Liebende der Nacht - Silke Köhler - E-Book

Liebende der Nacht E-Book

Silke Köhler

0,0

Beschreibung

Inspiriert vom lesbischen Kultfilm der 80er Jahre "The Hunger" ("Begierde") wird erzählt, wie die Polizistin Carol der geheimnisvollen Tochter einer wunderschönen Vampirin verfällt. "Verzweifelt riss sie ein letztes Mal an den Fesseln. Alles in ihrem Körper schrie nach Pascale, aber je länger sie in die Finsternis starrte, desto mehr zweifelte Carol daran, sie je in ihrem Leben wiederzusehen. Daran, ob sie sich noch erinnern würde, sie einmal geliebt zu haben [...] Sie warteten. Françoise lauschte in alle Richtungen. Carol versuchte etwas zu entdecken, bevor ihre Peinigerin es sehen konnte. Aber nichts. Sie waren ganz allein auf diesem Feld, außerhalb der Stadt, unbeobachtet, und der Nieselregen durchweichte langsam ihre Kleider." Die Polizistin versucht, dem Sog der von dunklen Mächten beherrschten Leidenschaft zu entkommen, aber das Fleisch ist schwach ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 578

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Silke Köhler

LIEBENDE DER NACHT

Ein lesbischer Vampirroman

Originalausgabe: © 1999 ebook: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-068-4

Coverfoto:

1

Es langweilte sie. Das war wieder mal einer dieser Tage, an denen sie sich fragte, warum sie zur Mordkommission gegangen war. Anfangs war der Job ja noch aufregend gewesen, aber mittlerweile hatte sich so viel Routine eingeschmuggelt, dass es sie wirklich manchmal langweilte. Was gab es denn schon Großartiges zu tun? Verhöre, Papierkram, Befragungen. Es war immer das gleiche: Jemand wurde vermisst und schließlich fand man eine Leiche. Okay, also ein Mord! Na gut . . . dann überlegte man hin und her und schließlich suchte man nach irgendwelchen Ungereimtheiten und früher oder später fand man einen Verdächtigen. Man nahm ihn fest, verhörte ihn und wenn man Glück hatte, dann legte er ein Geständnis ab. Manchmal tat er das nicht, dann suchte man eben so lange nach Beweisen, bis man ihn trotzdem vor Gericht bringen konnte. Es war immer dasselbe! Und einige der Leichen sahen wirklich ziemlich widerlich aus, eine nicht besonders schöne Seite an dem Job. Manchmal gelang es ihnen auch nicht, den Mörder zu fassen. Dann kam der Fall eben zu den Akten und man dachte nicht mehr darüber nach. Es gab schließlich noch genug andere. Und dann ging das gleiche Spiel wieder von vorn los. Oh, heute war wieder einer dieser Tage, an denen alles sie ankotzte.

Auf der Fahrt rief sie sich widerwillig ins Gedächtnis, was geschehen war. Ein Mann hatte seine Frau als vermisst gemeldet, nachdem sie einige Tage lang nicht nach Hause gekommen war. Man musste damit rechnen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war – eigentlich rechnete man immer gleich mit dem Schlimmsten, wenn sich jemand mal ein paar Tage absetzte. Vielleicht hatte die Frau auch einfach die Schnauze voll und sich darum aus dem Staub gemacht. Musste man deshalb gleich den ganzen Londoner Polizeiapparat hinterherhetzen? Und warum musste sie eigentlich hierher? Immerhin hatte man ja noch keine Leiche gefunden . . .

Aber ihr Chef hatte gesagt: »Carol, fahr mal dahin und hör dich mal ein bisschen um.«

Als gäbe es nicht genug Polizeibeamte, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatten, als Parktickets zu verteilen. Die würden sich sicher über so eine Abwechslung freuen . . .

»Warum bin ich überhaupt Lieutenant geworden, wenn ich immer noch diese Kleinarbeit machen muss?« fragte sie sich, als sie aus dem Wagen stieg und sich umsah. Die Themse hatte wieder einmal beschlossen, die Stadt in Nebel zu hüllen, und so konnte Carol nur einen Teil der Straße einsehen, was ihre schlechte Laune noch verstärkte. Sie hatte es lieber, wenn sie sich über die Dinge einen genauen Überblick verschaffen konnte, verschleierte Tatsachen bereiteten ihr immer ein wenig Unbehagen.

Das Haus der Vermissten lag direkt vor ihr. Wenigstens musste sie nicht alle umliegenden Häuser allein abklappern, das machte dann doch das ›Fußvolk‹. Es sah so aus, als hätte die gute Frau . . . wie hieß sie doch gleich? . . . Conolly nicht viel Kontakt zu ihren Nachbarn gehabt. Aber ihr Mann hatte davon gesprochen, dass sie Klavierstunden bei irgendwelchen Leuten in der gleichen Straße genommen hatte. Vielleicht wussten die ja was.

Carol Bourne war nicht immer so schlechtgelaunt. Sie war heute einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden. Gut, die strahlende Freundlichkeit war sie jetzt auch nicht immer. Im Prinzip wurde niemand richtig schlau aus ihr. Sie war hübsch, ohne Frage, doch ihr Aussehen rief bei ihren Mitmenschen unterschiedlichste Reaktionen hervor: Die einen beschrieben sie als eine ›femme fatale‹, für die sie alle Sünden begehen würden, wieder andere beschrieben sie, sie hätte die Ausstrahlung eines Eisklotzes und wieder andere sagten einfach, sie wäre ›unwahrscheinlich süß und niedlich.‹

Carol war nur etwa einmetersechzig groß, was das ›süß und niedlich‹ erklären könnte. Rotbraunes, schulterlanges Haar schmiegte sich glatt um das Gesicht mit dem etwas kantigem Kinn und schimmerte warm auf ihren Schultern. Große, blaue Augen blickten ihr Gegenüber forsch an, eine schlanke Nase lenkte den Blick auf volle Lippen. Die meiste Zeit ihres Lebens lag ein ernster, etwas skeptischer Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Berufskrankheit«, sagte sie, wenn sie jemand darauf ansprach. Nur selten sah man ihr Lächeln, das jedoch so viele Menschen anstecken konnte. Es war nicht so, dass Carol nicht wusste, wie sehr sie mit ihrem Äußeren auf die Menschen wirkte, im Gegenteil, sie wusste es nur zu gut, damit Vorteile für sich herauszuschlagen. Dies, Intelligenz und enormer Ehrgeiz hatte sie weit gebracht in ihrem Leben. Doch genau diese Dinge waren es auch, die ihren Kollegen an ihr missfielen: Die Tatsache, dass es viele von ihnen gab, die Carol noch nie hatten lachen sehen und dass die Polizistin auch sonst wenig Gefühlsregung zeigte, hatte ihr den weniger schmeichelhaften Spitznamen ›der Eisklotz‹ eingebracht.

Carol neigte dazu, Menschen, die in ihren Augen dumm oder einfältig waren, von oben herab zu betrachten. Sie war es gewohnt, das zu bekommen, was sie wollte . . . Über ihr Privatleben schwieg sie sich aus und nahm Einladungen zu Abendessen oder Partys grundsätzlich nie an. Ihre Mitmenschen beeindruckte sie vor allem durch ihre fachliche Kompetenz und ihre enorme Skepsis, die viele schon als ›krankhaftes Misstrauen‹ bezeichnet hatten. Die Polizistin scheute keinen Konflikt, kein Risiko, um ihre Ansicht über die Dinge zu vertreten, doch war sie auch in der Lage, ihre Meinung zu revidieren, wenn jemand gute Argumente vorbrachte. Einige Kollegen hatten sich anfangs über ihren breiten Manchester-Akzent lustig gemacht und hatten gedacht, sie wäre zu feminin, um diesen Job zu machen, aber sie hatte sie schnell eines Besseren belehrt, denn sie war extrem belastbar und biss sich oft in Dinge fest, bis sie endlich eine Lösung gefunden hatte und der Spott war schnell verschwunden. Ob es noch eine ›andere‹ Carol gab, wusste allerdings niemand.

2

Es war kühl und windig, deshalb zog Carol ihren Mantel ein wenig fester um sich und suchte nach der richtigen Hausnummer. Das Haus war hoch, aus rotem Klinker gebaut und schien schon bessere Tage gesehen zu haben, dennoch sah es noch recht gut erhalten aus. Zwischen den Häusern hier in der Straße war nur wenig Platz, es gab keine Gärten. Die Fenster waren großzügig geschnitten und weiße Gardinen versperrten den Blick nach innen.

Sie klingelte. Nichts geschah. Etwas unwillig sah sich Carol um und erblickte über der Eingangstür eine Videokamera. Sie verzog den Mund und klingelte noch einmal.

Endlich knackte es in einem Lautsprecher über der Klingel und eine Männerstimme fragte: »Sie wünschen, bitte?«

Carol drehte sich zur Kamera: »Mein Name ist Carol Bourne. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen zu Mrs Conolly stellen. Wenn Sie bitte . . .«

In diesem Moment wurde die Tür von einem jungen Mann geöffnet. Carol zeigte ihm ihre Marke. Er sah sie lächelnd an und bat sie einzutreten.

