Little Heroes - Norman Spinrad - E-Book

Little Heroes E-Book

Norman Spinrad

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Beschreibung

Born to Rock!

Glorianna O’Toole kannte sie alle, die großen Rocklegenden der Sechziger, und stand mit ihnen auf der Bühne. Mit 63 hat sie allerdings ihre besten Zeiten schon hinter sich, und alles, was von ihrer Karriere geblieben ist, ist ein alter Rolls Royce. Denn inzwischen macht der Computer die Musik, mit mathematischer Exaktheit von jungen Genies programmiert. Diesem Sound fehlt das gewisse Etwas, das Herz, der Rock. Deswegen schickt Billy Bedlock, Chef einer großen Musikfirma, die „verrückte alte Lady des Rock’n’Roll“ noch einmal ins Rennen: Sie soll für die Elektro-Musiker einen Welthit produzieren …

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NORMAN SPINRAD

LITTLE HEROES

Roman

Das Buch

Glorianna O'Toole kannte sie alle, die großen Rocklegenden der Sechziger, und stand mit ihnen auf der Bühne. Mit 63 hat sie allerdings ihre besten Zeiten schon hinter sich, und alles, was von ihrer Karriere geblieben ist, ist ein alter Rolls Royce. Denn inzwischen macht der Computer die Musik, mit mathematischer Exaktheit von jungen Genies programmiert. Diesem Sound fehlt das gewisse Etwas, das Herz, der Rock. Deswegen schickt Billy Bedlock, Chef einer großen Musikfirma, die »verrückte alte Lady des Rock'n'Roll« noch einmal ins Rennen: Sie soll für die Elektro-Musiker einen Welthit produzieren …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

LITTLE HEROES

Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak

Überarbeitete Neuausgabe

© Copyright 1987 by Norman Spinrad

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Transzendentalismus ist ja ganz hübsch,

aber wie bringt man all das

zu dem in Beziehung,

Die verrückte alte Lady des Rock and Roll

Glorianna O'Toole hatte bessere und auch schlechtere Zeiten erlebt.

In den gelegentlichen Sternstunden ihrer Karriere hatte sie für Größen wie Pearl und Airplane und Springsteen das Vorprogramm bestritten und, war sogar mit zwei eigenen Solo-Alben herausgekommen, wenngleich keines es auch nur andeutungsweise bis in die Nähe einer Goldenen geschafft hatte.

An verschiedenen karmamäßigen Tiefpunkten hatte sie sich auf das Dealen mit LSD in Haight beschränken müssen, hatte einen zweijährigen Amphetamin-Trip durchlebt und war gezwungen gewesen, ihre Stimme für miese TV-Werbespots zu verleihen.

Zwischen den Höhen und Tiefen, also die meiste Zeit ihrer vierzig Jahre als Rock-and-Roll-Sängerin, hatte sie auf den Alben anderer Leute mehr Backgroundgesang gemacht, als sie sich erinnern konnte, hatte eine endlose Folge von Provinz-Tourneen durch das ganze Universum abgespult, und wenn sie auch lange gebraucht hatte, bis sie endlich aufhörte, auf eine Wende zum Besseren zu hoffen, wer könnte behaupten, dass es am Ende nicht doch ein einziger langer Supertrip gewesen war?

Bestimmt nicht die selbsternannte verrückte alte Lady des Rock and Roll, während sie in ihrem riesigen alten Rolls-Royce-Kabrio über den Freeway rollte.

Den Wagen hatte sie eher zufällig als Abfindung für die Schulden aus einem linken Kokaindeal von einem Rockstar bekommen, dessen Name besser nicht genannt wird und der, gelegentlich ihr Liebhaber und niemals wieder ihr Partner, den Wagen als Schrotthaufen übergeben hatte. Im Laufe der Jahre, bei der einen oder anderen Gelegenheit, hatte sie all ihren Charme eingesetzt, um ihn zu Vorzugspreisen restaurieren zu lassen. Ursprünglich war es noch nicht einmal ein Kabrio gewesen. Dieser Umbau wurde ihr als Riesengeburtstagsüberraschung von Sam Perry geschenkt, um ihr aus ihrer Midlife-Crisis herauszuhelfen. Den Austausch aller Metallverzierungen gegen solide Messingteile hatte sie in den Jahren nach und nach auf eigene Kosten vornehmen lassen. Die Ausbesserung der Lackierung musste sie in den vergangenen zehn Jahren Tausende gekostet haben, aber wer brachte es übers Herz, ein solches Kunstwerk mit einer profanen Lackschicht zu versehen?

An einem verrückten Nachmittag hatte sie in ihrem Baumhaus im Laurel Canyon ein Trio von New Yorker Graffitikünstlern zum ersten Mal mit Meskalin bekannt gemacht. Innerhalb von zwei Stunden hatten sie den Rolls mit ihren Spraydosen in ihr Pièce de résistance verwandelt, was so erstaunlich gar nicht war, da ein einziger von diesen Typen einen U-Bahnwagen innerhalb von dreißig Minuten total verschönern konnte.

Aber Gloriannas Rolls war sogar damals ein einmaliges Kunstwerk gewesen, ein angemessenes Memorial jener längst vergessenen Kunst, denn dort, im Schatten des Eukalyptus und bei einem an einem klaren meskalin-blauen Tag ungehinderten Blick über Los Angeles bis hin zum Pazifik, waren diese drei Flüchtlinge aus Manhattan dazu animiert worden, etwas zu schaffen, das man durchaus als das einzige Exemplar einer Graffiti-Pastorale der Welt ansehen könnte, eine phantasmagorisch stilisierte, arabeske Darstellung von Bergen und Meer und Sonnenuntergang, von der funkelnden Stadtlandschaft der Nacht und der Nachtmetropole der Stars, alles in strahlenden Blau- und Waldgrüntönen und Neonwirbeln gehalten und natürlich mit dem Hollywood-Zeichen, das in psychedelischem Goldglanz auf den beiden Vordertüren prangte.

Hingegen war die Stereoanlage eine weitaus aktuellere Manifestation ihres derzeitigen ektoplasmischen Lebensunterhalts. Sie hatte sie sich von Tod Benjamin geholt, als er noch Präsident von MUZIK, Inc. war, und zwar als Gegenleistung für dringend benötigte Substanzen für die Aktivierung widerspenstiger, besonders sensibler Begabung.

Glorianna hatte ihre Skrupel, wenn es darum ging, wirklich mit Dope zu dealen. Die lange Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die mit dem Dealen einhergehende Paranoia für die Psyche geradezu tödlich war, und das moralische Empfinden machte ihr bewusst, dass ein Mitmischen in der geradezu obszönen Profitmacherei, die während der letzten fünfundzwanzig Jahre im Gange war, karmamäßiges Gift für die Seele bedeutete. Aber wenn sie den Bedürftigen helfen konnte, ohne gleichzeitig zum Heer der Profitgierigen zu gehören, nun, dann war das eben ihre gute Tat des Tages und durchaus ein Geschenk aus dem A&R-Etat der Factory wert.

Glorianna war ein ganz heißes Luder gewesen, als sie Sechsundsechzig in Haight auftauchte, eine sexgeladene Rock-and-Roll-Queen in ihrer langen Jugend, eine ganz wilde heiße Mutter in der Blüte ihrer Reife. Nun, da ihre Stimme sich längst in Ehren zur Ruhe gesetzt hatte und graue Haare und Falten ihre äußere Erscheinung bestimmten, fristete die verrückte alte Lady des Rock and Roll ihr Dasein mit ihrer Chuzpe und ihren Connections.

Und mehr als vierzig Jahre im Rock and Roll hatten ihre widerstrebende Pensionierung als Sängerin mit einer hinreichenden Menge von beidem abgesichert. Obgleich zu dem karmamäßigen Vertrag zu gehören schien, dass keinem von ihnen ihr Interesse für mehr als ein oder höchstens zwei Jahre gegolten hatte, so konnte eine heiße Mutter von einer früheren Leadsängerin, die aus dem Effeff wusste, wie man die Post abgehen lässt, bis hinein in ihr viertes Jahrzehnt ihre Auswahl an Liebhabern halten, und während keiner von ihnen als ihr einziger und ewiger bei ihr geblieben war, galten die meisten von ihnen als Freunde.

Und da sie viele von ihnen durch das Musikbusiness kennengelernt hatte und da sie längst in die Jahre ihrer Reife gekommen waren, war es unvermeidlich, dass eine ansehnliche Schar von ihnen Positionen innehatte, von wo aus sie ihr bei ihren Überlebensbemühungen behilflich sein konnten.

