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Das große Finale der Bookford Manor-Trilogie Nach den verheerenden Ereignissen in der British Library, bei denen sich Malice – ein Wesen, das sich von der Furcht der Menschen ernährt – aus seinem Buch befreit hat, wird Bookford Manor bis auf Weiteres geschlossen. Währenddessen bricht weltweit Chaos aus: Die Limbuswesen bringen immer mehr Buchfiguren um, Bibliotheken und Buchhandlungen werden in Brand gesteckt, die Leute hören auf zu lesen, und die Idea schwindet. Annie und ihren Freunden bleibt nicht viel Zeit. Sie müssen Malice aufhalten! Doch reicht Annies Gabe aus, um das Schicksal der Welt zu verändern? Das spannende Must-Read für alle Buchliebhaber*innen und Fans von bibliophilen Geschichten. Heldin Annie hat eine ganz besondere Gabe: Sie reist in Buchwelten und kämpft Seite an Seite mit ihren liebsten Figuren für ihre und unsere Welt. - Eine atemberaubende Buchwelten-Fantasy mit viel Humor und packender Spannung erzählt - Für alle Leser*innen, die davon träumen in ihre Lieblingsbuchwelten abzutauchen - Mit illustriertem Farbschnitt in der Erstauflage und einem wunderschön schimmernden Schutzumschlag - Band 1 der Trilogie ist DELIA-Siegertitel 2025 in der Kategorie »Junge Liebe«
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mo Enders
Silberhelle Welten
Band 3
Das große Finale der Bookford Manor-Trilogie
Nach den verheerenden Ereignissen in der British Library, bei denen sich Malice – ein Wesen, das sich von der Furcht der Menschen ernährt – aus seinem Buch befreit hat, wird Bookford Manor bis auf Weiteres geschlossen.
Währenddessen bricht weltweit Chaos aus: Die Limbuswesen bringen immer mehr Buchfiguren um, Bibliotheken und Buchhandlungen werden in Brand gesteckt, die Leute hören auf zu lesen, und die Idea schwindet. Annie und ihren Freunden bleibt nicht viel Zeit. Sie müssen Malice aufhalten! Doch reicht Annies Gabe aus, um das Schicksal der Welt zu verändern?
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de
Mo Enders, Jahrgang 1983, ist schon als Kind zwischen den Zeilen unzähliger Bücher umhergestreift, hat versucht der kindlichen Kaiserin einen Namen zu geben oder mit einem Schirm zu fliegen. Heute erzählt sie ihre eigenen Geschichten und hat damit den besten Job der Welt. Wenn sie nicht gerade in Büchern lebt, wohnt sie in Berlin.
Zu diesem Buch ist im Argon Verlag, Berlin, ein Hörbuch, gelesen von Leonie Landa, erschienen und im Buchhandel erhältlich.
Alle Bände der Bookford Manor-Trilogie:
Band 1: Liga Lexis – Nachtschwarze Worte
Band 2: Liga Lexis – Blutrote Tinte
Band 3: Liga Lexis – Silberhelle Welten
Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book
© 2025, Fischer Sauerländer GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München, www.ava-international.de
Umschlaggestaltung und Vignette: Alexander Kopainski unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Lektorat: Nina Hübner
Covergestaltung: Alexander Kopainski unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Coverabbildung: ###
ISBN 978-3-7336-0604-6
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Widmung
Rückblick
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
EPILOG
Glossar
Hinweis zu sensiblen [...]
Das war eine [...]
Für A., die immer noch fehlt.
Du hast ja keine Ahnung, was du verpasst.
Nachdem Annie in dem zerstörten Weltbestseller Vielleicht niemals, vielleicht nicht nur auf verschiedenste Kreaturen aus dem Limbus, sondern auch auf ihre Doppelgängerin Anne und den gefährlichen Fährmann Charon getroffen ist, beschließt sie, in die Welt der gestrichenen Buchfiguren zu reisen. Ein äußerst gefährliches Unterfangen, denn im Limbus gibt es keine Idea. Um die Reise unbeschadet zu überstehen, schreibt Annie eine Geschichte, wie sie in den Limbus geht und sicher von dort zurückkehrt. Und tatsächlich landet sie kurz darauf in einem Haus, das ihr fremd und gleichzeitig vertraut vorkommt. Hier wohnen alle Figuren, die sie je erfunden und aus Geschichten gestrichen hat. So wie Anne, die auf einem alten Tagebucheintrag von ihr basiert und Annie nun dafür verantwortlich macht, ihr Leben im Limbus fristen zu müssen.
Da Annie nicht zu ihrer wütenden Doppelgängerin durchdringen kann, verlässt sie das Haus und trifft auf die junge Sherley Holmes, die ihr hilft, in das Hauptquartier Charons einzudringen. Dort macht Annie eine unglaubliche Entdeckung: Der Fährmann ist ein Migra! Und er ist nicht allein. Charon wird von einer düsteren Frau unterstützt, die die Bewohner des Limbus fast noch mehr fürchten als ihn selbst. Unterdessen plant die Liga Lexis einen großen Ball auf Bookford Manor, um Stärke und Einigkeit zu demonstrieren. Annie und ihre Freunde nutzen die Feierlichkeiten, um unbemerkt in das Archiv der Bibliothek einzudringen. Doch anscheinend hatten nicht nur sie diesen Plan. Denn Caspian ist bereits im Archiv, und Annie erfährt etwas über ihre Herkunft, das alles erschüttert. Ist Charon wirklich ihr Vater?
Noch bevor sie den unglaublichen Verdacht verdauen kann, bricht ein Tumult auf Bookford Manor aus. Charon und sein Gefolge haben Annies Zugang zum Limbus genutzt, um in die Schule einzudringen. Gemeinsam mit Direktorin Abraham – die zu Annies Entsetzen mit dem Fährmann unter einer Decke steckt – entführt dieser Caspian und sie. Ihr Ziel ist die British Library, eines der mächtigsten Idea-Zentren der Welt. Hier wird jeder Satz, den Annie aufschreibt sofort wahr.
Nachdem Annie den von Hyacintha geforderten Satz, der den Limbus auf Erbsengröße schrumpfen soll, zu Papier gebracht hat, verbrennt sie nicht nur das Blatt, sondern ihre gesamte Hand, um mit einem heimlich darauf geschriebenen Satz den Limbus doch noch zu retten. Der Schmerz raubt ihr das Bewusstsein.
Als sie wieder aufwacht, knien Abraxas, Mac und Fitz über ihr. Und dann taucht plötzlich Malice auf. Sie ist die düstere Frau, die den Fährmann bisher unterstützt hat. Doch nun, da sie frei ist, braucht sie ihn nicht mehr. Sie bricht ihm kaltblütig das Genick und tötet Abraxas. Dann stürmen unzählige Agent*innen die Bibliothek, und Malice ergreift die Flucht, während Abraxas in Annies Armen stirbt …
Berlin. Im Lichte der bücherbezogenen Ausschreitungen der vergangenen Wochen sieht sich die Bundesregierung gezwungen, einschneidende Maßnahmen zu ergreifen, um weitere Opfer und noch schlimmere Zerstörungen zu verhindern.
Zwar ist nach wie vor nicht geklärt, was die Welle der Gewalt gegen Buchläden und deren Betreibende ausgelöst hat, doch unabhängig vom Auslöser bleibt die Pflicht, einer weiteren Eskalation entgegenzuwirken. Die Regierung nimmt hiermit ihre Verantwortung sehr ernst. Forschende renommierter Universitäten aus verschiedenen Fachrichtungen sind bereits dabei, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Eine hinter den Ausschreitungen steckende Krankheit wird nicht ausgeschlossen, da sich die Betroffenen im Nachhinein meist nicht mehr an ihr Handeln erinnern können, jedoch vermuten verschiedene Expert*innen psychische Ursachen, die unmittelbar mit dem Lesen von Unterhaltungsromanen in Zusammenhang stehen. Der Leiter der forensischen Psychiatrie »Auf dem Hügel« in Berlin-Woltersdorf, Professor Tibor Tannschwarz, hat die Vermutung geäußert, dass die Gehirne psychisch vorbelasteter Personen mit dem Spannungsfeld zwischen fiktiver Unterhaltungsliteratur und unserem modernen Digitalzeitalter nicht (mehr) zurechtkommen. Um diese These zu stützen oder zu widerlegen, fehlen derzeit allerdings noch empirische Daten.
Da aufgrund der Dringlichkeit der Ereignisse die Ergebnisse der Studien nicht abgewartet werden können, beschließt die Bundesregierung folgende Maßnahmen mit sofortiger Wirkung:
Sämtliche Bibliotheken, ob öffentlich oder privat, bleiben vorerst geschlossen, die Mitarbeitenden werden freigestellt. Buchhandlungen wird der Betrieb bis auf Weiteres untersagt. Der Einzelhandel ist verpflichtet, Ladengeschäfte, in denen fiktionale Werke und ähnliche Druck-Erzeugnisse zum Verkauf angeboten oder gelagert werden, zu schließen und nach Möglichkeit zusätzlich durch zum Beispiel Rollläden zu sichern.
Universitäten sind dazu aufgefordert, ihre Bibliotheksbestände genauestens zu prüfen und sämtliche Prosa aus dem Bestand zu nehmen.
