Lieder aller Lebenslagen - Stine Pilgaard - E-Book + Hörbuch
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Lieder aller Lebenslagen E-Book und Hörbuch

Stine Pilgaard

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Beschreibung

Unsere Wohngemeinschaft ist wie ein Adventskalender Ein Genossenschaftshaus, vier Generationen unter einem Dach. Mie ist erste Vorsitzende und dirigiert das Plenum. Lasse und Louise gibt's nur im Doppelpack. Lisa lebt im Mittelalter, ihre Tochter Gudrun will lieber einen neuen Vornamen. In Elizabeth brodelt ein Vulkan, Agis trinkt fünf Ouzos hintereinander, Lotte schwärmt für Agis und nicht für seine Verlobte – und Oma und Ruth sind das Liebespaar des Jahrhunderts. Als sich herumspricht, dass die Ich-Erzählerin ein Talent zum Dichten hat, stehen sie alle Schlange, um der Neuzugezogenen ihre Geschichten zu erzählen. Mit ihren Liedern und Horoskopen schenkt sie den Hausbewohnern den feinen, roten Faden, der ihren Leben und Schicksalsschlägen den ersehnten Sinn verleiht. Ein musikalischer Roman, der das menschliche Miteinander besingt. Von Dänemarks erfolgreichster Gegenwartsautorin: eine Liedererklärung an das Leben. »Pilgaards Stimme ist absolut unverwechselbar: komisch, klug, anrührend, dreckig und immer etwas verloren.« Brigitte Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer Auch als Audiobuch erhältlich Gelesen von Caroline Peters

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Seitenzahl: 191

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Zeit:4 Std. 38 min

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2015 unter dem Titel Lejlighedssange bei Samleren, Kopenhagen.

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der Danish Arts Foundation gefördert.

ISBN 978-3-98568-088-7

eISBN 978-3-98568-089-4

1. Auflage 2023

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2023

Published by agreement with Winje Agency AS, NorwayUmschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairportUnter Verwendung eines Gemäldes von Johan Laurentz Jensen,»Oranges, Blackberries and a Vase of Flowers on a Ledge«

© Christie’s Images / Bridgeman Images

und einer Illustration von istockimages / blindspot

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Inhalt

Wassermann

Lied vom Wasserfall

Lied von den Goldenen Damen

Fische

Lied vom Dankesagen

Lied von der Lust nach Geschichten

Widder

Lied von den Sünden

Lied von der Selbstverständlichkeit

Stier

Lied über den Smalltalk

Lied von aufgewühlten Wassern

Zwilling

Lied von der Hygge

Lied vom Pärchenabend

Krebs

Lied über die Kunst

Lied von den Enthusiasten

Löwe

Lied vom Fels in der Brandung

Lied von der Milch

Jungfrau

Lied über Kelly Taylor

Lied über den Pop

Waage

Lied von Lalandia

Lied vom Duschabzieher

Skorpion

Lied über Pferde

Lied von der Zeit

Schütze

Lied über Brüste

Lied von der Schlaflosigkeit

Steinbock

Lied vom Dessert des Lebens

Lied über die Liebe

Und im singenden Wort, wenn sich der Vers erinnert,

dass er einst Lied war

kann man wieder entdecken, dass alles wirklich existiert

obwohl alles sich langsam verändert. Der Wind weht

und die Welt brennt still und leise; Esche wird zu Asche

Nacht zu Netz; wir breiten es zwischen uns aus

und fangen darin absurde und grotesk schöne Dinge:

Partituren für lautlose Musik, Bücher ohne Buchstaben –

so reich ist die Sprache noch

dass sie unsere wildesten Phantasien übersteigt

und auf der anderen Seite

hinunterpurzelt

und weitermacht.

Der Stoff, aus dem alles gemacht ist

Martin Larsen

Wassermann

21. Januar – 19. Februar

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, und es öffnen sich neue Türen. Du begegnest wichtigen Personen mit Blick für die Zukunft. Die einen trinken Kaffee und stellen die richtigen Fragen, andere wissen einfach, was kommt. Ein Leben ohne Feste ist wie ein langer Weg ohne Wirtshaus, und warum die Fahne einholen, wenn ein Geburtstag den anderen jagt.