Wenn also Gloriannas goldene Jahre nicht unbedingt finanziell abgesichert waren, so bekam sie doch immer noch genug zusammen, um sie recht flott hinter sich zu bringen. Die Hypothek auf ihrem Haus war längst abbezahlt, und der Rolls gehörte ihr sowieso. Sie sorgte dafür, dass sie mehr Einladungen zum Abendessen hatte, als sie jemals annehmen konnte, und sie hatte in zwanzig Jahren kein einziges Mal dafür bezahlen müssen, sich vollaufen zu lassen. Außerdem hatte sie ständig Zugang zu jedem Club und Konzert im Universum, und so brauchte sie Bargeld lediglich für Benzin, Kleidung, Kleinkram und metabolische Zustandsverbesserer.

Als sie sich neuen Stoff besorgen musste, hatte sie sich dazu herabgelassen, sich mit Billy Beldock in der MUZIK Factory zu treffen. Obgleich sie alles verabscheute, was Muzik, Inc. dem Rock and Roll angetan hatte, konnte noch nicht einmal die verrückte alte Lady des Rock and Roll es sich leisten, das Angebot für ein geschäftliches Gespräch vom jüngsten Präsidenten eines Konzerns auszuschlagen, der mittlerweile das gesamte Musikgeschäft total beherrschte.

Glorianna nahm die Wilshire-Abfahrt von der 405 und ließ sich auf dem Wilshire mit dem Verkehr nach Osten treiben, vorbei an den üblichen glotzenden Augenpaaren bis zwei Blocks hinter den Westwood Boulevard zur Muzik Factory.

Der Konzern residierte in einem zwanzig Stockwerke hohen Turm aus Spiegelglas in der Farbe der Brillengläser eines Motorradcops. Regenbogenfarbene Glassäulen ragten an den vier Ecken auf und bildeten ein nachgemachtes Zierpagodendach über dem obersten Stockwerk, welches das Logo der Factory trug – ›MUZIK‹ in Goldbuchstaben, die wie Noten in einem Notenliniensystem aussahen. Des Nachts ließen sie Laserstrahlen durch die ganze Anordnung kreisen, so dass der Anblick Glorianna an eine uralte Mafia-Musikbox in irgendeiner verkommenen Bar im Valley erinnerte.

Ein durchaus zutreffendes Firmenimage für MUZIK, Inc., fand Glorianna.

Denn während niemand MUZIK, Inc. vorwerfen konnte, von irgendwelchen Mobstern aus Sizilien oder von Yaks aus Yokohama kontrolliert zu werden, konnten die Yaks und die Mafia sicherlich noch einiges über die große Geldmache der Factory lernen.

MUZIK, Inc. presste in eigenen Werken fünfundvierzig Prozent der in den Vereinigten Staaten verkauften Videodiscs und brachte den Löwenanteil dieser Produktion durch ihre eigene nationenweit vertretene Franchising-Kette von Muzik Stores unter die Leute. Sie hatten MUZIK Clubs in New York, Los Angeles, New Orleans, Chicago und San Francisco. Sie besaßen eine ganze Kette von Vierundzwanzigstunden-Musik-TV-Stationen im ganzen Land, die für die eigenen Produkte warben. Sie waren für die Musikindustrie das, was IBM für die Computerindustrie und McDonald's immer noch für die Hamburger darstellte, und aus irgendeinem Grund gab es nichts, was das, was von der Antitrust-Abteilung im Justizministerium übrig war, dagegen tun wollte. Schließlich gaben sie vielen Menschen Arbeit.

Glorianna zeigte ihren Dauerpass vor, parkte in der Tiefgarage und fuhr mit dem Expresslift in den zwanzigsten Stock. Selbst dort gab es einen Bildschirm und Quadro-Lautsprecher, die einem das nationale Satellitenprogramm von MUZIK entgegendröhnten.

Muzik, Inc. hatte die größte Lohnliste im Musikgeschäft, ganz bestimmt beschäftigten sie mehr Leute, als ihnen lieb war. Sie beschäftigten Techniker, um die Produktionsroboter in ihren Disc-Fabriken zu programmieren, und sie beschäftigten Barkeeper, Rausschmeißer, Serviererinnen und einen ganzen Katalog Animierengel in ihren Clubs, und sie beschäftigten fünf Videojockeys und einen kleinen Trupp Arbeiter, um das MUZIK-Zentralprogramm zu ihrem Satelliten hochzustrahlen und vielleicht hundert oder mehr Leute, um es am anderen Ende in den TV-Stationen zu verarbeiten.

Aber am wichtigsten war, dass sie auch die Leute beschäftigten, die diesen ganzen Scheiß erst produzierten.

Sie beschäftigten keine Schlagzeuger oder Keyboard-Spieler oder Gitarristen oder irgendwelche anderen Studiomusiker. Stattdessen arbeiteten sie mit VoxBox-Spezialisten, die ganze Bands, Orchester und sogar Backgroundsänger mit einem Keyboard, einem Vocoder und einer Black Box voller Wyperware ersetzen konnten.

Sie beschäftigten Kompanien von Seelenheinis und arbeitslosen früheren Psycho-Krieg-Agenten des Pentagon, um bestsellersichere Szenarios für Songschreiber auszudenken, und VoxBox-Söldner, um diese dann zu Texten und Musik zu verwursten, und sie beschäftigten Produzenten und Aufnahmeteams, um die Audiospur aufzunehmen, und ab und zu heuerten sie sogar Kameraleute an, um ein paar Filmstreifen zu drehen, die ihre Bilderorgel-Quäler nicht aus nackten Bits und Bytes oder aus Archivmaterial zusammenbekamen.

Und natürlich war MUZIK, Inc. eine endlose Futterkrippe für PR-Leute, Marktexperten, Demographieanalytiker, Disc-Werber und die ›Berater‹, welche die Nutznießer ihrer Gratisgeschenke waren, unter ihnen, zugegebenermaßen, auch Glorianna.

Das allgegenwärtige MUZIK-Motto beleidigte ihre Augen, als die Lifttüren sich im zwanzigsten Stock öffneten. Sogar hier oben prangten die Goldlettern an der Wand, als sollte niemand in der Muzik Factory, und vor allem nicht der derzeitige Oberhäuptling, es jemals vergessen:

›MUZIK ist Musik!‹

Schon möglich, dachte Glorianna bitter, aber ganz bestimmt ist es kein Rock and Roll!

Der augenblickliche Obermacker, Billy Beldock, saß in seinem vertrauten schwarzen Lederthron in dem großen Eckbüro mit der angespannten Haltung eines Mannes, der befürchtete, ihm könnte der Sessel jeden Moment unter dem Hintern weggezogen werden.

Glorianna hatte im Laufe der Jahre schon viele Hintern in dem schwarzen Ledersessel hinter dem mächtigen polierten Stahlschreibtisch gesehen, während sich das Innere des Präsidentenbüros nur unwesentlich verändert hatte.

Es gab zwei Wände mit Panoramafenstern – eines mit Blick auf den ewigen Traum von Hollywood, auf die Apartmentbauten und Villen, die glitzernd und funkelnd auf den Hügeln klebten, das andere mit Blick über die riesige, von Smog verhüllte Ebene von Los Angeles, wo die meisten Stadtbewohner ums Überleben kämpften. Als sollte jedem, der in diesen Raum gelangte, mitgeteilt werden, dorthin, gerade im Showbiz, wirst du wieder verschwinden, Kleiner, ganz gleich, wie weit oben du stehst, dein Stecker kann jederzeit rausgezogen werden.

Es gab einen wandgroßen Videoschirm mit den entsprechenden, modernsten Abspielgeräten, und eine ganze Wand war mit kleinen, gelben Mini-Videodiscs bedeckt, die den jeweiligen Insassen des Büros an die Goldenen Scheiben seiner Vorgänger erinnern sollten, falls er über seine Aufgabe im Zweifel sein sollte.

Die einzige persönliche Note waren Veränderungen am Beistellmobiliar und an Ziergegenständen, da der Sadist, der das Büro des Präsidenten entworfen hatte, überaus clever darauf geachtet hatte, dass es keine freie Wand gab, an der man Kunstwerke nach seinem persönlichen Geschmack hätte aufhängen können.

Billy hatte das Zimmer mit der Art von furchtbar unpassender Kollektion antiker französischer Sofas und Sessel gefüllt, mit der Innenausstatter die Wartezimmer von Organtransplantoren auszuschmücken pflegten.