Privathaushalte werden dringend dazu aufgefordert, fiktive Werke aus ihren vier Wänden zu entfernen; es werden in den kommenden Tagen in ganz Deutschland entsprechend gesicherte Annahmestellen für Bücher eingerichtet. Es ist ferner verboten, Bücher zu erwerben, privat zu verkaufen oder zu verleihen. Vom Lesen von Unterhaltungsliteratur wird dringend abgeraten.
Die Kanzlerin sagte dazu am Morgen: »Uns ist bewusst, dass diese Maßnahmen für viele Menschen in unserem Land sehr schmerzlich sein werden. Ich kann Sie nur alle bitten, den Ernst der Lage zu verstehen. Zwar wissen wir noch nicht, warum, aber das Lesen ausgedachter Geschichten ist lebensgefährlich. Machen Sie sich das bewusst, wenn Sie mit dem Gedanken spielen, ein Buch in die Hand zu nehmen. Sollten Sie sich nicht freiwillig an die Maßnahmen halten, drohen im nächsten Schritt strafrechtliche Konsequenzen.«
Mit einem tiefen Seufzen legte María Díaz de León die Zeitung zur Seite und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Politikerin wunderte sich. Über ihr eigenes Verhalten und das der Kabinettsmitglieder, die mit ihr am Tisch saßen. Das passierte nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen. Immer dann, wenn sie müde wurde oder Kopfschmerzen bekam oder gerade nicht richtig hinhörte, kamen der spanischen Ministerpräsidentin Zweifel, ob sie wirklich das Richtige taten.
»María!«
Die Präsidentin zuckte zusammen. Als sie den Kopf hob, blickte sie direkt in Malice’ schwarze Augen. Sie erinnerten María an glänzende Edelsteine. Oder an Magneten. Jedenfalls war es ihr unmöglich, nicht hineinzusehen. Wegzuhören. Oder sich abzuwenden. Wo Malice war, musste auch sie sein.
Sie räusperte sich und streckte den Rücken durch. »Verzeiht«, sagte Díaz de León und blickte in die Runde. Die anderen Mitglieder ihrer Regierung sahen genauso müde und abgekämpft aus, wie sie sich fühlte. Kein Wunder, schließlich waren sie schon seit vielen Stunden in diesem Konferenzraum. Und die vergangenen Tage waren ein einziger Fiebertraum gewesen. »Ich bin ein wenig erschöpft«, erklärte sie und zwickte sich in die Nasenwurzel.
Innenminister Juan da Silva warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, während Malice nur missbilligend zischte.
»Schwäche ist deiner Position nicht angemessen«, bemerkte sie streng.
María nickte. Eher mechanisch als willentlich. »Wir sind uns also einig, dass ein Bücherverbot der einzige Weg ist, mit der Bedrohung umzugehen?«, fragte sie, und ihre Mitregierenden brummten zustimmend.
Etwas in ihrem Kopf flüsterte, dass das nicht richtig sein konnte. Es fühlte sich definitiv falsch an. Spanien war ein Land der Literatur – sie hatten sogar einen hochrangigen Feiertag, der Bücher zelebrierte, dios mío. Und doch schien es keine andere Lösung zu geben.
Malice jedenfalls nickte ernst. »In Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland hat diese Methode die größte Wirkung gezeigt«, erklärte sie und lächelte leicht.
Dieses Lächeln jagte María einen Schauer über den Rücken. Und doch konnte sie nicht anders, als der Frau zu vertrauen. Wobei vertrauen vielleicht nicht das richtige Wort war. Sie nahm Malice sehr ernst. Und María wusste, dass es Malice gewesen war, die in Deutschland und den Niederlanden das Schlimmste verhindert hatte, nachdem die Lage in Großbritannien so schrecklich eskaliert war. Auf keinen Fall wollte sie so viele Menschenleben gefährden und ihre Wiederwahl gleich mit aufs Spiel setzen.
»Ich habe vorhin noch einmal mit Kanzlerin Engelbrecht in Berlin telefoniert«, erklärte María müde. »Sie hat mir bestätigt, dass die Lage in Deutschland unter Kontrolle ist. Keine Ausschreitungen mehr. Und keine Toten.« Sie rieb sich die pochenden Schläfen und deutete auf die Zeitung vor sich. »Die Pressemitteilung der Bundesregierung habt ihr ja sicher alle gelesen. Engelbrecht hat mir freundlicherweise auch den Gesetzesentwurf zum Bücherverbot zugemailt. Nach der Übersetzung ins Spanische können wir den Entwurf an unsere Rechtserfordernisse anpassen.«
»Das«, sagte Malice sanft, »kann ich gerne übernehmen.«
María lächelte der Frau zu. »Vielen Dank, Malice«, erwiderte sie, und es kam von Herzen. »Was würden wir nur ohne dich machen?«
Ich öffnete die Augen und blickte mich neugierig um, während das vertraute Schwindelgefühl nachließ und meine Organe in ihre Ursprungsposition zurückfanden. Caspians Hand umschloss meine, und ich drückte sie leicht, bevor ich unsere Verbindung löste. Wie immer war ich ein bisschen wehmütig, Caspian loslassen zu müssen; seit wir wieder zusammen waren, hatte ich jedes Mal Angst, diese Finger ein letztes Mal gespürt zu haben. Ich hatte ihn schon zweimal fast verloren, das konnte ich nicht vergessen. Je ernster die Situation um uns herum wurde, desto kostbarer erschien er mir. Eigentlich wollte ich ihn nie wieder loslassen. Doch es ging nicht anders. Ich hatte nur noch eine Hand, die richtig funktionierte, und die brauchte ich jetzt. Denn meine linke Hand, die ich mir in der British Library verbrannt hatte, um die Zerstörung des Limbus und der Lexis zu verhindern, steckte in einer Schicht von Doktor Fornax’ besonders straffen Kompressionsverbänden, um zu starke Narbenbildung zu verhindern. Zwar nötigte mich die Heilende von Bookford Manor auch zu täglicher Reha, doch wir beide wussten, dass meine linke Hand nie wieder wie vorher werden würde. Zum Glück waren die tieferen Hautschichten nicht zerstört worden, doch es reichte, um die Finger nicht richtig beugen zu können. Keine Faust machen zu können. Die Narben verringerten die Bewegungsfähigkeit dauerhaft.
Auch Caspian musste sich an seinen abgetrennten kleinen Finger noch gewöhnen. Häufig fielen ihm Dinge aus der Hand. Außerdem verursachte ihm sein Stumpf immer wieder starke Schmerzen, oder er fühlte, dass seine Fingerkuppe juckte, obwohl sie gar nicht mehr da war. Phantomschmerz hieß das im Fachjargon, und ich fand dieses Phänomen, im Gegensatz zu vielen anderen Leuten, überhaupt nicht ungewöhnlich. Die meisten Dinge taten erst richtig weh, wenn sie weg waren. Doch an all das wollte ich jetzt nicht denken.
Ich schob die grauen Wolken, die meine Gedanken verdunkelten, zur Seite und nahm mir einen Moment, um die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Einfach nur zu fühlen, was mich umgab, und dieses Gefühl zu genießen. Es war gut, wieder in der Lexis zu sein. Auch wenn ich bereits wahrnehmen konnte, dass die Idea-Konzentration in der gesamten Literatur nachgelassen hatte. Die Kraft, die uns am Leben hielt, brandete nicht wie eine Flutwelle gegen meinen Körper, sondern kroch nur noch durch ihn hindurch. Floss sanft und gemächlich. Was gerade hier ganz anders sein sollte. Dennoch genoss ich es, einer Idea nachzuspüren, die ich in- und auswendig kannte.
»Danke, dass du mich überredet hast«, sagte ich, und Caspian lächelte.
»Es ist schön, dass du mitgekommen bist«, antwortete er. Ich nickte. Ja, es war tatsächlich schön.
Seit der Blutigen Ballnacht war ich nicht mehr mit einem Oxy gereist. Die letzten sieben Tage hatte ich mich im Krankenflügel verkrochen und nur Caspian, Zett, Fitz und Mac an mich herangelassen. Sonst hatte ich niemanden sehen wollen. Oder können. Die ersten Tage nach der grausamen Nacht, in der Malice in die Terra eingedrungen war und sowohl Abraxas als auch meinen Vater – oder vielmehr: meinen brutalen, narzisstischen, von Allmachtsfantasien überwältigten Erzeuger – getötet hatte, war es mir nicht einmal gelungen, zu sprechen. Dabei hatte ich es wirklich versucht. Mein Kopf hatte einfach dichtgemacht. Wie ein Computer, der sich aufhängt. Zu viele Tabs geöffnet. Mir war klar, dass es ein Schutzmechanismus meines Gehirns war, sich abzuschotten, um nicht komplett kaputtzugehen. Trotzdem hatte ich mich geschämt. Dafür, nicht mehr zu funktionieren. Als wäre ich beschädigt.
Als ich dann wieder richtig zu mir gekommen war, war es auch nicht viel besser gewesen. Die Taubheit war eine besondere Form von Gnade gewesen, die mir nun verwehrt war. Inzwischen fühlte ich alles. Jede noch so kleine Regung in meinem Herzen. Und das meiste davon war Schmerz. Doch der trat in diesen Minuten in den Hintergrund und machte Aufregung Platz. Denn wir erfüllten mir gerade einen riesengroßen Wunsch.