Nachts sitz ich da und reime. Letztes Jahr hatten wir ein Gemeinschaftsessen unten im Hof, und weil ich nicht kochen kann, schrieb ich ein Lied. Wir sangen, dass die Bäume wackelten, die Vögel verstummten, und die Erde bebte. Zugabe, riefen die Nachbarn, sie klatschten und johlten, und so schlitterte ich in ihre Leben. Sie kamen mir auf der Treppe hinterhergeschlichen oder passten mich in der Waschküche ab. Sie erzählten von runden Geburtstagen, Konfirmationen von Cousins und Cousinen, von Hochzeiten im Freundeskreis. Ich bat sie rein, machte Notizen und zählte Silben. Die Verse hüpften und tanzten, und ein Besuch führte zum anderen. Mein Sofa wurde zum Beichtstuhl für angehende Bräutigame und von Gewissensbissen geplagte Söhne. Ältere Damen klingelten an der Tür, die Arme voll Fotoalben und selbstgebackener Plätzchen. Ich kaute an meinem Kuli, steckte eine Zigarette an, huldigte dem Alltag und feierte die kleinen Dinge des Lebens. Meine Verse erzählten von Ferien, von Haustieren, von Marotten und besonderen Talenten. Ich war die Klangkulisse an Jahrestagen, ich fasste Leben zusammen, dass man sie singen konnte. In der Mitte des Lieds wurde angestoßen, die Feiernden hoben die Gläser und hielten mitten in der Bewegung inne. Sie machten sich bewusst, dass die Jahreszeiten wechseln, die Kinder erwachsen und sie selbst älter wurden. Sie sangen den Tod weg, priesen ihr Dasein in reinen Reimen und spürten Dankbarkeit, solange sie sangen. Das Gerücht verbreitete sich von Wohnung zu Wohnung, und still und leise wurde ich eine Firma. Ich verkaufte die Worte, die meine Nachbarn nicht fanden, ich schrieb in Windeseile Lieder über Erinnerungen, die ich nie erlebt hatte. Ich skizzierte schöne Eigenschaften und Lebensverläufe, vermittelte Liebe quer durch die Generationen, und nach und nach wurde ich zum Sprachrohr für all die ungesagten Worte. Meine Verse sponnen einen zarten roten Faden im Leben der Leute und stifteten den ersehnten Zusammenhang. Sie konnten einander in die Augen sehen und sagen, dass alles gekommen war, wie es musste, dass alles seinen Sinn hatte, auch wenn alles ganz anders hätte kommen können und es keinen Sinn gab.

*

Vorsichtig drehten wir den Schlüssel um und öffneten die Tür zu unserem neuen Zuhause. Eine Wohnung ganz ohne Möbel hatte etwas Unheimliches. Draußen wirbelten die Blätter der Bäume durch die Luft. Du klopftest vorsichtig an eine Wand, als ob das Haus jeden Moment um uns zusammenkrachen könnte. Hamids Superpizza, stand in großen Buchstaben auf einem Schild auf der anderen Straßenseite. Vor dem Lokal stand ein Mann in mittleren Jahren mit Kochmütze auf dem Kopf und starrte die Straße runter. Als es an der Tür klopfte, sahen wir uns panisch erschrocken an. Herein, sagte ich, und meine Stimme klang sonderbar. Die Vorsitzende der Mietergenossenschaft sagte, Willkommen bei uns in der Genossenschaft, ich heiße Mie. Sie redete von Waschküche und Dachbodenverschlag und fragte, ob wir Fragen hätten. Wir lächelten, nickten und schüttelten den Kopf. Als sie gegangen war, sahen wir uns nicht an, sondern starrten nur an je eine weiße Wand. Ich glaube, wir warteten beide darauf, sie würde noch einmal klopfen und uns laut lachend den Kopf tätscheln. Na, ihr junges Gemüse, ihr habt wohl gedacht, ihr kommt damit durch, würde sie sagen, für so was hier seid ihr leider nicht alt genug, uns die Schlüssel abnehmen und eine Wohnheimbroschüre in die Hand drücken. Die Minuten verstrichen, sie kam nicht zurück, und wir flogen nicht auf. Glaubst du, man darf hier rauchen, flüstertest du. Ich zog die Schultern hoch.

