn an.

Tom zuckte mit den Achseln. »Jeder sagt mal etwas, was er nicht so meint.«

»Hast du schon irgendwann jemandem gedroht, ihn umzubringen?« Sie beugte sich abwartend vor.

»Nein, aber …«

»Siehst du«, erklärte Caroline triumphierend. »Und dieser Hass in ihrer Stimme.« Sie blickte versonnen durch die Terrassentür.

»Jetzt übertreibst du aber«, beschwichtigte Tom sie. »Schließlich kennst du die Frau doch gar nicht. Wir sind da einfach in irgendetwas hineingeplatzt.«

Caroline nickte grimmig. »Allerdings sind wir das.«

Tom blickte sie nachdenklich an. »Sie war doch ganz nett, als sie mit uns gesprochen hat.«

»Ja, bevor sie diesen Noah angefaucht hat.«

Tom schüttelte seinen Kopf. »Du hast Feierabend. Also hör auf, das Verhalten deiner Mitmenschen bis ins kleinste Detail zu analysieren.«

»Berufskrankheit«, erwiderte sie leichthin. »Außerdem hat sie kalte Augen.«

Er runzelte die Stirn. »Was stört dich denn bloß an ihr?«

»Sie hat eisblaue kalte Augen«, wiederholte Caroline, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Eiskalte blaue Augen.« Wieder schüttelte er den Kopf, während er missbilligend seinen Mund verzog. »Und was habe ich dann?« Er zwinkerte sie an.

Caroline grinste. »Haselnussbraune Augen«, erwiderte sie, ohne zu zögern.

»Du spinnst.« Er tippte sich an die Stirn und nahm den Papierstapel wieder auf.

Caroline zog die Brauen hoch und nippte an ihrem Glas. »Hör auf meine Worte, Tom. Irgendetwas stimmt mit dieser Frau nicht.«

5

Estelle rieb sich müde über die Stirn, während sie die Treppe zum ersten Stock hinaufstieg. Vor Noahs Zimmer blieb sie stehen und zögerte kurz, bevor sie an seine Tür klopfte. Nachdem sie ihn vor den Bauvalls derart angefahren hatte, war er den ganzen Abend verschwunden gewesen. Jetzt wollte sie sich unbedingt bei ihm entschuldigen.

»Ja?«

Sie betrat das Zimmer und entdeckte ihn vor dem großen Fenster, das zum Garten der Bauvalls zeigte. »Hast du einen Moment?«

Noah drehte sich nicht um. »Was gibt’s?«

Estelle seufzte und stellte sich neben ihn. Sie musterte nachdenklich sein Gesicht. »Wegen vorhin …«

Er drehte den Kopf und sah sie abwartend an.

Sie zog eine Grimasse. »Es tut mir leid.«

Noah nickte.

»Ich weiß auch nicht.« Sie hob unsicher ihre Hand. »Ich dachte einfach … Schließlich kennen wir diese Leute überhaupt nicht.«

Wieder nickte er, erwiderte jedoch nichts.

»Ich hätte dich nicht so anfahren sollen, Noah.« Estelle berührte ihn leicht am Oberarm. »Vielleicht, wenn wir etwas länger hier sind …« Sie brach ab, als sie seinen prüfenden Blick auf sich spürte.

»Wer war der Mann?« Er wandte sich wieder zum Fenster.

»Welcher Mann?«

Noah zog genervt seine Augenbrauen hoch. »Der, den du umbringst, wenn er sich noch mal hier blicken lässt«, erwiderte er trocken.

»Noah …«, begann sie zögernd.

»Was ist los mit dir?«

Estelle presste ihre Lippen aufeinander. Sie wollte ihn nicht anlügen, aber die Wahrheit konnte, durfte sie ihm auf keinen Fall sagen.

»Ist er der Grund, warum du jahrelang nicht zurück nach Hause wolltest?«, bohrte Noah unerbittlich weiter.

Sie konnte ihm nichts vormachen. Dafür kannte er sie zu lang. Estelle nickte.

»Was hat er denn getan?«

Sie blickte zu ihm auf. »Nichts, was noch wichtig wäre. Bitte.« Sie schaute aus dem Fenster. »Es ist so lange her.«

Das Wohnzimmer ihrer Nachbarn war hell erleuchtet. Tom Bauvall saß, über einen Stapel Papiere gebeugt, am Schreibtisch und schien nachzudenken. Caroline war nirgends zu sehen.

»Sie sind nett, oder?« Noah blickte Estelle grinsend an, die missbilligend ihr Gesicht verzog.

»Kann sein.« Sie bemühte sich um einen unbeteiligten Tonfall.

»Na, immerhin hast du jetzt deinen persönlichen Schreiner direkt nebenan.«

Sie verdrehte genervt ihre Augen. »Ein Schreiner, der Kriminalromane lektoriert.«

»Nicht ganz alltäglich«, merkte Noah an.

