Lieder von den Sternen - Norman Spinrad - E-Book

Lieder von den Sternen E-Book

Norman Spinrad

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lieder aus den Tiefen des Alls

Die Erde liegt Jahrhunderte nach der ökologischen Katastrophe in Trümmern. Schon vor Generationen hat sich die Menschheit in zwei Entwicklungsrichtungen aufgespalten: Die Grünen leben ein einfaches Dasein im Einklang mit der Natur, die Techniker bereiten in ihren hermetisch abgeriegelten Städten die Eroberung des Weltraums vor. Denn in den letzten Tagen vor dem technologischen Holocaust fingen die Raumstationen Signale von fremden Welten auf, und die Forscher setzen alles daran, sie wiederzufinden. Als es endlich so weit ist und die Menschen erneut den Liedern von den Sternen lauschen können, sind es jedoch nur die Grünen, die die Signale entschlüsseln können …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 478

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



NORMAN SPINRAD

LIEDER VON

DEN STERNEN

Roman

Das Buch

Die Erde liegt Jahrhunderte nach der ökologischen Katastrophe in Trümmern. Schon vor Generationen hat sich die Menschheit in zwei Entwicklungsrichtungen aufgespalten: Die Grünen leben ein einfaches Dasein im Einklang mit der Natur, die Techniker bereiten in ihren hermetisch abgeriegelten Städten die Eroberung des Weltraums vor. Denn in den letzten Tagen vor dem technologischen Holocaust fingen die Raumstationen Signale von fremden Welten auf, und die Forscher setzen alles daran, sie wiederzufinden. Als es endlich so weit ist und die Menschen erneut den Liedern von den Sternen lauschen können, sind es jedoch nur die Grünen, die die Signale entschlüsseln können …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

SONGS FROM THE STARS

Aus dem Amerikanischen von Brigitte D. Borngässer

Überarbeitete Neuausgabe

© Copyright 1980 by Norman Spinrad

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Clear Blue Lou

Clear Blue Lou steuerte an einem jener fürs Adlerfliegen idealen Nachmittage nach Südosten und hatte die Welt weit hinter sich gelassen. Unter ihm bildeten die Ausläufer der Sierras einen hellen, mit dunklen Flecken durchwobenen Teppich aus zerknittertem grünem Samt, und der wolkenlose, klare Himmel erfüllte seine Seele mit einem reinen, blauen Entzücken. Sein Geist war sich wie ein Vogel der Auf- und Abwinde, die aus dem Gebirge aufstiegen, bewusst. Er war Clear Blue Lou, Vollkommener Meister des Klaren Blauen Wegs. Dies bedeutete, dass er unten, in Aquarias Städten, Dörfern und Gehöften das Karma anderer Menschen reinigen musste, aber hier oben, ganz allein im klaren Blau, war er nur noch für sein eigenes Schicksal verantwortlich. Jeder Meister muss sein eigenes Lied singen.

Lou fühlte sich außerhalb von Raum und Zeit, als er so unter seinem leuchtendblauen, heliumgefüllten Adler hing; vom Boden aus schien es fast, als ob er von einer unsichtbaren Schwinge aus der Luft vorangetragen würde. Von seinem Sitz aus, der an der Unterseite des Adlers befestigt war, wirkten die Gleitflügel wie eine Gegenlichtblende, die das klare Himmelsblau zu einem ruhigeren und dunkleren Farbton filterten. Nirgendwo sonst fühlte er sich stärker in Harmonie mit Dem Weg.

So glückselig flog Clear Blue Lou auf dem Klaren Blauen Weg dahin, dass er die einsetzende Dämmerung gar nicht bemerkte. Oh Mist!, dachte er plötzlich aufschreckend. Jetzt ist es mir schon wieder passiert!

Lange Streifen purpurnen und kaminroten Lichts spielten über den Flügel des Adlers, und die Verstrebungen auf seiner Unterseite hatten sich in ein gotisches Kathedralgewölbe aus immer länger werdenden Schatten verwandelt. Weit unten strömten tintenschwarze Kleckse durch die zerklüfteten Canyons des mittleren und südlichen Aquaria nach Osten, und die vereinzelten Wolken färbten sich an den Rändern malvenfarben und zartrosa.

Clear Blue Lou mochte sich in perfektem Gleichklang mit dem Gesetz von Muskeln, Sonne, Wind und Wasser befinden, doch von dieser geheiligten Vierzahl der Weißen Kräfte war ihm diejenige, die ihn stöhnen und schwitzen ließ, am wenigsten sympathisch. Und nun war er gezwungen, als Entgelt für diesen beseligenden Nachmittag reinsten Karmas kräftig in die Pedale zu treten.

Der Sonnenadler ist ein Heliumballon in Form eines beweglichen Gleitflügels. Der unter ihm hängende Pilot steuert ihn durch Seile, ähnlich einem Puppenspieler, der mit seiner aeronautischen Marionette durch die Lüfte segelt. Bei günstigem Wind konnte ein meisterlicher Luftschiffer wie Lou ohne die geringste Anstrengung in der einmal eingeschlagenen Richtung bleiben. Leider erlebte man ein so vollkommenes Karma nicht öfter als ein rundes Dutzendmal im Jahr.

Und der heutige Tag gehörte nicht dazu. Ein leichter Gegenwind, wehte aus Osten, die Sonne würde in einer knappen Stunde untergehen, und zu dem letzten Adlerhorst zwischen hier und La Mirage waren es noch mindestens acht Meilen. Er würde also in die Pedale treten müssen.

Die Oberfläche des Adlerflügels ist mit Solarzellen bedeckt, die genug Energie liefern, um die beiden in der Nähe der Flügelspitzen angebrachten Propeller anzutreiben. An windstillen Tagen gab die Sonne dem Adler eine Geschwindigkeit von etwa zehn Meilen pro Stunde. Wenn er oben war.

War er aber nicht oben oder blies der Wind aus der falschen Richtung, dann musste man sich des dritten, in der Mitte sitzenden Propellers bedienen, der durch Pedale angetrieben wurde. Kein echter Adler-Fan liebt das. Täte er es doch, wäre er ein Fahrrad-Segler, der jedes Mal, wenn der Wind nachließe, in den Genuss dieses zweifelhaften Vergnügens käme.

Aber schließlich gehörten auch die Muskeln zum Rechten Weg, und es gab doch tatsächlich Großmeister anderer Richtungen, die lehrten, dass Schweiß gut sei für die Seele, und die regelmäßig ihre Runden auf dem Fahrrad drehten. Es gab sogar einige, die die Sonnenadler einer leichten Beimischung von Grau verdächtigten.

Clear Blue Lou trat an; seine Beine fanden schnell zu einer rhythmischen Bewegung, und die Anstrengung seiner Muskeln und seines Fleisches ließ wieder die Realität in sein Bewusstsein zurückfluten und erinnerte ihn an die ärgerliche Tatsache, dass der Stamm der Adler – die Erbauer seines himmlischen Gefährts – tief in diese heillose Geschichte in La Mirage verstrickt war. Eine Wolke, deren Bauch vom Schatten der Zaubererei geschwärzt war, hing über ihnen.