Was auch der einzige Grund war, warum Oberon überhaupt den Schlüssel zu einer der Oxykabinen herausgerückt hatte. Weil meine Freunde und er selbst dachten, diese Reise könnte mir vielleicht helfen, meinen Schmerz zu lindern. Es rührte mich zu wissen, dass Oberon bereit war, die Regeln zu brechen, um mir eine Freude zu machen.
Ich hob den Blick und lächelte Caspian an, in dessen Gesicht eine solche Wärme stand, dass ich ihn einfach küssen musste. Also stellte ich mich auf die Zehenspitzen und schlang meine Arme um seinen Hals. Wenn die schrecklichen Ereignisse ein Gutes gehabt hatten, dann war es, dass ich ihn wirklich und wahrhaftig wiederhatte. Ich schloss die Augen und küsste ihn, presste meinen Körper gegen seinen und genoss es, dass er mich noch fester an sich zog, als wollte er, dass kein einziges Luftmolekül mehr zwischen uns passte.
»Igitt, das darf doch nicht wahr sein!«, hörte ich plötzlich eine krächzende Stimme über uns schimpfen und zuckte zusammen.
»Noch mehr knutschende Teenager!«
Caspian sah mich stirnrunzelnd an. »Tut dir was weh?«, fragte er besorgt.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nur … hast du ihn nicht gehört?«
»Wen?«, fragte Caspian, während der kleine Wasserspeier, der über uns am Kronleuchter hing, in begeistertes Jauchzen ausbrach.
»Sie kann mich höööööören!«, trällerte er überschwänglich und begann mit dem riesigen Lüster vor Freude hin und her zu schaukeln. Die Halterung quietschte bedrohlich, und ich trat vorsichtshalber einen Schritt zur Seite.
»Xemerius«, antwortete ich und musste das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit richtig lachen. Der kleine Wasserspeier gehörte zu meinen absoluten Lieblingscharakteren der Edelsteintrilogie, einer Zeitreise-Romantasy-Saga, die ich liebte, seit meine Mutter sie mir aus der Bibliothek mitgebracht hatte, als ich elf Jahre alt gewesen war. Und in die wir gerade mit einem Oxy gereist waren.
Ich deutete nach oben. »Kannst du ihn etwa nicht sehen?«
»Sie kann mich hören und sehen!«, quiekte Xemerius aufgeregt, und ein eiskalter Schwall Wasser klatschte mir in den Nacken.
»Ups«, sagte der kleine Dämon und ließ betreten die Ohren hängen. »Entschuldigung. Das passiert immer, wenn ich aufgeregt bin.«
»Schon gut«, erklärte ich und wischte mir den Nacken trocken. »Das meiste ist zum Glück daneben gegangen.«
Caspian hatte mich während des gesamten Austauschs besorgt betrachtet. »Hast du Kopfschmerzen?«, fragte er und griff nach meinem Arm. »Sollen wir lieber zurück …?«
»Nein, nein«, ich schüttelte den Kopf. »Mit mir ist alles in Ordnung. Xemerius ist ein Wasserspeierdämon, also, er ist der Geist eines Wasserspeierdämons und deshalb unsichtbar, jedenfalls für dich und … ach, das ist ein bisschen kompliziert zu erklären, aber eigentlich kann nur Gwendolyn ihn sehen.«
»Und Madame Tussaud«, krächzte Xemerius und hob mit neunmalklugem Gesichtsausdruck den Zeigefinger. »Aber die zählt nicht. Sie ist schon lange tot. Außerdem war sie … na ja … nicht ganz dicht.«
»Aha«, sagte Caspian und schien noch nicht ganz überzeugt.
»Was ist sein Problem?«, krähte Xemerius und legte den Kopf schief. »Außer, dass seine Haare aussehen wie Spirelli-Nudeln …«
»Tun sie überhaupt nicht«, sagte ich. »Sie sind wunderschön golden.« Ich dachte nach. »Wie bei einem Engel!«
»Bäh!«, schimpfte Xemerius und spuckte wieder einen kleinen Schwall Wasser auf den Boden. Doch diesmal hatte ich den Eindruck, dass es mit voller Absicht geschah und mit genauso viel Absicht meinem Freund direkt vor die Füße klatschte.
Caspian stemmte seufzend die Fäuste in die Hüften. Ich streckte die Hand nach ihm aus und wuschelte durch seine Spirelli-Locken.
»Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du die Bücher lesen sollst«, tadelte ich. »Dann wüsstest du auch, wer Xemerius ist, und könntest ihn vielleicht sogar sehen.«
»Jetzt kapier ich!«, rief der Wasserspeier aus. »Ihr zwei seid Migras!«
»Ja, ganz genau«, bestätigte ich nickend. »Und wir müssen dringend mit Gwendolyn und Gideon sprechen. Weiß du, wo sie sind?«
Xemerius legte den Kopf schief und lächelte. »Wenn ich euch zu ihnen bringe … kaufst du mir dann eine Katze?« Der kleine Dämon klimperte mit den Kulleraugen, und ich musste lachen.
»Niemand kauft dir eine Katze, Xemerius«, ertönte eine weibliche Stimme hinter uns, und ich fuhr herum.
Ein Mädchen und ein Junge standen mitten im Flur. Sie waren in etwa so alt wie Caspian und ich.
Natürlich erkannte ich sie sofort, und für einen kurzen Moment war ich starstruck. Was wirklich nicht oft passierte. Doch Gwendolyn Shepherd und Gideon de Villiers vor mir stehen zu sehen ließ mein Herz höherschlagen. Ich hätte sie schon viel früher besuchen sollen.
Gwendolyn trug ein blassgelbes Seidenkleid mit weißer Spitze und einen passenden, flachen Hut, der auf ihren dunklen Locken festgesteckt war. Das Ungetüm von Reifrock, das zu dem Ensemble gehören musste, hatte sie sich unter den Arm geklemmt. Gideon stand in glänzenden, hellblauen Kniebundhosen und roter Brokatweste vor uns. Das halblange Haar war in seinem Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengefasst worden. Er lächelte uns interessiert, aber durchaus wachsam entgegen. Mir entging nicht, dass er eine Hand auf den Griff des Degens gelegt hatte, den er am Gürtel trug.
Gwendolyn musterte mich neugierig. »Du kannst ihn sehen?«, fragte sie im selben Moment, in dem Gideon »Parole?« fragte.
»Parole?«, echote Caspian, und ich verfluchte mich endgültig dafür, ihm nicht vorher wenigstens ein bisschen was über die Welt der Edelsteintrilogie erzählt zu haben. Gideon und Gwendolyn waren Zeitreisende, und wir befanden uns gerade in den Räumlichkeiten der Loge des Grafen von Saint Germain. Einer Geheimorganisation zum Schutz der Zeitmaschine – die im Buch »Chronograf« genannt wurde – und der Zeitreisenden. Und jeder, der die Tagesparole nicht kannte, konnte in ernste Schwierigkeiten geraten.
»Ja, kann ich«, bestätigte ich an Gwendolyn gewandt und ignorierte damit Gideon mitsamt der Parole fürs Erste. »Das liegt aber nicht daran, dass ich auch die Magie des Raben habe.« Ich lächelte. »Sondern daran, dass dies hier eines meiner Lieblingsbücher ist.«
»Ihr seid Migras?«, schlussfolgerte Gideon und entspannte sich sichtlich. Caspian und ich nickten synchron.
»Ja, wir heißen Annie Doyle und Caspian de Vries«, stellte ich uns vor.
»Das wurde auch Zeit«, stieß Gwendolyn erleichtert aus. Gideon und sie tauschten einen Blick. »Dokumentenraum?«, fragte Gwendolyn.
Doch Gideon schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Ich hab Madame Rossini gerade das Haus verlassen sehen. Am besten, wir gehen in ihr Atelier.«
»Oh, das ist eine gute Idee.« Gwendolyn seufzte. »Dann kann ich mich auch endlich aus diesen Klamotten schälen.«
»Ich komme mit!«, verkündete Xemerius selbstsicher.
Gwendolyn zwinkerte mir zu. »Wenn Annie dir die Augen zuhält, während ich mich umziehe, habe ich nichts dagegen.«
Wir folgten den beiden durch das alte Gebäude, das ziemlich groß und verwinkelt war, in einen Raum, der wie der Fiebertraum eines jeden Kostümbildenden wirkte.
Caspian pfiff anerkennend durch die Zähne. »Tamino würde ausflippen!«, raunte er mir zu, und ich musste lächeln.
»Wer ist Tamino?«, wollte Gideon wissen, während er versuchte, Platz zu schaffen, damit wir irgendwo sitzen konnten. Er hatte beide Arme voll mit ausufernden Ballkleidern, die er nach kurzer Überlegung über die nächstbeste Kleiderstange warf.
Ich wollte eben antworten, dass Tamino der Gewandmeister von Bookford Manor war, da hörte ich Gwendolyn, die hinter einem Paravent verschwunden war, genüsslich stöhnen. Wahrscheinlich hatte sie gerade ihre Korsage geöffnet. »Ich habe wieder eine Lunge!«, rief sie begeistert.
Gideon lachte kopfschüttelnd. »Und du schreckst nicht davor zurück, sie zu benutzen«, entgegnete er amüsiert. Schalk blitzte in seinen Augen auf. Und Zuneigung.
