Lieber Dietrich ... Dein Jürgen - Jürgen Werth - E-Book

Lieber Dietrich ... Dein Jürgen E-Book

Jürgen Werth

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Beschreibung

Glauben lernen mit Bonhoeffer

Wie kann man Dietrich Bonhoeffer heute begegnen? Spricht er auch 75 Jahre nach seinem Tod noch so zu den Menschen, dass er Orientierung gibt, den Glauben und das Leben inspiriert in einer Zeit, die so anders ist, als die, in der er lebte und wirkte?

Jürgen Werth fragt bei ihm nach. Er sucht den Austausch mit dem Bonhoeffer, der im Gefängnis eine tiefe Wandlung seiner Theologie und seines Glaubens erfuhr. Indem er auf die Briefe, die Bonhoeffer aus der Haft schrieb, antwortet, entfaltet sich ein fiktiver Dialog. Ein Gespräch, das Bonhoeffers Denken auf ganz andere Weise nahebringt und zeigt, wie aktuell es ist, wenn es von einem sensiblen Leser wach und empathisch wahrgenommen wird.

  • Ermutigung und Orientierung für ein lebendiges Christsein
  • Dietrich Bonhoeffer als Zeitgenossen entdecken
  • Für religiöse Entdecker und Gestalter des eigenen Glaubens

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Seitenzahl: 203

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Jürgen Werth

Lieber Dietrich …

Dein Jürgen

Über Leben am Abgrund –

ein Briefwechsel mit Bonhoeffer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2020 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagfoto: © Amélie Werth

ISBN 978-3-641-25950-1V001

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

Briefwechsel

Epilog

Die letzten Tage Von Eberhard Bethge

Und dein Herz nimmt Flügel

Jürgen Werth

Anhang

Zeittafel

Nachweise

Vorwort

Ich habe ihm geschrieben. Einfach so. Weil er uns geschrieben hat. Na ja, nicht wirklich uns. Seine Briefe und Gedichte aus der Haft waren für seine Eltern bestimmt. Für seine Verlobte. Für Mitgefangene. Und für seine Freunde. Aber einer von ihnen, Eberhard Bethge, hat sie später veröffentlicht. So sind sie dann auch Briefe für uns geworden. Für mich.

Diese Briefe begleiten mich schon lange. 1967 habe ich sie als GTB-Siebenstern-Taschenbuch erstanden. Mit 16. »Widerstand und Ergebung« war der Titel.

Nun endlich habe ich geantwortet. Und nachgefragt. Über 50 Jahre später. Aus einer anderen Zeit heraus, mit einer anderen Welt- und Lebenserfahrung. Ich habe versucht, mir Zugang zu verschaffen zur Zeit und zur Welt des Menschen Dietrich Bonhoeffer. Zu seinen Gedanken und Gefühlen, zu Lebenslust und Todesangst, zu seinem Glauben und zu seinen Gewissensentscheidungen. Und habe gestaunt, wie zeitlos aktuell vieles ist und dass es uns auch heute noch, 75 Jahre nach seiner Hinrichtung, inspiriert und provoziert.

Ich bin ihm dabei nahegekommen. Habe ihn neu kennen- und schätzen gelernt. Habe mich anregen und aufregen lassen. Habe mich ermutigen und infrage stellen lassen. Und habe viel gelernt. Über ihn, klar, über mich, über das Leben, über die Welt und über Gott, aber noch mehr darüber, wie man lebt und überlebt am Abgrund. Wie er es konnte. Wie wir es können, wenn das Leben Ernst macht. Auf welche Weise auch immer.

Danke, dass auch Sie sich auf diesen Prozess einlassen wollen. Ich verspreche Ihnen: Er ist lohnend.

Jürgen Werth

Briefwechsel

Tegel, 14.IV.43

Liebe Eltern!