Erst im Inneren des Hauses konnte man dessen wirkliche Größe erkennen. Carol stand in einer Art Flur, einem viereckigen Raum, dessen Boden mit Marmor ausgelegt war. Auch die Wände versteckten sich unter edlen Marmorplatten. Rechts und links führten jeweils zwei große Flügeltüren in andere Räume. Genau vor ihr befand sich eine breite Treppe mit einem massiven Mahagoni-Geländer.

Der junge Mann führte sie einen großen Raum, eine Art Salon. Alles war so sauber und aufgeräumt, dass man kaum glauben konnte, dass hier tatsächlich jemand lebte. Kostbare Statuen, Figuren und Nippes standen auf Regalen und Schränken aus wertvollem Holz. Den Wert der Teppiche wollte Carol erst gar nicht wissen und der Flügel, der in einer Ecke dieses ziemlich großzügig geschnittenen Raumes stand, glänzte so sehr, dass sie sich darin spiegeln konnte. Die Vorhänge waren weiß und lang und wehten wie Schleier in dem durch die geöffneten Fenster hereinwehenden Wind. Carol war wirklich beeindruckt.

Als sie sich herumdrehte, stand der junge Mann genau hinter ihr und lächelte noch immer. Sie konnte nicht glauben, dass ihm dieses Haus gehören sollte. Carol fiel es schwer, sich vorzustellen, dass jemand, der soviel Geschmack und Stil hatte, um ein Haus so einzurichten, verwaschene Jeans und ein T-Shirt trug. Außerdem war er noch viel zu jung, um all diese Antiquitäten gesammelt zu haben. Dennoch wollte sie ganz sicher gehen: »Sind Sie der Eigentümer dieses Hauses?«

Der Mann lachte.

Ein süßes Lachen hat der Kerl, dachte Carol bei sich und schaute ihn genauer an.

Doch . . . er war attraktiv. Er hatte kurzes, braunes Haar und schmale grüne Augen, die sie vorurteilslos und freundlich ansahen. Es gab sicher viele Frauen, die ihm und seinen Lippen zu Füßen lagen, und die sein so jungenhaftes und verträumtes Gesicht in ihren wildesten Träumen vor sich sahen. Er mochte Mitte dreißig, eher jünger sein und hatte neben dem hübschen Gesicht einen attraktiven Körper.

. . . und einen süßen Hintern, dachte sie bei sich und bedauerte, dass sie so klein war, denn der Mann war wohl um die einsachtzig groß.

»Nein, das Haus gehört mir nicht«, antwortete er und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, »es gehört Madame Courtenay. Ich lebe hier nur, kümmere mich ums das Haus und um die Ladys.«

»Die Ladys?« fragte Carol nach.

»Ja.«

»Wie viele Personen leben denn hier?«

»Vier. Madame Courtenay, ihre Tochter, eine Freundin und ich.«

»Es gibt keinen Mr Courtenay?«

»Nein, der muss wohl schon gestorben sein, bevor ich hergekommen bin. Aber Sie wollten etwas über Mrs Conolly wissen?«

Carol fühlte sich unangenehm an ihre Arbeit erinnert und nickte: »Ja, ganz recht. Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«

»Letzten Montag. Sie kam zur Klavierstunde.«

»Wann war das?«

»Von drei bis vier Uhr.«

»Haben Sie sie danach noch einmal gesehen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Könnte es sein, dass sie jemand anderes aus dem Haus noch einmal gesehen hat?«

»Natürlich. Aber im Moment ist leider niemand da. Außer mir natürlich«, zwinkerte er ihr lächelnd zu.

»Ist Ihnen etwas an Mrs Conolly aufgefallen, als Sie sie am Montag gesehen haben?«

»Nein, sie war eigentlich wie immer.«

»Was bedeutet das?«

»Naja, freundlich und nett.«

»War sie auch manchmal hier, wenn sie keine Klavierstunde hatte?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann es mir allerdings nicht vorstellen, denn Madame Courtenay ist kein geselliger Mensch.«

Carol hob die Augenbrauen: »Aha.«

»Oh nein, bitte urteilen Sie nicht falsch über sie. Sie ist nicht von hier und ich glaube, sie hat ziemliches Heimweh.«

Carol sah sich um. »Diese Einrichtung muss ja ein Vermögen gekostet haben. Darf ich mal indiskret fragen, woher sie das Geld hat?«

Der Mann kratzte sich am Kopf: »Ich nehme an, ihr Mann war ziemlich reich. Außerdem weiß ich, dass ihr in Frankreich ein paar Weingüter gehören.«

»Demzufolge stammen die Courtenays aus Frankreich?«

»Das ist richtig, ja. Ein altes Adelsgeschlecht, aber darüber weiß ich nichts genaues.«

»Wenn sie solches Heimweh hat, warum geht sie dann nicht zurück?«

»Das kann ich nicht sagen. Es gibt eben solche Menschen.«

Carol nickte. Sie sah sich noch einmal um. Es war kaum zu glauben: Ihre Wohnung hätte ohne Probleme in diesem einen Zimmer Platz gehabt und bei ihr sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Doch das einzige, was hier auf Leben hinwies, waren die frischen Blumen auf dem Tisch und dem Flügel. Es war so seltsam ruhig hier. Man hörte nicht einmal den Verkehrslärm von der Straße. Eine andere Welt.

Eine vollkommen andere Welt, dachte Carol und wandte sich um. »Nun, dann werde ich wohl morgen wiederkommen müssen, Mr . . .«

»Nowak. Steven Nowak.«

»In Ordnung, Mr Nowak. Richten Sie Mrs Courtenay bitte aus, dass ich sie morgen früh aufsuchen werde.«

Steven nickte und begleitete sie zur Tür. Er musste auf einer kleinen Tastatur eine Codenummer eingeben, damit sich die Tür öffnen ließ.

Carol überlegte einen Moment, dann holte sie eine Visitenkarte aus ihrer Manteltasche: »Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«

Steven nahm die Karte und steckte sie in seine Hosentasche: »Selbstverständlich!«

Es ging ihr nicht wirklich darum, diese Frauen zu befragen, aber diesen Steven wollte sie gern wiedersehen. Sie mochte ihn. Er war höflich und wirkte so ausgeglichen, ganz anders als die Männer, die sie für gewöhnlich bevorzugte, aber er hatte das gewisse Etwas, das ihr sagte, es könnte wert sein, ihn wiederzusehen. Oh nein . . . sie war nicht verliebt in ihn, nicht nach diesen wenigen Minuten. Er war einfach interessant und hatte eine seltsame Aura um sich herum, so wie das ganze Haus. Sie wusste nicht, was es war, aber irgend etwas zog sie magisch an. Den ganzen Tag konnte sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Es war wie eine Erlösung, als sie am nächsten Morgen endlich wieder an der Tür klingeln konnte.

Diesmal wurde ihr sofort geöffnet. Steven stand vor ihr, in Jeans und T-Shirt, so wie am Tag zuvor, lächelnd und bat sie freundlich, einzutreten. Er schloss die Tür hinter sich und noch bevor sie ihn bitten konnte, Madame Courtenay über ihren Besuch zu informieren, kam eine Frau die Treppe hinunter, die offensichtlich die Stockwerke miteinander verband. Kaum, dass Carol sie erblickte, war sie plötzlich wie vom Blitz gerührt. Sie hatte schon viele Menschen gesehen, die in ihren Augen ›hübsch‹ waren oder ›ganz nett aussahen‹. Doch für diese Frau, die auf der letzten Stufe stehen blieb und sie ansah, hielt Carol sogar das Wort ›schön‹ noch für untertrieben.

Mit einer gewissen Ehrfurcht stellte Steven die beiden einander vor. »Mrs Bourne . . . darf ich Sie mit Madame Courtenay bekannt machen?«

Madame Courtenay trat vor, reichte Carol die Hand und schaute ihr tief in die Augen: »Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«

Carol konnte die Augen nicht von diesem durchdringenden Blick abwenden, auch nicht, als sie sagte: »Guten Morgen, Ma'am. Es tut mir leid, dass ich Sie so früh stören muss. Ich bin Lieutenant Carol Bourne. Ich würde Ihnen gern einige Fragen über Mrs Conolly stellen.«

Als hätte sie nichts anderes erwartet, nickte Madame Courtenay und öffnete die Flügel zu dem Salon, in dem Carol bereits am Vortag gewesen war. »Kommen Sie herein und nehmen Sie Platz. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

Carol bedankte sich für das Angebot. Ein starker Whisky wäre ihr zwar lieber gewesen, aber sie hätte den Teufel getan und das gesagt. Während sie auf den Kaffee warteten, schaute sie sich Madame Courtenay noch genauer an.