Weihnachtshygge in der Wohnungsgenossenschaft, drei Wochen nach unserem Einzug. Mie öffnete die Tür mit einer Wichtelmütze auf dem Kopf. Du sahst sie völlig entgeistert an. Im Flur hing ein großer Weihnachtswichtel von der Decke, der zu winken begann, als wir eintraten. Mie zeigte auf einen Haufen Wichtelmützen und andere Weihnachtsklamotten in der Ecke. Ihr könnt euch da was zum Verkleiden raussuchen, sagte sie. Nein, sagtest du laut und deutlich, wie gelähmt von dem Wichtel, der dich seinerseits nicht aus dem Blick ließ. Ich sah auf einen kleinen Berg Apfelkrapfen, der sich auf einem Teller im Wohnzimmer stapelte. Mie sagte, sie habe sich schon so darauf gefreut, die Hausbewohner zu versammeln. Hugo tauchte aus seinem Zimmer auf. Ich lächelte ihm zu und wühlte in dem Klamottenhaufen. Ein gigantisches Geweih mit Glöckchen und glitzernden Schneeflocken stach mir ins Auge. Ich setzte es mir langsam auf und ergänzte es um eine rote Plastiknase. Du sahst mich ohne die geringste Miene zu verziehen an. Wir gingen ins Wohnzimmer, und kurz darauf trudelten die anderen in kleinen Grüppchen ein. Mie musste sich um den Glögg kümmern, die Fenster beschlugen, und sie nahm die Wichtelmütze ab. Kommt rein, rief sie von der Küche aus, wenn es klingelte. Niemand sonst bekam die Wichtelklamotten gezeigt, sie schien sie völlig vergessen zu haben. Immer wenn ich den Kopf bewegte, bimmelten die Glöckchen. Die Nachbarn taten, als wär ich nicht ausstaffiert wie Rudolph das Rentier, als sie sich vorstellten und erzählten, in welcher Wohnung sie wohnten. Wir heißen Louise und Lasse, sagte eine junge Frau und sah auf die rote Plastiknase mitten in meinem Gesicht. Als Thomas und Lisa kamen und uns die Hand gaben, starrten ihre drei Kinder mich an. Auf einmal wurde es still. Als Rudolph verkleiden ist kindisch, wenn grad kein Fasching ist, sagte Thor und zeigte auf mein Geweih. Ich nickte.

Was sagt der eine Hellseher zum anderen, frage ich. Die Illustrierte, für die ich schreibe, hat Betriebsfeier, und ich sitze neben Wahrsager-John. Dir geht’s gut, wie geht’s mir, sage ich und sehe ihn an. John hat eine Ratgeberspalte mit dem Titel »John sieht alles«. Die Leute können schreiben und nach ihrer Zukunft oder verschwundenen Sachen fragen. Seine Leserschar ist klein und fanatisch, aber treu. Der war sicher zu leicht für dich, lache ich und stupse ihn mit dem Ellbogen an. Wahrsager-John schaut tödlich beleidigt und sagt, es gebe hier beim Blatt auch welche, die ihre Arbeit ernst nähmen. Ich stecke mir eine Zigarette an. Es nervt, einen Job zu haben, den andere Leute als Scherz betrachten, sagt er. Weißt du, wo mein Schatz die Schlüssel gelassen hat, frage ich, und wie steht’s mit den Lottozahlen von nächster Woche. Wahrsager-John sagt, dass seine Kräfte schwinden, wenn es um Leute geht, die er kennt, persönliche Gefühle machten oft die Magie kaputt. Es ist nicht leicht, mit jemand Konversation zu machen, der alles sieht, sage ich und kippe meinen Lakritzshot runter, du bist quasi immer einen Schritt voraus. Wahrsager-John sagt, ich soll mich um meinen Sternkram kümmern, und zündet eine Zigarre an.