Vor allem müßt Ihr wissen und auch wirklich glauben, daß es mir gut geht. Leider kann ich es Euch erst heute schreiben, aber es war wirklich die ganzen zehn Tage so. Was man sich gewöhnlich bei einer Haft als besonders unangenehm vorstellt, also die verschiedenen Entbehrungen des äußeren Lebens, das spielt merkwürdigerweise tatsächlich fast gar keine Rolle. Man kann sich auch mit trocken Brot morgens satt essen – übrigens gibt es auch allerlei Gutes! – und die Pritsche macht mir schon gar nichts aus und schlafen kann man von abends 8 bis morgens um 6 Uhr reichlich. Besonders überrascht hat es mich eigentlich, daß ich vom ersten Augenblick an so gut wie nie Verlangen nach Zigaretten hatte; ich glaube eben doch, daß bei all diesen Dingen das Psychische die entscheidende Rolle spielt; eine so starke innere Umstellung, wie sie eine so überraschende Verhaftung mit sich führt, die Nötigung, sich innerlich zurecht- und abzufinden mit einer völlig neuen Situation, – das alles läßt das Körperliche völlig zurücktreten und unwesentlich werden; und das empfinde ich als eine wirkliche Bereicherung meiner Erfahrung.

Alleinsein ist für mich ja nicht etwas so Ungewohntes wie für andere Menschen und ist sicher ein gutes seelisches Dampfbad. Quälend ist oder wäre nur der Gedanke, daß Ihr Euch um mich ängstigt und quält, daß Ihr nicht richtig schlaft und eßt. Verzeiht, daß ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich, als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul Gerhardt Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue. Übrigens habe ich meine Bibel und Lesestoff aus der hiesigen Bibliothek, auch Schreibpapier jetzt genug. […]

Heute vor 14 Tagen war der 75. Geburtstag. Es war ein schöner Tag. Der Morgen- und Abendchoral mit den vielen Stimmen und Instrumenten klingt noch in mir nach: »Lobe den Herren, den mächtigen König … in wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.« So ist es, und darauf wollen wir uns weiter getrost verlassen.

Nun kommt ja der Frühling mit Macht. Ihr werdet viel im Garten arbeiten. […]

Hier im Gefängnishof singt morgens und auch jetzt abends eine Singdrossel ganz wunderbar. Man wird für Geringes dankbar, auch das ist wohl ein Gewinn! Lebt wohl!

•–•

Lieber Dietrich,

»Das ist das Ende« wirst du in zwei Jahren sagen. Hier nimmt es seinen Anfang. Was du ahnst, aber nicht weißt. Ich weiß. Wir wissen. Wir, die wir über 70 Jahre später leben. Ich, der ich beschlossen habe, dich durch deine letzten Jahre zu begleiten. Oder besser: mich begleiten zu lassen von deinen Erkenntnissen und Erfahrungen in dieser besonderen Lebenslage. Weil ich lernen möchte, wie man lebt, wie man überlebt am Abgrund.

Ich sage einfach »Du«. Weil du mir seit vielen Jahren vertraut bist. Und weil ich der Ältere bin. Heute.

Ich lese deinen ersten Brief aus der Haft. Und staune: Am Anfang steht nicht die Klage über die Ungerechtigkeit des Regimes, die Menschenverachtung seiner Vertreter. Am Anfang steht die Sorge um deine Eltern. Kann es ihnen gut gehen? Wenn ich mir vorstelle, mein Sohn säße im Gefängnis eines Unrechtsstaates und es gäbe kaum rechtliche und schon gar keine menschlichen Mittel, etwas wirklich Entscheidendes für ihn zu tun – es ginge mir alles andere als gut. Aber dein Brief würde mir gut tun. Das Wissen, dass du gehalten bist und nicht nur Haltung bewahrst.

Ich wäre wohl nicht so gehalten wie du. Eher wäre ich ausgesprochen ungehalten. Die Gründe für deine Verhaftung sind allzu fadenscheinig. Sie haben nichts gegen dich in der Hand. Aber vielleicht hast du recht: Oft ist ja unsere Vorstellung von der Wirklichkeit gruseliger als die Wirklichkeit selbst. In deiner kannst du weiter atmen, denken, schreiben, beten, essen, schlafen. Was nicht wenig ist.

Und noch gibt es Hoffnung, dass diese Zeit bald vorbei ist.