Hinter ihm vertiefte sich die Dämmerung zu völliger Dunkelheit, und das Land unter ihm, das sich in den Mantel der Nacht gehüllt hatte, wirkte schroff und abweisend; mit Hilfe seiner Muskelkraft kam Lou stetig nach Osten voran, durchflog den süßen Moschusduft, den die waldigen Ausläufer des Gebirges bei Sonnenuntergang verströmten. Die zackigen Spitzen der Sierras standen flammendrot gegen den östlichen Horizont. Und hinter ihnen dehnte sich … die Große Einöde, aus deren Tiefen Schwarze Wissenschaft auf verborgenen Wegen nach Aquaria einsickerte. Wenn sie endlich La Mirage erreicht hatte, war aus schwarz grau geworden, und nachdem sie die Handelsbörse durchlaufen hatte, hatte sich das Grau in das reine Weiß frisch gefallenen Schnees verwandelt.

Irgendwo zwischen hier und der anderen Seite der Sierras war irgendjemandes Hand schneller als das Auge – oder zumindest schneller als Augen, die es vorzogen, nicht hinzusehen. Keine Farbe, keine von Menschen hergestellten Moleküle hafteten auf dem Weiß der Sonnenadler, nichts konnte sie berühren außer den Kräften von Sonne, Wind und Muskeln. So entsprach es dem Buchstaben des Gesetzes.

Gewiss, die Solarzellen mussten von irgendwo herkommen, das Gewebe des Ballons bestand aus einem ungewöhnlichen Zellulosederivat, und der Nachschubsweg des Adlerstamms wand sich verdächtig weit in die unzugänglichen Mountain Williams-Canyons hinein, hoch oben an den Osthängen des zentralen Gebirgsmassivs, da, wo ein Rechtschaffener Weißer unter keinen Umständen seinen Fuß hinsetzen würde.

Clear Blue Lou hatte es sich angewöhnt, nicht nach dem Karma der Dinge, die ihm sein Leben angenehmer machten, zu fragen, und er glaubte, dass es auch für die anderen so besser sei. Wenn dem Geist etwas gut schmeckte, dann durfte man es essen.

Aber jetzt, wo er sich zur Strafe für seine Unaufmerksamkeit über finstere Abgründe hinweg abstrampeln musste, kam ihm wieder einmal zu Bewusstsein, dass auch ein Vollkommener Meister nicht immer auf eine freie Mahlzeit rechnen kann. Dass man nur durch einen Sieg der Willenskraft über das rebellische Fleisch auf dem Rechten Weg bleiben konnte, war alles in allem vielleicht doch gut für die Seele, so eine Art mahnend erhobener kosmischer Finger.

Im Moment erinnerte er ihn daran, dass er sich nicht auf einem Vergnügungsausflug befand, sondern dass man ihn aufgefordert hatte, einen Rechtsstreit zu schlichten, der das Karma eben dieses Adlers betraf, der ihn bei Sonnenuntergang aus einem hochfliegenden König der Lüfte in eine unter der eigenen Last gebeugte Kreatur verwandelt hatte.

Es ist gut für die Seele, genauso wie Peyote, sagte er sich säuerlich und lehnte sich in die Pedale. Aber das hieß noch lange nicht, dass man das Gericht schmackhaft finden musste.

Innerhalb einer Stunde war das Land unter ihm in einem schwarzen Abgrund versunken; am mondlosen Himmel glänzten punktförmige Lichter – so mussten wohl die alten Städte vor dem großen Atomschlag ausgesehen haben –, und Clear Blue Lou hatte mehr als genug von seinem Yoga-Training.

Erleichtert machte er endlich das Landelicht des Adlerhorstes aus, einen 200 Watt starken Scheinwerfer, der wie ein auf dem nächsten Hügelkamm gestrandeter Stern flimmerte. Er schaltete in einen anderen Gang, wodurch ein Teil der von ihm erzeugten Energie in eine Pumpe geleitet wurde, die das Helium aus dem Adlerflügel absaugte. Der Adler verlor langsam an Höhe, doch Lous Muskelarbeit wurde dadurch in keiner Weise erleichtert. Er stöhnte und schwitzte, während er in einer Kurve abwärts glitt, und es war eine wahre Wonne, als er schließlich aufhören und wie eine aufs Licht zusteuernde Motte zur Landung ansetzen konnte.

Er setzte auf einer Hochgebirgswiese auf, die im bleichen Sternenlicht unheimlich schimmerte. Nur noch ein weiterer Adler war auf ihr festgemacht. Myriaden von Insekten schwärmten im Strahl des Scheinwerfers auf dem Dach der eingeschossigen, schäbigen Hütte.

Die Wände des Hauptraums waren aus rohem Holz gezimmert, die Tische und Stühle waren ebenfalls aus Holz, und an der großen hölzernen Feuerstelle, von der appetitanregende Düfte in Lous Nase stiegen, überwachte Matty der Koch zwei Eisenkessel und einen Krug voller Apfelwein.

»Was zu futtern und 'ne Schlafstelle«, rief Lou. »Hab stundenlang in die Pedale getreten.«

»Hast es wohl sehr eilig, nach La Mirage zu kommen?« Der einzige andere Kunde war eine große geschmeidige Frau, die den gelben Anzug der Sonnenschein-Boten trug; sie saß über den Resten ihres Mahls und winkte ihn an ihren Tisch. Sie war hübsch und sah sehr sexy aus, aber eine Spur von Feindseligkeit ging von ihr aus.

»Falsch geraten; ich habe soviel Zeit, wie ich will«, sagte Lou und grinste sie einladend an, während er sich ihr gegenübersetzte.

Die Zunge des Mädchens glitt über ihre Unterlippe, dann sagte sie mit einem ironischen Lächeln: »Du erwartest wohl eine Bestechung, o du Spender der Klaren Blauen Gerechtigkeit?«

»Bietest du mir denn eine an?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht könnte man eine ansonsten langweile Nacht etwas kurzweiliger gestalten.«

Matty stellte eine Schüssel mit Reis und gedünstetem Gemüse, das in einer Soja- und Chilisauce schwamm, vor ihn hin, und während er genüsslich den ersten Mundvoll nahm, überdachte Lou das vor ihm liegende Karma.

Das gesamte Unternehmen von Sonnenschein Sue stand auf dem Spiel, wenn er Recht sprach, und nach allem, was er wusste, waren es die Adler und nicht der Sonnenschein-Stamm gewesen, die ihn als Rechtspender vorgeschlagen hatten. Und nun war er hier, eingeflogen auf einem Adlerprodukt. Insofern könnte ein Sophist argumentieren, dass er dem Sonnenschein-Stamm einen Ausgleich schuldete, der durch eine Liebesnacht mit diesem zugleich willigen und verlockenden Stammesmitglied auf höchst angenehme Weise erbracht werden könnte.

Andererseits pflegte Lou nicht der ehrwürdigen Maxime zu huldigen, wonach ein erregtes Glied keine moralischen Bedenken kennt.

»Verstößt es gegen deine Regeln, über die gegen uns erhobene Anklage zu reden?«, fragte das Mädchen.