Mir schoss durch den Kopf, wie ähnlich wir uns waren. Gwendolyn und ich. Caspian und er. Zwei jugendliche Liebespaare, die mittels eines Portals Dimensionen durchbrachen. Und sich anfangs überhaupt nicht hatten leiden können …
»Ah, das ist viel besser«, befand Gwendolyn, als sie in Jeans und einem ausgewaschenen blauen Sweatshirt wieder hinter dem Paravent hervorkam und sich neben Gideon auf den Boden kniete. Der Hut saß zwar noch auf ihrem Kopf, hatte aber erheblich Schlagseite bekommen, und sie versuchte, sämtliche Haarnadeln, mit denen er fixiert worden war, aus ihren Locken zu zupfen. »Was hat Madame Rossini bitte für meine Frisur benutzt?«, fragte sie und riss verzweifelt an einer der Nadeln. »Sprühbeton?«
»Warte, ich helfe dir!«, bot Gideon an und machte Anstalten, die erste Nadel aus Gwendolyns Haaren zu ziehen.
»Ich könnte auch helfen!«, bot Xemerius liebenswürdig an. »Ein bisschen Wasser kann in solchen Fällen Wunder wirken!«
»Bloß nicht!«, zischte Gwendolyn, und Gideon zuckte zurück. Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Ich meine doch nicht dich!« Gwenny seufzte. »Vielleicht sollten wir Xemerius wirklich eine Katze kaufen.«
»Damit er sie fressen kann?«
»Ich kann doch nicht mehr fressen, Torfnase! Was übrigens der einzige Grund ist, warum du noch hier bist!«, krähte Xemerius ungehalten in Gideons Richtung, so laut er konnte. Aber die Torfnase hörte ihn natürlich nicht. Genauso wenig wie mein Spirelli-Löckchen.
»Er kann sie gar nicht fressen. Er ist ein Geisterdämon.« Gwendolyn runzelte die Stirn. »Dämonengeist.« Sie wandte sich an mich. »Aber jetzt erzählt mal, warum ihr gekommen seid. Wir haben gehört, der Anführer der Fremden sei tot?«
Vor Aufregung beugte sie sich leicht nach vorn. Ihre Haare standen mittlerweile in alle Richtungen, sie sah aus, als hätte sie mit nassen Fingern in eine Steckdose gegriffen. Unter normalen Umständen hätte ich das komisch gefunden, doch ihre Worte hatten mich mit grausamer Präzision wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, sodass mir gar nicht mehr nach Lachen zumute war. Wie immer, wenn ich eine Weile nicht an die Blutige Ballnacht gedacht hatte, kamen die Erinnerungen daran noch viel grausamer zurück. Ich beugte und streckte meine verbrannten Finger, was ziemlich schmerzhaft war, mir aber half, mich zu konzentrieren.
»Ja«, bestätigte Caspian. »Wir waren dabei.«
Gideon sog scharf Luft durch die Zähne, und über unseren Köpfen brach Xemerius in einen Jubelgesang aus. Er flatterte aufgeregt von Kleiderstange zu Kleiderstange und schien sich überhaupt nicht mehr einzukriegen.
»Trotzdem seid ihr noch nicht in Sicherheit«, sagte ich, und der Jubelgesang des kleinen Dämons endete abrupt. Offenbar hatte ich ihn mit meiner Aussage so kalt erwischt, dass er direkt auf eine Wand zu- und durch sie hindurchflog, während er mich anstarrte. Wenige Sekunden später tauchte er grummelnd wieder auf.
»Ja, leider«, bestätigte Caspian. »Mein Vater ist Sicherheitsbeauftragter der Liga Lexis in Zentraleuropa und meint, es gäbe weiterhin Berichte von Angriffen in allen Teilen der Lexis. Außerdem …« Er holte tief Luft. »Außerdem war Charon, ihr Anführer, das geringste Problem. Er hat eine Frau in die Terra geholt, die offenbar noch gefährlicher ist. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie nun das Kommando über Charons Gefolge hat.«
Gideon zupfte sich nachdenklich an der Lippe.
»Könnt ihr mit dem Chronografen andere auf Zeitreisen mitnehmen?«, fragte ich und sprach damit einen Gedanken aus, der mich schon lange umtrieb. Der Chronograf ermöglichte es einer Handvoll Menschen, die ein bestimmtes Gen in sich trugen, durch die Zeit zu reisen. Unter anderem eben Gideon und Gwendolyn. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passierte, wenn Malice diesen Chronografen in die Finger bekäme.
Gideon und Gwendolyn sahen einander an. »Nur die Genträger können durch die Zeit reisen, aber …« Gideon zuckte die Schultern. »Ich habe noch nie versucht, jemanden mitzunehmen. Das würden die Wächter gar nicht zulassen.«
»Wenn das ginge, wäre der ganze Zirkus mit dem Bluteinlesen ja gar nicht notwendig. Und dann wären dein Onkel oder meine Mutter bestimmt schon mal mitgereist. Oder Charlotte hätte dich begleiten können, früher …«, bemerkte Gwendolyn, und was sie sagte, beruhigte mich tatsächlich ein wenig.
»Okay.« Ich atmete geräuschvoll aus. Dann sah ich vom einen zum anderen. »In der Loge seid ihr recht gut geschützt, denke ich. Aber vielleicht solltet ihr besser vorerst hierbleiben und nicht mehr nach Hause fahren.«
»Was ist mit unserer Handlung?«, fragte Gwendolyn. Auf ihrem Gesicht breitete sich Ratlosigkeit aus. »Wenn wir nicht in unserer Handlung bleiben, schadet das der Idea des Buches.«
»Wenn einem von euch beiden etwas zustößt, wäre das noch viel, viel schlimmer«, entgegnete ich.
»Was soll ihnen denn zustoßen?«, fragte Xemerius und flatterte aufgeregt über Gwendolyns Kopf herum. »Ich bin schließlich hier, um Gwendolyn zu beschützen. Ich bin ihr bester Freund.« Mit einem Seitenblick auf Gideon fügte er hinzu: »Und Funkelsteinchen würde ich auch nicht den Löffel abgeben lassen. Irgendwie habe ich mich an ihn gewöhnt.«
»Wie solltest du die beiden denn gegen Limbuswesen verteidigen?«, wollte ich mit hochgezogenen Brauen wissen. »Mit kaltem Wasser?«
Xemerius verschränkte die Arme. »Ich bin viel mächtiger, als du denkst, Feuerlöckchen!«
Oha, jetzt hatte ich schon einen eigenen Spitznamen. »Wenn du so mächtig bist, warum kaufst du dir dann nicht selbst eine Katze?«, neckte ich den kleinen Wasserspeier und zuckte zusammen, als im nächsten Moment keine Erwiderung ertönte, sondern ein dumpfer Schlag, der das ganze Haus erzittern ließ.
Caspian griff nach meiner Hand. Ich fühlte, dass seine Finger eiskalt waren und er leicht zitterte. Körpergedächtnis. »Hörst du das?«, fragte er, und ich nickte. Auch mir wurde kalt.
Das Geräusch, das plötzlich über der Stadt erklang, war uns beiden nur allzu bekannt. Ein Rauschen, Rumpeln und Heulen ertönte. Noch war es nicht sehr laut. Doch wir wussten, dass es in den nächsten Stunden an Lautstärke zunehmen würde.
»Was ist das?«, fragte Gideon.
Caspian schloss die Augen. »Das ist ein Riss in der Lexis. Tut mir leid, Leute.«
Gwendolyn setzte sich kerzengerade hin und lauschte. Sie war mit einem Schlag sehr blass geworden. Sogar Xemerius hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen.
»Was bedeutet das?«, fragte sie schließlich, und aus einem Impuls heraus streckte ich meine Hand nach ihr aus.
»Ihr werdet angegriffen«, antwortete ich. »Und die Idea wird nach und nach aus eurem Buch verschwinden.«
Ich schluckte. Uns war allen klar, dass meine Worte einem Todesurteil nicht unähnlich waren. Wir konnten zurück in die Terra. Gideon und Gwendolyn mussten hierbleiben. Sie konnten nicht aus Saphirblau hinaus.
Ein weiterer Schlag ertönte. Diesmal jedoch nicht weit entfernt am Rand des Buches, sondern irgendwo im Haus. Es klang so, als würde jemand versuchen, die Tür einzubrechen.
Der kleine Wasserspeier verschwand pfeilschnell durch die Wand in Richtung Straße, nur um wenige Augenblicke später schwer atmend zurückzukehren. »Da schlagen fünf große Kerle gegen die Tür«, rapportierte er. »Die sehen alle aus, als wären sie nicht richtig zusammengenäht worden. Wie hässliche Quilts.«
»Limbuswesen«, sagte ich, und Caspian wurde blasser, als er ohnehin schon war.
»Geht!«, rief Gwendolyn.
Caspian zog mich auf die Füße. »Versteckt euch!«, forderte er seinerseits, und ich griff nach Gwendolyns Hand.
»Verbergt euch in der Zeit. Sie können euch nach der Logik des Buches nicht folgen. Es würde ewig dauern, bis sie euch finden, bei all den Schauplätzen, die es hier gibt.«
Gideon legte den Arm um Gwendolyns Schulter. »Dann wäre der Chronograf aber ungeschützt. Das können wir nicht machen.«
Wieder krachte es, und Rufe erklangen aus den Tiefen des Hauses. Gideons Miene wurde grimmig. »Die Wächter sind kein wehrloser Haufen Wissenschaftler. Wir werden den Chronografen schon verteidigen.«
»Gut. Und wir müssen gehen.« Caspian zog an meinem Ärmel.