Hilft es eigentlich zu wissen, dass man eingesperrt ist, obwohl man nichts Böses getan hat? Ich stelle mir vor, dass meine Auflehnung umso energischer wäre. Aber vielleicht gibt einem dieses Wissen auch Gelassenheit. Vielleicht sogar Überlegenheit. Die Bibel, dieses Buch, das so kostbar ist für dich, erzählt ja immer wieder von Menschen, die in solchen Lebenslagen aushalten mussten. Die, wie Paulus und Silas, sogar Loblieder gesungen haben in ihren Kerkern. Weil sie wussten: Wir sind nicht im Unrecht und schon darum nicht allein. Der Herr, der Gerechte und Barmherzige, der Gekreuzigte und Auferstandene, hält mit uns aus in dieser schweren Lage.

Bestimmt denkst du ganz besonders an ihn in diesen Tagen. Jesus. An seine kurze Haft im Kerker des Hohepriesters vor der Verurteilung zum Tod. Vielleicht betest du sogar mit ihm diesen alten jüdischen Sterbepsalm:

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.«

Auch wenn alle anderen ausgesperrt bleiben – einer ist da. Der Ewige. Der in die Zeit und in den Staub dieser Welt Gekommene. Er hatte das erste Wort, er wird das letzte haben.

Derweil zwitschert draußen eine Singdrossel. Du hörst sie, ich höre sie auch. Aber erst jetzt. Weil ich, anders als du, so viel anderes höre, so viel anderes um die Ohren und in den Ohren habe. Eine Botin des Schöpfers ist sie, eine Botin des Lebens und der Freiheit. Manches hört und sieht und schmeckt man wohl nur in einem dramatisch reduzierten Leben.

Was braucht man eigentlich zum Leben? Ich sehe dich in deiner kargen Zelle. Ich sehe mich in meinem vollen Arbeitszimmer. In meinem Haus. In meiner Stadt. Ich sehe mein Leben. Angereichert mit unzählbaren Schätzen. Wenn ich sie zurücklassen müsste eines Tages? Doch, ja, das werde ich ja müssen. Weil es jeder von uns muss. Ob ich dann dasselbe sagen kann, was ich von Mutter Teresa gelesen habe, die nur vier Jahre nach dir zur Welt gekommen ist? »Wenn du nur noch Jesus hast, entdeckst du, dass du nur noch Jesus brauchst.«

Ja, ich mag der Ältere sein von uns beiden. Heute. Aber ich komme doch als Lehrling in deine Zelle. Als Auszubildender. Danke, dass du mich empfängst.

Herzlich

Dein Jürgen

Tegel, Ostersonntag, 25.IV.43

Liebe Eltern!

Heute ist endlich der 10. Tag wieder da, an dem ich Euch immer schreiben darf, und wie gern würde ich Euch wissen lassen, daß ich auch hier ein frohes Ostern feiere. Es ist das Befreiende von Karfreitag und Ostern, daß die Gedanken weit über das persönliche Geschick hinausgerissen werden zum letzten Sinn alles Lebens, Leidens und Geschehens überhaupt und daß man eine große Hoffnung faßt. Seit gestern ist es wunderbar still im Haus geworden. »Frohe Ostern« hörte man viele einander zurufen und neidlos gönnt man jedem, der hier schweren Dienst versieht, die Erfüllung dieses Wunsches. […]

Nun muß ich Euch aber erst einmal sehr danken für alles, was Ihr mir gebracht habt. Das könnt Ihr Euch nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn einem plötzlich gesagt wird: »Ihre Mutter, Ihre Schwester, Ihr Bruder waren eben da und haben etwas für Sie abgegeben.« Einfach die Tatsache der Nähe, das handgreifliche Zeichen dafür, daß Ihr immer an mich und für mich denkt – was ich ja eigentlich sowieso weiß –, das ist etwas so Beglückendes, daß es durch den ganzen Tag hindurchträgt.

Habt vielen, vielen Dank für alles!