»Wie heißt du?«

»Mary Sonnenschein.«

»Nein«, sagte Lou, »das hängst davon ab, ob ich zu Mary oder zu Sonnenschein Sues Botin spreche.«

»Es bleibt alles unter uns. Ehrenwort.«

Lou sah sie scharf an. Sonnenschein Sues ›Wortketten‹-Nachrichtensystem übermittelte private Botschaften, aber es verbreitete auch öffentliche Nachrichten in ganz Aquaria, ganz egal, wie es an sie herankam. Er wäre nicht Clear Blue Lou, würde er nicht den Wunsch verspüren, Mary zu vertrauen, aber er wäre ebenfalls nicht Clear Blue Lou, wenn er nicht zugleich seine Zweifel hegte.

»Ohne Tricks?«

Mary lachte. »Nein wirklich, ich will dir nur klarmachen, dass der Sonnenschein-Stamm nichts mit Schwarzer Wissenschaft zu tun hat; wir sind nicht mehr und nicht weniger grau als alle, die in La Mirage ihre Geschäfte machen.«

»Das ist nicht gerade ein überzeugendes Argument für karmische Reinheit«, bemerkte Lou trocken.

»Aber es zielt auf dich, Lou. Ich gebe zu, dass manche von unseren elektronischen Bauteilen nicht gerade schneeweiß sind, aber unsere Radios sind genauso weiß wie eure Adler!«

»Ich wüsste nichts Schwärzeres als Atomwissenschaften; du vielleicht?«

»Aber das versuche ich dir ja gerade zu erklären!«, sagte sie aufgebracht. »Mit solchem Hexenzeug haben wir nichts zu schaffen! Wofür hältst du uns denn, für Ungeheuer?«

»Aber man hat in fünfundzwanzig von euch hergestellten Radios radioaktiv betriebene Batterien gefunden. Oder bestreitet ihr diese Angaben der Adler?«

»Der Adler? Wie kommen die dazu, sich als Hüter des Weißen aufzuspielen? Woher wussten sie überhaupt über die Batterien Bescheid? Wir wussten nichts davon!«

»Was soll das heißen?«

Mary berührte seine Hand und sah ihm in die Augen, dann sagte sie ruhig: »Wir wussten wirklich nichts davon. Wir haben sie immer auf dem Markt von der Blitz-Kommune gekauft und bislang noch nie Ärger damit gehabt; sie galten immer als einigermaßen weiß. Und jetzt will man uns auf einmal wegen Zauberei vor Gericht stellen …«

»Und wie konnten die Adler von den atomaren Batterien wissen, wenn nicht einmal ihr davon Kenntnis hattet?«

»Jetzt fängst du endlich an, zu begreifen.«

Tatsächlich?, dachte Lou. Aber was? Marys Geschichte ergab keinen Sinn. Er würde auf die Erklärungen des Adler-Stammes warten müssen, doch ein ungutes Gefühl sagte ihm, dass deren Geschichte auch nicht befriedigend sein würde. Er konnte nicht sehen, worauf dies alles hinauslief. Außerdem wurde ihm klar, dass er Mary gegenüber ein wenig zu offen gewesen war. Einige seiner Fragen konnten mit geringer Mühe in interessante Kettenwort-Nachrichten umgewandelt werden.

»Bleibt das auch wirklich unter uns, oder wirst du in ganz Aquaria verbreiten, dass ich auf der Anreise mit dir über den Streitfall gesprochen habe?«

»Wessen Karma würde das wohl versüßen?«, sagte Mary lächelnd. »Du gibst also zu, dass du heute Nacht gerne mit mir zusammen wärest?«

Oh, das wurde langsam aufreizend. Ihr geistiges Kräftemessen ließ eine aufregende Liebesnacht erwarten. Aber das würden den Schicksalsstrang, den er doch entwirren sollte, zu einem weiteren Gordischen Knoten schürzen, in dem ein intimeres Körperteil als nur sein Finger festgebunden wäre.

Dies war einer der Momente, wo er gern etwas weniger Klar und Blau gewesen wäre.

»Ja, ich gebe es zu.«

Nun berührte sie sanft seine beiden Hände. »Ich auch.«

Lous Fleisch gierte nach ihr, aber sein Verstand hielt ihn zurück. »Man bekommt nicht alles, was man sich wünscht«, sagte er trocken.

Sie seufzte und ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen. Leichthin sagte sie: »Kannst einem Mädchen keinen Vorwurf daraus machen, dass sie es versucht hat.«

»Hast du es denn wirklich versucht?«

»Was versucht?«, gab sie treuherzig zurück.

»Einen Spender der Gerechtigkeit mit deinen Reizen zu verführen«, antwortete Lou halb im Ernst.

»Könnte es wohl sein, dass der Spender der Gerechtigkeit die Situation zu seinem Vorteil ausnutzen wollte?«, parierte sie listig.

»Wer würde mir denn so etwas zutrauen?«

»Bist du ganz sicher, dass du diese Frage nicht in meinem Zimmer zu erörtern wünscht?«

»So gerne ich es täte, das Karma erlaubt es nicht«, sagte Lou voller Bedauern. »Wenn wir die Nacht zusammen verbrächten, wäre ich entweder zugunsten deines Stammes voreingenommen oder ich würde ihn, um diesen Eindruck zu vermeiden, besonders streng beurteilen. Beides ist ungerecht.«

Er lachte. »Außerdem wüsste dann keiner von uns mehr, wer wen ausnutzen will.«

»Es würde doch Spaß machen, das rauszufinden.«

»Bestimmt, aber morgen früh wäre ich wütend auf mich«, sagte Lou und erhob sich. Er küsste ihr die Hand. »Vielleicht wachen wir eines Tages, wenn alles vorbei ist, gemeinsam in einem Bett auf und lachen über dieses Gespräch.«

»Ich hoffe wahrhaftig, dass wir dann noch lachen können«, sagte Mary zweifelnd. »Im Augenblick lächeln die Leute nicht mal mehr.«

»Darum hat man mich ja gerufen«, sagte Clear Blue Lou und verschaffte sich damit einen guten Abgang. Während er im Geiste alle möglichen erotischen Positionen durchspielte und seinen frustrierten Trieb zu zügeln suchte, ging er zu Bett. Er war bereits in den Strudel des Karma hineingezogen worden, und doch trennten ihn noch einige Flugstunden von La Mirage, wo die Winde etwas mehr vom Geruch des Ostens mit sich führten als gewöhnlich.

Am nächsten Morgen frühstückte Clear Blue Lou alleine – Müsli und heißen Apfelsaft – und flog dann los, durch den feuchten Nebel hindurch, der auf den Wiesen lag; wegen der entgangenen Freuden und wegen des Zauberei-Verdachts, der ihn zur Keuschheit verdammt hatte, war seine Stimmung gedrückt.

Aber bald befand er sich über dem Dunst; ein günstiger Wind trug ihn schnell nach Osten, und die Hochgebirgssonne wärmte und weckte seinen Körper und reinigte seine Seele.

Die Geschehnisse, über die er zu Gericht sitzen sollte, hatten bereits zwei unschuldige Menschen – der eine war er selbst! – vom Liebesspiel abgehalten. Für Lou bewies diese Tatsache zur Genüge, dass hier irgendeine Verletzung der Willensfreiheit vorliegen musste, ein gegen ihn persönlich und gegen den Großen Weg gerichteter Frevel. Die Suche nach Gerechtigkeit hatte bereits begonnen.