Ich wollte nicht gehen. Ganz im Gegenteil. Ich wollte mir einen Degen schnappen oder am liebsten gleich eine Pistole und mich schreiend auf die Kerle stürzen, die vor der Tür standen.
Meine Trauer verwandelte sich in gleißende Wut. Ich war so wütend, dass diese Typen darauf aus waren, meine Welt zu zerstören, dass ich kaum atmen konnte. Es war ihre Schuld, dass Abraxas nicht mehr lebte, dass auf Bookford Manor noch sechs andere Lehrende ihr Leben gelassen hatten. Ihre Schuld, dass Mentorin Vesta tot war. Ihre Schuld, dass so viele Migras ihre Lebenskraft verloren. Meine Arme zitterten, und ich konnte vor lauter Wut kaum noch geradeaus denken.
Caspian schien es zu spüren, denn er strich mir sanft über den Arm. »Wir werden gegen sie kämpfen«, raunte er beruhigend. »Aber nicht so, Annie. Nicht so.«
Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Es stand Angst darin. Und Besorgnis. Caspian hatte so viel mehr gesehen und durchgemacht als ich. Er hatte bereits versucht, den Limbuswesen mit dem Schwert beizukommen, und war gescheitert. Genau wie meine Freunde Silberkorn und Fingerhut. Mein Bedürfnis, mich den Eindringlingen entgegenzustellen, war egoistisch, das war mir klar. Es war der verzweifelte Versuch, etwas gegen die nagende Schuld zu unternehmen, die mein Herz jeden Tag aufs Neue zerfraß. Doch Caspian sollte nicht noch einmal darunter leiden müssen. Also nickte ich.
Es fiel mir unglaublich schwer, mich von Gwendolyn zu lösen. Sie war eine meiner liebsten Buchfiguren. Genau wie Fingerhut lag sie mir schon seit vielen Jahren so sehr am Herzen, dass ich den Gedanken, ihr, ihrer Familie oder Gideon könnte etwas zustoßen, nicht ertrug. »Passt auf euch auf!«, bat ich.
Gwendolyn lächelte. »Ich bin von einem gruseligen Grafen telepathisch gewürgt worden. Da schaffe ich diese Typen doch mit links«, erklärte sie, doch in ihren Augen standen Tränen. Ich schluckte und hielt ihre Hand noch ein bisschen fester.
Irgendwo weiter unten ging ein Fenster zu Bruch. »Annie, bitte!«, flehte Caspian, und diesmal ließ ich mich von ihm mitziehen.
Wir rannten zurück durch das große Haus in Richtung unseres Portals. Doch bevor wir auch nur in die Nähe des Gravitationsfeldes kamen, riss uns eine Druckwelle von den Füßen. Caspian und ich krachten ungebremst mit den Hinterköpfen auf den Boden und wurden im nächsten Moment in die Höhe gerissen.
Caspians Finger krampften sich fest um meine, und ich kniff die Augenlider zusammen.
Mein Körper wurde zusammengestaucht und in die Länge gezogen. Um mich herum herrschte schier unerträgliche Hitze. Der Geruch von verbrannten Haaren stieg mir in die Nase, und mir drehte sich der Magen um. Zu spät, dachte ich nur. Zu spät, zu spät, zu spät.
Es dauerte endlos lange, bis wir schließlich auf eine Schieferplatte krachten.
Im nächsten Moment spürte ich Caspians Hände hektisch auf meinen Kopf und die Schultern schlagen. Ich brauchte ein bisschen, um zu begreifen, dass meine Haare Feuer gefangen hatten.
Als ich den Kopf hob, sah ich Mac erschrocken auf die Füße springen und registrierte am Rande meines Bewusstseins, dass Rajs Lippen sehr rot und ein bisschen geschwollen wirkten, während sein Blick irgendwie glasig war. Toll. Während wir fast verbrannt waren, hatten die beiden rumgeknutscht.
»Was ist passiert?«, wollte Mac wissen und zog dabei erst mich und dann Caspian hoch. Raj hatte sich auch gefangen und hielt Caspian seinen Gehstock hin, auf den er sich nun stützte.
Mein Freund schleppte sich zur Wand und rutschte daran herab, bis er schließlich schwer atmend mit dem Rücken gegen den groben Stein gelehnt sitzen blieb. Der Gehstock mit dem Familienwappen der de Vries, der, wie ich mittlerweile wusste, seiner Großmutter gehört hatte, fiel klappernd zu Boden.
Innerhalb der Lexis war es Caspian oft möglich, ohne Stock unterwegs zu sein, und auch auf Bookford Manor benutzte er ihn selten. Aber nach einer Reise in die Lexis, wenn sein Körper großen Idea-Schwankungen ausgesetzt gewesen war, brauchte er die Gehhilfe immer für einige Stunden. Reisen schwächte ihn, und ich war ihm sehr dankbar, dass er dennoch mit mir gekommen war.
»Sie haben das Buch angegriffen. Irgendwelche Kerle aus dem Limbus«, erklärte ich, nach Atem ringend.
»Also war dein Bauchgefühl richtig«, folgerte Mac, und ich nickte, wobei mir schwindlig wurde.
Einen Moment lang musste ich die Hände auf meine Oberschenkel stützen und tief durchatmen, bis ich mich einigermaßen gefangen hatte und die Welt aufhörte, sich zu drehen. Dann hob ich den Blick. Wieder schoss mir heiße Wut wie eine feurige Flutwelle durch den Körper.
»Ich gehe zurück«, befand ich und begann in dem Buch zu blättern, das in der Halterung lag. »Ich muss weiter vorne hin«, murmelte ich mehr zu mir selbst. »Ich muss sie früher warnen. Wir waren zu spät.« Ich streckte die Hand aus. »Mac, gib mir deinen Degen.«
»Du wirst da ganz sicher nicht noch einmal reingehen«, protestierte Caspian, doch ich ignorierte ihn. Ich hatte jetzt keine Zeit für diese blöde Diskussion.
»Wo ist Band eins?«, fragte ich, und Mac hielt mir nur Sekunden später das geforderte Buch sowie eine Waffe unter die Nase. Dabei zog er die Brauen leicht nach oben, wie immer, wenn er mich wissen lassen wollte, dass er etwas für »keine gute Idee« hielt. Aber er verkniff sich seine Kritik. Im Gegensatz zu Fitz war Mac der Meinung, dass jede Person ein Recht auf ihre eigenen Fehler hatte.
Ich konnte von Glück sagen, dass Fitz nicht hier war. Unsere rationale, vernünftige Freundin würde sicher nicht aufhören, mir ins Gewissen zu reden.
Zwar wusste ich, dass mein Vorhaben gefährlich war, doch das hieß noch lange nicht, dass ich es nicht tun würde. Zumindest einen Versuch musste ich starten.
Ganz sicher konnte ich Gwendolyn und Gideon nicht einfach so ins Messer laufen lassen. Verflucht, ich hätte gleich in Rubinrot springen sollen!
Mit zitternden Fingern suchte ich nach einer Stelle im Text, an der ich die beiden Zeitreisenden antreffen würde. Am besten in der Vergangenheit und nicht im Hauptquartier der Wächter, dem ersten Ziel der Limbuswesen. In diesen Bereich der Trilogie war die Idea hoffentlich noch intakt.
»Annie«, hörte ich Caspians Stimme hinter mir, und seine Hand legte sich auf meine Schulter.
Ich schüttelte sie ab. »Nein, Caspian. Ich kann nicht damit leben, es nicht zu versuchen, verstehst du?« Kurz hob ich den Blick, um ihn anzusehen. »Ich lasse niemanden einfach so im Stich.« Meine Augen füllten sich mit Tränen, doch ich wischte sie ärgerlich weg.
Caspian streckte seine gesunde Hand aus, um mir eine meiner verkohlten Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen. Diese zärtliche Geste zerriss mir fast das Herz.
»Ich weiß«, flüsterte er. »Du hast ja sogar meinen mickrigen Hintern gerettet. Und deshalb habe ich den absolut egoistischen Wunsch, dass du mit deinem eigenen Hintern bleibst, wo du bist. Aber wenn du unbedingt zurückmusst, begleite ich dich.«
Ich schüttelte vehement den Kopf. »Du bist geschwächt, eine weitere Reise würde es nur noch schlimmer machen. Ich gehe allein.«
Caspian hob die Brauen und sah mich tadelnd an. »Du hältst mich nicht davon ab, dafür halte ich dich nicht davon ab.« Er lächelte leicht. »Wenn ich das nächste Mal sterbe, dann möchte ich wenigstens bei dir sein«, flüsterte er dicht an meinem Ohr. »Du hast mich ab jetzt an der Backe, schon vergessen?«
Seine Worte schickten mir eine Gänsehaut den Rücken hinab.
»Okay.« Ich musterte ihn aufmerksam. Zumindest schwankte er nicht, was ein gutes Zeichen war. Ich tippte auf eine kurze Textpassage im ersten Drittel des Buches. »Wir versuchen es hiermit.«
So schnell ich konnte, kritzelte ich die Worte auf die Schieferplatte, riss Saphirblau aus der Halterung und tauschte es gegen Rubinrot.
Raj und Mac beobachteten angespannt, wie Caspian und ich in den Schieferkreis traten. Mac griff nach Rajs Hand und Caspian nach meiner.
