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Lila in großen Nöten! Nicht genug damit, dass sie nach einem Streit durch Unachtsamkeit einen Unfall verursacht, wird sie auch noch unabsichtlich entführt und findet sich hilflos in einem fernen, unbekannten Land wieder. Als sie überstürzt zu entkommen versucht, wird sie verletzt und gerät in die Hände des Unterweltkönigs Moro. Durch tatkräftige Hilfe ihrer ‘Entführer’ kann sie fliehen, doch Moro denkt nicht daran, sich eine derartige Attraktion einfach so entgehen zu lassen und beschließt, alles daran zu setzen, ihrer wieder habhaft zu werden. Eine auch für ihre Helfer folgenschwere Entscheidung, denn Moro geht im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen.
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Seitenzahl: 259
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Frank-Martin Stahlberg wurde am 2.1.1957 in Bad Salzuflen, einem kleinen Kurort in Nordrhein-Westfalen, als zweites von fünf Geschwistern geboren. Dort wuchs er auch die ersten 19 Jahre seines Lebens auf und besuchte nach der Grundschule erst ein mathematisch naturwissenschaftliches Gymnasium, um dann auf ein musisches und Kunst-Gymnasium nach Detmold zu wechseln. Dort wurden auch die Grundlagen zu seinem künstlerischen Werdegang gelegt. Neben dem dem Geigen- und Bratschenspiel verlagerte sich sein Interesse auch zusehends auf die Malerei. Gefördert wurde dies besonders von dem auch überregional be- und anerkannten, mehrfach international ausgezeichneten freischaffenden Künstler Hans Helmut von Rath.
Während des folgenden Pädagogik- und Psychologiestudiums in Hamburg trat die Kunst vorübergehend etwas in den Hintergrund um danach umso stärker wieder Besitz von ihm zu ergreifen. In den folgenden Jahren entstanden zahlreiche Zeichnungen, Ölbilder und parallel dazu etliche Keramiken, die auch den Mittelpunkt der ersten Ausstellungen bildeten.
1982 zog Stahlberg an den Ortsrand des bekannten Künstlerdorfes Worpswede bei Bremen, wo er bis heute seine Inspirationen in künstlerische Werke umsetzt.
Ab 1985 trat Stahlberg eine Stelle als Modellierer und Designer in Bremen an, die auch heute noch einen Teil seines beruflichen Lebens bildet.
1998 schließlich begann eine neue Schaffensperiode: Als Ergänzung zu den Bildern entstanden erste Texte, welche die Bildinhalte mit zusätzlichem Leben füllten.
Schnell blieb es nicht bei diesen Geschichten, sondern es entstanden die ersten Bücher zu einer ganzen Fantasyreihe. Gleichzeitig wuchs der Wunsch, diese auch passend zu illustrieren. Durch Künstler wie Boris Vallejo und Luis Royo inspiriert, machte sich Frank-M. Stahlberg die Airbrushtechnik zu eigen, die ihm, in Kombination mit anderen Techniken, als geeignetstes Medium erschien, die erdachten Bilder umzusetzen. Neben den Bildern zu den Lila- und Shaktyri-Bänden entstanden auch viele andere Werke in dieser Mischtechnik, die seitdem auch auf etlichen Ausstellungen und Messen im In- und Ausland zu sehen sind.
Daneben entstand, parallel zu dem Shaktyrizyklus, der ebenfalls komplett mit Illustrationen in Airbrushtechnik versehen wird, auch das erste Kinderbuch des Malers und Autors, welches von ihm mit Aquarellbildern belebt wurde.