Denn das Richten war kein rein intellektueller Vorgang. Um das Karma zu klären, musste ein Vollkommener Meister sich erst einmal mit ihm einlassen, sonst würde er wohl Gesetze erlassen, also wie eine Regierung handeln, nicht aber das vorherbestimmte Schicksal erfüllen. Doch das, was von der Welt übriggeblieben war, kam gut ohne Leute aus, die sich für ›unbewegte Beweger‹ hielten.

Der leichte Rückenwind trug ihn schnell auf die Hauptkette der Sierras zu. Unter ihm lag nun kein sanft geschwungenes Hügelland mehr, die Gipfel ragten bis zu ihm auf.

Hier endete die Welt. Oder zumindest die Welt der Rechtschaffenen Weißen. Kein Adler, der nur von Sonne, Wind und Muskeln angetrieben wurde, war imstande, das Hochgebirge zu überqueren. Hinter diesen gigantischen Felswänden lag die größte aller Einöden, von der die Bewohner Aquarias nur noch aus den alten Legenden wussten. Zahllose Metatonnen waren während des Atom-Knalls auf die östlichen Abhänge des Großen Trenngebirges gefallen und hatten der Erde eine radioaktive Wunde zugefügt, die noch heute tödlich war.

Aber die Welt endete nicht abrupt in einem schwarzen Abgrund oder vor einer Steilwand. Lous Adler flog nun über die zackigen Spitzen einer Gebirgskette und ließ sich dann von den aus den Canyons aufsteigenden Luftströmen noch höher hinauftragen, in die Regionen ehrfurchteinflößender Bergriesen.

Das Land unter ihm war gewiss niemals von der unreinen Hand eines Menschen berührt worden, seit Äonen, seit Anbeginn der Zeiten lag es in seiner undurchdringlichen Weite da. Der große Knall hatte ihm nichts anzuhaben vermocht, und selbst die entsetzliche Schwarze Wissenschaft der Amerikaner aus der Zeit vor dem Atomschlag hatte diese Urmütter aller Berge nicht ernstlich verletzen können. Von jenen Vorfahren zeugte nur noch ein dünnes Straßennetz; aus den Rissen in den asphaltierten Fahrbahnen wuchsen große Bäume. Lou sah dichte Fichtenwälder, über denen Falken und Adler kreisten und grüne Almen, auf denen Schafe und Rotwild weideten. Die Welt endete in einem Paradies der Wildnis, dessen jenseitige Grenze die Menschen nicht zu überschreiten vermochten. Welche Ironie, dass hinter den höchsten Gipfeln dieser jungfräulichen und majestätischen Landschaft eine radioaktive Hölle und die Behausungen von Zauberern lagen!

In dieser ganzen Bergwelt gab es nur eine bedeutende menschliche Ansiedlung, La Mirage. Sie war eine der größten Städte Aquarias, einen strapaziösen Tagesflug vom nächsten einigermaßen interessanten Ort entfernt, und bis Palm waren es sogar zwei mühselige Tagesreisen per Pferdewagen auf der Überlandstraße.

Man zog es vor, nicht darüber zu spekulieren, was in dieser geschäftigen Stadt getrieben wurde, die mitten in der Wildnis lag … mit nichts als der äußersten Grenze zwischen Aquaria und jenem verbotenen Land in ihrer Nähe.

Und nun hatten sich die Zauberer von jenseits der Berge bei ihrem unguten Tun ertappen lassen. Es stand mehr auf dem Spiel als nur der Stamm der Adler, die Blitz-Kommune und Sonnenschein Sues Wortketten-Netz: denn über La Mirage selbst hing nun der schwere Verdacht schwarzer Hexerei.

Aquaria aber brauchte La Mirage, weshalb man bislang vorgezogen hatte, bei den Dingen, die dort im Schatten der Sierras vor sich gingen, beide Augen zuzudrücken.

Denn in La Mirage blühte eine Geheimwissenschaft, von der ganz Aquaria abhing. Die Anhänger des Aquarius hatten eine Kultur errichtet, die auf dem Fundament der Weißen Wissenschaften ruhte, also auf dem Gesetz von Muskeln, Sonne, Wind und Wasser. Nun konnten sie wie Adler fliegen, Strom erzeugen und über den Solarfunk Botschaften senden. Die Weißen Wissenschaften machten von Jahr zu Jahr Fortschritte, und die Händler und die weisen Männer waren gleichermaßen auf die Warenbörse von La Mirage angewiesen. Neue Technologien entstanden meist in den Werkstätten und Handwerksbetrieben der Stadt und wurden von dort im ganzen Land verbreitet.

Man hatte sich bequemerweise angewöhnt zu behaupten, dass die verstreut lebenden Mountain Williams-Stämme gewisse handwerkliche Fertigkeiten aus den Tagen vor dem großen Knall bewahrt hätten; jedenfalls hüteten diese Hinterwälder eifersüchtig ihre sogenannten Geschäftsgeheimnisse.

Es stimmte aber auch, dass irgendwo hoch oben in den Bergen das Land der Mountain Williams endete und das Reich der Raumer begann. Es war schwer zu glauben, dass es überhaupt keine Kontakte geben sollte … und doch gaben sich die meisten Menschen große Mühe, ganz fest daran zu glauben.

Nicht zum ersten Mal waren Expeditionen, die man zu hoch in die Sierras geschickt hatte, nicht mehr zurückgekommen. Außerdem floss der Wohlstand des ganzen Landes aus La Mirage, und schließlich konnte niemand beweisen, dass das Gesetz von Muskeln, Sonne, Wind und Wasser durch Adler, durch Solarfunk, durch komplizierte Batterien oder durch Windgeneratoren verletzt worden war.

Dies war das subtile Gleichgewicht, auf dem die Existenz und das Gedeihen von La Mirage beruhten. Einige Vollkommene Meister hielten den ungeschriebenen Vertrag, den La Mirage mit dem Unaussprechlichen eingegangen war, für verwerflich, aber Clear Blue Lou fand, er sei gut fürs Geschäft. Kein Wunder, dass er der Lieblings-Meister von La Mirage war.

Ganz gewiss waren die Raumer die geheimen Drahtzieher bei dieser unangenehmen Affäre. Sonnenschein Sue war es zwar durchaus zuzutrauen, dass sie mit vollem Wissen atomgetriebene Batterien einkaufte – ihr Ruf war ziemlich grau –, doch der Adler-Stamm konnte keinerlei Interesse daran haben, sie bloßzustellen. Das verstieß nicht nur gegen die Spielregeln, es war auch gefährlich: man hatte ja vielleicht selber etwas zu verbergen.

Nach der nächsten Kehre weitete sich der Canyon, dem Lou folgte, zu einer grünen Wiese, die sich steil nach oben zog. Er pumpte noch mehr Helium in sein Gefährt und kletterte langsam höher, im Landeanflug auf La Mirage.

Auf dem Hochplateau über ihm lag eine Stadt, die ihn gebeten hatte, Recht zu sprechen, die ihm vertraute, und die er liebte. Das könnte vielleicht ein Fleck auf dem reinen Spiegel seines Bewusstseins werden. Gewiss hatte die verhinderte Liebesnacht dem Fall bereits einen persönlichen Charakter gegeben.