Der arme Billy sah in diesem Motelzimmer der absoluten Macht im Musikgeschäft sehr unbehaglich aus, als er dort in seinem taubenblauen Zweitausenddollaranzug saß und sie mit nach vorne gezogenen Schultern seltsam anlächelte, als wollte er mit einiger Verlegenheit sagen: »Was für ein komischer Trip war das bis hierher.«

Anfang der siebziger Jahre, als sie ein Liebespaar waren, arbeitete er als Schlagzeuger, wenn auch kein begnadeter, so doch ein echter Rocker, und immer gut genug, um sich einen Porsche leisten zu können. Als raffinierte Drumulators und Perkussionssynthesizer die herkömmlichen Schlagzeuger in das Riesenheer der Arbeitslosen trieben, hatte Billy die Zeichen auf der Videowand hinreichend erkannt und richtig gedeutet, um sich der neuen Hyperware zu bedienen und nicht mehr auf seinem Schlagzeugset zu rocken. Er besorgte sich eine der frühen primitiven VoxBoxen, schloss sich dem Feind an, produzierte einige frühe VoxBox-Hits und verschaffte sich einen Eintritt in den Businessbereich, und jetzt saß er da, an der Spitze des Konzerns, seinem Aussehen nach zu urteilen, im Begriff, sich das Herz aus dem Leib reißen zu lassen und es dem großen Gott des Hitparaden-Flops zu opfern.

»Du siehst so sexy aus wie eh und je, Glorianna«, stellte er statt einer Begrüßung fest.

»Und du siehst aus wie ein alter Mann, Billy«, erwiderte Glorianna und machte es sich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch so bequem wie möglich.

Tatsächlich war Billy als physisches Exemplar gereifter Männlichkeit gar nicht so übel. Er hielt seinen Körper mit den besten metabolischen Zustandsverbesserern in Form, er pflegte seine üppige Mähne aus silbergrauem Haar mit teurem deutschen Haarwuchsmittel, und er hatte die perfekte lederähnliche Bräune unzähliger Wochenenden in Hawaii und Mexiko.

Aber wie John Lennon einmal festgestellt hatte, man kann nicht verbergen, wenn man innerlich zum Krüppel geworden ist.

Billy zuckte die Achseln und blinzelte sie eulenhaft an. Von der verrückten alten Lady des Rock and Roll ließ der Präsident der MUZIK, Inc. sich diese Prügel gefallen; im Grunde genoss er es sogar, wie Glorianna genau wusste. Ihre Haltung war ihr Hauptkapital in diesen trübsinnigen Tagen mit all jenen armen, alten Rockern, die genau zu den Typen geworden waren, vor denen sie sich vor langer Zeit gegenseitig gewarnt hatten. O ja, sie konnten sich als Sieger fühlen, wenn sie für diesen armen alten hinfälligen Anachronismus aus ihrer musikalischen Frühgeschichte Mitleid empfanden, aber irgendein trauriger Teil in ihnen brauchte das Bewusstsein, dass Glorianna O'Toole immer noch Mitleid mit ihnen hatte.

»Nun ja, also, ich werde in diesem Sessel wohl nicht viel älter werden, wenn ich nicht bald im AP-Bereich eine Goldene vorweisen kann«, sagte Billy offen. »Das Zeug ist einfach nicht erfolgreich genug, und unser Aktienkurs ist seit dem zweiundfünfzigwöchigen Hoch um sieben Punkte gefallen.«

»Vielleicht gibt es trotz allem noch einen Gott, und vielleicht weiß er, wie man es macht.«

»Ach, hör doch auf, Glorianna, du weißt genau, dass APs die Zukunft der ganzen Industrie sind«, jammerte Billy. »Dieser Komplex ist einfach zu kostengünstig, um ihn zu ignorieren.«

»Was willst du von mir, Billy?«, fragte Glorianna. »Du weißt, wie ich über AP-Rockstars denke. Das wird nie ein Erfolg.«

»Aber es klappt!«, beharrte Billy. »Ich habe es bis auf diesen Platz geschafft, indem ich dafür den Beweis lieferte, oder etwa nicht? Wir verkaufen eine ganze Menge von Lady Leather und Gay Bruce und Velvet Cat und selbst von Mucho Muchacho, und niemand außerhalb des Business schenkt den Gerüchten Glauben, dass es sich um APs handelt. Ich bin bisher nur noch nicht mit einem richtig großen Hit herausgekommen, mehr nicht. Du willst einfach nicht glauben, dass wir einen großen Rockstar synthetisieren können.«

Nachdem sie schon seit langem Studiomusiker und Backgroundsänger durch VoxBox-Magier ersetzten, hatte MUZIK, Inc. seine kostensparende Aufmerksamkeit der künstlichen Erschaffung von kompletten Rockstars zugewandt. Sie verlangten enorme Tantiemen. Sie waren egomanische Nervensägen, die völlig stoned oder gar nicht zu Aufnahmeterminen erschienen. Sie wollten nicht auf die Demographieexperten oder die Marketingabteilung hören; sie wollten, dass die Songschmierer Material nach ihren eigenen Vorstellungen ausspuckten. Scheiß drauf! Wer brauchte die schon? Ersetzen wir sie durch artifizielle Personen, denen wir keine Tantiemen mehr zahlen müssen und die uns nicht mit ihrem Primadonnagehabe auf den Wecker fallen!

Die Software existierte schon mal. Die Journeyman-VoxBox-Spieler synthetisierten Backgroundgesang aus Stimmprogrammen schon seit Jahren, indem sie sie mit dem Bass oder der Kontrapunktstimme synchronisierten, so dass man rein theoretisch die synthetische Gesangsspur nur mit dem Instrumentalband abspielen musste, und schon hatte man einen Leadsänger. Was die sichtbare Person anging, so traten APs bereits in mindestens der Hälfte von allen TV-Werbespots auf, und man konnte diese Filme nicht von denen unterscheiden, die mit einem lebendigen Schauspieler aufgenommen worden waren. Man gab seinem Bildorgelspieler ein Photo, und er zerlegte es in Bits und Bytes oder schuf eine AP-Darstellung aus reinen Einzelmerkmalen, wenn der kleine Scheißer unbedingt darauf bestand, den Cyberpuristen zu spielen.

Und zudem hatte Muzik, Inc. die Hitproduktion zu einer Wissenschaft gemacht. Die psychologischen Profile des gesamten Massenpublikums waren in dünne demographische Scheiben zerlegt worden, die Jungs in der Forschungsabteilung hatten eine Trillion Kilobytes von Worten, Bildern, Rhythmen, Akkordfolgen und Unhörbarkeiten in ihre inneren mythischen Strukturen eingespeist. Und die Marketingabteilung, die die Muzik Clubs und die Muzik Stores voll ausschöpfte, und MUZIK waren ganz sicher die reinste Dollarpresse.

Warum also hatten Lady Leather und Mucho Muchacho und der Rest aus dem Stall raffiniert komponierter AP-Software von Muzik, Inc. niemals die Charts mit einem Megahit überrollt?

War dies auch ein unlösbares Geheimnis für den armen Billy und alle anderen, die den offensichtlichen Grund nicht sahen, so war es für Glorianna O'Toole doch sonnenklar, und jeder, der nach der Ursache fragen musste, würde es sowieso nie ergründen.

»Dieser seelenlose Mist ist im Vergleich zum Wahren, Echten wie Weißbrot zum Pumpernickel«, verkündete sie aus tiefstem Herzen. »Es ist –«

»Ich weiß, ich weiß«, seufzte Billy und stimmte in ihr Lamento mit ein.

»Es ist eben kein echter Rock and Roll.«

Billy lachte; er griff in die Schublade und holte ein Koks-Set hervor: einen Silberspiegel, ein goldenes Röhrchen, eine winzige goldene Rasierklinge, die er mit übertriebener Geste aufschnappen ließ, und eine Glasphiole mit dem blauen Pulver darin. Und für einen kurzen Augenblick war er schlagartig vierzig Jahre jünger und bereitete für sie die Hits in einem der unzähligen Motelzimmer, die sie früher einmal gemeinsam bewohnt hatten.