Die Hausherrin mochte vierzig Jahre alt sein. Die Art und Weise, mit der sie sich bewegte, war damenhaft und vornehm, so dass Carol sich auf ihrem Stuhl vorkam, als wäre sie eine grobe Bauersfrau. Ihre Kleidung war explizit und nobel, sie passte exakt zu der perfekten Schönheit dieses Salons. Ihr schwarzes Kleid hob ihre makellos reine Alabaster-Haut noch mehr hervor und ihr Haar schimmerte golden. Das ovale Gesicht wurde an keiner Stelle in seiner Linie unterbrochen. Ihre symmetrisch, wie Mandeln geformten Augen glänzten hellbraun, umschmeichelt von langen, dichten, schwarzen Wimpern. Sie sahen Carol ein wenig kühl an, doch sie schienen gleichsam freundlich auf sie zu blicken. Ihre Nase war schmal und gerade, als hätte sie der begabteste aller Bildhauer eigens für sie gemacht. Ihre Lippen standen der Nase und den Augen in nichts nach, und deren Wohlgeformtheit wurde vom warmen Rot eines Lippenstifts unterstrichen. Carol starrte diese faszinierende Frau an und vergaß dabei vollkommen ihre eigene Schönheit, auf die sie immer so stolz gewesen war. Steven kam mit dem Kaffee herein. Er lächelte ihr zu und schien überhaupt nicht interessiert an der Schönheit seiner Chefin.

Na . . . er wird’s gewöhnt sein, dachte Carol und fand schließlich ihre Stimme wieder. Normalerweise war es ihr egal, was die Leute von ihr hielten, aber plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie tief in ihrem Innern nach den besten Manieren und Ausdrucksmöglichkeiten suchte, die man ihr jemals beigebracht hatte.

Sie sprach zum ersten Mal mit einer Frau, die sie von ganzen Herzen als ›Dame‹ bezeichnete und sie wollte nichts falsch machen, warum auch immer. »Wir suchen nach Ihrer Nachbarin, Mrs Conolly. Sie wird vermisst und es ist anzunehmen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer fiel. Es ist sehr wichtig für uns, herauszufinden, wann sie ihrem . . . gehen wir mal vom Schlimmsten aus . . . Mörder begegnet ist. Mr Nowak sagte mir gestern, dass Sie ihr am Montag Klavierunterricht erteilt haben. Könnten Sie mir bitte sagen, ob Ihnen irgend etwas an ihr aufgefallen ist oder ob sie gesagt hat, wo sie vielleicht noch hingehen möchte?«

Madame Courtenay überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf: »Nein, tut mir leid. Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt. Sie war hier von drei bis um vier, dann unterhielten wir uns noch ein wenig über die Stücke, die wir spielen wollten und dann ging sie.«

Madame Courtenays Stimme klang ein wenig dunkel und ruhig, sie sprach mit starkem Akzent. Carol war überrascht: Obwohl ihre Gastgeberin einige Meter von ihr weg stand und mit leiser Stimme sprach, schien es ihr, als befände sie sich direkt neben ihr.

Muss die Akustik hier sein, dachte Carol und stellte weitere Fragen: »Haben Sie sie danach noch einmal gesehen?«

»Nein.«

»Waren Sie Freundinnen? Entschuldigen Sie diese Frage, aber . . .«

»Es kommt darauf an, wie Sie ›Freundinnen‹ definieren. Wir haben einander respektiert und teilten die Liebe zur Musik. Manchmal tranken wir noch einen Sherry nach den Übungsstunden, aber unsere Gespräche gingen niemals über das Thema Musik hinaus . . . oder über das, was man allgemein hin ›Small Talk‹ nennt.«

»Kannten Sie Mrs Conollys Mann?«

»Ich habe ihn ein paar Mal gesehen, aber ich habe nie mit ihm gesprochen. Wir hatten beide kein Interesse daran, denke ich.«

»Haben Sie in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches beobachtet?«

»Ich gehöre nicht zu den Menschen, die den ganzen Tag am Fenster sitzen und ihre Umwelt beobachten. Es tut mir leid, aber ich habe nichts gesehen.«

Carol war ein wenig eingeschüchtert, aber sie ließ es sich nicht anmerken, sondern holte ihren Notizblock heraus und sagte: »Mr Nowak sagte mir, dass Sie zusammen mit Ihrer Tochter und einer Freundin hier leben. Könnte es sein, dass eine von den beiden etwas gesehen hat?«

Die Hausherrin nickte.

»Könnte ich mit Ihrer Tochter sprechen?«

Madame Courtenay blickte zu Steven, der kaum merklich nickte. Als sie Carols verwundertes Gesicht sah, lächelte sie zum ersten Mal ein wenig und sagte: »Natürlich. Manchmal weiß ich einfach nicht, ob sie zu Hause ist oder nicht. Sie ist alt genug, um zu gehen und zu kommen, wann sie will.«

Carol hob eine Augenbraue. Es kam ihr vor, als hätte Madame Courtenay ihre Gedanken gelesen. Die Hausherrin wandte sich zur Treppe und sagte dann einfach, ohne den Ton ihrer Stimme auch nur annähernd zu heben: »Pascale, ma chére, komm bitte zu mir.«

Carol hätte nun erwartet, dass sich Madame Courtenay in solch einem Haus an das Treppengeländer gestellt und sich die Lunge aus dem Leib gebrüllt hätte, damit sie jemand, der in den oberen Stockwerken hinter einer Tür saß, überhaupt hörte. Aber nichts dergleichen geschah. Vielleicht war das Mädchen auch irgendwo hier unten. Nein, Carol hörte, wie jemand die Treppen herunter stieg! Während sie wartete, fragte sie sich, wie es möglich war, dass sie ihre Mutter hatte hören können. Steven hatte den Salon ebenfalls nicht verlassen. Wie also war es möglich . . .???

Carol saß mit dem Rücken zu den Flügeltüren. Sie fragte sich, ob das Mädchen wohl die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte. Wie alt mochte sie wohl sein? Carol dachte an einen Teenager, maximal zwanzig Jahre alt. Wenn sie ihre Mutter auf etwa Vierzig schätzte und man davon ausging, dass es hier keine besonderen Umstände gegeben hatte, erwartete sie eher ein junges Mädchen, irgendwo zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren. Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Marmor draußen in der Halle und jemand trat in den Salon.

Dann fragte eine raue Frauenstimme: »Was ist denn schon wieder, Mamá?«

Als Carol sich daraufhin umdrehte, sah sie nichts, was ihrer Vorstellung auch nur annähernd entsprach. Im Gegenteil: Im Türrahmen stand eine erwachsene Frau. Carol schätzte sie auf fünfundzwanzig, wahrscheinlich war sie sogar noch älter. Sie war groß und athletisch gebaut, mit für eine Frau breiten Schultern und festen Oberarmen. Ihr Gesicht wirkte wesentlich kälter und härter als das ihrer Mutter. Auch waren ihre Augen schmaler und glänzten tiefbraun, rotbraunes Haar lag zu einem Pferdeschwanz gebunden auf ihrem Rücken und reichte bis zu ihren Hüften. Ihr Gesicht war nicht unattraktiv, doch der Perfektion der Schönheit ihrer Mutter konnte sie nicht nacheifern: Die Augenlider waren leicht geschwollen, die Nase war ein wenig zu lang und sehr gerade und der Oberkiefer stand ein wenig zu weit nach vorn. Im Gegensatz zu ihrem stämmigen Körper waren ihre Hände und Finger jedoch schlank, fast zierlich. Es fiel Carol auf, als sie sich eine Zigarette ansteckte. Sie war das perfekte Pendant zu ihrer Mutter. Das spiegelte sich nicht nur in der Physiognomie wieder, sondern auch in der Kleidung: Pascale trug einen fehlerlos sitzenden Nadelstreifenanzug, für den Carol getötet hätte! Doch eines fiel der Polizistin sofort auf: Während Madame Courtenay keinerlei Gefühlsregung zeigte und einfach nur kühl und glatt, ja fast puppenhaft wirkte, aber dennoch von einer geheimnisvollen Aura umwoben war, sprühten aus den Augen ihrer Tochter Leben und Energie, ihr Auftreten war energisch, ihre Bewegungen kraftvoll. Und obwohl sie ihrer Mutter nicht ähnlich sah, hatte sie doch ihre Ausstrahlung geerbt. Und irgend etwas warnte Carol sofort, weder Mutter noch Tochter zu unterschätzen.

Die junge Frau trat zu ihrer Mutter, überragte sie um etwa zehn Zentimeter und wandte sich dann Carol zu: »Oh, ich wusste nicht, dass wir einen Gast haben. Entschuldigen Sie mein etwas raues Auftreten. Mein Name ist Pascale Courtenay. Sie müssen die Polizistin sein, von der Mr Nowak uns erzählt hat. Was kann ich für Sie tun?«

Carol stand auf, obwohl das kaum einen Unterschied zu machen schien und reichte Pascale die Hand: »Carol Bourne. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen zu Mrs Conolly stellen. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

Pascale schien zu überlegen, dann antwortete sie: »Dienstag, glaube ich.«

»Dienstag?« fragte Carol nach.