Während er durch die schönste Gegend, die er kannte, nach oben schwebte, schien ihn das paradiesische Land, das unter ihm zurückblieb, mit seiner Unschuld und Reinheit zu verhöhnen. Denn der Schatten Schwarzer Wissenschaft lag schwer auf diesen grünen Bergen, wo Zauberei das Leben und Schicksal der Bewohner Aquarias bedrohte.

Sonnenschein Sue

Wie immer hatte Sonnenschein Sue es eilig, und wie immer konnte es ihr nicht schnell genug gehen. Da keuchte doch so ein verdammter Frachtkarren vor ihr die Straße hoch, ausgerechnet jetzt, wo der Wind dieser komischen Konstruktion etwas Geschwindigkeit hätte verleihen können!

Ihr augenblickliches Gefährt war ein Segel-Rad. Sie war von Mendocino aus in drei Tagen per Boot die Küste runtergefahren, aber ab Barbo war der Weg nach La Mirage zu einem zeitlupenhaften Albtraum geworden. Endlose Stunden auf einer übelriechenden Schindmähre bis Javelina, dann geschlagene zwei Tage in der Kutsche bis Palm, wo sie wegen einer gebrochenen Wagenachse den Anschluss nach La Mirage verpasste und 18 Stunden auf die nächste Fahrtgelegenheit hätte warten müssen.

Glücklicherweise unterhielt der Sonnenschein-Stamm in Palm eine Botenstation mit eigenem Transportsystem … wenn man das so nennen konnte.

Nun hing ihr hübscher Hintern einige Zoll über einem staubigen, holprigen Weg im Sattel eines Renn-Seglers. Mit günstigem Wind war das Ding nicht übel – jetzt machte sie etwa 30 Meilen pro Stunde. Das Dumme war nur, dass man bei jeder zweiten Kurve den Rückenwind verlor, und meist musste man sich mit Gewalt gegen den Druck des gewinkelten Segels stemmen, um nicht vom Boden abzuheben. Und wenn der Wind abflaute, na, dann hieß es: In die Pedale steigen.

Der Segler wurde mit Hilfe der beiden kleinen Vorderräder gelenkt; das große Hinterrad, unter Segel im Freilauf, musste bei Windstille durch die Pedale angetrieben werden. Sue duckte sich tief hinter den Windschutz aus Hirschleder, um den Luftwiderstand zu vermindern. Das Dreieckssegel war an einem Mast hinter dem Antriebsrad aufgezogen und ließ sich mit einem Querbaum und Seilzügen bedienen.

Die Rekordzeit nach La Mirage auf einem von diesen Dingern lag angeblich bei 13 Stunden, während die Kutsche fast zwei Tage brauchte.

Man hatte ihr auch gesagt, dass sie verrückt sei, dass man ein Segel-Rad nicht ohne vorheriges Training meistern könne. Aber Sue fieberte so sehr vor Ungeduld, dass sie selbst einen vorbeikommenden Berglöwen angehalten hätte und auf ihm geritten wäre, nur um ein paar Stunden früher in La Mirage zu sein.

Den Wortketten-Boten, die sie anlernte, pflegte sie zu erklären, die schnellste Verbindung zwischen zwei Orten sei diejenige, die man selber nähme. Aber auch die war immer noch nicht schnell genug.

Sie hatte sich in Mendocino aufgehalten, um dort eine Zentrale für die neuen 50-Meilen-Sendegeräte zu errichten. Doch statt des Geräts hatten sie Gerüchte erreicht, wonach die gesamte Fracht von Levan dem Weisen beschlagnahmt worden sei. Wegen Verdachts auf Zauberei.

Eine Sperre wegen Schwarzer Wissenschaft in La Mirage? Durch Levan? Atombatterien in den Sendern? Was zum Teufel war dort los?

Sue jagte eine ganze Breitseite von Fragen in das Wortketten-Netz, wartete aber nicht, bis die Antworten eintrafen. Sie wusste, dass ihre Anwesenheit dringend nötig war – schon vorgestern.

Darum schnappte sie sich das erste Schiff, das nach Süden ging und konnte erst wieder in Barbo Funkkontakt aufnehmen. Dort erfuhr sie, dass der Adler-Stamm angeblich atomgetriebene Batterien in den neuen Empfängern entdeckt hatte, die die Blitz-Kommune ihnen hatte verkaufen wollen. Nachdem die Adler Alarm gegeben hatten, wie es den Rechtschaffenen ansteht, war auch dem nüchternen alten Levan nichts anderes übriggeblieben, als die 25 Exemplare Schwarzer Wissenschaft zu konfiszieren, die der Sonnenschein-Stamm in La Mirage abgenommen hatte.

Das gab immer noch keinen Sinn, aber es verbreitete den schwefligen Geruch der Raumer. Die Blitze mochten alle zusammengenommen gerade eben genug Verstand haben, um die Teile zu montieren, aber keiner, der sie kannte, würde sie im Ernste für fähig halten, Entwürfe aus den Zeiten vor der Atomkatastrophe nachzubauen. Und wer glaubte, dass die noch dümmeren Williams, die in den abgelegensten Wäldern hausten, ihre Bauteile aus geheimen Lagern, die den großen Knall überdauert hatten, bezogen, der konnte genauso gut annehmen, dass Solarzellen und Mikroprozessoren auf Bäumen wuchsen. Irgendjemand, von dem man nichts wusste, produzierte das ganze Zeug und benutzte die Williams als Tarnung – eine Tarnung, die so durchsichtig war, dass jedermann sie hätte durchschauen können, wenn er nur gewollt hätte, doch das lag nicht in der Absicht vernünftiger Menschen.

Die Adler mochten Solarzellen und Elektromotoren von der Blitz-Kommune kaufen, aber bestimmt keine Funkradios. Sie hatten keine Ahnung von Radios. Wie also konnten sie im Schaltkreis verborgene Atombatterien entdecken, die nicht mal unsere eigenen Spezialisten gefunden haben? Und welches Interesse konnten sie daran haben, ihre Lieferanten von Solarzellen und Motoren anzuschwärzen?

Während des endlosen Ritts nach Javelina hatte Sue über diesem Problem gebrütet, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu kommen. Und das angerichtete Unheil war zu groß, als dass es das Ergebnis von Zufällen hätte sein können; ein solcher Wirrwarr geschah einfach nicht in La Mirage. Es musste also einen Drahtzieher geben, der in seinem bislang noch verborgenen Eigeninteresse handelte, und das konnten nur diese verfluchten Raumer sein.

Wer sonst wäre dazu imstande, atomgetriebene Bauteile so geschickt in den Schaltungen zu verbergen, dass sie den Mechanikern des Sonnenschein-Stammes nicht auffielen? Und die Adler hätten die Batterien niemals gefunden, wenn sie nicht jemand darauf aufmerksam gemacht hätte.

Aber warum? Warum sollten die Raumer Aquaria erst mit atomaren Antriebsaggregaten verseuchen, um dann ihre eigenen Produkte auffliegen zu lassen?