»Ein so großes Arschloch bin ich nun doch nicht, Glorianna«, sagte er, während er das Häufchen des synthetischen Stoffs in Hits aufteilte. »Ich weiß sehr wohl, was fehlt. Und deshalb bist du ja heute hier.«

»Tatsächlich?«, fragte Glorianna mit einem flauen Gefühl in der Magengegend und griff nach dem Spiegel. »Dann gib mir mal was von dem Designer-Staub, ja? Ich habe eine Ahnung, dass ich ihn jetzt wirklich brauche.«

Sie zog einen Streifen des aufgeteilten Stoffs hoch, der so viel besser war als der grobe peruanische Extrakt ihrer Jugend, so dass ein alter Doper wie sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, ihren leicht angeheizten Metabolismus zu überlasten oder auf ihre alten Tage noch mal dem Stoff endgültig zu erliegen. Sanft in der Nase, angenehm im Geschmack, nicht süchtig machend und ein Energiestoß fürs Hirn. Genau das, was der Doc alten Leuten empfahl.

»Pass mal auf, Glorianna, wir haben eine der besten VoxBox-Spielerinnen im ganzen Business, Sally Genaro. Und wir haben Bobby Rubin, der absolut größte Typ auf der Bildorgel. Sie haben beide schon früher AP-Discs aufgenommen, daher wissen wir, dass die notwendige Wyperware zur Verfügung steht, und wir wissen auch, dass diese Kids damit praktisch alles realisieren können …«

»Außer richtig einzuheizen.«

Billy zuckte die Achseln. Er inhalierte eine Straße Koks. »Na schön, sie ist ein kleines fettes Girl aus dem Valley, und er ist Computerfreak der zweiten Generation.« Er strahlte sie mit falscher Begeisterung an. »Und deshalb wollen wir dich.«

»Um was zu tun?«, fragte Glorianna skeptisch.

»Um sie richtig losrocken zu lassen!«

»Häh?«

Billy lehnte sich in seinem Sessel zurück und spielte den Präsidenten. »Um der alten Zeiten willen beabsichtige ich, dir die Chance deines Lebens zu geben«, erklärte er überschwänglich.

»Das würdest du glatt tun, Billy«, entgegnete Glorianna mit triefendem Sarkasmus.

»Ich mache keine Witze, Glorianna, ich biete dir eine Chance, als Produzentin einzusteigen. Zehn Riesen im Monat. Vier Monate Probezeit. Du brauchst nichts anderes zu tun, als diese Kids dazu zu bringen, mit einem AP-Rockstar herauszukommen, der hintereinander zwei goldene Scheiben schafft, und ich gebe dir einen Dreijahresvertrag.«

»Leck mich am Arsch, Billy«, sagte Glorianna freundlich.

»Ach komm schon, mach mir nichts vor, ich weiß, dass du das Geld brauchst, aber okay, okay, zwölf Riesen im Monat, das ist wirklich das äußerste, was ich mitmache.«

»Du willst, dass ich einen AP-Rockstar produziere?«, sagte Glorianna mit einem Ausdruck wütender Leidenschaftlichkeit. »Ich soll den Scheiß nehmen, den deine Songschmierer und die Träumer deiner Marketingabteilung absondern, und zwei beschissene Cyberfreaks dazu bringen, eine goldene Scheibe daraus zu machen? Du willst, dass ich bei der Erschaffung eines Bestseller-Rockstars mitmache, der nur als Programm, als Software existiert?«

»Du hast es erfasst«, sagte Billy anerkennend. »Du hast alles unter Kontrolle. Wir schicken dir jede Menge Spezialisten, und du kannst dir aussuchen, mit welchen du arbeiten willst. Du kannst dir bei jedem Songschreiber, der dir einfällt, bestellen, was du willst. Mach es so, wie es dir gefällt. Schenk mir einen einsatzfähigen, dauerhaften AP-Rockstar, mir ist egal wie.«

»Warum ich?«, fragte Glorianna, und sie sprang auf und ging auf und ab, ehe es ihr richtig bewusst wurde. »Du weißt genau, wie ich über APs denke, du weißt, wie verhasst mir die ganze Vorstellung ist, und du weißt genauso gut wie ich, dass eine Disc ohne Seele niemals echter Rock and Roll sein wird.«

»Zwei von drei Vorzügen ist doch auch nicht schlecht«, meinte Billy.

»Was soll das heißen?«

Billy Beldock lehnte sich über den Schreibtisch und schob ihr das Koks-Set herüber und schnurrte sie praktisch an, so wie er es an jenem ersten Abend gemacht hatte, an dem der junge Schlagzeuger sie ins Bett gelockt hatte. Er schenkte ihr sogar das, was von seinem früheren Schlafzimmerblick noch übrig war.

»Warum du, Glorianna?«, sagte er listig. »Weil du die verrückte alte Lady des Rock and Roll bist. Weil in diesem, nun, reifen Körper immer noch das Herz der Rock-and-Roll-Queen schlägt. Deine Stimme ist hin, und du hast so gut wie nie dein eigenes Material geschrieben, und du kannst nicht die VoxBox und die Bildorgel spielen, aber was in dir noch übrig ist, ist all das, was wir brauchen, um die Gleichung zu vervollständigen, eben die Seele, ohne die, wie du sagst, nichts wirklich Rock and Roll sein kann.«

»Was für ein hirnverbrannter Quatsch«, schimpfte Glorianna. Aber sie setzte sich wieder und inhalierte einen weiteren Streifen von dem kostenlosen Koks, während Billy Beldock weiter den Versucher spielte.

»Sieh es doch einmal so, Glorianna, du würdest mir doch die Füße küssen vor Dankbarkeit, wenn ich dich eine Band zusammenstellen und irgendwelche Songschreiber anheuern und einen noch unverbildeten Leadsänger mit einigem technischen Können aussuchen ließ und dir gestatten würde, sie auf unsere Kosten in die Beatles oder die Rolling Stones zu verwandeln, und das würdest du sogar tun, wenn ich dir nicht zwölf Riesen im Monat für dieses Privileg zahlen würde; oder kannst du das allen Ernstes ableugnen?«

Ehe sie antworten konnte, schnupfte er einen neuen Streifen und redete gleich weiter. »Also, wo ist der Unterschied? Wie es so schön heißt, kommt es doch nicht so sehr auf den Sänger an, sondern viel eher auf den Song, nicht wahr? Wenn also die Scheibe Seele braucht, um Gold einzufahren und wenn sie tatsächlich Gold einfährt, dann ist es wahrer Rock and Roll, und wo ist der Unterschied zwischen einem lebendigen Leadsänger und einem Produkt aus raffiniertester Software, wenn du das Ergebnis in deinen Discplayer schiebst? So oder so, was du hörst oder siehst, ist immer ein digitales Playback.«

»Selbst wenn es möglich wäre, selbst wenn ich es wirklich schaffen würde, so wäre es trotzdem nichts, Billy«, sagte Glorianna mit plötzlichem Ernst.

»Könntest du mir vielleicht erklären, warum?«, fragte Billy herablassend.

»Weil … weil …« Sie hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Weil man verdammt noch mal keine echte Musik ohne einen richtigen Musiker machen kann! Herrgott im Himmel, Billy!«

»Schon richtig!«, pflichtete Billy Beldock ihr bei. »Aber begreifst du denn nicht – du bist es doch!«

»Ich? Ich schreibe keine Texte, und ich komponiere nicht, ich kann nicht einmal ein Instrument spielen, und meine Stimme ist im Eimer! Ich habe nichts mehr, womit ich Musik machen könnte, verdammt noch mal!«

»Aber würdest du es nicht gerne?«

»Würde ich was nicht gerne?«

»Wenn wir Mucho Muchacho oder die Velvet Cat aus nichts als Chips, Programm und Datenspeicher zusammensetzen können, dann können wir das mit dir erst recht, Glorianna«, säuselte Billy. »Stell dir nur mal vor, dein Cyborg-Comeback mit dreiundsechzig. Wir könnten deine brüchige alte Stimme nehmen und sie durch Vocoder jagen, die sie noch besser als jung machen, besser als du oder sonst jemand es damals gewesen ist. Wir könnten Bildstreifen anfertigen, auf denen du das bist, was du in den Sechzigern warst, jung und schön und für immer unsterblich. Mach du nur, was du am besten kannst, und unsere Keyboardhexer machen dich zum Superstar. Wäre denn das nicht echter, wahrer Rock and Roll?«

»Mich tritt ein Pferd …«, flüsterte Glorianna leise. »Das könntet ihr wirklich tun, nicht wahr?«

Der Präsident von MUZIK, Inc. schenkte ihr ein abgefeimtes Grinsen. »Bau du uns einen AP-Rockstar, der zwei Goldene Discs hintereinander einheimst, und wir bauen dich als nächste auf«, sagte er.