H.W. de Fries
Weitere Bände der Fantasyreihe ‘Lila‘:
Lila 1, Teuflische Experimente
Lila 2, Das Duell
Lila 3, Die Rache
Lila 5, Tödliche Königin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Heute war gewiß nicht Lilas Tag. Erst der dumme Streit mit ihrer Cousine Camilla, und das vor Bernhard und Martha, die dann auch noch Partei für Camilla ergriffen hatten. Zudem wußte Lila bereits jetzt nicht einmal mehr, worum sich der Streit überhaupt gedreht hatte! Dann ihre beleidigte, unüberlegte Flucht, bei welcher sie, ohne groß auf Menschen oder Tiere zu achten, in der Gegend herumgeflogen war und so zu guter Letzt beinahe vor ein Auto geprallt war. Dadurch hatte sie auch noch einen Unfall verursacht, denn der Fahrer des PKW, ein älterer Herr, hatte anscheinend mitbekommen, daß es kein Vogel oder großes Insekt gewesen war, was da vor seiner Windschutzscheibe weggewirbelt wurde. Er hatte derart stark gebremst und außerdem versucht auszuweichen, daß er von der Straße abgekommen und in eine Buschgruppe gerutscht war. Lila selbst war auch nicht ungeschoren davongekommen: Durch den starken Luftsog und das mehrfache Überschlagen hatte sie sich eine heftige Zerrung ihrer Flugmuskeln zugezogen, so daß sie kaum noch in der Lage war, vom Boden abzuheben. Zu allem Überfluß hielten nun mehrere andere Fahrzeuge, deren Insassen ausstiegen, um dem Verunglückten zu Hilfe zu kommen oder einfach nur neugierig zu gucken, was da passiert war. Lila mußte unbedingt ein Versteck finden, aber es gab hier so gut wie keine Möglichkeiten, denn das Gelände war offen, und auch die Buschgruppe, in die das Auto gerutscht war, war so licht, daß sie keine hinreichende Deckung bot! Verängstigt schlüpfte die zwölfjährige Elfe unter das Unfallauto. Das war in Anbetracht ihrer Körpergröße von nur siebzehn Zentimetern kein Problem. Ein solches ergab sich aber kurz darauf, als der Fahrer ausstieg, gemeinsam mit den anderen sein Auto begutachtete und sich dabei nun anschickte, auch unter den Wagen zu sehen, ob dieser dort eventuell Schaden genommen hatte.
Lila verfiel in Panik; wo sollte sie hin!? Nur hinter dem Auto schien sich im Augenblick niemand zu befinden.
Rasch huschte sie dort hinaus und blickte sich um. Das sah nicht gut aus! Insgesamt standen dort drei Frauen, vier Männer und zwei Kinder - ein etwa elfjähriger Junge und ein vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen - herum und diskutierten. Gerade äußerte der Fahrer des Unglücksautos: "Ich schwöre es ihnen, es war ein winziger, geflügelter Mensch, der gegen meine Scheibe prallte, glauben sie mir doch!"
"Ich finde", warf eine der Frauen mit unangenehm quiekender Stimme ein, "wir sollten sofort die Polizei rufen, der Mann ist doch eindeutig betrunken!"
"Ich weiß nicht", meinte ein anderer, grauhaariger, leicht gebeugt gehender Mann, "eine Alkoholfahne hat er jedenfalls nicht. Vielleicht war es nur eine durch den Schrecken hervorgerufene Halluzination." Nun wandte er sich direkt an den Unfallfahrer: "Ich bin bereit, ihren Wagen wieder auf die Straße zu ziehen, wenn sie es wünschen. Haben sie ein Abschleppseil?"
"Nein, leider nicht", erwiderte dieser. "Kann mir vielleicht jemand von ihnen damit aushelfen?" fragte er anschließend in die Runde.
"Ich habe eines", bot ein jüngerer Mann an, offenbar Vater der beiden Kinder, öffnete die Heckklappe seines Kombis, der bis unter das Dach mit Gepäckstücken vollgestopft war und zog ein dehnbares, buntes Seil darunter hervor.