Bevor sie Javelina verließ, kam die Nachricht, dass Levan beschlossen hatte, ein Vollkommener Meister müsse Recht sprechen und die Situation klären. Die Adler hatten Clear Blue Lou vorgeschlagen, und die Blitze waren einverstanden. Und sie selbst? Sie musste sich auf der Stelle entscheiden, sonst hätten die anderen mit der Bestimmung eines neuen Meisters bis zu ihrer Ankunft warten müssen, und der war dann vielleicht eine ganze Woche lang unterwegs, während Lou nur zwei Tagesreisen von La Mirage entfernt lebte, und unterdessen wurde der Sonnenschein-Stamm unter Boykott gestellt, also …

Ein typischer Fall von ›freier und unabhängiger‹ Willensentscheidung! Aber wenn sie nicht mit Clear Blue Lou einverstanden wäre, würde diese Bescherung wochenlang weiterschwelen, und außerdem wusste jedermann, dass Lou richtiggehend vernarrt war in seinen Sonnenadler; bestimmt dachten die Adler mit ihren Spatzenhirnen, das könnte sie vor möglichen unangenehmen Folgen schützen.

Die Wahrheit war aber, dass Lou tatsächlich als Klar und Blau galt; nur wenige verloren, wenn er Recht sprach. Und er war so eine Art Schutzheiliger von La Mirage. Levan und er wachten darüber, dass alles glatt lief. Hinzu kam, dass die Solarzellen in Lous Adler aus derselben Quelle wie die Sonnenschein-Radios stammten. Ein Vollkommener Meister wie Clear Blue Lou würde die größeren Zusammenhänge des Falls nicht außer acht lassen, zumal er ja durch seinen Adler selber darin verwickelt war.

Schließlich war Lou ein recht sinnenfroher Meister; besser er als ein strenggläubiger Meister mit Keuschheitsgelübde oder gar als eine Dame!

Sie sandte also ihre Zustimmung über das Nachrichten-Netz und machte sich dann Hals über Kopf nach La Mirage auf in der Hoffnung, dort anzukommen, bevor irgendjemand sonst eine Chance hatte, Lou zu beeinflussen.

Aber sie kam ja nicht von der Stelle! Sie hupte wütend, und der Pferdewagen vor ihr kroch langsam näher an den rechten Straßenrand. Zu langsam. Wenn sie nicht auf das verdammte Vehikel auffahren wollte, musste sie bremsen, wodurch sie ihren Schwung verlor.

Sie verringerte ihre Geschwindigkeit auf 20 Meilen, brachte das Segel in die richtige Stellung und überholte. Die Straße stieg plötzlich in einer Kehre an, so dass sie den Wind verlor und keuchend und fluchend in die Pedale treten musste, um die Steigung zu bewältigen.

Und so war bisher die ganze verdammte Fahrt gewesen! Erst nach mehreren Tagen zu erfahren, was geschehen war, und dann nochmals einige Tage warten zu müssen, bevor man darauf reagieren konnte, war aber auch zu arg. Sonnenschein Sue war es unbegreiflich, dass bei diesem Tempo der Nachrichtenübermittlung überhaupt etwas in Aquaria funktionieren konnte.

Sie erinnerte sich dunkel daran, um wie viel schlimmer die Zustände gewesen waren, bevor sie die Chefin des Sonnenschein-Stamms wurde und das Wortketten-Netz aufbaute. In jenen Tagen dauerte es eine Woche, bis eine handschriftliche Privatbotschaft von Mendocino nach La Mirage gelangt war, und öffentliche Nachrichten gab es überhaupt nicht. Jetzt verfügte der Sonnenschein-Stamm wenigstens über genügend Solarradios, um in ganz Aquaria Botschaften weiterzuleiten, solange die Sonne schien. Oder sagen wir, annähernd genug. Die blöden Dinger hatten nur eine Reichweite von 5 Meilen – in hügeligem Gelände war es noch weniger –, und man musste sie hin- und herschieben, wenn man eine Übertragungskette aufbauen wollte. Und wenn zu viele Geräte an den falschen Orten postiert waren, konnte es Tage dauern, bis die gewünschte Kette funktionierte.

Im letzten Jahr hatte sie einen Computer gekauft, der wie durch ein Wunder an der Handelsbörse von La Mirage aufgetaucht war und der durch Sonnenlicht sowie durch Batterien betrieben wurde; dieser Neuerwerb ermöglichte einen wirksameren Einsatz der vorhandenen Radios. Aber verglichen mit den alten Sendenetzen war das immer noch ärmlich.

Sue erreichte die Kammlinie in dem Moment, in dem ihr der Atem zu versagen drohte. Die Straße führte in mehreren Kurven die andere Seite des Abhangs hinunter, dann verlief sie ein langes Stück kerzengerade in einem ausgetrockneten Flussbett, bis sie in den berüchtigten Serpentinenweg mündete, der in zahllosen Kehren mühsam nach La Mirage anstieg.

Mit den neuen Radios hatte sie den Grundstein zu einem richtigen Sonnenschein-Sendenetz legen wollen. Dank ihrer 50-Meilen-Reichweite hätte sie ganz Aquaria mit einem lückenlosen Netz von Sendestationen überziehen können. Es wäre möglich, Stimmen statt Botschaften aus zweiter Hand zu übermitteln. Und die Blitz-Kommune hatte ihr für nächstes Jahr eine Menge billiger Solarempfänger versprochen. Da bis dann bereits ein im ganzen Lande sendender Sonnenschein-Rundfunk in Betrieb sein würde, könnte sie die Empfänger an jede Stadt, jede Gemeinde und jedes Einzelgehöft verkaufen. Es wäre der Beginn eines neuen elektronischen Dorfes.

Sie musste bremsen, weil das Segel-Rad sich zu überschlagen drohte, und dann raste sie zum Flussbett hinunter. Nun waren alle ihre schönen Pläne geplatzt, weil im wichtigsten Geräteteil Atombatterien gefunden worden waren. Und wenn diese Affäre ein schlimmes Ende nahm, dann mochten wer weiß wie viele andere Sonnenschein-Produkte ebenfalls verboten werden!

Sonnenschein Sue hatte noch nie einen Raumer getroffen – zumindest keinen, der sich dazu bekannte, einer zu sein – und auch niemanden, der zugab, Handel mit ihnen zu treiben. Wer würde schließlich eine Beziehung zur Schwarzen Wissenschaft offen eingestehen, selbst in La Mirage? Aber sie hatte immer so ein Gefühl gehabt, als ob die im Verborgenen agierenden Zauberer ihrem Unternehmen wohlgesonnen wären.

Wenn sie eine große Lieferung alter Funkgeräte benötigte, brachten die Blitze es wunderbarerweise fertig, ihre Produktion zu verdreifachen. Wenn sie dringend einen Computer brauchte, tauchte dieser legendäre Gegenstand der Geheimwissenschaften aus dem Nirgendwo auf, weiß wie frisch gefallener Schnee. Und die Radioempfänger mit einer Reichweite von 50 Meilen waren ihr wie das letzte Geschenk der Trolle, ihrer stillen Mitarbeiter, vorgekommen.

Teufel noch mal, bis jetzt war doch alles so gut gelaufen! Wenn ihr all diese blütenweißen Geräte buchstäblich in den Schoß fielen, warum sollte sie sich dann über Gebühr bemühen, etwas über ihre Herkunft herauszubekommen?