Glorianna inhalierte mit dem linken Nasenloch noch einen Streifen. »Muss ich meinen Vertrag mit Blut unterschreiben?«, fragte sie und füllte sich auch das andere Nasenloch.

»Kann ich davon ausgehen, dass ich dir ein Angebot gemacht habe, das du nicht ausschlagen kannst?«, fragte Billy Bedlock.

Gloriannas Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sicher, MUZIK, Inc. das zu überlassen, was sie ihrer Meinung nach haben wollten, hieße den Geist all dessen zu verraten, was sie jemals gewesen war und woran sie geglaubt hatte.

Nichtsdestoweniger spürte sie, wie dieser uralte Geist sich in ihr regte und sie durchdrang wie die Klänge einer ehrlicheren und großartigeren Zeit und darauf wartete, durch ihren zerbrechlichen und vom Alter ausgelaugten Körper und durch Hyperware-Schaltkreise wiedergeboren zu werden.

Denn falls sie dank eines Wunders Erfolg haben sollte, falls es ihr gelänge, ihren Teil des Handels mit den Multi-Mächten zu erfüllen, dann würden diese Arschlöcher noch weit mehr bekommen, als sie jemals erwartet hatten. Sie würden die Glorianna O'Toole erleben, die niemals richtig existiert hatte außer als sehnsüchtiger Wunsch auf dem tiefsten Grund ihres Herzens.

Vierzig Jahre lang und länger war ihr einziger großer Traum gewesen, einmal, und wenn auch nur für eine einzige euphorische Stunde lang, die grandiose Stimme des Geistes zu sein, der mittlerweile aus der Welt verschwunden war. Und wenn es ihr gegeben war, zu diesem späten Zeitpunkt mit Hilfe der technischen Einrichtungen des Feindes die regierende Königin des Rock and Roll zu werden, die sie in ihrer Jugend niemals richtig gewesen war, nun, dann könnte der alte Rock and Roll vielleicht eine Wiedergeburt erleben, und das mit einer rächenden Kraft, welche den herrschenden Mächten wahrscheinlich gar nicht gefallen würde.

Denn wahrer Rock and Roll war eine Musik, die Leuten wie ihnen permanent in den Arsch trat.

Und für die Chance, diese große Tat so kurz vor dem Ende ihrer Straße zu vollbringen, hätte sie sogar auf der gepunkteten Linie dem Satan ihre Unterschrift gegeben.

»Billy, Geliebter«, erklärte sie dem Präsidenten der MUZIK, Inc. fast fröhlich, »du hast mir ein Angebot gemacht, das du überhaupt nicht begreifen kannst.«

Paco Monaco, Mucho Muchacho

Nada, Mann, null! Paco Monaco hatte in den letzten acht Tagen nichts organisieren können – nix dinero, nix cocha, nix Draht, und nun schien die Oktobersonne vom steingrauen Himmel über der East Fourteenth Street herab, und es war La Hora Frontera eines weiteren vergeudeten Tages.

Du wirst zu alt für diesen Scheiß, muchacho, sagte Paco sich wieder einmal. La Hora Frontera brachte ihn seit kurzem in diese Stimmung, er hasste diese Stunden zwischen Tag und Nacht bis auf die Knochen, genauso wie die gordos in ihren weißen culos sie fürchteten, wenn nicht sogar aus den gleichen Gründen.

Nach und nach gingen die Lichter hinter den Fenstern der Apartmenttürme von Stuyvesant Town an, während die Horden der Beschäftigten nervös an ihm vorbei und in ihre Schlaflöcher huschten. Die Zonies, die das offene Tor in dem hohen elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun bewachten, wanderten in paranoiden kleinen Kreisen umher und streichelten ihre Uzis, und dann flammten die Quecksilberdampflampen auf und versengten den schadhaften grauen Straßenbelag mit ihrem grausamen TV-blauen Licht.

Ohne bewusst darüber nachzudenken, wechselte Paco auf die dunkle Seite der Straße hinüber wie eine Kakerlake, die sich ins Schattenreich unter dem Spülstein verzieht, nachdem die Küchenbeleuchtung angeknipst wurde.

Er stand da mit einer leeren Tragetasche in dem Schatten der Vorhalle eines ausgebrannten Gebäudes und starrte auf die alten geklinkerten Apartmenthäuser und verfluchte sich selbst für die Armseligkeit seiner Sehnsüchte.

Denn er wurde immer noch von den stark verblassten frühen Kindheitserinnerungen von einem Leben hinter den Mauern eines Übergangshauses ähnlich dem, das er vor sich sah, auf der Avenue D verfolgt, als er und seine Mutter und seine beiden Schwestern sowie zwei Onkel im Teenageralter in einem Zwei-Zimmer-Apartment seiner buelos gewohnt hatten. Es waren Erinnerungen an stickige, zentralgeheizte Winter und verschwitzte stinkende Sommer, an ranzige Kochgerüche und Toilettengeräusche und an die Schreie und Seufzer beim Sex.

In jenen längst vergangenen Tagen hatte es noch echtes Essen gegeben; Hühnerherzen mit scharf gewürztem Reis, cuchifritos, Eier, Coca Cola, Brot und Käse und gelegentlich sogar Eis.

Hijito, vorbei waren die schönen Zeiten, hatte seine Mutter niemals aufgehört, ihm zu erzählen, nachdem Abuelo Gutierrez den Job im Bekleidungszentrum verloren hatte, als die Wohlfahrtsschecks nur noch für eine tägliche Ration Grütze reichten, als sie zurückgestolpert kam, nach Wein und irgendeinem Dreckloch stinkend, in dem sie sich nach einer langen Nacht des Anschaffens noch zusammengerollt hatte.

Und dann, als er vielleicht vierzehn Jahre alt war, kam sie gar nicht mehr zurück, in einer Gasse erstochen, ausgeraubt, quién sabe und chingada, und da war er nun, sieben Jahre später, mit dem Wunsch, etwas anderes zu sein, irgendein weißer gordo mit einem beschissenen Job, der zum Beispiel darin bestand, einen Kleiderständer durch das Bekleidungsviertel zu schieben oder den Fußboden bei Macy's aufzuwischen.

»Chingada, Mann, du brauchst unbedingt eine Portion Draht«, murmelte er laut vor sich hin, während er einen Cola-Pappbecher wegkickte, um seinem Zorn Luft zu machen, und sich auf der dunklen Seite der Fourteenth in Richtung Westen verdrückte.

Aber der Punkt war, dass man für Draht dinero brauchte. Er war nun schon seit acht Tagen in Ciudad Nada, und es gab eigentlich für ihn nur zwei Möglichkeiten, wie er etwas heranschaffen konnte.

Er konnte rübergehen zur West Street und seinen Schwanz oder seinen culo an irgendeinen widerlichen maricón verhökern, was er seit seinem sechzehnten Lebensjahr nicht getan hatte, oder er trieb sich in der Gegend herum, die allgemein nur »Um die Ecke« hieß, und hoffte, einem dämlichen gordo zu begegnen, der zu stoned war, um zu merken, dass er über die Grenze geraten war.

Natürlich hatte er genau das während der vergangenen acht Tage getan, aber vorwiegend in der Innenstadt, wo die Grenze zwischen Schatten und Sonne deutlich von den Stadtcops gezogen wurde. Die gordos rannten hordenweise herum wie cucarachas, und fast an jeder Ecke lauerten kleine Banden von Straßenjungs mit ganz schlimmen Absichten, was solos betraf, die sich in ihr Gebiet wagten.

Wirklich, von neun bis fünf beherrschten die gordos Ciudad Trabajo, die Welt der funkelnden Glasschluchten mit Spiegelsonnenbrillen, der dem Zerfall überlassenen Fabrikgebäude, die von den Zonies mit harten Blicken bewacht wurden, und gegen Abend war die vecino von den Beutetieren und ihren Jägern gleichermaßen verlassen. Wenn die Sonne unterging, zogen die Schickimickis mit Taxis und Limousinen in die Zonen zurück – nach Upper West, Sutton, Lincoln Center, Park Plaza, Soho, 'Beca – wo es nur Stadthäuser, Glitzerpaläste, elegante Restaurants, Straßenbeleuchtung und ganze Armeen von Zonies gab mit einer Lizenz, einen schon dafür abzuschießen, dass man sein braunhäutiges Gesicht gezeigt hatte.

Und die gordos, in verschwitzten kleinen Millionen, drängten sich in die U-Bahn für die Heimfahrt zu ihrem Halbzimmer-Anteil in dem Eigentumsapartmentsilo; und auch in diesem Moment spürte Paco das Rumpeln eines IRT in den Sohlen seiner Füße, und, o ja, es war ein verführerischer Gedanke an all diese Arschlöcher mit Geld in den Taschen, die direkt unter ihm in der subterraneo hindurchrasten.