Pascale nickte: »Ja, Dienstag. Ich habe sie auf der Straße getroffen und sie fragte mich nach irgendwelchen Noten, die meine Mutter ihr geben wollte. Ich sagte ihr, dass ich davon nichts wüsste und dass sie das mit meiner Mutter besprechen sollte. Sie sagte daraufhin, dass sie das tun würde.«

»Mehr nicht?«

»Nein. Zumindest nichts, an was ich mich erinnern könnte. Es war ein sehr kurzes Gespräch, wir hatten es beide eilig.«

»Wissen Sie, warum Mrs Conolly es eilig hatte?«

Pascale schüttelte den Kopf: »Nein. Vielleicht wollte sie noch etwas einkaufen.«

»Wissen Sie noch, um welche Uhrzeit das war?«

»Etwa halb sechs.«

Carol notierte das auf ihrem Notizblock: »Haben Sie sonst noch etwas Ungewöhnliches bemerkt in den letzten Tagen?«

Pascale schüttelte wieder den Kopf. »Nein.«

»In Ordnung. Ich danke Ihnen. So leid es mir tut, aber ich müsste auch noch die vierte Person im Haushalt befragen.«

»Mrs Perkinson ist leider nicht hier. Vielleicht kommen Sie heute Abend wieder. Dann ist sie sicher da«, sagte Pascale.

Carol blickte zu Pascales Mutter, die sich nun ebenfalls eine Zigarette angesteckt hatte und aus dem Fenster sah. Dann nickte sie. »Ja, das werde ich wohl tun. Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit genommen haben. Es tut mir leid, dass ich Sie belästigen musste.«

Plötzlich ertönte wieder diese ruhige Stimme Madame Courtenays: »Ich bitte Sie. Wenn wir der Polizei in irgendeiner Weise behilflich sein können, warum sollten wir das nicht tun?«

»Ich wollte, alle Menschen würden so denken wie Sie. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Bitte richten Sie Mrs Perkinson aus, dass ich heute Abend kurz ihre Zeit in Anspruch nehmen muss. Ich hoffe, danach muss ich Sie nicht mehr belästigen.«

Pascale lächelte sie höflich an: »Ich bringe Sie zur Tür.«

»Nein, nein. Das mache ich schon«, sagte Steven, der die ganze Zeit ruhig in einer Ecke gestanden hatte.

Pascale zuckte die Achseln und nickte. Carol verabschiedete sich noch einmal und ging dann in Stevens Begleitung zur Tür.

Er öffnete ihr und fragte dann plötzlich: »Ich hoffe, ich erscheine Ihnen nicht unhöflich, aber . . . haben Sie Samstag Abend schon etwas vor?«

Carol war überrascht von dieser Frage und doch erfreut zugleich »Nein. Möchten Sie mich einladen?«

Steven nickte ein wenig verschämt: »Ja, gern. Aber ins Kino. Nicht hierher. Ich glaube, Sie fühlen sich nicht wohl hier. Es braucht ein wenig, bis man sich an die Ladys gewöhnt hat.«

Carol überlegte, ob sie nicken sollte, aber sie verkniff es sich und lächelte nur: »Okay, dann ins Kino. Rufen Sie mich an?«

Steven nickte und gab den Öffnungscode für die Tür ein. Carol trat wieder hinaus in eine ihr bekanntere Welt.

3

Als Carol Helen Perkinson traf, war sie positiv überrascht: Im Gegensatz zu Madame Courtenay und deren Tochter schien Helen ihren Mitmenschen außerordentlich offen gegenüber zu sein. Sie begrüßte Carol mit einem freundlichen Lächeln, dabei glänzten ihre großen blauen Augen unter dem blonden Pony hervor, der ihr bis knapp über die Augenbrauen reichte. Sie war etwa so groß wie Madame Courtenay, hatte auch in etwa ihre Figur, aber sie trug, wie Steven, Jeans und T-Shirt.

Wahrscheinlich bedeutet diese Kleidung, dass jemand hier in dem Haus normal ist, dachte Carol bei sich. Helen war sehr freundlich, es gab also tatsächlich noch einen normalen Menschen in diesem Haus außer Steven. Trotzdem . . . auch sie konnte Carol auch nicht weiterhelfen, aber das war Carol ohnehin egal.

In dieses Haus einzutreten, dieses seltsame Gefühl zu haben, in eine andere Welt einzutauchen, ließ Carol erschaudern. Sie spürte instinktiv, dass hier etwas nicht stimmte. Nein, das mochte der falsche Ausdruck sein, denn Carol wollte den Courtenays nichts unterstellen. Es war ein Gefühl, dass hier etwas verborgen lag, ein Geheimnis vielleicht, eine Familientragödie oder eine Erbkrankheit oder was auch immer, jedenfalls stand es zwischen Carol und den Courtenays. Es trennte sie voneinander und je öfter und je länger Carol in diesem Haus war, desto bewusster wurde sie sich dieser unsichtbaren Wand. Das Schlimme war, dass dieses Gefühl, dass hier etwas verborgen wurde und der unerbittliche Wunsch, herauszufinden, was es war, in Carol immer größer wurde. Sie spürte regelrecht das Verlangen danach, mehr über diese Familie zu erfahren und stellte mit Erschrecken, aber auch mit einer gewissen Freude fest, dass sich in ihr langsam eine Sucht danach entwickelte.

Als Carol Helen befragen wollte, bat diese sie in den Salon, in dem Carol schon am Morgen und am Tag zuvor gewesen war. Pascale saß in einem Sessel, ein Glas Wein stand neben ihr auf einem kleinen Holztisch und sie las ein Buch. Als Helen und Carol eintraten, sah sie einen Moment lang auf und lächelte Helen an. Diese ging zu ihr, berührte mit der Hand Pascales Arm, ließ sie hinauf zu ihrer Schulter gleiten und setzte sich dann auf ein Sofa. Während der Befragung schaute Carol ab und an zu Pascale, die sich über ihre Lektüre zu amüsieren schien. Aber erst, als sich Carol von Helen verabschiedete, konnte sie erkennen, was Pascale so erheiterte: Sie las die Bibel.

4

Sie hatten sich einen Film im Kino angesehen und waren dann noch in eine kleine Bar gegangen, wo sie den Abend mit einem Drink ausklingen lassen wollten. Während sie dort saßen und über dies und das sprachen, fiel Carol auf, wie wunderbar sie zueinander passten. Sie lachten über die gleichen Dinge, regten sich über die gleichen Kleinigkeiten auf und sie hatten in etwa die gleichen Vorstellung von der Zukunft. Es war, als kannten sie einander schon ihr ganzes Leben. Carol sah Steven lange an. Er lächelte. Er lächelte fast immer.

»Was schaust du mich so komisch an?« fragte er irgendwann freundlich.

Carol seufzte: »Ich habe mich gerade gefragt, warum ein Kerl wie du bei diesen Weibern versauert.«

»Wie meinst du das?« fragte er scheinbar verwirrt und lehnte sich zurück.

Carol wollte ihn nicht kränken, denn er schien diese Frauen wirklich zu mögen, daher ließ sie seine Frage im Raum stehen.

Nach kurzer Zeit lehnte sich Steven wieder nach vorn und sagte nachdenklich: »Ich weiß, sie wirken ein bisschen seltsam. Sie sind immer noch Fremde hier. Sie passen einfach nicht hierher. Die Leute wissen nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Ich habe gesehen, wie schwer es dir gefallen ist.«

Carol nickte: »Das kannst du laut sagen. Es ist so komisch in diesem Haus, als ginge man . . .«

»In eine andere Welt«, beendete Steven ihren Satz, »Ich weiß, was du meinst. Du hast recht. Sie haben eine andere Welt, eine eigene Welt. Sie haben eine eigene Art, miteinander umzugehen, mit anderen Menschen umzugehen. Ich habe dir ja schon gesagt, dass Madame Courtenay nicht sehr gesellig ist. Sie hat diese Welt aufgebaut und Pascale und Helen leben mit ihr darin. Sie sind wohl alles, was sie braucht. Die Beziehungen zwischen den drei sind sehr seltsam. Ich weiß, dass sie eine bestimmte Ausstrahlung haben und dass sie die Menschen allein mit ihrem Aussehen und ihrer ganzen Art beeindrucken – meistens negativ beeindrucken. Oder was hast du gedacht, als du dort warst?«

Carol überlegte. Dann sagte sie langsam und nachdenklich: »Ich war ganz sicher beeindruckt, aber ich weiß nicht, ob es tatsächlich negativ war. Es war einfach ein seltsames Gefühl in diesem Haus. Mrs Courtenay ist eine außergewöhnliche Schönheit. Aber sie war so reserviert, irgendwie so unnatürlich. Als wäre sie da . . . und doch wieder nicht. Ich wusste nicht, wo und wie ich sie einordnen sollte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit ihr umgehen sollte.«

Steven lächelte: »Ich hab’s gesehen. Ja, sie ist wirklich eine Schönheit. Aber tröste dich, fast jeder denkt dasselbe. Ich weiß, sie sieht irgendwie hartherzig aus und manchmal bekommt man das Gefühl, dass ihr alles egal ist, was sich draußen abspielt, aber das ist nicht ganz richtig. Sie ist wirklich eine Lady, durch und durch. Ich kenne sie als freundliche, gerechte und geduldige Frau. Sie behandelt Helen und Pascale sehr liebevoll und sie ist mild und hat immer Zeit für uns alle. Sie behandelt mich wie einen Sohn. Andererseits . . . du hast Pascale ja gesehen und ich glaube, es war nicht zu übersehen, dass sie ab und an mal ein bisschen Strenge braucht und dass ihre Mutter dann und wann mal ein bisschen herrisch werde muss. Madame ist der Kopf unserer Familie, und so verhält sie sich eben auch. Sie versucht, alles Böse von uns fernzuhalten. Besonders von Pascale und Helen. Aber manchmal frage ich mich, ob Pascale nicht selbst das Böse ist!«