Sue glaubte fest daran, dass das Gesetz von Muskeln, Sonne, Wind und Wasser die Quintessenz menschlicher Weisheit bildete. Die Schwarze Wissenschaft von den Atomen hatte den Kontinent jenseits der Sierras verseucht und, wer weiß, vielleicht auch den Rest der Erde. In der Luft befanden sich krebserregende Stoffe. Der Natur feindliche Chemikalien hatten die Fische im Meer getötet. Und das Verfeuern von schwarzer Kohle und schwarzem Erdöl hatten die Lungen zersetzt und die Luft vergiftet. Noch heute zahlte jedes Lebewesen auf der Erde mit einer verkürzten Lebenserwartung für die Sünden der Schwarzen Wissenschaft, und es war durchaus möglich, dass die menschliche Rasse ganz aussterben würde. Die Schwarze Wissenschaft war böse, und die Raumer waren Zauberer.

Oder doch nicht? Schließlich war die Technologie, die über die Sierras nach Aquaria einsickerte, scheinbar immer weiß gewesen. Und alle Ausrüstung, die sie bisher gekauft hatte, hatte dazu beigetragen, das Los Aquarias zu verbessern.

Bis jetzt.

War das, was nun geschehen war, die Strafe für ihren Flirt mit der Schwarzen Wissenschaft, die nun bedrohte, was sie vorher aufzubauen geholfen hatte? War denn dieses schlechte Karma gerecht?

Das Segel-Rad umrundete die letzte Kehre und flog dann über die gerade Straße im Flussbett. Sie stellte das Segel so, dass es den Rückenwind einfing, der aus dem Norden auf La Mirage zu wehte, und das Rad beschleunigte sein Tempo noch mehr. Mit einer Geschwindigkeit von 20, 25, 30, und zuletzt fast 40 Meilen pro Stunde raste sie über diesen gut instand gehaltenen Streckenabschnitt. Schneller als ein Pferd, schneller als ein Adler, schneller als jedes Schiff, schneller als alles auf der Welt mit Ausnahme des Wortketten-Systems. Beinahe schnell genug.

Ich habe mir dieses schlechte Karma auf ehrliche Weise verdient, dachte Sue. Das Karma, das mich bis hierher gebracht hat, war süß für mich, für meinen Stamm und für Aquaria. Ich habe meiner Bestimmung gehorcht, ich bin meinen eigenen Weg gegangen.

Zugegeben, dieser Weg war seit Jahrhunderten von keines Menschen Fuß mehr betreten worden, und engstirnige Leute mochten der Ansicht sein, er sei schwarz gefärbt. Die meisten ›Bewohner des Alten‹, die in Horden zusammenlebten, waren wegen Hexerei verbrannt worden, und die düsteren Nachfahren dieses geheimnisumwitterten alten Stamms wurden von den Rechtschaffenen Weißen gemieden.

Sogar sie hatte sich im ersten Moment gefürchtet, als sie eines längst vergangenen Nachmittags in den Rotholzwäldern nördlich von Mendocino aus Zufall auf eine verlasse Hütte der Bewahrer des Alten stieß. Damals war sie nichts weiter gewesen als ein junges Botenmädchen, das ein Paket durch die Wälder von Mendocino nach Shasta beförderte. Sie hatte, einem dringenden Bedürfnis gehorchend, angehalten und ihr Pferd so schlecht angepflockt, dass es die Gelegenheit ausgenutzt hatte und davongetrabt war.

Die untergehende Sonne warf ein rubinrotes Licht zwischen die düsteren Schatten der Mammutbäume. Vogelgezwitscher drang gedämpft an ihr Ohr, und in der stillen, nach Harz duftenden Waldluft hing die Kühle der anbrechenden Nacht. Die Atmosphäre schien etwas Geheimnisvolles zu verheißen …

Und dann hatte sie ihr Pferd wieder eingefangen, das friedlich an einem Bach trank. Am Ufer des Gewässers, von Buschwerk und jungen Trieben halb verborgen, lag eine morsche Holzhütte.

Sie band ihr Pferd an einem Baum fest – sehr sorgfältig dieses Mal – und betrat dann vorsichtig die Hütte durch den Eingang, aus dem die verrottete Tür herausgefallen war. In dem düsteren Innenraum standen grob zugehauene Möbel; es roch modrig nach den fahlen Schimmelpilzen, die aus dem Boden wucherten. Überall lagen Blätter und Papierfetzen herum. Sie hob ein Blatt auf, das sich schlüpfrig wie Glas anfühlte, und hielt es in den dünnen Lichtstrahl, der durch einen Spalt in der Holzwand einsickerte. Ihr Herz setzte aus: sie hielt das obere Viertel eines Gesichts in der Hand, das auf ein Stück Pergament aufgedruckt war.

Eine ›Photographie‹! Die perfekte Wiedergabe eines menschlichen Gesichts auf wundervoll glattem Papier – das war das Teufelswerk der untergegangenen Schwarzen Wissenschaft. Sie wusste nun, wo sie war und warum diese Hütte so tief in den Wäldern versteckt war. Dies war ein offensichtlich seit vielen Jahren verlassener Unterschlupf der Bewahrer des Alten. Sie empfand eine Mischung aus Furcht und Neugier, während sie den Raum etwas näher inspizierte. Die Bewahrer des Alten starben allmählich aus, und sie galten als tiefschwarz. Noch vor hundert Jahren hatte es Tausende von ihnen gegeben, die in kleinen Gruppen über das Land verstreut lebten und eifersüchtig ihre Schätze an Büchern, Photographien und Veröffentlichungen aus den Zeiten vor der großen Katastrophe hüteten. Aquaria hatte sich niemals eine einheitliche Meinung über diese Leute zu bilden vermocht. Es war zwar offensichtlich, dass sie diese pathetischen Überreste aus den bösen alten Zeiten verehrten, aber es war auch klar, dass ihre dumpfen Hirne nichts mehr davon begriffen. Perioden unwillig gewährter Toleranz wechselten mit Perioden offener Verfolgung ab. Die Horden, die sich öffentlich zu der Schwarzen Wissenschaft bekannten, wurden rechtmäßig verbrannt, doch andere, die sich einem nicht ganz so schwarzen Kult geweiht hatten, stellte man unter Schutzaufsicht oder fing sie zu Studienzwecken ein. Die Bewahrer des Alten selbst wurden meist erschlagen und man verabscheute sie allgemein.

Jetzt gab es kaum noch welche, und wenn man doch noch einmal eine Horde von ihnen aufspürte, so war das ein großes Ereignis. Die Hütte hier sah so aus, als ob sie nur noch unbrauchbaren Trödel enthielte. Trotzdem suchte Sue weiter, trat Pilze los, durchstöberte Stapel verfaulter Holzscheite und kramte in morschen Kisten.

Es war schon fast dunkel, als die unter einem Haufen undefinierbaren Krimskrams eine Metallkiste fand. Sie war etwa so groß wie eine Satteltasche und glänzte silbrig, war aber zu leicht, um aus Silber zu sein. Als sie begriff, was sie da in Händen hielt, hätte sie das verwunschene Ding beinahe fallenlassen. Das sonderbar leichte Metall musste Aluminium sein, ein Produkt aus den Zeiten vor dem großen Knall, dessen Herstellung ungeheuerliche Mengen von elektrischer Energie verschlungen hatte. Wie viele krebserregende Stoffe waren wohl in die Luft geblasen worden, um diesen Gegenstand zu fabrizieren, wie viele Menschenleben hatte er indirekt gekostet?