Aber niemand, der die Straßen gut genug kannte, um in N'York wenigstens zehn Minuten am Leben zu bleiben, war dämlich genug, um in El Sub zuzuschlagen. Wenn die U-Bahn-Cops einem nicht den Arsch aufrissen, würden fünfundsiebzig Vigilanten einen durchlöchern. Selbst tattrige abuelos nahmen .357er in El Sub mit. Oder Straßenbanden verarbeiteten einen zu cuchifritos aus dem gleichen Grund, aus dem man keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen würde, wenn man dorthin schiss, wo sie schliefen.

Zwischen Halloween und Ostern würden eine Million Streeties wahrscheinlich erfrieren, wenn die Stadt sich abends entschlösse, El Sub freizuräumen, indem sie Tränengas in die Gewölbe pumpte, was sie gelegentlich wirklich taten, wenn es dort zu sehr zu einem Schlachtfeld für die gordos wurde, die mit der U-Bahn in ihre Arbeitswelt fuhren. Jeder Streetie wusste, dass die Schickimickis mehr als bereit waren, zuzusehen, wenn eine Million von ihnen sich im grauen Wintermatsch in Eiszapfen verwandelten, ehe sie es soweit kommen ließen.

Die Sonne war gerade untergegangen, als Paco die Ecke Fourteenth und Avenue A erreichte, und, wie üblich, löste sich seine düstere Stimmung, als La Hora Frontera in die Noche Nuestra überging. Denn so wie der Tag den gordos und den Schickimickis und ihren dinero und ihren Zonies gehörte, so gehörte die Nacht dem el pueblo sombre, dem Volk der Straße, und den cojones, zumindest hier gleich um die Ecke von Botho und Tompkins Square Park.

Der Park selbst war eine Oase aus Rasen und Bänken, bestens erleuchtet von den goldenen Kugeln pseudoantiker Straßenlaternen und überwacht von patrouillierenden Zonies. Stadthäuser standen auf seiner zur Tenth Street hin gelegenen Seite und elegante Co-ops an der Avenue A und der Sixth. Weiter im Westen, die First und Second Avenue rauf und runter, waren Zentren von Boho, alias East Village, Wand an Wand mit Bars, Restaurants, Galerien, Boutiquen und Feinschmeckerbodegas. Der Glanz setzte sich in östlicher Richtung zum Tompkins Square fort, kreuzte St. Marks und Sixth Street, aber das halbe Gelände, das von der Second Avenue und Avenue C und von Fourteenth und Houston Street begrenzt wurde, war als Um-die-Ecke-Zone auf der Schattenseite der Straße belassen worden.

Weil gordos und Schickimickis, die diese Gegend bevorzugten, Arschlöcher waren; Perverse und Doper, Kunstheinis und Drahtfreaks, die darauf abfuhren, durch die Schatten zu schleichen oder einmal knietief in den Slums zu waten oder auf den Adrenalinstoß zu warten, den das Wissen darum ihnen vermittelte, was auf die Straßenfremden im Dunkeln lauerte.

Sie wollten hier keine Stadtcops, o nein, muchacho, und sie hatten genug dinero, um sie davon fernzuhalten, und die Zonies, die sie anheuerten, waren Drahtköpfe und Junkies, manchmal sogar Streeties mit Ehrgeiz, und nebenbei handelten sie mit Draht und Dope und Fleisch. Sie ließen einen durch die Hauptstraßen schlendern, solange man nicht den Eindruck vermittelte, als wolle man in ihrem Revier zuschlagen und stehlen oder dealen. Tompkins Square Park war ein primo mercado, wo die gordos und Schickimickis mit tu putamadre zusammenkamen und billige Trips und überteuerte Drähte bekamen, die ihnen wahrscheinlich die Gehirne rösteten.

Paco verabscheute diese cabrones, und dennoch wurde er genauso von dieser vecino angezogen wie vom Draht, und in der Tat, den Funken, der ihn in diesen Straßen entflammte, und der Flash, sich an das Netz zu hängen, waren aus einem gewissen Blickwinkel ein und dasselbe.

Am Netz, den Schwanz hart wie ein elektrisches Springmesser und jeder Muskel seines Körpers so angespannt wie geölter Federstahl und eine primo-Disc von Mucho Muchacho auf den Ohren, da war er nicht mehr länger Hernan Gutierrez, der Sohn einer Kakerlake, sondern Paco Monaco, fähig und mehr als entschlossen, die Welt der gordos in ihren engen weißen culo zu ficken!

Hier draußen, nur einen Steinwurf entfernt von der Talmiwelt des Ansehens aber nicht Berührens, von diesen teigigen weißen maricónes mit den Taschen voll dinero und den Hosen voll verschrumpelter cojones, spürte er seine straßenharten Muskeln straff unter seiner Haut, spürte, wie sein Hirn unter dem straßenkundigen Wissen brannte, dass nur eine falsche Geste, nur ein falscher Schritt ausreichte, und irgendeine dieser schlaffen Kreaturen fände sich tatsächlich auf der Schattenseite wieder, wo sie die Qual erleben könnten, nach der sie sich sehnte.

Nun auf den Fußballen federnd, den Männern ein herausforderndes Grinsen und den Frauen schmatzende Luftküsse zuwerfend, wobei beides eifrigst ignoriert wurde, bog Paco von der bevölkerten Avenue A nach Westen in die Ninth Street ab, ein schmaler schattiger Block aus renovierten fünfstöckigen Mietshäusern mit wenigen Läden. Sofort erkannte er, dass der Block verlassen lag, und tauchte in eines dieser Löcher unterhalb der Straße ab. Dort hockte er in der Dunkelheit, den Rücken gegen eine Mülltonne gelehnt, und wartete.

Die Gebäude in diesem Block waren zum größten Teil zu jener Art von Co-op-Apartments umgebaut worden, wie sie von jungen, sich als Lohnsklaven verdingenden Zugvögeln aus Cleveland oder Long Island bewohnt wurden, die bereit waren, zwei Drittel ihres Einkommens herauszurücken und sich zu dritt oder viert auf zwei Zimmern zu drängen, um das Privileg zu genießen, dort zu wohnen, wo die Post abging. Was erstens bedeutete, dass die gordos in diesem Block sich keine eigenen Zonies leisten konnten, und zweitens, dass sie manchmal alleine nach Hause stolperten, alleine und abgefüllt in irgendeiner Singles Bar drüben auf der First oder Second.

Paco kauerte dort unterhalb des Gehsteiges für eine Zeit, die ihm vorkam wie mehrere Stunden, während gordos in Gruppen von drei oder vier oder fünf vorbeischlenderten, wild auf einander einredeten oder Joints herumgehen ließen.

Seine Fußknöchel wurden allmählich taub, und er erwog schon, seinen großen Gig bleiben zu lassen und es dafür woanders zu versuchen, als der Klang eines einzigen Fußpaares, das auf dem Bürgersteig auf dieser Straßenseite auf ihn zukam, ihm die Hoffnung bescherte, dass seine lange Strähne mala suerte offenbar jeden Moment ein Ende haben würde.

Er erhob sich, schüttelte die Taubheit aus seinen Füßen, während er erkannte, dass die Beute, die sich näherte, recht gut aussah! Ein junger Typ in eleganter blauer Lederhose, modernen Stahlstiefeln und einem weißen Leinenjackett, langes lockiges Haar, schlank gebaut und etwa eins siebzig groß, was Paco fast zehn Zentimeter größer machte. Obgleich das Gesicht des gordo aus dieser Position nicht zu erkennen war, schien er um die Knie herum etwas weich und insgesamt leicht berauscht zu sein.

Buena suerte!, dachte Paco, während die mattglänzenden Stahlstiefel seines Opfers in Höhe seiner Augen auftauchten. Mit diesem maricón werde ich ganz sicher fertig!

Immer noch im Schatten kauernd, ging Paco auf Zehenspitzen vom vorderen Rand der Mülltonnengrube und packte beide Fußknöchel. Ehe das Arschloch auch nur einen Schrei ausstoßen konnte, zog er mit aller Kraft, riss ihn zu sich herunter in die Dunkelheit, ließ los, verpasste ihm einen Treffer in die Nieren, warf ihn mit der linken Hand herum, während er auf den Beton stürzte, ließ sich mit einem Knie auf die Brust des Typen fallen, rammte ihm das andere Knie in die cojones, schloss die linke Hand um seinen Adamsapfel und ballte die rechte Faust etwa einen halben Meter vor seinem Gesicht.