Carol lachte leise: »Hört sich ja fast so an, als würdest du sie nicht mögen.«

Steven grinste: »Sie ist ein verdammtes Miststück, aber es wird nie langweilig, mit ihr zusammen zu leben. Was du gesehen hast, ist die kultivierte Seite. In Wirklichkeit ist Pascale eine jähzornige, sadistische, brutale, freche, respektlose, vulgäre, unordentliche und unverschämte kleine Schlampe. Aber . . . sie gehorcht ihrer Mutter aufs Wort. Sie vergöttert ihre Mutter. Sie würde für sie einen Mord begehen. Ich könnte mir vorstellen, dass Pascale sich diebisch gefreut hat, als ihr Vater gestorben ist, denn von nun an hatte sie ihre Mutter endlich für sich allein.«

Carol nippte an ihrem Weinglas. »Und welche Rolle spielt Helen? Ist sie vielleicht Pascales Geliebte?«

Steven schüttelte den Kopf. »Nein, Pascale hat keine Geliebten. Weder männlich noch weiblich. Ich habe keine Ahnung, welche Rolle Helen spielt. Sie ist vor drei Jahren eingezogen. Ich weiß nur, dass sie eine gute Freundin von Madame ist. Und dass ich sie sehr gern mag.«

»Wundert mich, dass Pascale sie zu akzeptieren scheint. Das tut sie doch, oder?«

»Oh ja. Sie liebt sie. Sie ist wie eine zweite Mutter für Pascale. Und Helen liebt Pascale, als wäre sie ihr Fleisch und Blut.«

»Vielleicht ist sie das«, sagte Carol und war plötzlich hellwach.

Vielleicht war das das Geheimnis: Pascale war in Wirklichkeit Helens Tochter und wurde aus irgendwelchen Gründen bei den Courtenays großgezogen. Vielleicht war Pascale auch das Ergebnis aus einer Liebschaft mit Mr Courtenay . . .

Steven aber lachte: »Nein, bei aller Liebe nicht. Helen ist siebenunddreißig, Pascale siebenundzwanzig. Da hätte sie schon verdammt früh anfangen müssen.«

Carol nickte zwar, aber innerlich war sie mit dieser Erklärung nicht zufrieden.

Steven sprach weiter: »Ich habe mir auch schon Gedanken darüber gemacht, warum Pascale Helen akzeptiert. Vielleicht, weil sie denkt, sie muss ihre Mutter nicht teilen und ein Stück verlieren, sondern sie teilt sie und bekommt noch etwas dazu. Aber weiß der Himmel, ob diese kleine Schlampe überhaupt denkt. Lass uns das Thema wechseln.«

Sie redeten weiter, Stunde um Stunde. Als der Barkeeper sie endlich hinauswarf, gingen sie noch ein wenig spazieren und beschlossen dann, endlich nach Hause zu gehen. Carol fuhr durch die Straßen, sie schwiegen beide, müde und in Gedanken versunken. Schließlich hielt sie den Wagen vor Stevens Haus. Sie sahen zwei Personen vor der Tür stehen.

»Das sind Pascale und ihre Freundin Phoebe. Ich nehme mal an, sie waren schon wieder auf so einer abgedrehten Gruft-Party«. Steven schüttelte den Kopf.

Carol sah sich die Frauen an. Sie waren vollkommen schwarz gekleidet, ihre Gesichter waren unnatürlich blass und die Größere von beiden, die Carol als Pascale wiedererkannte, trug etwas um den Hals, das deutlich sichtbar im Mondlicht glänzte. Die Mädchen unterhielten sich. Steven bat Carol, noch mit ins Haus zu kommen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Carol war sich nicht sicher, ob sie wollte. Jetzt, im Morgengrauen, sah das Haus noch mysteriöser aus als bei Tag. Und sie müsste an Pascale und ihrer Freundin vorbeigehen.

Zur Hölle, dachte Carol, bin ich denn jetzt völlig verrückt?

Sie stiegen aus. Pascale drehte sich zu ihnen und lächelte, als sie sie sah. Es war kein freundliches Lächeln, es war mehr ein Grinsen.

»Guten Morgen, Mr Nowak.«, sagte sie scheinheilig, »hatten Sie einen schönen Abend mit Ms Bourne?«

Es war offensichtlich, dass Pascale mehr getrunken hatte, als gut für sie war.

»Selbstverständlich. Wie war Ihr Abend, Mademoiselle Courtenay?« fragte er ebenso gespielt höflich, als ob er nichts merkte.

»Danke. Es war eine wunderbare Nacht. Aber was kann ich für Sie tun? Haben Sie keinen Schlüssel, möchten Sie sich mein Bett ausleihen oder . . .?«

»Halt den Mund, Pascale!«, schnitt ihr Steven bestimmt aber freundlich das Wort ab, »Wie sieht es aus, Mädels? Kommt ihr noch mit rein auf einen Kaffee?«

Phoebe schüttelte den Kopf: »Nein, danke. Muss nach Hause. Salut Pascale.«

»Salut Phoebe. Wartet, ich komme mit euch.«

Sie traten ins Haus. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging Pascale auf die kleine Tastatur neben der Tür zu.

Steven sagte kurz: »Nein, Carol muss doch nachher noch raus.« Pascale hob den Zeigefinger, als ob sie ›Hast recht!‹ sagen wollte und ging den beiden nach.

»Ihr könnt euch wohl überhaupt nicht voneinander trennen«, brummte sie, während sie sich in einen Sessel fallenließ.

Jetzt, im Licht, sah sie überhaupt nicht mehr so erschreckend aus. Sie wirkte müde, kraftlos und matt. Ihre dunklen Augen starrten auf ein Glas Wein, das auf einem Tisch stand. »Ich brauch' was zu trinken«, murmelte sie und stand wieder auf.

Mit einer Whiskeyflasche und einem Glas kehrte sie kurz darauf zurück. Sie trank zwei, drei Gläser und verfiel schließlich in eine Starre, eine völlige Bewegungslosigkeit. Pascal starrte ins Leere mit einem Ausdruck des Angewidertseins im Gesicht, doch Carol erkannte schnell, dass es nichts mit dem Whiskey zu tun hatte. Es musste einen tieferen Grund dafür geben.

Steven sah Pascale eine Weile kopfschüttelnd zu, dann sagte er: »Pascale, hör auf zu trinken. Das ist nicht gut für dich. Geh ins Bett.«

»Ja«, sagte Pascale, ohne sich zu bewegen, »vielleicht sollte ich das tun. Ich wünschte, ich könnte schlafen.«

»In deinem Zustand kannst du ganz bestimmt schlafen. Du siehst furchtbar aus.«

»Ich weiß. Aber was soll ich denn machen?«

»Hör auf zu trinken. Das wird dich noch umbringen.«

Da lachte Pascale höhnisch auf: »Ich wünschte, es wäre so. Nichts kann mich umbringen. Nichts kann meinem verdammten Leben ein Ende setzen. Ich bin Pascale Courtenay, die Unsterbliche!« Sie machte eine kleine Pause, dann setzte sie finster hinzu: »Es ist kein Geschenk, Steven, es ist ein Fluch!« Dann stand sie auf und verließ den Raum.

Carol sah ihr nach. Plötzlich schien ihr alles so menschlich in diesem Haus. Einerseits tat Pascale ihr leid, aus welchen Gründen sie auch immer trinken mochte, andererseits war es für Carol ein Beweis, dass diese Menschen hier in diesem Haus Schwächen hatten, natürliche, menschliche Schwächen und es entschärfte alles, was vorher unheimlich und unnatürlich gewirkt hatte. Wahrscheinlich war das das Geheimnis: Pascale war eine Säuferin und ihrer Mutter brach es das Herz. Allerdings . . . was hatte dieser letzte Satz zu bedeuten?

»Was meint sie damit?« fragte Carol.

Steven zuckte die Achseln: »Sie ist betrunken.«

»Trinkt sie oft?«

Steven setzte sich mit traurigem Gesicht in den Sessel, in dem Pascale vorher gesessen hatte. »Ja!«

»Weiß ihre Mutter davon?«

»Ich denke schon.«

»Weißt du, warum sie trinkt?«

Steven antwortete nicht. Also fragte Carol auch nicht weiter. Sie sah ihn lange an, während sie an ihrem Kaffee nippte. Und es war plötzlich eindeutig, dass der ›Eisklotz‹ Carol schmelzen würde.

5

So vergingen Tage, Wochen, Monate. Steven und Carol trafen sich regelmäßig und schon nach kurzer Zeit war beiden klar, dass sie sich ineinander verliebt hatten. Für Carol brachte diese Beziehung nur Vorteile: Sie war wesentlich ausgeglichener und freundlicher. Sie hatte plötzlich Geduld, wenn es um Verhöre, Befragungen oder Zeugenaussagen ging, arbeitete mit mehr Konzentration und Freude. Morgens schenkte sie ihren Kollegen ein strahlendes Lächeln, und wenn sie nach Hause ging, wünschte sie ihnen noch einen schönen Abend. Das war größtenteils Stevens Einfluss, denn er war der freundlichste, ausgeglichenste, humorvollste und liebevollste Menschen, den Carol je getroffen hatte.