Estelle lachte. »Schlaf gut«, verabschiedete sie sich kurz darauf von ihm und verließ das Zimmer.

Als sie sich dem Treppenaufgang zu ihrer Wohnung zuwenden wollte, fiel ihr das Notizbuch ihrer Oma wieder ein. Sie durchquerte den Flur und betrat den Gästetrakt. Neugierig öffnete sie den Schrank und holte das Buch hervor.

Einen Moment lang blickte Estelle nachdenklich auf den schwarzen Einband, bevor sie es fest an ihre Brust presste und den Weg zurückhastete.

In ihrer Wohnung angekommen, nahm sie am Esstisch Platz und legte das Buch feierlich vor sich. Was hatte ihre Oma ihr bloß geschrieben?

Estelle öffnete den Deckel und ließ die Seiten durch ihre Finger gleiten. Das war ja ein halber Roman, dachte sie überrascht. Sie war davon ausgegangen, ihre Oma habe ihr eine Art Abschiedsbrief hinterlassen.

Doch dies hier war kein Brief. Es waren unzählige Seiten, vollgeschrieben mit der kleinen akkuraten Schrift ihrer Großmutter.

Für einen Augenblick betrachtete Estelle wehmütig die erste Seite, auf der ihr Name stand, bevor sie gespannt zu lesen begann.

Estelle, meine geliebte Enkelin,

solltest du jemals diese Zeilen lesen, ist meine schlimmste Befürchtung eingetroffen. Dann weile ich nicht mehr unter den Lebenden und habe keine Möglichkeit, dir alles zu erklären. Dir mein Leben zu erklären.

Estelle, ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll. Meine Gedanken rasen, ich bekomme keinen von ihnen zu fassen. Was habe ich nur getan?

Du bist ein so wundervoller Mensch. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, dass ich einmal der Auslöser für dein größtes Leid sein könnte. Niemals. Alles, was ich mir immer für dich und deine Schwester gewünscht habe, war, dass ihr euren Weg im Leben findet. Dass ihr euer Glück findet. So wie ich meinem Glück vor vielen Jahren begegnet bin, als ich euren Großvater traf.

Doch nun musste ich erfahren, dass mein Handeln, mein Leben, meine Entscheidungen, die ich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte getroffen habe, dir so unbeschreiblich viel Schmerz verursacht haben. Nie hätte ich gedacht, dass Menschen so grausam sein können. Niemals.

Die schlimmste Erkenntnis, die mich wie ein Blitz traf, war, dass ich es nicht mehr gutmachen kann. Diese Endgültigkeit der Geschehnisse. Das Wissen, dass ich dein Leben unwiderruflich zerstört habe. Es tut mir so unendlich leid, Estelle. Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich mein Tun bereue.

Als dein Vater vor wenigen Tagen mit mir gesprochen hat, mir endlich die Wahrheit über die damaligen Ereignisse erzählte, konnte ich es im ersten Moment nicht glauben. Nein, dachte ich. Nein, das kann nicht sein. Nicht Estelle. Und doch musste ich schließlich erkennen, dass ich durch mein egoistisches Handeln viele Menschen verletzt habe. Verletzt und vor den Kopf gestoßen.

Du warst immer mein kleines Mädchen. Deine Geburt war für mich wie ein Wunder. All die Jahre hatte ich mir eine Tochter gewünscht, doch nach der Geburt deines Vaters war deinem Großvater und mir bedauerlicherweise kein weiteres Kind vergönnt. Als ich dich zum ersten Mal sah – deine kleinen strammen Beinchen, die Ärmchen, die du nach mir ausgestreckt hast –, spürte ich sofort, dass zwischen uns eine besondere Bindung besteht. Auch Emily hat einen Platz in meinem Herzen. Doch du … Du bist wie ich. Deine Art zu denken, deine Sicht auf die Welt. Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder mit großer Freude Seiten an dir entdeckt, die mich an mich selbst erinnert haben. Als ich jung war. Unschuldig und unwissend.

Mein größter Wunsch ist es, dir alles persönlich erklären zu können. Dir erzählen zu können, was damals wirklich geschehen ist. Und welche furchtbaren Konsequenzen mein Handeln ausgelöst hat. Ich würde mich so gerne persönlich bei dir entschuldigen können. Auch wenn ich genau weiß, dass es für das, was ich getan habe, keine Entschuldigung gibt.

Aber ich bin alt. Ich spüre, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Und ich kann nicht gehen, ohne dir alles zu erklären. Ich weiß nicht, ob dieser Brief die richtige Form für mein Anliegen ist. Doch mir fällt nichts anderes ein. So gern hätte ich dich noch einmal in meine Arme genommen, noch einmal über dein wunderschönes schwarzes Haar gestrichen. Leider ist es zu spät, Estelle.