Es geht mir weiter gut, ich bin gesund, darf täglich 1/2 Stunde ins Freie, und nachdem ich nun auch wieder rauchen kann, vergesse ich manchmal sogar für kurze Zeit, wo ich eigentlich bin! Ich werde gut behandelt, lese viel, außer Zeitung und Roman vor allem die Bibel. Zum richtigen Arbeiten ist die Konzentration noch nicht da, aber ich habe mich in dieser Karwoche doch endlich mit einem, wie Ihr wißt, mich längst sehr beschäftigenden Stück der Passionsgeschichte, dem hohenpriesterlichen Gebet, gründlich befassen können und sogar ein paar Kapitel paulinischer Ethik für mich auslegen können; das war mir sehr wichtig. Also, ich muß wirklich immer noch sehr dankbar sein. […]

Merkwürdigerweise gehen die Tage hier schnell vorüber. Daß ich 3 Wochen hier bin, scheint mir unglaublich. Ich gehe gern um 8 Uhr schlafen – Abendbrot gibt es um 4 Uhr! – und freue mich auf meine Träume. Ich habe früher garnicht gewußt, was für eine glückliche Gabe das ist: ich träume täglich und eigentlich immer schön. Bis zum Einschlafen sage ich mir die über Tag gelernten Verse auf, am Morgen um 6 Uhr freue ich mich dahin, Psalmen und Lieder zu lesen und an Euch alle zu denken und zu wissen, daß Ihr auch an mich denkt.

Inzwischen ist der Tag vorübergegangen, und ich hoffe nur, es sieht in Euch ebenso friedlich aus wie in mir; ich habe vieles Gute gelesen und Schöne gedacht und gehofft. […]

•–•

Lieber Dietrich,

so viel Leben! Noch. Denn leider kenne ich die Fortsetzung deiner Geschichte. Aber du lebst heute. Jetzt. Wie ich auch heute und jetzt leben möchte. Ohne die stetige Sorge um morgen. Sören Kierkegaard, der große dänische Schriftsteller, hat das ja mal geradezu provozierend deutlich auf den Punkt gebracht: Im Morgen lebt der Heide, der, der vielleicht an Gott glaubt, der ihm aber im Grunde nicht traut und ihm nichts zutraut. Der Christ lebt im Heute. Er weiß: Der Gott, der gestern an meiner Seite war, wird auch morgen da sein.

Auch dafür steht ja Ostern. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort. Das Leben lebt. Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Darum muss alles gut werden. Der Schweizer Theologe Karl Barth, den du ja in Bonn kennen und schätzen gelernt hast, hat’s so gesagt: »Wer die Osterbotschaft gehört hat, der kann nicht mehr mit tragischem Gesicht umherlaufen und die humorlose Existenz eines Menschen führen, der keine Hoffnung hat.«

Aber was komme ich dir mit den großen Theologen und Philosophen! Und: Wie klingt das alles eigentlich in den Ohren eines Gefangenen! Wie feiert man Ostern in einer Gefängniszelle? Wenn nichts von dem da ist, das unser Ostern so besonders macht: Warme Frühlingssonne, leuchtende Osterglocken und Ostereier. Vielleicht aber erlebt man ja erst da die existenzielle Bedeutung dieses Festes. Vielleicht hast du Ostern viel tiefer verstanden als ich.

Ostern. Das Fest, dem der Karfreitag vorausgeht. Bevor das Leben gefeiert werden kann, muss der Tod betrauert werden. Das eine geht wohl nicht ohne das andere. Nie.

Du bist so stark. Bist du’s wirklich? Oder versuchst du nur mannhaft, den Kummer deiner Familie nicht noch schwerer zu machen? Und den von Maria, deiner Verlobten. 18 ist sie. Beileibe kein Kind mehr, aber doch noch lange keine reife und sturmerprobte Frau. Am Karfreitag hatte sie Geburtstag. Was mag das für ein denkwürdiger Tag gewesen sein. Der Verlobte im Berliner Gestapo-Gefängnis. Kann man da überhaupt feiern? Aber der Schmerz war ohnehin allgegenwärtig. Der Verlust. Der Tod.

Du liest und singst die alten Choräle. Nicht wenige sind ja in einer ähnlich dunklen Welt entstanden, im 30-jährigen Krieg. Du hast Paul Gerhard als besonders authentischen Trostgeber schätzen und lieben gelernt. Was für ein Leben war ihm zugemutet worden! Und dennoch schreibt er Texte wie diesen:

Warum sollt ich mich denn grämen?

Hab ich doch Christus noch; wer will mir den nehmen?

Wer will mir den Himmel rauben,

den mir schon Gottes Sohn beigelegt im Glauben?

Gut und Blut, Leib, Seel und Leben

ist nicht mein, Gott allein ist es, der’s gegeben.