»Einen Laut, motherfucker, und ich polier dir deine beschissene Fresse!«, knurrte er und presste sein Knie zur Bekräftigung auf die cojones des gordo.

»Q-q-qué pasa …?«

Paco schaute hinab auf das glubschäugige, nach Luft ringende Gesicht seines entsetzten Opfers. Und anstelle eines teiggesichtigen gordo sah er einen dunkeläugigen muchacho, nicht viel älter als er selbst, mit einem bleistiftstrichdünnen Schnurrbart.

Er erstarrte für einen kurzen Augenblick, als er diesem beunruhigenden Spiegelbild von sich selbst in die Augen sah, mit Kleidung im Wert von tausend Dollar am Leibe. Er hasste diesen glatten kleinen Blankriqueno-Möchtegern-gordo mit plötzlicher glühender Leidenschaft. Aber er beneidete diesen motherfucker zugleich mit einer betäubenden Sehnsucht, und was noch schlimmer war, er konnte nicht verhindern, dass ihm das auch bewusst wurde. Und er konnte auch nicht das Gefühl der Scham unterdrücken, dass er offensichtlich etwas verriet, was er noch nicht so ganz begreifen konnte.

»Tu dinero, puberda-Scheißer, was zum Teufel meinst du denn, will ich haben, chingar tu culo?«, zischte er.

»Heh, Amigo …«

»Komm mir nicht mit amigo, du Maricón-Motherfucker!«, sagte Paco und presste den Hals mit Gewalt zusammen. »Ponga tu dinero, oder ich reiß dir den Schwanz ab, hijo de gorda puta!«

Ein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her, eine verletzte, aber dennoch überlegene Abscheu hinter der sehr realen Angst in den Augen seines Opfers, ein schuldbewusstes Eingeständnis dieser Wahrheit in Pacos Augen. Dann, ohne wegzuschauen, ohne seinen anklagenden Blick abzuwenden, griff dieser arrogante kleine Hurensohn in die Tasche und holte seine Brieftasche hervor.

Paco klappte sie mit der freien Hand auf und fingerte einen dünnen Stapel Geldscheine heraus.

»Ist das alles, was du bei dir hast, Mann?«, beschwerte er sich.

»No soy gordo rico, hermano. Por favor, lass mir wenigstens meine plastico, du kannst sie sowieso nicht benutzen, und es wird eine verdammte Tortur, dem Mann am Schalter zu beweisen, dass ich kein Ding drehe. Tu sabes que pasa, amigo?«

Pacos Griff lockerte sich. »Ich will deine verdammten Kreditkarten nicht!«, sagte er und schleuderte die Brieftasche so weit er konnte über die Straße, dorthin wo dieser … dieser Blankriqueno-Misthaufen lange brauchen würde, um sie wiederzufinden.

»Du bleibst jetzt schön hier, bis ich um die Ecke bin … amigo«, sagte er. »Tu sabes, was am besten ist für dich?«

Dann sprang er auf und ließ die Kehle des Typen los, sprang auf den Gehsteig, rannte los und hielt nicht an, um das Geld zu zählen, bevor er um die Ecke auf die Avenue A gebogen war und sie überquert hatte.

Erst dann überprüfte er seinen Erfolg und begriff die malticia.

Ein Zwanziger, ein Zehner und zwei Fünfer! Chingada!

Dieser miese kleine Motherfucker mit seinen Dreihundert-Dollar-Stiefeln und seiner Brieftasche voller Plastico hatte nur vierzig Bucks echtes Geld in der Tasche gehabt! Kein Wunder, dass dieser schwanzlose Hurensohn sich Sorgen wegen seiner Kreditkarten gemacht hatte! Kein Wunder, dass er sein Bargeld so schnell rausgeholt hatte!

»Du wirst für diesen Scheiß zu alt, muchacho!«, murmelte Paco laut, während ein gordo-Paar, das auf der Straße auf ihn zukam, plötzlich den Gehsteig verließ und in eine andere Richtung schaute.

Irgendwie kam er sich vor wie eine Kakerlake auf einem Abfallhaufen, aber zugleich empfand er auf dem tiefsten Grund seines Herzens eine Überlegenheit über die Blankriquenos dieser Welt. Aber was noch schlimmer war, er schämte sich auch zutiefst, wegen was, wusste er nicht einmal. Dieses unbegreifliche Gefühl des Selbsthasses war es, das ihn mit einem leidenschaftlichen Hass auf einen Feind erfüllte, der nicht existent zu sein schien.

Paco starrte mit geschürzten Lippen auf das dünne Bündel Geldscheine in seinen Fingern und rieb sie geringschätzig gegeneinander, als wären sie mit altem Rotz beschmiert. Für einen verrückten Augenblick dachte er sogar daran, sie einfach in die Gosse zu werfen.

Aber der reine Schock eines solchen bescheuerten Gedankens, der durch seinen Geist schoss, brachte ihn wieder zu Verstand. Acht Tage nada, und du musst ausgerechnet auf einen dämlichen Latino treffen, wie du selbst einer bist, und ohne dinero! Du hast jedes Recht, auf dich selbst sauer zu sein, muchacho, sagte er sich, aber das heißt noch lange nicht, dass du genug gutes Geld wegwirfst, um dir wenigstens eine halbe Stunde Draht zu verschaffen.

Chingada, Mann, du hast dich schon mal so gefühlt, und diesmal hast du wenigstens, was du brauchst, um dir die Heilung zu kaufen. Betrachte es von der Sonnenseite, hombre, du hast von dem maricón genug Geld bekommen, um dich in einen Draht reinzuhängen und dich zu fühlen wie Mucho Muchacho!

Dojo stand bei Slimy Mary's an der Tür und war nicht gerade begeistert, Paco zu sehen. »Ich dachte, ich hätte dir erklärt, dass du dich hier nicht mehr blicken lassen sollst, es sei denn, du hast genug Flocken, um einen zahlenden Kunden zu imitieren, mein Freund«, sagte Dojo anstelle einer Begrüßung, verschränkte die massigen Arme vor der mächtigen Brust und versperrte die Tür mit seinem Kampfmaschinenbody. »Hast du drinnen etwas Besonderes vor, außer dir irgendeine Tussie aufzureißen?«

Paco mochte Dojo trotz der Tatsache, dass der große schwarze Bastard ihn im allgemeinen wie Kakerlakenscheiße behandelte. Er wusste, dass es nicht persönlich gemeint war. Dojo behandelte jeden wie Kakerlakenscheiße, wie es sich für einen gehörte, der als Wächter eines Fleischzirkus fungierte, wo Langfinger, Schläger und ausgebrannte Drahtköpfe erschienen, um perverse Freuden und Draht zu organisieren. Man musste mucho macho sein, muchacho, um bei Slimy Mary's den Türsteher zu machen!

»Ich will mich ins Netz reinhängen, Dojo«, sagte Paco stolz, zog das dünne Geldbündel aus der Tasche und wedelte damit vor der Nase des Türstehers herum. »Ich hab' genug für eine halbe Stunde Draht.«

»Was hast du gemacht, irgendeinem miesen Schwulen einen geblasen?«, fragte Dojo mit einem schiefen Grinsen.

»Nee, ich brauchte nichts anderes tun, als diesen miesen schwarzen Nigger an meinem lutschen zu lassen«, erwiderte Paco, griff sich in den Schritt und guckte lüstern.

Dojo lachte. »Ich muss zugeben, frech bist du, Junge«, sagte er. »Nur schade, dass die Stelle, wo dein Hirn sitzen sollte, ansonsten völlig leer ist.«

Er trat kopfschüttelnd zur Seite. »Geh schon rein und grille das bisschen, was du noch im Schädel hast, mit diesem Drahtkopfscheiß«, sagte er.

Obgleich er mit der ganzen Draht-Action in seinem Laden mucho dinero ranschaffte, verachtete Dojo selbst den Draht. Für ihn gab es nichts anderes als klassischen Koks oder Designer-Staub; das war Teil seines Geheimnisses.