Mein sonst so gut gelaunter, beinahe unerschütterlicher Freund sah besorgt aus, als er den Hebel der Vorrichtung auf die Buchseiten hinabsenkte. Doch Mac kannte mich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass mich seine Worte ohnehin nicht von meinem Vorhaben abbringen würden.
Schließlich gehörte er ebenfalls zu den Personen, für die ich, ohne mit der Wimper zu zucken, mein Leben riskieren würde.
Caspian und ich lasen die Worte auf der Schieferplatte laut, und im nächsten Moment fühlte es sich so an, als würde eine feurige Hand nach meinen Knöcheln greifen. Die Hitze, die vom Portal ausging, war unbeschreiblich, und ich sog scharf Luft durch die Zähne. Die Kraft riss an meinen Füßen, zog mich ein Stück nach unten, nur um mich – und mit mir Caspian – im nächsten Moment mit voller Wucht zurückzuschleudern.
Ich verlor den Halt und krachte gegen das Bücherpult, das ich beinahe mit zu Boden riss. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten stieg Rauch von meinen Haaren auf.
Diesmal war Raj bei mir und warf mir geistesgegenwärtig seine Kapuzenjacke über den Kopf, um Schlimmeres zu verhindern. Als ich unter dem Stoff hervorlugte, saß Caspian erneut schwer atmend an die blanke Steinmauer gelehnt da. Ein paar seiner Haarspitzen waren dunkel angesengt.
Xemerius würde wohl sagen, seine Spirelli wären angebrannt.
Rubinrot lag schwelend am Boden, und mir zog es das Herz zusammen, als mein Blick auf die Illustration des Covers fiel. Ein Junge und ein Mädchen in prächtigen Gewändern, die miteinander zankten.
Nur am Rand nahm ich wahr, dass mir Tränen über die Wangen liefen. »Bitte, lass sie okay sein«, flüsterte ich. »Bitte, bitte lass sie okay sein.«
»Nichts ist mehr okay«, murmelte Raj traurig. Er hatte eine Art, alles auszusprechen, woran ich nicht einmal denken wollte.
Mein Herz, das sich vorher noch zusammengezogen hatte, wurde bei diesen Worten hart.
»Richtig«, bestätigte ich grimmig und rappelte mich hoch. »Nichts ist mehr okay. Warum sollten sie es dann sein?«
Wenig später saßen wir alle zusammen auf dem Matratzenlager, das wir in Macs Zimmer eingerichtet hatten. Fitz war vor wenigen Minuten zu uns gestoßen und wir hatten ihr sofort berichtet, was in der Edelsteintrilogie geschehen war. Jetzt saß sie zusammengekauert auf der äußersten Ecke ihrer Matratze und knabberte an einer Haarsträhne herum. Ihr war anzusehen, dass ihr unser Bericht zu schaffen machte. Fitz war in letzter Zeit stiller geworden. Normalerweise suchte sie in jeder Situation nach einer Lösung, doch neuerdings kam es mir so vor, als würde meiner Freundin allmählich die Kraft ausgehen. Vielleicht fühlte sie sich aber auch nur einsam. Raj war vor ein paar Tagen zu uns gezogen, genau wie Caspian. Wir waren also mittlerweile zu fünft, und ich verstand, dass Fitz die Situation an die Nieren ging. Sie musste sich buchstäblich wie das fünfte Rad am Wagen fühlen, und auch wenn ich nach Kräften versuchte, sie überall einzubinden, hatte sich etwas in unserer Dynamik verändert.
Ich suchte ihren Blick und lächelte ihr zu. Zwar lächelte sie zurück, doch es war kurz und kraftlos. Ich verstand nur zu gut, wie sie sich fühlte. Auch ich war an dieser Schule einmal sehr, sehr einsam und verängstigt gewesen. Es blieb zu hoffen, dass ich sie genauso aus dem Sumpf ziehen konnte, wie sie damals mich.
Noch immer hielt ich meine Handflächen auf Caspians Tattoo gepresst, um seinen Idea-Speicher aufzufüllen. Zum Glück funktionierte es, und er bekam allmählich wieder Farbe im Gesicht, das er ein wenig zur Seite gedreht hatte. Seine verletzte Hand ruhte auf meiner, in der anderen hielt er sein Handy, über das er von seinem älteren Bruder Cassiel immer auf dem neusten Stand gehalten wurde. Ich war froh, dass niemand mehr von uns verlangte, unsere Handys in die Schließfächer zu legen, bevor wir das Schloss betraten. Mentor Rosenbaum, der die Schulleitung kommissarisch übernommen hatte, wusste nur allzu gut, wie sehr wir den Kontakt zu unseren Familien jetzt brauchten. Meine Ma und ich schrieben uns mehrmals täglich, und jede Nachricht von ihr beruhigte mich.
Und natürlich ging es Caspian genauso. Doch der Kontakt zu seinem Bruder diente noch einem anderen Zweck.
Zwar machte es mich wütend, auch nur an Cassiel de Vries zu denken, doch die Informationen, die von ihm kamen, waren nützlich. Und er hielt uns wirklich permanent auf dem Laufenden. Die beiden Brüder hatten sich schon lange wieder vertragen, nur ich war nicht bereit, Cassiel so leicht zu verzeihen.
Doch der zweitjüngste de Vries war der Einzige der Geschwister, der nach wie vor in Zentraleuropa als verdeckter Agent arbeitete und hautnah mitbekam, was in der Lexis passierte. Offenbar hatte Brutus nun das Kommando über die Limbuswesen übernommen. Seine Leute marodierten weiterhin durch Romane, die viele Menschen glücklich machten, um dort die wichtigsten Buchfiguren anzugreifen und in manchen Fällen sogar zu töten.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass das alles mit Malice zu tun hatte. Während sie in der Bibliothek auf uns zugekommen war, hatte sie die Gestalt verschiedener literarischer Bösewichte angenommen. Als wäre sie gar keine Person, sondern viele. Das personifizierte Böse eben.
»ACOTAR ist auch betroffen«, murmelte Caspian und runzelte die Stirn. »Und … was ist denn bitte die Millennium-Trilogie?« Fitz zischte tadelnd. »Du vollführst einen Stepptanz auf dünnem Eis, de Vries. Die Millennium-Trilogie ist die vielleicht beste Krimireihe der letzten dreißig Jahre.« Sie runzelte die Stirn. »Aber … ich würde jetzt nicht sagen, dass sie Menschen glücklich macht.«
Caspian setzte sich kopfschüttelnd auf. »Nein, es ist nur … Da lebt eine Buchfigur, die mein Bruder verzweifelt versucht zu erreichen. Offenbar erhofft er sich Hilfe von ihr.«
Nun lachte Fitz laut auf. »Sag Cassiel viel Spaß von mir. Lisbeth ist speziell. Er kann froh sein, wenn sie ihn nicht mit einem Taser attackiert. Oder ihm ein Tattoo verpasst.«
»Was wäre daran so schlimm?«, fragte Mac, und Fitz hob die Brauen.
»Glaub mir: Du willst kein Tattoo von Lisbeth Salander.«
»Von ihr vielleicht nicht«, erwiderte Mac und tätschelte meine Schulter. »Aber von dir.«
Fragend sah ich Caspian an, der nickte. »Danke. Alles wieder gut«, beteuerte er, und ich widersprach nicht.
Seufzend ließ ich meinen Nacken kreisen. Seit ich aus dem Krankenflügel raus war, hatte ich die meiste Zeit damit verbracht, meine Freunde mit Tattoos und Idea zu versorgen. Manchmal fühlte ich mich wie eine Mutter mit mehreren Kindern. Egal, wohin ich mich auch drehte, ständig wollte jemand etwas von mir.
»Ich sterbe vor Hunger«, sagte ich gähnend. »Kann einer von euch was zu essen holen? Und du, Mac, hast du dir schon überlegt, was ich stechen soll?«
Mac nickte und warf Raj einen zärtlichen Blick zu. »Where the fear has gone, there will be nothing. Only I will remain.«
Raj lächelte, und mir stieg ein Kloß in den Hals. Nur zu gut erinnerte ich mich an das erste Tattoo, das ich ihm vor ein paar Wochen gestochen hatte: Fear. Fuck everything and run.
Wir waren gerade Zeugen einer sehr nerdigen Liebeserklärung geworden. Irgendwie schön und gleichzeitig ziemlich schräg, hautnah dabei zu sein. Im wahrsten Sinne des Wortes.
»Ich gehe nirgendwo hin«, flüsterte Raj, und ich konnte kaum noch atmen.
Fitz schnellte auf die Füße. »Ich hol uns mal was zu essen.« Damit war sie aus der Tür. Kurz überlegte ich, ihr zu folgen, aber ich wusste auch, dass sie manchmal allein sein musste. Und momentan war keiner von uns sonderlich oft allein. Doch ich beschloss, möglichst bald mit ihr zu sprechen.
»Gegen Bookford Manor wird ermittelt«, sagte Caspian plötzlich. Er klang alarmiert, und meine Nackenhaare stellten sich auf.
»Von wem?«, wollte Raj wissen.