Doch es gab etwas, das ein dunkles Licht über diese Beziehung warf: die Courtenays. Obwohl sie nun schon fast ein Jahr zusammen waren, standen Madame Courtenay und Pascale noch immer wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihr und Steven. Wenn sie ihn abends abholte, oder wenn sie ihn besuchte, was ohnehin sehr selten vorkam, immer fand sie das Haus scheinbar leer und verlassen vor. Niemals hörte sie Musik, niemals brannte Licht in den Räumen, niemals roch es nach Essen. Sie hatte bisher auch nie mehr als den großen Salon, in dem sie die Courtenays befragt hatte, und Stevens Zimmer gesehen und sie wusste nicht im geringsten, was sich in den anderen Zimmer abspielte. Das verstärkte das Gefühl in ihr immer mehr, dass es hier ein Geheimnis geben musste. Ab und zu sah sie Pascale, die ihr die Tür öffnete, wenn Steven noch in seinem Zimmer war, aber Pascale schien sie kaum zu beachten, sprach kaum ein Wort mit ihr und verschwand sehr schnell wieder in einem der oberen Stockwerke. Madame Courtenay oder Helen bekam sie so gut wie nie zu Gesicht, obwohl sie ihre Präsenz wie einen kalten Luftzug spüren konnte. Manchmal glaubte sie, sie in einer dunklen Ecke stehen zu sehen, aber wenn sie genauer hinsah, dann war sie doch allein. Es war ihr unheimlich und doch weckte es ihren kriminalistischen Spürsinn, denn trotz ihrer Liebe zu Steven war sie noch immer Polizistin.

Eines Abends aber fing dieses Bild an, sich zu verändern.

Carol wollte Steven besuchen. Normalerweise war sie froh, wenn sie nicht in dieses Haus gehen musste, denn es rief bei ihr immer noch Unbehagen hervor, aber manchmal war ihre Sehnsucht so groß, dass sie sich überwand.

Pascale öffnete ihr die Tür. Carol wollte nicht eintreten. Ein seltsames Gefühl überkam sie plötzlich. Ein Gefühl, das man nicht erklären konnte, eine Art Instinkt, Intuition, eine Eingebung vielleicht. Sie wusste nicht einmal, ob dieses Gefühl negativ oder positiv war, es warnte sie einfach davor, in dieses Haus einzutreten. Normalerweise gehorchte Carol einem solchen Gefühl. Es hatte ihr schon mehrmals das Leben gerettet, hatte sie niemals betrogen. Doch diesmal schüttelte sie alle Bedenken ab und trat, wenn auch zögernd, ein. Sie versprach sich leise, ganz besonders wachsam zu sein.

Ihr fiel sofort auf, dass mit Pascale etwas nicht stimmte. Nein, eigentlich konnte sie das noch nicht sagen, es war nur etwas verändert an Pascale. Sie wirkte nicht so abweisend und kalt wie sonst. Sie sah . . . krank aus. Ihr Gesicht wirkte abgemagert, ihre Haut war fahl und offenbar hatte sie versucht, dunkle Ringe unter den Augen zu überschminken, was ihr aber nur begrenzt gelungen war. Ihre Augen wirkten eingefallen, sie blickten Carol müde an. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb strahlte Pascale heute nichts Bedrohliches aus. Carol atmete erleichtert auf.

Pascale bat sie, in den Salon zu gehen. Carol hob eine Augenbraue. Womit hatte sie diese Freundlichkeit verdient? Zuerst rechnete sie damit, dass Madame Courtenay im Salon wäre, aber hier war niemand. Pascale schien sich von selbst auf ihre ›kultivierte‹ Seite, wie Steven das zu nennen pflegte, zu besinnen.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« fragte sie höflich, aber Carol spürte, dass irgend etwas Pascale bewegte. Es war nicht wirklich eine Beunruhigung zu spüren, eher eine Anspannung, als warte sie auf etwas, oder . . . als habe sie etwas geplant.

Carol kniff die Augen ein wenig zusammen. Sie trug ihre Dienstwaffe noch bei sich und sie konnte gut damit umgehen. Also Pascale, halt dich zurück, dachte sie bei sich.

Aber Pascale schien überhaupt nicht daran zu denken, sie anzugreifen. Im Gegenteil.

Nachdem sie Carol einen Tee gebracht hatte, setzte sie sich zu ihr und seufzte: »Ms Bourne . . . ich möchte mit Ihnen reden.«

»Schießen Sie los.«

Pascale knetete ihre Finger wie ein Kind, das seinen Eltern etwas beichten musste: »Ich möchte mich bei Ihnen für mein unfreundliches Verhalten entschuldigen, das ich sehr häufig in Ihrer Anwesenheit an den Tag gelegt habe.«

Carol verschluckte sich fast an ihrem Tee. Mit großen Augen sah sie Pascale an und wusste nicht, was sie sagen sollte.

Pascale schien fest entschlossen, das, was sie sich offenbar zurechtgelegt hatte, nun auch an den Mann bzw. an die Frau zu bringen: »Nein, lassen Sie mich bitte erst ausreden. Ich entschuldige mich nicht bei Ihnen, weil meine Mutter oder Steven das von mir verlangt haben. Ich mache das, weil ich es für mich selbst eingesehen habe. Sehen Sie . . . Steven und ich . . . wir scheinen uns nicht besonders zu mögen, aber das ist nicht wirklich so. Ich mag ihn wirklich sehr gern, und ich weiß, dass er sie wirklich aufrichtig liebt.« Sie machte eine Pause, fuhr dann aber fort: »Ich weiß, es ist für Außenstehende nicht einfach, sich hier bei uns wohlzufühlen. Ich glaube, wenn ich nicht hier aufgewachsen wäre, käme mir das alles auch sehr komisch vor und vielleicht hätte ich auch ein wenig Angst vor diesem Haus. Viele Menschen haben Angst vor uns. Meine Mutter kann damit leben, sie legt kaum Wert auf soziale Kontakte, obwohl sie ja einige hat. Es ist nicht so, dass sie sich hier versteckt oder verbunkert, aber sie schmeißt eben auch keine großen Partys. Und ich . . . mit mir gehen eben ab und an die Pferde durch und ich könnte mir vorstellen, dass auch unsere Art, uns zu kleiden, miteinander und mit anderen Menschen umzugehen, manchem Menschen sehr fremd ist. Aber es ist ja egal, woran es liegt. Tatsache ist, dass Steven immer Probleme damit hatte, wenn er eine Frau kennengelernt hatte, sie mit nach Hause zu bringen. Die meisten Mädchen haben sich nicht oft hierher getraut. Und früher oder später ging dann immer alles in die Brüche. Irgendwann hat er sich nicht mehr getraut, ein Mädchen überhaupt nur anzusprechen. Er ist eben anders als meine Freunde, die das alles hier einfach nur cool finden. Worauf ich eigentlich hinaus möchte, ist, dass ich nicht will, dass er diesmal das gleiche Problem hat, denn er liebt sie wirklich sehr und ich möchte nicht, dass wieder alles zerbricht, nur, weil wir anders sind als andere. Oder so aussehen. Verstehen Sie, was ich meine?« Pascale runzelte die Stirn und sah Carol fragend an.

Carol hatte ruhig zugehört, kein Wort war ihr entgangen. Normalerweise hätte sie den Verdacht gehabt, dass Pascale irgend etwas vorhatte, aber sie hatte diese Worte so aufrichtig gesprochen, dass Carol nur lächelnd den Kopf schüttelte und sagte: »Ja, ich glaube schon. Sie machen es einem aber auch wirklich nicht leicht.«

Pascale lächelte erleichtert. »Ich weiß. Bitte . . . nennen Sie mich Pascale.«

»In Ordnung. Ich bin Carol. Wo ist Steven?«

»Er ist mit meiner Mutter und Helen bei einem Freund. Sie werden bald zurück sein.« Als Pascale zu Ende gesprochen hatte, begann sie, fürchterlich zu husten.

Carol klopfte ihr besorgt den Rücken: »Alles klar? du siehst nicht gut aus. Hast dir ’ne Grippe eingefangen, was?«

Aber Pascale schüttelte den Kopf: »Nein, geht schon. Hab mich verschluckt.«

Das war glatt gelogen, aber Carol nahm es ihr nicht übel. Nach einigen Momenten des Schweigens fragte sie: »Kann ich dich etwas fragen?«

Pascale nickte.