Will er’s wieder zu sich kehren,

nehm er’s hin; ich will ihn dennoch fröhlich ehren.

Schickt er mir ein Kreuz zu tragen,

dringt herein Angst und Pein, sollt ich drum verzagen?

Der es schickt, der wird es wenden;

er weiß wohl, wie er soll all mein Unglück enden.

Überhaupt: Lieder. Lieder aus der Tiefe. Und Worte der Bibel. Verse der Verzweiflung und der Hoffnung. Du nimmst sie mit in die Träume. Das hattest du ja schon von deinen Vikaren im Predigerseminar in Zingst und Finkenwalde verlangt: Das letzte Wort des Tages sollte Gottes Wort sein. Das letzte und das erste. Weil dann die Nacht anders wird. Und der Tag. Selbst die Nacht im Gefängnis. Und der Tag. Du musst nun selber existenziell studieren, was du andere gelehrt hast. Und wirst mit einem gewissen Vergnügen feststellen, dass es eine gute Lebensregel ist.

Ich versuche auch, immer wieder neu sie mir zu eigen zu machen. Was heute wohl noch ein bisschen schwerer fällt als damals. Wir sind ja ständig online. Das Smartphone ist unser Lebenspartner. Manche singt und spielt es gar mit sanften Melodien in den Schlaf und weckt sie am Morgen wieder auf. Da können wir dann nicht mehr singen: »Er weckt mich alle Morgen«, sondern schon eher: »Es weckt mich alle Morgen …« Na ja, und dann schauen wir halt doch noch einmal schnell, was es Neues gibt in der Welt. Und ob uns schon irgendjemand irgendetwas gewhatsappt hat. (Was für ein Wort!) Klar, es bietet auch die biblischen Losungen an. Aber die müssen sich gegen eine schrille und schreiende Konkurrenz wehren.

Vermutlich hättest du diese kleinen Dinger aus Zingst und Finkenwalde verbannt. Aber ob es dir gelungen wäre? Jedenfalls will ich dir nur sagen, dass es das leise Wort des lebendigen Gottes heute schwerer hat als früher, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu erreichen. Die ungeteilte, ja. Denn wir leben in einer Zeit permanent geteilter Aufmerksamkeiten. Wir haben die Konzentration aufs wirklich Wichtige, aufs Wesentliche weitgehend verlernt. Schöne neue Zeit? Ich will mir jedenfalls neu vornehmen, mit einem himmlischen Wort einzuschlafen und aufzuwachen.

Herzlich

Dein Jürgen

Tegel, 15.V.43

Liebe Eltern!

Wenn Ihr diesen Brief bekommt, sind die bewegten Tage der Hochzeitsvorbereitungen und -feier längst verklungen und auch mein bißchen Sehnsucht dabeizusein. […] Dankbar denke ich heute an viele schöne vergangene Jahre und Stunden und freue mich mit ihnen allen. Ich bin nun begierig, den Trautext zu hören; der schönste, den ich kenne, steht Röm 15,7; ich habe ihn oft genommen. Was für ein herrliches Sommerwetter haben sie! Da werden sie als Morgenchoral wohl »die güldne Sonne« von P. Gerhardt singen!

Nach längerer Pause erhielt ich Euren Brief. Habt vielen Dank! Für wen das Elternhaus so sehr ein Teil des eigenen Selbst geworden ist wie für mich, der empfindet jeden Gruß mit ganz besonderer Dankbarkeit. Ja, wenn wir uns doch wenigstens mal kurz sehen oder sprechen könnten! Das wäre eine große innere Entspannung. Man macht sich draußen natürlich doch schwer eine richtige Vorstellung vom Gefangensein. Die Situation als solche, d.h. der einzelne Augenblick ist ja vielfach gar nicht so anders als anderswo, ich lese, denke nach, arbeite, schreibe, gehe auf und ab, – und auch das wirklich ohne mich wie der Eisbär an den Wänden wund zu reiben, – und es kommt nur darauf an, sich an das zu halten, was man noch hat und kann – und das ist immer noch sehr viel – und das Aufsteigen der Gedanken an das, was man nicht kann, und d.h. den Groll über die ganze Lage und die Unruhe in sich niederzuhalten. Allerdings ist mir nie so deutlich geworden wie hier, was die Bibel und Luther unter »Anfechtung« verstehen. Ganz ohne jeden erkennbaren physischen und psychischen Grund rüttelt es plötzlich an dem Frieden und der Gelassenheit, die einen trug, und das Herz wird, wie es bei Jeremia sehr bezeichnend heißt, das trotzige und verzagte Ding, das man nicht ergründen kann; man empfindet das wirklich als einen Einbruch von außen, als böse Mächte, die einem das Entscheidende rauben wollen. Aber auch diese Erfahrungen sind wohl gut und nötig, man lernt das menschliche Leben besser verstehen.