Ich merke, wie ich langsam betrunken werde. Die Grenzen zwischen den Menschen verwischen, und ich erlebe meine Kollegen als ein großes, organisches Ganzes. Überall sehe ich potentielle Freunde, ich werde sentimental und spüre, wie die Liebe der Welt in mein Schnapsglas tropft. Ich gehe zum Redakteur und umarme ihn. Ich hab dich schon immer gemocht, sage ich, du bist ein integrer Mensch. Mag sein, dass unsere Wertvorstellungen auseinandergehen, aber wir inspirieren uns gegenseitig, sage ich. Der Redakteur zupft seinen Schlips zurecht. Er redet über die Zielgruppe der Zeitschrift und betont, wie wichtig es ist, dass die Horoskope auf alle passen. Man kann Sternzeichen wie psychiatrische Diagnosen betrachten, sage ich, wenn man es wirklich drauf anlegt, findet man schon, was zum eigenen Selbstbild passt. Die Sekretärin reicht mir ein Glas Wasser. Ich liebe deine kurzen Kleider, sage ich zu ihr, deine Beine sind einfach göttlich. Ich bin mir nicht sicher, ob sie versteht, was ich meine, ich hab das Gefühl, ich müsse näher erläutern. Wohlgeformt, sage ich, elegant, sie haben einen ganz besonderen Schwung. Ich gestikuliere wild in der Luft, und sie schenkt mir Wasser nach. Wahrsager-John lässt die Jukebox ABBA spielen. Ich weiß, sobald ich mich auf der Tanzfläche sexy fühle, ist es Zeit, ein Taxi zu rufen. Mein Rhythmusgefühl ist doch eigentlich spitze, denke ich, ich bin gar nicht so unmusikalisch, wie die Leute immer sagen, Agnetha singt »Dancing Queen«, und jetzt ist alles zu spät. Meine Seele schwingt sich um die Pole-Dance-Stange, sie ist leicht zu haben, zugänglich für jeden, und mein Herz ist eine Drehtür. Wahrsager-John wirbelt mich im Kreis. Vielleicht sind wir soul mates, flüstere ich ihm ins Ohr. Ich fühle mich glücklich, und die Welt ist der schönste Ort, den ich kenne. Du findest schon noch das Richtige, aber deine Tage beim Blatt sind gezählt, übertönt Wahrsager-John die ABBA-Musik. Skål, auf die Zukunft, sage ich und hebe mein Glas.

Lied vom Wasserfall

ES IST ZWEIUNDZWANZIG UHR ACHTUNDDREISSIG, und ich hab schon zu viel gesagt. Meine eigenen Worte hängen mir zum Hals raus, mir fehlt die Hemmschwelle, ich rede und rede. In Toilettenschlangen, Wartezimmern, an Bushaltestellen, ich rede wie ein Wasserfall auf fremde Menschen ein, ich überschwemme sie mit meinen Worten. Ich erzähle meine Lebensgeschichte in vierundzwanzig Kapiteln, ich ersticke die Leute mit meinen Stimmbändern, die Worte brausen mir nur so durchs Blut. Bei Betriebsfeiern hocke ich mit lila Zähnen da und sage, damals, als ich entjungfert wurde, und warum hab ich bloß keine Hüften, ich schütte Leuten mein Herz aus, vergesse, dass ihr nicht ich seid. Und auf einmal bin ich erleichtert, mein Atem wird schwerer, das Reden gibt mir Sicherheit. Du bist so ein Lieber, sage ich, ich wünschte, du wärst mein großer Bruder, dann würden wir die ganze Zeit Kaffee trinken und Mensch ärgere dich nicht spielen. Lass uns Freunde fürs Leben sein, sage ich und glaube, man könnte so was einfach abmachen wie früher auf dem Pausenhof. Ich male mir Beziehungen aus, ich träume von wahrer Verbundenheit, ihr nickt erschrocken, und plötzlich seid ihr mit all meinen Worten verschwunden. Ich steh alleine da und wünsche mir ein Tabuthema, ein einziges nur, sehne mich nach dem Hauch einer Hemmung. Ich trete mit meinen Worten auf, sie sind ein Lebenserwerb, ein Lebenswandel, ein Einmannorchester, ein quietschender, kreischender Leierkasten, ich ziehe von Hinterhof zu Hinterhof, und die Leute werfen Münzen aus den Fenstern. Ich klaube die letzten Schillinge vom Pflaster, lächle und knickse, dann klappen eins nach dem andern die Fenster zu, und die Stille schlägt mich wie eine Scham.