»Von den Menschen«, antwortete Caspian. »Mein Bruder sagt, die Information stamme aus einer unsicheren Quelle, aber die irische Polizei habe die Schule ins Visier genommen. Bookford Manor steht im Verdacht, etwas mit den Unruhen zu tun zu haben.«
Raj schnaubte. »Das waren bestimmt Leute aus dem Dorf. Wollen wir wetten? Die delinquenten Jugendlichen hier waren ihnen noch nie geheuer.« Er schenkte mir ein trauriges Lächeln. »Vielleicht lässt du das mit dem Tattoo lieber sein und konzentrierst dich auf die Geschichte«, sagte er. »Wenn die fertig ist, kannst du Mac immer noch pieksen.«
Caspian nickte. »Das klingt vernünftig in meinen Ohren«, sagte er. »Ich hab kein gutes Gefühl bei diesen Ermittlungen.«
»Aber ihr braucht eure Tattoos«, protestierte ich. »Gerade, wenn wir von hier wegmüssen.«
»Wichtiger ist die Geschichte«, pflichtete Mac Caspian und Raj bei. »Tätowieren kannst du uns immer und überall. Vorausgesetzt, wir haben einen Safe Space.«
Somit war ich offiziell überstimmt. Ich seufzte.
Es war meine eigene Idee gewesen. Ich schrieb an einer kleinen Geschichte, von der jeder von uns eine Abschrift bekommen würde. So schuf ich uns einen Unterschlupf in der Lexis. Einen Ort, an dem wir uns immer wieder treffen konnten, selbst wenn wir getrennt wurden.
»Ich bin sowieso fast fertig«, erklärte ich und zog das Notizbuch heraus, das Fitz mir geschenkt hatte.
»Denk dran: keine Abenteuer. Keine unvorhergesehenen Wendungen«, ermahnte mich Mac. »Die Geschichte muss unendlich langweilig sein, damit wir dort auch wirklich sicher sind.«
Ich seufzte. »Ja, ja. Aber weißt du, wie schwer es ist, eine Geschichte zu erzählen, in der nichts passiert?«
»Nein.« Caspian grinste und rappelte sich hoch. »Ich weiß überhaupt nicht, wie es ist, eine Geschichte zu schreiben. Aber ich weiß, wie es ist, Essen für fünf Leute allein schleppen zu müssen, immerhin habe ich vier Geschwister. Ich geh mal schauen, ob ich Fitz helfen kann.«
Ich sah ihm nach, als er aus der Tür ging, und fühlte einen Stich Eifersucht in meiner Brust. Dabei konnte ich nicht einmal sagen, ob ich nun auf ihn eifersüchtig war oder auf Fitz. Es war gut, dass wenigstens einer von uns den Geist hatte, nach ihr zu sehen. Und es ärgerte mich, dass nicht ich es war, die sich um sie kümmerte.
Permanent zu fünft aufeinander zu hocken war ziemlich kompliziert, fand ich, und nicht immer gut für meinen Hormon- oder Emotionshaushalt. Zwar hatte ich alle vier von Herzen gern und auch gern um mich, aber wir hatten uns als Gruppe noch nicht wirklich gefunden, jetzt, wo wir zwei mehr waren. Trotzdem war es gut so.
Lächelnd beobachtete ich, wie Mac seinen Kopf in Rajs Schoß legte und dieser anfing, ihn zu kraulen. Die beiden waren ein süßes Paar. Raj erdete Mac. Mein Freund war in den letzten Wochen viel ruhiger und ausgeglichener und schien nicht mehr das starke Bedürfnis zu haben, sich ständig zu beweisen. Die beiden schienen, im Gegensatz zu Caspian und mir, auch nie zu streiten oder unterschiedlicher Meinung zu sein. Ihre Liebe wirkte wie ein ruhiger Fluss auf mich. Und auch das machte mich eifersüchtig. Caspian und ich hatten eher eine Raftingstrecke erwischt.
Zett, der bisher unter Macs kleinem Schreibtisch gelegen hatte, gesellte sich zu mir und legte mir den Kopf auf den Schoß, fast so, als wollte er Mac imitieren. Ich musste lachen.
»Na gut, aber dann bist du meine Schreibunterlage«, erklärte ich und legte das Notizbuch auf dem zotteligen Hundekopf ab. Es war ein bisschen kompliziert, zu verhindern, dass es verrutschte, doch irgendwie schaffte ich es, das Buch zu stabilisieren, zu schreiben und Zett dabei den Kopf zu kraulen.
Mit dem Hund zusammen zu sein hatte für mich immer etwas Tröstliches und Trauriges zugleich. Ich wusste, wir beide waren die Einzigen, die Abraxas aus der Tiefe unserer Herzen vermissten. Doch für mich war es ungleich komplizierter.
In der Blutigen Ballnacht waren zwei Männer gestorben. Der eine war mein Vater gewesen. Der andere hatte sich wie mein Vater verhalten. Und ich würde nicht aufhören, Letzteren zu vermissen.
An Abraxas zu denken tat weh. Und ich fühlte mich seit seinem Tod mehr als Waise denn je zuvor. Seit meinem ersten Tag auf Bookford Manor hatte er mir mit weisem Rat zur Seite gestanden, mich aber auch ermahnt. Ihm war es das Wichtigste gewesen, dass ich in Sicherheit war und es mir gut ging. Bis zum Schluss. Sein gutes Herz hatte ihm kein Glück gebracht.
Dass er mir selbstlos nach London gefolgt war, hatte ihn letztendlich das Leben gekostet. Und unsere Schule ihren Textor.
Es war anstrengend, das Schuldgefühl beiseite zu wischen, das mich immer wieder überfiel, wenn ich an jene Nacht dachte. Ich bekam Hyacintha Abrahams Worte nicht aus dem Kopf. Wie sie mir genüsslich erklärt hatte, dass mein Portal von der Terra in den Limbus das Eindringen der Limbusfiguren und somit den Tod von insgesamt acht Migras erst möglich gemacht hatte, konnte ich nicht vergessen. Auch wenn meine Freunde mich nie dafür verantwortlich machen würden und mich stets dran erinnerten, dass nicht ich schuld am Tod der Migras war, sondern derjenige, der die Waffe geführt hatte. Und dass Hyacintha durch ihren Verrat viel mehr Verantwortung für alles trug als ich. Wofür sie nun zu Recht in einem Migragefängnis in New York auf ihren Gerichtsprozess wartete.
Tagsüber glaubte ich ihnen manchmal. Nachts war das schwerer. Denn egal, wie ich es drehte und wendete: Ich hatte das Portal geschaffen, das Charon und seine Leute in die Terra gebracht hatte. Und ihnen somit Gelegenheit gegeben, auch Malice herzuholen. Zwar hatte ich all das weder gewollt noch vorhergesehen – und doch hatte ich es erst möglich gemacht. Es gab keine tröstenden Worte, die daran etwas ändern konnten. Denn tief in meinem Herzen wusste ich, dass Hyacintha recht gehabt hatte. Ich hatte das Messer zwar nicht selbst geworfen, doch meine Schuld wog trotzdem tonnenschwer. Der einzige Weg, momentan in den Schlaf zu finden, war, mich eng an Caspian zu schmiegen und meinen Kopf in seiner Halsbeuge zu verbergen, während er mir flüsternd aus einem meiner Lieblingsbücher vorlas. Ob er selbst überhaupt genug Schlaf bekam, wusste ich nicht. Meist kuschelten sich Zett oder Fitz auf der anderen Seite neben mich. Die Geborgenheit, die meine Freunde und Caspian mir gaben, war das einzige Mittel gegen meine bodenlose Traurigkeit.
Umso wichtiger war es mir, sie alle zu schützen. Ihnen möglichst viele Tattoos zu stechen, die ihre Idea-Speicher füllten. Uns einen Safe Space in der Lexis einzurichten. Auf keinen Fall wollte ich noch einen von ihnen sterben sehen. Keine Ahnung, ob ich das überhaupt überleben würde. Wenn ich es zuließ, war der Schmerz über Abraxas’ Verlust so dunkel und tief, dass er mich in einen Abgrund riss. Deshalb zog ich es meistens vor, nicht so genau hinzuspüren. Lieber zu arbeiten, als zu schlafen. Meine Tage mit Aktivitäten und meinen Kopf mit Plänen zu füllen. Einfach, damit der Schmerz keinen Platz hatte.
Und so überflog ich das, was ich bereits geschrieben hatte, zog die Kappe von meinem Füller und schrieb nach kurzem Nachdenken den nächsten Satz.
»Ich geh mir noch einen Kaffee holen«, gähnte ich und schälte mich aus meinem Stuhl. Der Frühstücksraum war vielleicht zu einem Drittel mit Lernenden gefüllt, und alle sahen so müde aus, wie ich mich fühlte.
Angst und Unsicherheit bestimmten momentan die Tage der Migras von Bookford Manor. Zwar war der Unterricht seit der Ballnacht wieder aufgenommen worden, doch auch die Lehrenden schienen nicht recht bei der Sache zu sein. Es wirkte zunehmend merkwürdig, etwas über Buchbindung und die Geschichte der Liga Lexis zu lernen, während um uns herum die Welt, wie wir sie kannten, in Flammen aufging. Denn die Angriffe auf Buchhandlungen und Bibliotheken in der Terra rissen genauso wenig ab wie die Attacken von Brutus und seinem Gefolge auf die Lexis. Die meisten Lernenden hatten während des Unterrichts ihre Handys unter den Bänken in der Hand. Längst war keine Rede mehr davon, dass die Handystrahlung nicht gut für den Idea-Fluss sei. Momentan waren alle nur froh, dass es überhaupt noch einen gab.