Carol lächelte etwas verlegen: »Ich möchte ja nicht intim oder aufdringlich werden, aber . . . wie gehören die Leute hier eigentlich zusammen? Woher kommt ihr eigentlich genau?«

Pascale lachte, geschüttelt von einem neuen Hustenanfall. Carol sah, wie sich Schweiß auf ihrer Stirn bildete und sie zu zittern begann. Aber Pascale fing sich wieder, obwohl es sie viel Kraft kostete. Sie lehnte sich erschöpft in ihrem Sessel zurück und begann etwas außer Atem zu erzählen: »Also . . . ich kann dir die Geschichte nur so erzählen, wie ich sie auch erzählt bekommen habe. Meine Mutter entstammt einer Adelsfamilie aus Frankreich. Sie ist dort geboren und wohl auch aufgewachsen. Du weißt, wie meine Mutter heute aussiehst, kannst dir also auch in etwa vorstellen, wie sie als junges Mädchen ausgesehen hat! Die Kerle waren hinter ihr her, aber mein Großvater sorgte dafür, dass sie behütet und von der Außenwelt größtenteils abgeschottet groß wurde. Sie hatte von der Welt keine Ahnung. Und eines Tages kam einer daher, der meiner Mutter schöne Augen machte und gegen den mein Großvater auch nichts einzuwenden hatte: Monsieur Courtenay. Sie heirateten und zogen, aus welchen Gründen auch immer, weg aus Frankreich, hierher nach London. Mein . . . Erzeuger baute ein Geschäft auf, machte viel Geld und meine Mutter gab Klavierunterricht. Schließlich wurde sie schwanger und ich kam auf die Welt. Für meine Mutter zählte ab diesem Tag nichts anderes mehr. An meinen Vater kann ich mich nicht mehr erinnern. Habe auch nie ein Bild von ihm gesehen. Ich war ein oder zwei Jahre alt, als er starb. Meine Mutter erbte das Geschäft, Antiquitäten, wie man unschwer hier erkennen kann. Sie löste es auf und legte das Geld ziemlich gut an. Dazu kam noch, dass mein Großvater in Frankreich kurz darauf starb und sie da auch noch erbte. Geld machte meine Mutter aber nicht glücklich. Zuerst wollte sie nach Frankreich zurück gehen, aber da war ja auch keiner mehr, der auf sie gewartet hätte. Und weil ich nun einmal hier geboren war, blieb sie hier. Aber sie sorgte dafür, dass ich eine gute Erziehung bekam und meine Muttersprache lernte. Wir zogen in dieses Haus als ich etwa sieben war. Eines Tages kam meine Mutter nach Hause und brachte ein Bündel Dreck mit. Nach dem Baden stellte sich heraus, dass es ein Junge war, größer als ich, aber nur halb so schwer und etwa vier oder fünf Jahre älter als ich. Weiß der Geier, woher er kam. Ich habe nie danach gefragt. Jedenfalls war das Steven. Er blieb von da an bei uns, bekam dieselbe Erziehung wie ich, bekam überhaupt alles, was ich auch bekam. Wie ein Bruder. Nach dem Tod meines Vater hat meine Mutter nur noch selten das Haus verlassen. Sie hatte vor seinem Tod kaum Freunde und braucht jetzt scheinbar auch keine. Sie gibt immer noch Klavierunterricht, um ab und zu mal ein bisschen Abwechslung zu bekommen, aber ansonsten gräbt sie wie ein Maulwurf in ihrem Blumentöpfen herum, liest viel oder beschäftigt sich sonst irgendwie. Am Anfang hatte sie ja noch Steven und mich zu erziehen. Dann wurden wir älter und älter und eines Tages erkannte sie, dass es nicht mehr viel zu erziehen gab. Eigentlich dachte ich damals, sie würde vielleicht wieder nach jemandem Ausschau halten, der den Platz meines Vaters einnehmen würde, aber sie hat gesagt, dass sie zu alt wäre, um noch einmal einen Menschen auf lange Sicht zu lieben. Sie war eben durch und durch Lady und ich nehme an, der wahre Grund war, dass sie meinem Vater treu bis in den Tod bleiben wollte.«

Carol hörte sich begierig die Geschichte an, wollte sie doch alles ganz genau erfahren – endlich kam sie dem großen Geheimnis näher. Trotzdem war sie noch beherrscht genug, nicht nach dem Liebesleben von Madame Courtenay zu fragen. Jetzt hieß es nur noch, alles geordnet und der Reihe nach zu erfragen. Erst jetzt fiel Carol auf, dass sie Steven niemals gefragt hatte, wie er eigentlich zu den Courtenays gekommen war. Trotzdem . . . langsam hob sich der Schleier und Carol belächelte sich selbst über ihr Misstrauen.

»Was habt ihr eigentlich vor? Wollt ihr heiraten?« fragte Pascale plötzlich in Carols Gedanken.

»Was? Nein . . . das heißt, wir haben noch nicht darüber geredet. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es steht und fällt alles mit . . .«

Pascale sah sie an: »Mit was?«

»Steven trennt sich nur sehr schwer von euch.«

In diesem Moment hörten sie Stimmen in der Halle. Jemand lachte fröhlich. Carol hörte Absätze über den Marmor laufen. Leben, dachte Carol, es gibt tatsächlich Leben hier drin.

Die Tür wurde geöffnet. Zuerst trat Helen zu Pascale, küßte sie auf die Wange und strahlte: »Guten Abend, mein Schatz. – Oh, guten Abend, Ms Bourne.«

Sie reichte Carol die Hand. Madame Courtenay trat ein, küßte ihre Tochter ebenfalls und lächelte Carol an: »Guten Abend, Ms Bourne. Er kommt gleich. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Sie nicht wegen mir gekommen sind?«

Sie lächelte freundlich und zwinkerte Carol regelrecht zu. Carol fand sich in erfreulicher Verwirrung wieder: Scheinbar hatte sie diese Menschen die ganze Zeit über vollkommen falsch eingeschätzt.

»Ich hoffe, Sie mussten nicht zu sehr unter meiner Tochter leiden.«

Pascale schenkte ihrer Mutter ein ironisches Lächeln, aber Madame Courtenay fuhr ihr durchs Haar und sagte: »Lass dich doch mal ein bisschen von deiner alten Mutter ärgern, ma chére. Du weißt doch, du bist meine Beste und ich liebe nur dich!«

Pascale grinste: »Kann ich mir leider nichts drauf einbilden: Ich bin nämlich die einzige.«

Madame verdrehte scheinbar genervt die Augen und fing an zu lachen. In diesem Moment trat endlich auch Steven ein. Er freute sich sehr, Carol zu sehen, wusste er doch, wie schwer es ihr fiel, in dieses Haus zu kommen. Er küßte sie fröhlich und setzte sich zu ihr aufs Sofa.

»Möchte jemand einen Sherry?« fragte Madame Courtenay.

Während Helen und Pascale bejahten, murmelte Steven: »Bah, das ist ein Weibergesöff. Bring einen richtigen Whiskey für einen richtigen Mann mit.«

»Und wer soll den trinken?« fragte Pascale und lächelte ihn an.

»Pascale, ma chére, du natürlich. Bist doch der einzige Kerl hier«, gab Steven freundlich lächelnd zurück.

»Ruhe!« rief Madame Courtenay, »Carol, möchten Sie?«

»Eigentlich mag ich keinen Sherry. Könnte ich vielleicht einen Kaffee haben?«

»Kommt sofort«, sagte sie nur knapp und ging hinaus. Nach einiger Zeit kam sie mit einem Tablett wieder herein: »Sherry und Kaffee für die Damen und Whiskey für den ganzen Kerl.« Sie setzte sich zu der kleinen Gesellschaft und blickte zu Carol und Steven: »Was habt ihr beiden noch vor?«

»Eigentlich nichts.«

Plötzlich stand Steven auf: »Ach was, der Abend ist noch jung. Lass uns ausgehen. Pascale? Kommst du mit?«

»Nein, ich fühle mich nicht so gut. Ich werde ins Bett gehen.«

Carol nickte mitleidig. Nein, Pascale sah wirklich nicht gut aus. Es schien, als wäre ihre Haut im Laufe des Abends noch fahler geworden, ihr Gesicht noch schmaler und Ringe unter ihren Augen noch dunkler. Der Schweiß auf ihrer Stirn glänzte im Schein der Lampe. Ihr Hand zitterte, während sie den Sherry in der Hand hielt. Carol sah sie prüfend an. Pascale erinnerte sie an einen Junkie, der dringend Stoff brauchte. Aber außer ihr schien das niemand aufzufallen.

Dieser Abend, an dem sie zum ersten Mal Leben in diesem Haus gespürt hatte, nahm Carol die Angst vor diesem Gebäude. Nein, ›Angst‹ war es niemals wirklich gewesen, denn hätte ihr ein einfaches Haus schon Angst eingejagt, so hätte sie niemals ihren Beruf ausüben können. Es war mehr Respekt gewesen, eine Unruhe, wenn sie über die Schwelle getreten war. Sie hatte sich nicht wohlgefühlt, aber nach dem Gespräch mit Pascale und den Erfahrungen dieses Abends hatte sie ihr Bild von diesen Menschen zurechtgerückt. Vielleicht wirkten sie wirklich nur auf den ersten Blick seltsam, weil sie sich anders kleideten und anders sprachen. Carols Respekt vor Madame Courtenay war gewachsen, nachdem Pascale ihr die Geschichte erzählt hatte. Natürlich war Carol misstrauisch gewesen und hatte im Polizeicomputer nachgesehen, aber alle Angaben stimmten. Sogar Pascales Geburtsurkunde konnte sie einsehen. Nachdem sich alles, was Pascale gesagt hatte, bestätigte, plagte Carol sogar ein schlechtes Gewissen, weil sie so misstrauisch war.