Als ich am nächsten Vormittag vom Einkaufen nach Hause komme, wartet Ruth auf mich. Sie sitzt auf ihrem grünen Rollator im Vorgarten, raucht eine Zigarette und baumelt mit den Beinen. In den Korb hat sie einen Aschenbecher getan, der aussieht wie ein Fisch mit offenem Mund. Ruth hat ein sehr leidenschaftliches Verhältnis zu ihrem Rollator und lebt in ständiger Angst, die Kommune könnte ihn ihr wieder wegnehmen. Aus ihrem Mund klingt die Kommune wie eine besonders böse Person mit übernatürlichen Kräften. Ruth hat mal einen Bericht über eine ältere Frau gesehen, der man den Rollator weggenommen hatte, weil die Kommune der Ansicht war, sie käme auch ohne ihn zurecht. Wenn Ruth sich im öffentlichen Raum bewegt, humpelt sie heftig und klammert sich an ihren Rollator, als wär er ein Rettungsfloß und ihre einzige Möglichkeit in der Welt, sich aufrechtzuhalten. Ich hab gehört, dass du Verse schmiedest, sagt Ruth. Ich nicke und stelle meine Tasche ab. Ruth erzählt, dass Oma bald zweiundachtzig wird und sie gern ein Lied geschrieben hätte. Oma findet, sie ist allmählich so alt, dass jedes Jahr ordentlich gefeiert gehört, sagt Ruth. Das ganze Haus nennt Oma Oma, aber verwandt ist sie nur mit Iben. Nach dem Tod von Omas Vater hatte sie seinen Hof verkauft und das ganze Erdgeschoss hier im Haus gekauft. Die Wohnung neben der von ihr und Ruth hat sie ihrer Enkelin geschenkt, die eine WG daraus gemacht hat. Iben ist mein Augenstern, sagte Oma, als sie sich uns bei der Weihnachtsfeier vorstellte, und Ruth ist meine Schwester. Ih, klingt das eklig, sagte Elizabeth. Oma kniff den Mund zusammen. Nach dem dritten Glas Glögg beugte sie sich zu mir. Ruth ist meine Freundin, flüsterte Oma und lüpfte die Augenbrauen. Ich sage, ich bräuchte ein paar Anekdoten, und wir verabreden uns für nächstes Mal, wenn Oma im Seniorenclub ist. Ruth drückt ihre Zigarette im Fischmund aus und sagt, es soll ein schlichtes Lied sein. So wie »Frühlingstag« von Anne Linnet, sagt sie, schön, aber kein großes Tamtam. Ich sage, dass sei eine gute Melodie. Du kannst dir bestimmt denken, wie Oma war, als sie jung war, sagt Ruth und sieht mich an. Hübsch und ein Riesentamtam, sage ich. Ruth nickt und zündet sich eine neue Zigarette an.