Das konnte sie natürlich nicht davon abhalten, mal reinzuschauen. Der Deckel ging leicht auf und gab den Blick auf ein paar alte Zeitschriften im Zerfallstadium, ein Dutzend Photographien und ein ramponiertes Buch frei.

Sie konnte nun kaum noch die Hand vor den Augen sehen. Sie leerte die Kiste und stieß das verbotene Aluminiumding in eine Ecke. Der Wald bildete draußen eine Höhle aus schwarzen Formen und Schatten, und das Nachtgetier hatte mit seiner unheimlichen Symphonie begonnen. Sue war gezwungen, hier zu kampieren; sie machte ein Lagerfeuer, schlang etwas Brot und Trockenobst hinunter und untersuchte dann im flackernden Schein der Flammen ihren aus der Hütte geborgenen Schatz.

Die Photos schienen ohne Zusammenhang – Gesichter längst Verstorbener, ein silbriger Vogel, der durch die Wolken flog, eine sonderbare Vorrichtung wie ein gläsernes Aquarium mit vielen kleinen Menschen, die auf einem Rasen ein ihr unbekanntes Spiel spielten. Die Zeitschriften hießen ›Time‹ und ›Radio Digest‹ und ›Fernseh-Vorschau‹. Das zerfledderte und halbzerfallene Buch trüg den Titel ›Understanding Media‹ und war von Marshall Mc Luhan.

Sie studierte ihren Fund, bis tief in die Nacht hinein und versuchte, einen Sinn in dieser geheimnisvollen Schrift zu finden, versuchte zu entscheiden, ob diese sogenannten Medienwissenschaft als schwarz, weiß oder grau zu gelten hatte.

Am nächsten Morgen nahm sie ihre Beute mit sich, und in den folgenden Jahren holte sie sie wieder und wieder hervor, um ein tieferes Verständnis zu gewinnen. Vieles blieb jenseits ihres Begriffsvermögens. ›Fernsehen‹ etwa, offensichtlich eine Art Radio, das bewegliche Bilder übertrug. Die ›Einschaltquoten‹ schienen eine in den alten Zeiten übliche Rechenart zu sein, während sie sich nicht sicher war, ob es sich bei den ›Spitzenreitern‹ um ein Zeitmaß handelte.

Doch trotz des Wusts solcher für sie sinnlosen Begriffe und des kaum verständlichen alten Dialekts gelang es ihr allmählich, eine Entdeckung zu machen, die schicksalhaft für ihr weiteres Leben werden sollte.

In der Welt vor dem großen Atomknall hatte es offensichtlich ›Netze‹ gegeben, ein unsichtbares elektronisches Gewebe, mit dem man Radio- und Fernsehbotschaften übermitteln konnte. Wenn sie dem Geschreibsel Glauben schenken durfte, so hatte es damals Millionen von Radioempfängern und Fernsehgeräten gegeben, die praktisch jedermann zugänglich waren. Gewaltige Übertragungsstationen, die von Schwarzer Wissenschaft gespeist wurden, sendeten sogenannte ›Programme‹, d.h. Botschaften, die in die Form eines Spiels oder einer Geschichte gebracht worden waren. Diese Situationen waren in ein weites Netz eingebunden, so dass man auf der ganzen Welt zur gleichen Zeit die gleiche Botschaft empfangen konnte.

Die Netze sendeten auch etwas, das man ›Nachrichten‹ nannte: das waren Botschaften über Dinge, die sich gerade ereignet hatten und für sämtliche ›Zuhörer‹ oder ›Zuschauer‹ von Interesse waren.

Dadurch hatten die Menschen vor der Katastrophe eine große Gemeinschaft gebildet, deren Mitglieder alle gleichzeitig von allem erfuhren, was gerade geschah. Mc Luhan war der Ansicht gewesen, dass diese Nachrichten-Netze das Bewusstsein der Menschen veränderten und sie zu etwas zusammenschmolzen, was er das ›globale elektronische Dorf‹ nannte. Diese ›künstlichen Sinnesorgane‹ veränderten die Struktur des Denkens und vermehrten die menschliche Intelligenz in demselben Maße, wie es viele Jahrhunderte zuvor durch die Erfindung des Buchdrucks geschehen war.

Folglich hatten die Bewohner des globalen elektronischen Dorfs nicht nur über Schwarze Wissenshaften verfügt, die nun verloren waren – auch ihr Denken war höher entwickelt gewesen!

Es stimmte zwar, dass dieselben Menschen ihre eigene Welt zerstört und sogar noch Sues Lebensraum vergiftet hatten. Doch nur die schwarze ›hardware‹, die Geräte und Apparaturen waren verderblich gewesen, nicht die ›Software‹, die Ideen und Programme, die nichts als reiner Geist waren, einer der möglichen Wege, ganz unabhängig von Schwarz oder Weiß.

Nun lag die Welt unter einem Gifthauch, der sie vielleicht endgültig vernichten würde. Der einem Menschen erfahrbare Lebensraum bestand aus der Gegend, in der er lebte und aus den spärlichen Nachrichten, die über das unzulängliche Wortketten-Netz kamen, und auch das erst, seitdem Sue mit ihrem geheimen software-Wissen dieses Netz aufgebaut hatte.

Wir wissen ja gar nicht, wie beschränkt unsere Lebensumstände sind, dachte Sue, während sie mit Unterstützung des Winds das flache Flussbett entlangsauste. Wie schnell scheine ich voranzukommen, und wie langsam kriechen doch in Wahrheit unsere Gedanken von Stadt zu Stadt, von Hirn zu Hirn! Wie so oft seit jenem Tag in der Hütte der Bewahrer des Alten fühlte sie sich als ein Außenseiter, eine Zu Spät Geborene. Sie stand Qualen der Ungeduld aus, da sie alleine das Geheimnis kannte, das eines fernen Tages das globale elektronische Dorf wiederherstellen und die verstreuten Überlebenden der menschlichen Rasse in einem weltweiten Bewusstseinsnetz, in einer geistigen Gemeinschaft vereinen konnte, die ihre Vorstellungen noch weit überträfe und die allein imstande wäre, die Wunden der tödlich verletzten Erde zu heilen.

Weit voraus erspähte sie mehrere Wagen, die mühsam die gewundene Bergstraße nach La Mirage hochkrochen, und hoch über ihnen ragten die Zacken der Sierras in den Himmel, die die Grenze der bekannten Welt bildeten. Hinter dem östlichen Horizont erstreckte sich die terra incognita der Schwarzen Wissenschaft – außer Sicht, aber nicht außerhalb des Bewusstseins.

Das Gesetz von Muskeln, Sonne, Wind und Wasser war ganz bestimmt der richtige Weg. Aber konnte man den gegenwärtigen isolierten Zustand der Welt gutheißen?

Das Schicksal hatte sie zu der Hütte der Bewahrer des Alten geführt, dasselbe Schicksal, das sie zu einem Mitglied des Sonnenschein-Stamms gemacht hatte, in dessen Rahmen sie ihr geheimes Wissen nutzbringend anwenden konnte. Und wenn das Schicksal von ihr verlangte, ihre Seele im Dienste ihres Lebenstraums grau zu färben, so war sie dazu bereit. Denn ihr Traum war gewiss von einem reineren Weiß als das sture Weiß dieser Rechtschaffenen Philister.

ENDE DER LESEPROBE