Ich versuche mich jetzt an einer kleinen Studie über das »Zeitgefühl«, ein Erlebnis, das wohl für die Untersuchungshaft besonders charakteristisch ist. Einer meiner Zellenvorgänger hat über die Zellentür gekritzelt: »in hundert Jahren ist alles vorbei«, das war sein Versuch, mit diesem Erlebnis der leeren Zeit fertig zu werden, aber dazu ist eben allerlei zu sagen, und ich würde mich gern mit Papa darüber unterhalten. »Meine Zeit steht in Deinen Händen«, Psalm 31, ist die biblische Antwort auf diese Frage. Aber auch in der Bibel gibt es eben die Frage, die hier alles zu beherrschen droht: »Herr, wie lange?« Psalm 13. […]

Ja, wenn man erst wieder über all das miteinander reden könnte! Bei allen Sympathien für die vita contemplativa bin ich doch kein geborener Trappist. Immerhin mag eine Zeit erzwungenen Schweigens auch gut sein, und die Katholiken sagen ja, daß von den rein meditativen Orden die wirksamsten Schriftauslegungen kommen. Ich lese übrigens die Bibel einfach von vorne durch und komme jetzt zu Hiob, den ich besonders liebe. Den Psalter lese ich wie seit Jahren täglich, es gibt kein Buch, das ich so kenne und liebe wie dieses; die Psalmen 3, 47, 70 u.a. kann ich nicht mehr lesen, ohne sie in der Musik von Heinrich Schütz zu hören, deren Kenntnis, die ich Renate verdanke, überhaupt zu den größten Bereicherungen meines Lebens gehört.

Ich fühle mich so sehr als ein Teil von Euch allen, daß ich weiß, daß wir alles gemeinsam erleben, tragen, füreinander tun und denken, auch wenn wir getrennt sein müssen. […]

•–•

Lieber Dietrich,

und draußen wird gelacht und gelitten und gefeiert und getrauert. Alles geht weiter, und es findet ohne dich statt. Sie werden dich vermissen, sie werden sich sorgen, sie werden dich herbeisehnen – aber dein Lebensraum ist eine abseitige, einsame kleine Zelle. Dein Leben der triste Alltagsrhythmus eines Gefangenen. Hast du Heimweh? Ich hätte! Und wie!

Ich erinnere mich an mein erstes Jungscharlager in Tirol. Drei Wochen mit überwiegend fremden Jungs in fremden Bergen. Elf war ich und bin beinahe gestorben vor Heimweh. Ab und zu kamen Briefe und Postkarten von zuhause. Kleine Zwischenberichte aus einem kleinen Alltag. Aber groß und geradezu himmlisch in meiner heimwehgetränkten Vorstellung. Wie gerne wäre ich bei all dem dabei gewesen! Was, wenn auch noch ein großes Fest stattgefunden hätte – ohne mich. Ein Geburtstag. Ostern. Weihnachten.

Besser ging es mir erst, als eines Morgens ein paar Mitarbeiter darüber sprachen, wie das mit der Rückfahrt nach Hause geregelt werden sollte. Ja! Es gab diesen einen Tag, an dem es wieder nach Hause gehen würde! Und er hatte ein festes Datum!

Du bist keine elf mehr. Aber die elementaren Reaktionen unserer Seele bleiben doch gleich, egal, wie alt wir sind. Wir können sie nur ein kleines bisschen besser verstehen, einordnen, beherrschen, wenn wir älter werden.