Durchs offene Küchenfenster höre ich oft Omas Stimme, wenn sie ihrer Enkelin gute Ratschläge gibt. Die Gespräche kopieren sich von allein, ihre kleinen, geschlossenen Kreisläufe folgen einer ganz bestimmten Komposition. Deine Träumereien führen doch zu nichts, sagt sie, wenn Iben im Hof Geige spielt, du könntest Lehrerin werden wie Lotte, du kannst den Kindern vorsingen, Kinder lieben Musik. Nur weil du deine Jugend unter Kühen verbringen musstest, kann Iben ja wohl trotzdem Musikerin werden, sagt Ruth. Herr im Himmel, sagt Oma, warum bin ich von Tagträumern umgeben. Sie zeigt mit bebendem Finger auf Iben. Du wirst es noch schwerhaben im Leben, sagt Oma. Dich hat keiner angerufen, sagt Iben und schnappt ihre Geige. Oma ist den Tränen nah, als die WG-Tür zuknallt. Wenn ich bloß meinen Mund hüten könnte, sagt sie mit einem Blick zu Ruth. Oma zieht eine Tüte Schokomandeln aus der Tasche und mampft eine nach der anderen, als wären’s Nerventabletten. Ruth hat eine Schwäche für Omas Momente von Selbsteinsicht. Vielleicht könntest du’s dir hin und wieder einfach verkneifen zu sagen, was du denkst, sagt Ruth dann manchmal vorsichtig. Oma nickt, sie bemüht sich, aber es liegt nicht in ihrer Natur. Ich mein ja nur, sagt Oma, und wenn die eigene Oma keine guten Ratschläge geben darf, wer dann. Ruth zieht eine dunkelgraue Braue hoch. Seit letztem Jahr hat Oma eine neue, subtile Methode, sich einzumischen, ohne sich wirklich einzumischen. Eines Tages kam sie triumphierend mit einer siamesischen Langhaarkatze an der Leine in den Hof spaziert. Schaut alle her, das ist Daisy, sagte Oma, als wäre sie eine Zirkusansagerin, die eine neue Nummer präsentiert. Ein moppeliger roter Kater, der sich gnädig kraulen ließ, aber sonst nicht viel Wesen von sich machte. Daisy, sagte Oma und sah den Kater an, meinst du nicht auch, es wird Zeit, dass Iben eine Ausbildung anfängt. Iben köpfte ein paar Blüten von einer Fensterpflanze. Musik ist ein Hobby, keine richtige Arbeit, sagte Oma zu Daisy, der sich schnurrend das Fell kraulen ließ.

Familie ist wie Silvester, sagt meine Mutter und drückt aufs Gas, man kriegt nie ganz, was man will. Wir sind unterwegs zur Silberhochzeit meiner Tante. Meine Schwester und ich sitzen auf dem Rücksitz und schauen jede aus ihrem Fenster. Wollt ihr nicht das Mutterlied singen, sagt meine Mutter und sieht uns an. Wenn wir als Kinder Spice Girls spielten, war meine Schwester Emma, und ich war Geri. Mama I love you, sangen wir schrill und tanzten zur Musik aus dem Ghettoblaster durchs Zimmer. Meine Mutter klatschte und rief Zugabe. Meine Schwester hatte blonde Haare und blaue Augen und war für mich die Schönste überhaupt. Mein Haar war dunkel und meine Iris eine undefinierbare Ansammlung kloakenfarbener Flecken. Du hast garantiert einen anderen Papa, sagte ich eines Abends beim Zähneputzen zu meiner Schwester. Nein, Papa ist mein Papa, sagte sie und guckte ängstlich. Mein Vater saß im Wohnzimmer an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem Softwareprogramm, nebenher telefonierte er noch mit einem Kunden. Seine Stimme klang höflich. Könnt ihr mich nicht teilen, fragte er und hielt den Hörer beiseite. Du siehst aus wie dieser eine Kollege von Mama, flüsterte ich meiner Schwester zu, ihr habt genau das gleiche Gesicht. Meine Schwester starrte in den Spiegel über dem Waschbecken. Der war so was von hässlich, flüsterte ich. Mein Vater rief meine Mutter an, seine Stimme klang müde. Eine Viertelstunde später kam sie angeradelt. Wir sind alle zusammen eine Familie, sagte meine Mutter und nahm uns auf den Schoß. Was ist mit meinem anderen Papa, heulte meine Schwester. Es gibt nur einen, sagte meine Mutter. Ich schielte und streckte meiner Schwester die Zunge raus. Monkey face, sagte sie. Die Tür des Gemeindehauses ist mit einer Ehrengirlande aus Rosen und Blumendraht geschmückt. Meine Schwester fotografiert die Gäste in der Reihenfolge, in der sie ankommen. Meine Mutter steht von den Blumen umkränzt da, sie wechselt die Pose und lächelt in die Kameralinse. Während ich mir eine Zigarette anzünde, redet meine Familie darüber, wie unglaublich künstlerisch meine Schwester ist. Sie macht Fotos von Sonnenuntergängen für Postkartenfabrikanten, sage ich. Mein Onkel sieht mich an. Fünf Jahre studiert, und jetzt schreibst du Horoskope, sagt er, das ist nicht normal. Du hast doch gar keine Ahnung von Sternen, sagt meine Cousine, du denkst dir das alles nur aus. Misstrauisch sein ist typisch Krebs, sage ich, denk positiv, dein Liebesleben wird es dir danken. Meine Cousine hat sich gerade getrennt und guckt sauer. Warum schreibst du keinen Krimi, sagt sie, willst du lieber Geld verdienen oder der Gesellschaft auf der Tasche liegen. Ich hab mal im Radio gehört, die meisten Menschen, die ermordet werden, haben eine emotionale Beziehung zu ihrem Mörder, deshalb verhört man in der Regel zuerst die Familie. Nicht Hass, sondern eine Mischung aus Hass und Liebe macht uns zum Mörder.