Das Wichtigste, was ich dir mitteilen möchte, ist, dass ich dich sehr liebe. Du warst und bist für mich die Tochter, die ich nie hatte. Immer, wenn sich dein kleiner Mund zu diesem unwiderstehlichen Lächeln verzogen hat, war die Welt für mich in Ordnung. Unantastbar. Voller Sonnenschein.

Die Grausamkeit, die du für mein Handeln ertragen musstest, halte ich kaum aus. Ich habe einen Fehler gemacht. Einen furchtbaren, nicht wiedergutzumachenden Fehler, für den du jetzt büßen musst. Der Gedanke an deinen Schmerz lässt mich nachts kaum noch schlafen. Manchmal bekomme ich das Gefühl, als ob mir jemand die Luft abdrücke.

Diese Last, die auf meinen Schultern liegt, ist wohl die gerechte Strafe für meine vor vielen Jahren getroffenen Entscheidungen. Eine Last, die manchmal so schwer wiegt, dass ich unter ihr zu zerbrechen drohe. Und doch ist sie nichts gegen das, was du ertragen musstest.

Ich würde so gern die Zeit zurückdrehen. Zwar bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich mich heute wirklich anders verhalten würde, doch dein Schmerz stellt mein komplettes bisheriges Leben infrage.

Ich kann nichts mehr rückgängig machen. Was geschehen ist, ist geschehen. Was mir bleibt, ist, dir zu erklären, wie es zu all dem Furchtbaren kam. Du musst die Zusammenhänge kennen. Ich habe Schuld auf mich geladen, von der du wissen sollst. Große Schuld.

Das Leben geht seine eigenen Wege. Es gibt Wendungen, auf die wir keinen Einfluss haben. Und dann gibt es Ereignisse, deren Konsequenzen wir zwar abwägen, deren wahre Tragweite wir aber bestenfalls erahnen können. Jeder einzelne Tag besteht aus unzähligen solcher Entscheidungen. Große wichtige, aber auch kleine unbedeutende.

Niemals hätte ich gedacht, dass ein einziger Entschluss, eine simple Antwort noch Jahrzehnte später so weitreichende, unüberschaubare Folgen haben könnte. Diese Erkenntnis war selbst für mich, einen Menschen, der den Großteil seines Daseins hinter sich hat, unfassbar. Unfassbar grausam und unfassbar schmerzvoll.

Ich kann nur hoffen, dass du mir irgendwann verzeihst. Mehr bleibt mir nicht. Ich werde dir meine Geschichte erzählen. Eine Geschichte größten Glückes, aber auch unendlichen Schmerzes. Vielleicht kannst du mir vergeben. Vielleicht auch nicht.

Nimm die Auberge als Zeichen meiner aufrichtig empfundenen Reue. Du liebst sie, genau wie ich sie liebe. Ich weiß, dass du sie gut behandeln wirst. In den letzten Jahren habe ich sie etwas vernachlässigt. Mir fehlt die Kraft, um alles wieder in Schuss zu bringen. Aber ich bin mir sicher, dass du sie in das Schmuckstück zurückverwandeln wirst, das sie all die Jahre war. Ein Hotel, das seine Gäste auf eine besondere Art willkommen heißt. Das sie umsorgt und beherbergt und sie ein kleines Stück ihres Lebens begleitet.

Als dein Großvater gestorben ist, hat mir die Auberge neuen Mut, eine neue Aufgabe gegeben. Ich möchte, dass sie für dich ebenfalls zu einem Teil deines Daseins wird. Wenn du sie pflegst und auf Vordermann bringst, wird sie dir viel Freude bereiten. Sie wird dein Leben bereichern, so wie du das Leben deiner Gäste bereichern wirst. Ihr werdet beide voneinander profitieren.

Es ist nur eine Kleinigkeit, die ich für dich tun kann. Mehr bleibt mir leider nicht. Ein kleiner Teil deines persönlichen Puzzles. Vielleicht wird er zu einer Schlüsselstelle. Vielleicht markiert er einen neuen Abschnitt.

Eine Wiedergutmachung kann das Hotel nicht darstellen, dafür wurde dir zu großes Leid angetan. Aber vielleicht kann die Auberge dein Leben ein kleines bisschen glücklicher machen.

Was gäbe ich dafür, dir noch einmal begegnen zu können? Estelle, du bist eine starke Frau. Viel stärker als ich es je war. Du wirst die richtigen Entscheidungen treffen. Und du wirst dein Leben meistern. Niemand kann dich zerstören. Deine Kraft wird dich vor der Schattenseite des Lebens bewahren. Du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben.

Estelle ließ das Buch sinken und wischte sich die Tränen weg. Die Worte ihrer Oma hatten sie in ihrem Innersten berührt. Aber was hatte sie getan? Estelle konnte sich keinen Reim darauf machen. Was hatte ihre Oma mit den Ereignissen vor ihrem Weggang aus Argelès-sur-Mer zu tun? Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie die alte Frau in den Vorfall verwickelt sein konnte. Und doch behauptete ihre Großmutter genau das.