Doch es wurde schlimmer. Die Großeltern von einigen Mitlernenden waren ganz plötzlich verstorben, und auch Fitz sorgte sich um ihre Abuelitos in Barcelona. Je älter ein Migra wurde, desto schlechter steckte er oder sie Schwankungen in der Idea-Versorgung weg. Wann immer ich darüber nachdachte, sorgte ich mich um Caspian. Auch sein Körper war spätestens nach seinem Nahtoderlebnis in Silberkorn viel anfälliger für diese Arten von Schwankungen. Doch ich bemerkte, dass er allmählich stabiler wurde.
Zum Glück waren Babys und kleine Kinder noch nicht betroffen. Sie brauchten nicht viel Idea, um zu überleben, sie zehrten von der Idea ihrer Eltern und den Vorräten aus der Familienbibliothek. Doch alle hatten insgesamt weniger zur Verfügung. Tendenz fallend.
Während ich mich zum Kaffeeautomaten schleppte, fiel mein Blick auf den Tisch, an dem die Lehrenden und die Schulleitung saßen. Mentor Rosenbaum frühstückte gemeinsam mit Henrik Cameron, Godriks ernstem großen Bruder. Die beiden gaben mir noch ein Restgefühl der Sicherheit. Gerade hatten sie einander die Köpfe zugeneigt und sprachen mit ernsten Mienen. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, Lippen lesen zu können.
Ich bemerkte gar nicht, dass bereits eine Person am Kaffeeautomaten stand, so sehr konzentrierte ich mich auf Hendrik und Rosenbaum. Um ein Haar wäre ich in Anthea Abraham hineingelaufen. Seit der Ballnacht hatte ich sie nicht mehr gesehen, und als sie jetzt den Blick hob, erschrak ich regelrecht. Thea war blass, ihre Augen waren dunkel umrandet und blutunterlaufen. Bei näherem Hinsehen fiel mir auf, dass ihre Unterlippe zitterte. Sie wirkte im besten Fall sehr übernächtigt, im schlechtesten Fall vollkommen im Eimer. Ihre Finger umkrampften die Kaffeetasse so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie sah mich zwar an, doch es wirkte, als würde ihr Blick durch mich hindurchgehen. Für sie gänzlich untypisch rümpfte sie dabei auch nicht die Nase oder ließ einen ätzenden Spruch vom Stapel.
Ich fragte mich, warum sie ganz allein hier stand. Anthea war eigentlich nie allein. Normalerweise umschwärmten ein paar bewundernde Lernende sie wie die Fliegen den Scheißhaufen. Doch seit dem Verrat ihrer Tante war sie wohl mit in Ungnade gefallen. Und das war nicht fair.
»Hey, Thea«, grüßte ich vorsichtig. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Entsetzt beobachtete ich, wie sich Antheas Augen mit Tränen füllten. Sie schüttelte den Kopf, und ein Schluchzen brach aus ihr heraus. »Meine Mom«, stammelte sie und mir sank das Herz. »Meine Mom ist … Ich …«
Sie zog die Kaffeetasse aus dem Automaten, zitterte dabei aber so heftig, dass sie sie fallen ließ. Das Porzellan zersprang zu unseren Füßen in unzählige Scherben, und Kaffee spritzte auf den Boden, unsere Kleidung, die umstehenden Tische und Stühle.
Thea reagierte nicht darauf, sondern starrte die Sauerei nur an. »Dad sagt, ich müsste jetzt stark sein.« Ihre Stimme klang rau und dunkel. Als müsste sie in der Tiefe ihrer Seele nach Worten schürfen. »Er sagt, alle Migras leiden und mir käme eine besondere Verantwortung zu.« Sie holte zitternd Luft. »Seit der Sache mit Tante Cintha schauen alle noch stärker auf uns als vorher. Ich muss mich zusammenreißen.« Sie schluchzte noch einmal, und das Geräusch zerriss mir das Herz. »Aber ich weiß nicht, wie«, fügte sie flüsternd hinzu.
Und da passierte etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich fühlte mich mit Anthea verbunden. Ich hatte Mitleid mit ihr, im wahrsten Sinne des Wortes.
»Einen Scheiß musst du«, entfuhr es mir, und zum ersten Mal, seit unsere Unterhaltung begonnen hatte, sah sie mich wirklich an.
»Du hast doch keine Ahnung«, zischte sie.
Angenervt stemmte ich die Hände in die Hüften. Vielleicht hatte ich doch kein Mitleid mit ihr. »Ich bin Vollwaise, schon vergessen? Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt, mein Vater wurde vor meinen Augen ermordet, und das war heftig, auch wenn ich für ihn keine besonders positiven Gefühle hegte. Und Abraxas …« Nun zitterte meine Unterlippe.
Antheas Blick wurde etwas weicher. »So ein Scheiß«, flüsterte sie, und ich lachte auf.
»So ein Scheiß«, pflichtete ich ihr bei. Doch auch wenn ich in diesem Moment keinen Groll gegen Anthea hegte, fühlte ich mich emotional nicht in der Lage, ihr beizustehen. »Ich hol Caspian her, okay?«
Thea nickte, und ich sah ein paar Tränen aus ihren Augen rinnen. Allerdings kamen sie nicht weit, weil sie mit einer energischen Handbewegung weggewischt wurden.
Ich ging an ihr vorbei, doch ich glaubte, noch ein leises »Danke« gehört zu haben. Und mich traf die Erkenntnis, dass wir hier alle gemeinsam drinsteckten. In einer gottverdammten Scheiße.
»Anthea braucht dich«, sagte ich zu Caspian, als ich unseren Tisch erreicht hatte, und er hob fragend die Brauen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Normalerweise sprachen wir nicht über seine Kindheitsfreundin. Seit meinem ersten Tag auf Bookford Manor konnte ich Anthea nicht leiden, und sie hegte ähnliche Gefühle für mich, weshalb wir sie und alles, was sie betraf, in unserer frisch gekitteten Beziehung sorgsam umschifften.
»Ihr Mom ist, glaube ich …« Ich ließ den Satz in der Luft hängen.
Caspian verstand auch so. Fluchend erhob er sich und gab mir einen Kuss. »Verdammt. Seit Lady Hamiltons Tod ist Loreley sehr schwach. Wo ist Thea?«
»Beim Kaffeeautomaten«, antwortete ich. »Hol dir ein Kehrblech. Sie hat ihre Tasse fallen lassen.«
»Meinst du, ihre Mom ist tot?«, fragte Fitz mitfühlend und reckte den Hals beim Versuch, einen Blick auf Anthea zu erhaschen.
»Es klang jedenfalls gar nicht gut«, erwiderte ich und schaute auf meinen Teller. Vor Mitgefühl war mir ganz schlecht. Auch wenn es mir keine Probleme bereitet hätte, Anthea bei einem Roadtrip aus Versehen an einer Raststätte zu vergessen – etwas wirklich Böses hatte ich ihr niemals gewünscht. Schon gar nicht, dass sie ihre Mutter verlor.
Mir schoss durch den Kopf, was Glöckchen gesagt hatte. Wenn ich nicht eine von denen sein wollte, die getötet werden, musste ich lernen, mit Toten konfrontiert zu werden. Es gab nichts, was ich weniger gern lernen wollte. Und am liebsten würde ich einfach alles hinschmeißen und davonlaufen. Fuck everything and run, eben.
Ich wollte mich nicht an den Tod gewöhnen. Oder an die ständige Gefahr zu sterben. Vorhin hatte ich richtigen Hunger gehabt, jetzt verursachte allein der Anblick des Marmeladenbrötchens Ekel in mir.
»Scheiße«, sagte Fitz.
Raj und Mac griffen sich bei den Händen und brummten Zustimmung.
»Oh, Scheiße!«, wiederholte Fitz, diesmal mit deutlich mehr Nachdruck. Zuerst dachte ich, dass sie in Gedanken noch immer bei Anthea war, bis ich begriff, dass es um etwas vollkommen anderes ging.
Der Blick meiner Freundin war durch die großen, halbrunden Fenster des Saales nach draußen auf den Vorplatz gerichtet.
Wo gerade unzählige Polizist*innen in voller Montur das Gelände unserer Schule stürmten.
Oh, Scheiße.
Im nächsten Moment zerbarst die erste Fensterscheibe, dann eine zweite. Sie rückten den großen, fast bodentiefen Fenstern mit einer riesigen Ramme zu Leibe. Nur Sekunden später flutete die Polizei den Saal. Sie sprangen durch die niedrigen Fensteröffnungen und zogen ihre Waffen. Dabei brüllten sie irgendwelche Befehle, die ich nicht verstehen konnte, weil die entsetzten Schreie meiner Mitlernenden alles übertönten. Es war eine Szene wie im Film. Stühle wurden umgeworfen, Teller, Tassen und Gläser fielen klirrend zu Boden, jemand prallte mit seinem Ellbogen schmerzhaft gegen meinen Kopf. Ich konnte nur die Waffen der Polizist*innen anstarren, halb in Erwartung, gleich den ersten Schuss zu hören.
Panik stieg in mir auf. Hatte Fitz’ Dad nicht gesagt, Oberon könne Bookford Manor zu einer Festung machen, wenn es nötig war? Wo zum Teufel war Ob?
Während ich wie versteinert dasaß, reagierte Fitz blitzschnell. »Habt ihr alle eure Geschichten bei euch?«, fragte sie hastig.