Mein Onkel setzt sich neben mich und erzählt von seinem spannenden Nachbarn, über den könne ich doch ein Buch schreiben. Ein Kindheitsfreund, ein richtiger Charakter, der viel gereist ist. Mein Cousin sagt, ich könne auch einfach eine Autobiografie schreiben. Die Wirklichkeit ist gerade sehr in, sagt er, denk an die ganzen Reality-Shows. Sie reden über Paradise Hotel und Jung und schon Mutter.

Meine Tante meint, man könne mit Büchern durchaus Geld verdienen, man müsse halt nur rausfinden, was die Leser haben wollten und sich nicht in fixe Ideen verrennen. Literatur ist ja wohl mehr als Verkaufszahlen, sage ich. Meine Familie sieht mich entsetzt an. Ich bin das neue orange Tier im Zoo, ein regenbogengepunkteter Weltraumhund, ein Wesen von einem anderen Stern, ich bin das sprichwörtliche Mehr, das es zwischen Himmel und Erden gibt. Wir stehen auf je unserer Insel und winken, und die Flaschenpost, die wir uns schicken, besteht nur aus Krakeleien und seltsamen kleinen Zeichnungen von Menschen und Tieren. Meine Mutter klopft mit der Gabel an ihr Glas. Fünfundzwanzig Jahre, sagt sie an meine Tante und meinen Onkel gewandt, es fühlt sich an, als hättet ihr euch erst gestern im Bent J kennengelernt. Die Zeit vergeht wie im Flug, flüstert meine Schwester mit Betonung auf Flug. Kaum hat man die Fahne eingeholt, muss man sie schon wieder hissen, sagt meine Mutter. Das ist ihre Lieblingsanalogie, sie benutzt sie in verschiedenen Varianten bei all ihren Reden. Sie macht eine Kunstpause, damit die Leute lachen können, und sieht zu meiner Schwester und mir rüber. Wir lachen.

*

Kommt, wir spielen, dass ich Geburtstag hab, wenn ihr aufwacht, sagte meine Mutter manchmal wenn sie uns abends ins Bett brachte. Auf der Kommode lag Geld für süße Teilchen, und wir weckten sie mit Frühstück im Bett. Wenn meine Mutter im Wohnzimmer auf ihrem königsblauen Schlafsofa thronte, strahlte sie. Na, na, ihr habt die Geburtstagsfähnchen vergessen, sagte sie, und meine Schwester flitzte zum Haushaltsraum. Wie schön, Geburtstag zu haben, sagte meine Mutter. Ich war süchtig nach ihrer Freude, sie war eine Lichterkette, die man mit einem Fingerdruck anknipsen konnte. Wenn meine Mutter uns mit Blumen, heißem Kakao und Zimtschnecken anbalanciert kommen sah, vergaß sie komplett, dass kein Mensch zehn, zwanzig Mal im Jahr Geburtstag hat. Mein Vater schüttelte den Kopf, wenn meine Schwester und ich ihm am Montag erzählten, dass unsere Mutter am Wochenende wieder mal Geburtstag hatte. Er rief sie an, aus Sorge, es könne unseren Realitätssinn trüben. Ein Leben ohne Feste ist wie ein langer Weg ohne Wirtshaus, sagte meine Mutter, und ein paar Geburtstage mehr täten dir auch ganz gut.

*

Ich gehe raus eine rauchen und betrachte meine Schwester durch die erhellten Fenster. Als wir klein waren, hab ich sie immer damit gehänselt, dass sie die Jüngere war. Du bist die Nummer zwei, sagte ich zu ihr, du bist nur ein blasser Abklatsch vom Original. Denk an König der Löwen und Free Willy