"Am besten, wir befestigen es hinten an ihrem Wagen", schlug der Grauhaarige vor, der angeboten hatte, das Auto zu bergen. Ouh, das war gefährlich! Lila mußte nun in Sekundenschnelle ein Versteck finden! Doch hier gab es einfach nichts, und wegfliegen konnte sie wegen ihrer gezerrten Muskeln nicht. Schon näherten sich die Männer dem Heck des Wagens. Allein der Weg zu dem geöffneten Kofferraum des Autos der Familie schien unbeobachtet. Lila hetzte hinüber und sprang mit Unterstützung ihrer schmerzenden Flügel hoch und versteckte sich zwischen dem Gepäck. Kaum war sie halbwegs verborgen, vernahm sie die Stimme der Mutter der beiden Kinder: "Georg, du kannst doch den Wagen nicht offen lassen, da kommen die ganzen Fliegen 'rein!" Mit diesen Worten schlug sie die Heckklappe zu. Lila war gefangen! In einer hilflos anmutenden Geste preßte sie ihre kleinen Hände gegen die direkt vor ihrem Gesicht befindliche Heckscheibe. Natürlich erfolglos, denn selbst wenn das Schloß nicht eingerastet wäre, hätten nicht einmal fünf Elfen ihrer Stärke eine derart schwere Klappe bewegen können! Verzweifelt blickte Lila mit tränenverschleierten Augen nach draußen, wo der Unfallwagen soeben geschleppt die Straße erreicht hatte. Sicher würde gleich die Familie zurückkehren, um die Fahrt fortzusetzen. Lila spähte zwischen den Gepäckstücken nach vorne; gab es dort womöglich einen Ausweg? Ja, tatsächlich: Das Fenster auf der Fahrerseite war weit genug heruntergekurbelt, daß sie hindurchpaßte. Angestrengt mühte sich das zarte Elfenmädchen ab, durch das dicht gestapelte Gepäck zu kommen. Doch sehr schnell wurde ihr die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens klar; obwohl sie so klein war, paßte sie dennoch nicht durch die verbliebenen engen Lücken. Sehnsüchtig starrte sie zu dem rettenden, die Freiheit versprechenden, aber unerreichbaren Fenster.
"Kommt Kinder, wir wollen weiter!"
Erschreckt zuckte Lila zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß die Frau schon wieder zu dem Auto getreten war. Rasch drückte sie sich tiefer zwischen zwei Reisetaschen und spannte ihre Muskeln. Wenn der Mann gleich das Abschleppseil in den Kofferraum zurücklegte, mußte er die Klappe öffnen; dann wollte Lila hinausspringen und wegfliegen oder -rennen. Dabei war es ihr beinahe schon egal, ob sie gesehen würde oder nicht. Vorne klappten die Türen.
"Schnallt euch wieder an, Kinder! Ihr habt ja gesehen, wie schnell etwas passieren kann!" vernahm Lila die Stimme des Mannes. "Lea, erinnere mich daran, wenn ich nächstesmal das Abschleppseil suche, daß ich es unter den Vordersitz getan habe!"
Lila sank der Mut. Ihre vorläufig letzte Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. Sie hörte den Motor starten und fühlte, wie sich das Auto in Bewegung setzte. Durch einen Spalt zwischen dem Gepäck sah sie die Bäume an den Scheiben vorübersausen. Wo würde diese Fahrt enden!?
"Tommy, kannst du mir mein Buch geben? Ich komme von hier aus nicht dran!"
"Nee, mach' ich nicht!"
"Thomas!"
"Aber, Mammi, Kathy hat mir vorhin die Zunge 'rausgestreckt!"
"Nun gib ihr schon das Buch, Thomas!" mischte sich der Vater ein, "und du, Kathrin, ärgerst deinen Bruder nicht mehr! Verstanden? Ich will keinerlei Streit während der Fahrt, das nervt!"
Der Junge schnallte sich los, kniete sich auf die Sitzbank und begann das Gepäck durchzuwühlen. Immer näher kam seine Hand. Oh weia, das Buch - wenn gerade dieses gemeint war - lag direkt neben ihr! Wenn er nun statt des Buches sie zu fassen bekämme? Sehen, wohin er mit der Hand da angelte, konnte er nämlich kaum. Hektisch kroch Lila in eine der Reisetaschen, deren Reißverschluß ein wenig offenstand. Aus ihrem Versteck konnte sie jetzt sehen, wie sich der Kopf des Jungen langsam vorschob, bis er das Buch sah. Seine Hand griff danach, ließ es aber noch einmal kurz los, um beiläufig den Reißverschluß der Tasche, in der sich Lila befand, zu schließen. Nun war es vollkommen dunkel um sie, und Platz zum Bewegen hatte sie auch so gut wie keinen mehr. Die Zeit verrann. das Auto fuhr und fuhr. Lila wurde immer beklommener zumute: Wie sollte sie bloß den Heimweg wiederfinden, wenn sie überhaupt noch eine Möglichkeit bekäme, in die Freiheit zu entkommen?!