Du sitzt nun schon seit sechs Wochen in der Untersuchungshaft! Und anders als bei mir damals im Ferienlager ist bei dir kein Enddatum in Sichtweite. Und niemand plant die Rückreise. Sechs Wochen können kurz und endlos lang sein. Unser Zeitgefühl ist trügerisch. Schönes huscht vorbei, Schweres erscheint endlos. Und alles, was wir erleben, orientiert sich an der Länge der Zeit, die schon hinter uns liegt. Sie ist der Maßstab, an dem wir messen und empfinden. Weshalb alte Menschen oft das Gefühl haben, jedes Jahr wäre kürzer als das zuvor. Klar, wenn du 80 bist, ist es nur ein Achtzigstel deines gesamten Lebens. Bist du zehn, hingegen ein Zehntel.

Du bist 37 … Und Maria ist 18. Wie viel länger muss ihr diese Zeit erscheinen!

Wie gut ich die »Anfechtungen« verstehe, die du andeutest. Ja, wohl nur andeutest, denn du willst denen zuhause keine Sorgen machen. Und du weißt ja auch, dass alles von anderen gelesen wird, bevor es die lesen können, für die es bestimmt ist. Aber die dunklen Gedanken sind da. Und die Fragen. Und die Zweifel. Und der Zorn. Und der Groll. Was soll das alles! Wofür ist das gut! Warum greift niemand ein! Kein Mensch und kein Gott!

Und da vielleicht mischt sich manch quälender Selbstvorwurf in die düsteren Gedanken. Warum bin ich eigentlich zurückgekommen in dieses Deutschland! Die Freunde in den USA wollten mich dort behalten. Hätte ich nicht ahnen können, was passiert! Hätte ich nicht mir und denen, die mir teuer sind, unendlich viel Kummer ersparen können!

Aber es war ja nicht nur ein eigenmächtiger Entschluss gewesen damals. Du wusstest, du wirst zurückberufen. Auch von Gott. Immer wieder haben die biblischen Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine intensiv und höchst persönlich zu dir gesprochen. Besonders diese: »Wer glaubt, flieht nicht.« Jesaja 28, 16. Bestimmt erinnerst du dich auch an deinen Brief an Reinhold Niebuhr, den großen Theologen und Ethiker vom Union Theological Seminary in New York: »Ich habe kein Recht, an der Wiederherstellung des christlichen Lebens in Deutschland nach dem Kriege mitzuwirken, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volk teile.«

Hattest du eine Wahl? Eigentlich nicht.

So wirst du versuchen, die Anfechtungen niederzuhalten. Aber ob das immer gelingt? Es geht wohl, solange genug Kraft da ist. Und tageshelles Bewusstsein. In der Schwärze der Nacht wird auch dir das Niederhalten nur selten gelungen sein. Und trotzdem: Nicht ständig dem hinterherjammern, was einem genommen wurde, sondern sich auf das konzentrieren, was geblieben ist. Sich vielleicht sogar daran freuen. Der Berufung treu bleiben. Und Danke sagen. Menschen. Gott. Das ist wirkliche Lebenskunst. Und wohl auch Glaubenskunst. Auch das will ich von dir lernen angesichts der so viel harmloseren Probleme, die meine Nachtruhe bedrohen.

Wenn du nur darüber reden könntest! Alle zehn Tage ein Brief – was ist das schon! Und irgendwann die Antwort – wohl erst dann, wenn sich dein Leben in der Zelle längst verändert hat. Und wenn die damals geäußerten Gedanken und Gefühle in der Zelle deines Herzens und deines Hirns längst anderen Gedanken und Gefühlen Platz gemacht haben.

Trappistenmönche müssen schweigen. Sie haben sich freiwillig dazu entschlossen. Auch für ein Leben in der Zelle. Du aber bist kein Trappist. Du willst deinen Glauben öffentlich leben, Verantwortung übernehmen, dem Rad in die Speichen greifen. Da bedeutet so eine Zelle gleich ein doppeltes Eingesperrtsein.

Ja, du hättest es dir leichter machen können.

So wie wir es uns heute, viele Jahrzehnte später, immer wieder leichter machen. Unsere Bedrohungen sind anders, ja. Leiser. Gesichtsloser. Aber wie viele zu deiner Zeit schauen auch wir allzu oft weg, hören nicht hin, halten uns raus, machen uns die Finger nicht schmutzig. Oder wissen einfach nicht, was richtig ist. Manches Mal macht man sich so oder so schuldig.