Als Paco an ihm vorbeimarschierte, griff Dojo nach seinem Ellbogen, beugte sich zu seinem Ohr herunter und redete in verschwörerischem Ton auf ihn ein. »Wie viel Mumm du wirklich hast, Mann, das sehe ich daran, dass du dich auf jeden Fall reinhängen willst, aber was hältst du von einem ganz speziellen Angebot, etwas echt Hypermäßiges …?«

»Echte Hyperware …? Und was bringt der Flash?«

»Nun ja, das ist es ja gerade, Kleiner, niemand hier hat den Zap je zuvor gesehen, er ist das Neueste aus Silicon City, es heißt, er wird von den gleichen Typen gemacht, die auch die roten Kästen bauen, die die Videopiraten einsetzen, um die Sendesatelliten zu übernehmen. Daneben ist das Programm und dieser ganze Scheiß genauso, als stecktest du deinen Schwanz in eine Steckdose.«

Paco schaute Dojo zweifelnd an. »Was du wirklich meinst, ist irgendein Scheiß aus der Stadt, in den noch niemand, den du kennst, sich reingehängt hat, Motherfucker«, sagte er. »Etwas, das mich zu cuchifritos rösten kann.«

Dojo zeigte ihm sein strahlendstes Lächeln. »Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst, Junge. Das ist auch der einzige Grund, warum ich bereit bin, dir eine halbe Stunde Zap für die gleichen dreißig Bucks zu verkaufen, für die du eine halbe Stunde im Netz bekommen kannst. In zwei Wochen hat der Preis sich verdreifacht.«

»Es sei denn, es erweist sich wieder mal als Hirnbrenner, den du am Ende doch nicht weitergeben kannst.«

Dojo zuckte die Achseln. »Wenn du nicht den Mumm hast, es zu versuchen …«

»Wer dealt diesen Zap für dich?«, lautete Pacos direkte Frage.

»Monkey Girl. Sag ihr nur, dass Dojo dich geschickt hat.«

Slimy Mary's befand sich im Basement eines Gebäudes in der Third, unweit der Avenue D, das anscheinend früher ein renoviertes und dann aufgegebenes Mietshaus gewesen war. Im Laden selbst erzählte man sich, dass Dojo und seine Yak-Komplizen oben in der Dunkelheit hinter mit Brettern vernagelten Fenstern gefangene Draht-Hexer sitzen hatten, die ständig an ihre eigenen Produkte angeschlossen waren und ihre Ware als Gegenwert für den Strom lieferten. Oben war dort, wohin alte Drahtköpfe in Florida gingen, Muchacho, und jeder, der zu neugierig war, würde wahrscheinlich genauso enden.

Der Fleischtempel selbst war typisch für solche Streetieschuppen, vergraben in Basements unter verkommenen Gebäuden, mit dem Strom aus Anzapfleitungen in Gang gehalten, die zu ignorieren die Con Ed-Cops entsprechend bestochen wurden.

Eine dunkle Treppe hinunter, und plötzlich befand Paco sich in einer anderen Welt, die er neben seinem Zuhause am besten kannte.

Nur die Tanzfläche war erleuchtet, und zwar von roten, weißen und blauen Glühbirnen, die aus der mit Aluminiumfolie beklebten Decke herausragten und in einer Zufallsfolge aufflackerten. An drei Seiten war die Tanzfläche von schmuddeligen Polstern, Apfelsinenkisten und durchgesessenen alten Sofas umgeben, wo die Gäste lümmelten, sich gegenseitig ihr Fleisch anboten oder kleinere Geschäfte machten.

Um diese Zeit befanden sich etwa ein dutzend Leute auf der Tanzfläche und bewegten sich zu den Klängen ihres eigenen verhallenden Flashs, aber alle reagierten auf den Max-Metal-Beat der Lady-Leather-Disc, die auf dem großen Schirm hinter ihnen zu sehen war.

Eat my big black whip

You dirty little dip

Shove it up your hole

Suck my leather soul

The whip! The whip!

Trip to the whip!

Oben auf der Videowand ließ Lady Leather, bekleidet mit stählernen Stiefeln und hautengem schwarzen Leder, ihre beiden Peitschen im Rhythmus mitknallen, schnaubte und zischte und stolzierte wie ein verrückter Sturmtruppensoldat auf einem Teppich sich windender rosafarbener Körper umher, während hinter ihr eine riesige Nahaufnahme von ihrem Gesicht zu sehen war, das die Lippen zum Text in der unschuldigen Seligkeit eines endlosen Orgasmus bewegte.

Paco konnte nicht erkennen, warum jemand dafür bezahlen wollte, diesen Scheiß abzuspielen, und, wie er sah, tat es tatsächlich niemand; el Lizardos Disc-Player war ausgeschaltet, und dies war nur das übliche Programm, das von MUZIK gesendet wurde und mit dem el Lizardo den Fleischzirkus folterte, wenn er keine zahlenden Kunden hatte.

Paco wollte etwas Mucho Muchacho, aber es kostete zehn Dollar pro Bestellung, um sich von el Lizardo seine Scheibe vorspielen zu lassen, daher wusste er, dass er sich das lieber für später aufsparte, wenn er sich erst einmal eine halbe Stunde am Draht gekauft hatte, nur noch genug dinero für eine Fünf-Minuten-Nummer übrig haben würde.

Deshalb hielt er sich in der Schattenzone, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, und er entdeckte Monkey Girl, die tief in der schattenhaften Dunkelheit auf einem Polster kauerte.

Monkey Girl trug ein IBM-T-Shirt. Ihr schwarzes Haar war ein fettiges, schwarzes Durcheinander. Ihr Gesicht faltig und ledertrocken, hätte das von einem jener Andenkenschrumpfköpfe sein können, wären da nicht das ständige Grinsen der Seligkeit auf ihren aufgesprungenen Lippen gewesen und die affenhellen Augen, welche ihn aus jenen tiefen, dunkel umrandeten Höhlen direkt anstarrten.

Sie trug ein Krone aus Draht, einen groben Helm aus dünnen Stahlstreifen, versehen mit Chips und Spiralfedern. Eine lange Nabelschnur von Stromleitung schlängelte sich zu einer versteckten Wandfassung von dem Transformator auf ihrem Kopf weg.

Der Flash von Monkey Girl war der Blue Max. Kontaktelektroden pumpten verstärkte Alphawellen in ihr Großhirn, und bis jetzt waren nur winzige Bruchstücke an Ort und Stelle. Man hielt nicht allzu lange durch, wenn man in den Blue Max eingeklinkt war, aber niemand konnte behaupten, dass man ohne Lächeln von der Bühne abtrat.

»Dojo schickt mich«, sagte Paco und hockte sich vor ihr auf den Fußboden. »Hat mir ein Angebot für den Zap gemacht. Dreißig für die media hora.«

»Tabatapp, der Zap …«, plapperte Monkey Girl mit schriller Stimme und richtete ihre großen dunklen Augen auf ihn, wobei sie Paco jedoch das Gefühl vermittelte, als sehe sie etwas anderes. Sie griff nach unten und hatte ein Stück Draht in der Hand, wie Paco es noch nie gesehen hatte.

Es war fast nichts daran, lediglich ein zerknülltes Spinnennetz aus dünnen, biegsamen Metallfäden, das an einer flachen und konkav gerundeten Energiebox befestigt war.

»Qué pasa?«, wollte er zweifelnd wissen, während Monkey Girl ihm mit einer Hand das Ding unter die Nase hielt und die andere dinero fordernd ausstreckte. »Wo zum Teufel ist die Elektroschnur? Ist das etwa ein stromloses Stück Scheiße?«

Jeder Draht, der wenigstens etwas wert war, geschweige denn dreißig Dollar für die halbe Stunde, musste an eine Steckdose angeschlossen werden. Jedes mit Batterie betriebene Niederspannungsmodell, das er jemals ausprobiert hatte, war ein echter Betrug gewesen, der nicht einmal einen Flash gebracht hatte, ein Mistzeug, mit dem gordo-Blagen sich vor ihren eleganten Schwulen gegenseitig hereinlegten.

»Bringt der Zap dir kein Glück, kriegst du dein Geld zurück«, sprudelte Monkey Girl hervor. »Was aus Silicon City kommt, dir mitten in den Schädel bombt.«

Nun, chingada, muchacho, wenn der Deal so aussah, dann gab es für ihn nichts zu verlieren. Er hatte noch nie gehört, dass jemand versprach, Geld zurückzuzahlen, wenn es keinen Flash gab, und wenn Typen wie Dojo bereit waren, dieses neue Modell mit ihren eigenen Dinero abzusichern, dann musste er wirklich überzeugt sein, dass dies das echte Hyperding aus irgendeiner finsteren Werkstatt in Silicon City war, kein cabezacaga, das im ersten Stock von hirngerösteten Zombies zusammengelötet worden war.

ENDE DER LESEPROBE