Lila erwachte von einem Ruck und dem Verstummen des Motors. Oh Gott, wie lange hatte sie geschlafen? Nun hatte sie vollends die Orientierung verloren. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr grob abschätzen, wie weit sie sich wohl fortbewegt haben mochten! Sie versuchte eine bequemere Position einzunehmen, doch genau in diesem Moment wurde die Reisetasche hochgehoben, wild herumgeschwenkt und wieder abgestellt. Dann spürte Lila erneut, wie die Tasche bewegt wurde. Den Geräuschen und dem Gefühl nach auf irgendeinem Rollwagen.
"Wir müssen uns beeilen, Georg", hörte Lila die etwas atemlose Stimme der Frau, "sonst verpassen wir das Einchecken. Bewegt euch mal ein bißchen schneller, Kinder, sonst können wir unseren Urlaub vergessen!"
"Das geht nur so langsam, weil Kathy den Wagen immer mit anfaßt, da kann ich gar nicht richtig lenken!" "Gar nicht wahr, Blödmann, du kannst das bloß nicht, wie immer!"
"Schluß jetzt!" befahl der Vater, "ich schiebe, und ihr laßt beide los!"
"Nur wegen dir, du Pißnelke!" schimpfte Thomas. "Aua, wieso krieg ich denn jetzt 'ne Ohrfeige? Kathy hat doch genauso Schuld!"
"Aber du fängst schon wieder mit dem Streit an, deshalb! Außerdem will ich derlei Worte, wie du es gerade benutzt hast, von keinem von euch hören!"
Plötzlich stoppte der Wagen. "So, jetzt alle Gepäckstücke auf das Band. Nur die grüne Tasche und den Rucksack nicht!"
Wieder wurde die Tasche mit Lila darin umgesetzt, und die kleine Elfe fühlte, wie das Gepäckstück über etwas Undefinierbares davonholperte, schließlich aufgenommen und irgendwo daraufgeworfen wurde. Um sie herum war viel Lärm, und Lila hörte etliche, meist männliche Stimmen durcheinanderrufen. Erneut wurde sie in der Gegend herumgekarrt und nochmals geworfen. Ein anderes Gepäckstück landete auf 'ihrer' Reisetasche und quetschte sie noch mehr ein. Dann nahm der Lärm ab, und es wurde still um sie. So verging gewiß eine volle Stunde, bis plötzlich ein derart grausiges Heulen und Fauchen erscholl, daß sich Lila vor Angst der Magen zusammenkrampfte. Danach spürte sie einen verhaltenen Ruck und merkte, wie das etwas, in dem sie sich nun befand, losrollte und kurz darauf erneut hielt. Nun steigerte sich das entsetzlich jaulende Toben zu nie gekannter Lautstärke, und Lila fühlte sich von einer unsichtbaren Kraft gegen die Seitenwand der Tasche gedrückt. Das Holpern und Rumpeln wurde immer stärker und alles um sie herum vibrierte unangenehm, bis es plötzlich, mit einem gleichzeitig in Lilas Magen auftretendem flauen Gefühl abebbte. Auf einmal begriff Lila: Sie mußte sich in einem von den Menschen gemachten Flugzeug befinden, denn das Gefühl des Fliegens kannte sie als Elfe sehr gut. Damit erlosch der letzte Funke Hoffnung heimzufinden in Lila. Es war ihr durchaus bekannt, mit welch ungeheuerlicher Geschwindigkeit sich derartige Fluggeräte fortzubewegen vermochten. Möglicherweise würden sie gar Ozeane überqueren! So weit konnte keine Elfe fliegen, ganz abgesehen davon, daß sie ja nicht einmal wissen würde, in welche Richtung sie mußte. Lila verspürte brennenden Durst, und auch ihr Magen knurrte. Sehnsüchtig dachte sie an ihr gemütliches Elfendorf am Biberteich in dem wunderschönen Kartal. Und an Sara, ihre Mutter; was mußte sie sich nun für Sorgen machen! Wenn sie doch wenigstens aus dieser elenden Tasche herauskäme! Verzweifelt zerrte sie an dem Reißverschluß, aber es hatte sich ein Stück des Stoffes hineingeklemmt, so daß es ihr nicht gelingen wollte, den Schlitten auch nur einen Millimeter zu bewegen. Wenn sie nun einmal müßte! schoß es ihr durch den Kopf. Sie konnte es doch schlecht einfach in der Reisetasche machen! Doch da sie schon länger weder gegessen, noch getrunken hatte, verspürte sie vorerst kein derartiges Bedürfnis. Lila legte sich wieder hin und versuchte, etwas Schlaf zu finden, damit sie fit und wach war, wenn es darauf ankam. Währenddessen jagte das Flugzeug unbeirrt seinem unbekannten Ziel entgegen.