Oft waren diese Abende, die sie in diesem Haus verbrachte, die fröhlichsten, die sie sich hatte vorstellen können. Am meisten liebte sie es, wenn Pascale sich an den glänzenden Flügel setzte und zum Leidwesen ihrer Mutter wilde Rock'n'Roll-Lieder spielte. Und wenn der Abend dann älter wurde und die Uhr Mitternacht schlug, stimmte sie leise Melodien an, alte Love Songs, die sie alle noch von früher her kannten, und irgendwann ertappten sie sich, wie sie leise mitsangen und ihren Gedanken freien Lauf ließen . . . Dann fand sich Carol oft auf dem Flügel sitzend und Pascale anstarrend wieder, von Pascale kaum merklich angelächelt, während deren Finger die Tasten des Klaviers sanft berührten.

6

Eines Abends, es war im Herbst und daher schon früh dunkel geworden, kam Carol völlig durchgefroren nach Hause. Sie wollte ihre Wohnungstür aufschließen, aber das Schloss klemmte. Wütend trat sie gegen die Tür und rüttelte am Schlüssel. Plötzlich knackte es kurz und Carol hielt eine Hälfte des Schlüssels in der Hand. Die andere steckte im Schloss.

»Verdammte Scheiße«, fluchte sie halblaut und trat noch einmal gegen die Tür.

Zuerst knurrte sie sämtliche Flüche, die ihr einfielen, dann seufzte sie: »Heute ist nicht mein Tag. Erst das Auto, dann der Schlüssel. Ich könnt’ kotzen.« Schließlich zwang sie sich zum logischen Nachdenken: »Wie komme ich in meine Wohnung, ohne die Tür einzutreten?«

Es war Freitag Abend und noch dazu ein Feiertag. Sie hatte trotz allem Dienst gehabt, Verbrecher kennen keine Feiertage. Heute morgen hatte ihr Auto den Geist aufgegeben. War einfach nicht angesprungen. Ein Kollege, der sich damit auskannte, meinte, wahrscheinlich hätte irgendein Vieh ein Kabel durchgefressen. Er hatte sie mit zum Revier und ein Stück mit nach Hause genommen. Den restlichen Weg war sie zu Fuß gelaufen. Und jetzt, kurz vor dem Erfrierungstod, kam sie nicht in ihre Wohnung!

Steven, fiel ihr plötzlich ein, der hat meinen Zweitschlüssel.

Sie klopfte bei Nachbarn, um wenigstens telefonieren zu können, aber es war wie verhext: Niemand war zu Hause. Also zog Carol ihren Mantel enger und machte sich auf den Weg. Steven wohnte etwa vier Kilometer entfernt, sie würde wohl ungefähr eine dreiviertel Stunde brauchen, um dort hinzukommen. Wahrscheinlich würde sie vorher erfrieren, aber es war der einzige Weg, zumal sie nicht einmal Kleingeld hatte . . .

Erwartungsgemäß zeigte sich auch niemand außer ihr auf der Straße bei diesem Wetter. Völlig frustriert lief Carol mit gesenktem Kopf durch die dunklen Straßen, als es auch noch anfing, in Strömen zu regnen. Sie blickte in den Himmel und plötzlich überkam es sie: Sie fing an zu lachen. Lachend und kopfschüttelnd lief sie weiter und als sie endlich nach einer Stunde ankam, war sie nass bis auf die Haut. Ihr Haar klebte tropfnass an ihrem Gesicht, ihr Make-up war abgewaschen. Sie klingelte Sturm und betete zitternd, dass jemand zu Hause sein möge. Tatsächlich wurde ihr nach ein paar Minuten geöffnet. Pascale betrachtete sie von oben bis unten und grinste: »Wie siehst du denn aus?«

»Hi Pascale. Ist Steven da?«

»Das nenn ich Sehnsucht. Läuft im Dunkeln durch den Regen, um ihren Lover zu sehen. Komm erst mal rein.«

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und Carol fröstelnd in der Halle stand, trat Pascale vor sie und schüttelte den Kopf: »Nein, der ist nicht da. Ist mit meiner Mutter und Helen übers Wochenende nach Manchester gefahren. Du musst dich mit meiner Gesellschaft zufrieden geben.«

Carol fluchte.

»Na, was ist denn los? Warum bist du eigentlich zu Fuß hier? Zieh erst mal deinen Mantel aus.«

Carols Finger waren so klamm, dass sie sich kaum ausziehen konnte. Pascale half ihr und schüttelte den Kopf, als sie sah, dass Carol durch und durch nass war.

Carol schlang die Arme um sich und brachte unter klappernden Zähnen hervor: »Mein Schlüssel ist mir abgebrochen und Steven hat meinen Zweitschlüssel. Außerdem ist mein Auto kaputt.«

Pascale lachte, aber es war nicht das schadenfrohe Lachen, dass Carol von ihr erwartet hätte.

Im Gegenteil, sie sah sie mitleidig an und sagte schließlich: »Na, wenn dir der Schlüssel abgebrochen ist, dann nützt dir ein Zweitschlüssel auch nichts. Mein Gott, du holst dir ja den Tod. Zieh dich erst mal aus. Dann gehst du unter die Dusche und ich geb' dir was zum Anziehen von mir.«

»Das kann ich doch nicht machen«, wehrte Carol ab.

Aber Pascale ließ keine Ausreden gelten: »Was glaubst du, was ich von meiner Mutter und Steven zu hören bekomme, wenn ich dich so wieder nach Hause schicken würde?« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Kannst auch das Bad abschließen.«

Carol lächelte kopfschüttelnd und folgte Pascale nach oben: »Aber deine Kleider passen mir doch gar nicht.«

»Kein Angst, ich hab auch noch andere Sachen außer den Anzügen.«

»Ich würde für deine Anzüge töten!« gab Carol zu.

Pascale lächelte: »Ich kann dir die Adresse meines Schneiders geben.«

»Nein, wirklich. Sie stehen dir hervorragend. Und ich kann mich nicht erinnern, dich jemals in etwas anderem gesehen zu haben!«

Pascale seufzte, während sie die letzten Stufen mit einem Satz nahm: »Stimmt. In der Uni trage ich sie halt am liebsten. In der Fakultät für Geschichte muss man doch ein wenig Ehrfurcht zeigen!« Ein Grinsen schob sich auf Pascales Lippen. »Und wenn ich dann nach Hause komme, bin ich meistens zu faul, mich umzuziehen. Außerdem mag meine Mutter es, wenn ich ordentlich angezogen bin.«

Sie standen im zweiten Stock. Die Treppe führte in einem langen Flur mit vielen Fenstern, an dessen Ende zwei Türen zu sehen waren.

»Die Dusche ist rechts. Badewanne habe ich keine, ist nicht gut für die Haut. Ich bringe dir was zum Anziehen und dann kannst du dich erst einmal aufwärmen.« Pascale ließ Carol stehen und verschwand hinter der linken Tür. Doch kurz darauf kam sie schon wieder, bepackt mit Handtüchern, einem Pullover und einer Jogging-Hose. Sie drückte es Carol in die Hand und öffnete die andere Tür: »Voilà . . . das Bad!«

Carol trat ein und die Tür wurde hinter ihr geschlossen.

Das Bad war groß, nein, nicht wirklich groß, aber die Dusche barg Platz genug für mindestens vier Leute, ohne einander berühren zu müssen. Das ganze Bad war weiß gekachelt, aber soweit Carol sehen konnte, gab es hier weder Haare auf dem Boden noch irgendwelche Seifenflecken im übergroßen Waschbecken. Alles war so sauber und aufgeräumt wie in den anderen Räumen. Kopfschüttelnd zog sie sich aus, nicht ohne vorher noch einmal zu prüfen, ob die Tür nicht doch langsam aufging. Aber es geschah nichts.

Die Dusche tat ihr gut. Endlich spürte sie ihre Beine und Finger wieder und während das warme Wasser über sie floss, gelangte auch wieder Leben in den Rest ihres Körpers. Nie wieder wollte sie aus diesem warmen Strahl treten . . .

Schließlich aber hatte sie doch genug. Sie schaltete das Wasser ab und schlang sich ein Handtuch um. So trat sie vor den Spiegel über dem Waschbecken. Hier konnte sie die Tür beobachten, ohne, dass es jemandem hätte auffallen können. Sie traute Pascale immer noch nicht. Aber sie misstraute ihr auch nicht mehr völlig. Nachdem sie noch einen Moment die Erfrischung eines kühlen Luftzuges nach dem heißen Wasser genossen hatte, zog sie sich an. Sie rubbelte ihre Haare trocken, zumindest so gut es ging und schließlich trat sie barfuß hinaus in den Flur. Jedermann in diesem Haus schien ein ausgezeichnetes Gehör zu haben, denn obwohl kein Laut verraten hatte, dass sie aus dem Bad gekommen war, öffnete Pascale plötzlich die andere Tür und bat Carol, einzutreten.