Camilla stand auf der Fensterbank in Marthas und Bernhards Wohnzimmer und blickte besorgt auf die rasch länger werdenden Schatten draußen.
"Wir hätten uns längst auf den Rückweg machen müssen!" seufzte sie besorgt, "so lange ist Lila sonst eigentlich nie beleidigt. Vor allem nicht, wenn es um derart unwichtige Dinge geht." Die junge Elfe drehte sich zu den beiden am Tisch sitzenden Menschen um und sah sie hilfesuchend an.
"Vielleicht ist Lila ja einfach schon alleine nach Hause geflogen", mutmaßte Martha.
"Ganz bestimmt nicht!" sagte Lilas fünfzehnjährige Cousine mit überzeugter Stimme, "da wüßte sie genau, daß sie Ärger mit ihrer und meiner Mutter bekäme, die sie dann so schnell nicht wieder weglassen würden!"
"Ich schätze, so wie ich Sara und Killy kenne, dürftest du damit recht haben", stimmte Bernhard, ein anerkannter Forscher in den Bereichen Biologie und Umwelt zu, "hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen!"
"Könnt ihr mir vielleicht suchen helfen?" bat Camilla, "ich muß sie finden, bevor es dunkel wird."
"Natürlich, Milla!" versprachen beide wie aus einem Munde.
"Anna!?"
...
"Annaaaa!"
"Jaha! Was is' denn, Mama?!"
"Lila ist verschwunden. Wir wollen Camilla suchen helfen, willst du mit?"
Sofort kam die Sechsjährige die Treppe heruntergepoltert. "Klar komm' ich mit! Lila ist doch auch meine Freundin!"
"Wenn sie nur nicht irgendeinem Tier zum Opfer gefallen ist!" flüsterte Camilla mit zitternder Stimme, "wenn Lila beleidigt ist, achtet sie nicht unbedingt auf ihre Umgebung."
"Nun mal dir nicht gleich das Schlimmste aus", versuchte Martha zu beruhigen und strich Camilla sanft mit dem Zeigefinger übers Haar, "wir werden sie schon finden!"
Doch nach über zwei Stunden intensivster, wie gleichzeitig erfolgloser Suche, war es auch mit Marthas äußerlicher Ruhe zu Ende. Niedergeschlagen saßen sie erneut im Wohnzimmer zusammen und ließen die Köpfe hängen. Camilla ließ keinen Ton hören, aber ihr liefen die Tränen über die Wangen. Auch Marthas und Bernhards Gemütslage war kaum besser, hatten sie Lila doch mittlerweile fast so liebgewonnen wie ihr eigenes Kind Anna. Genau diese hob gerade ihren Kopf: "Und wenn nun einer hier aus dem Dorf sie eingefangen hat?"
"Das halte ich für ausgeschlossen, Anna", antwortete Bernhard ohne aufzublicken, "hier kennt mich jeder und weiß über meinen Beruf und meine Interessen Bescheid. Hätte irgendjemand eine Elfe gesehen oder gar gefangen, wäre sein erster Weg zu mir gewesen!"
Plötzlich erhellte sich Anna Miene. "Ich hab' 'ne Idee!" rief sie mit so lauter Stimme, daß die anderen erschrocken zusammenzuckten, "wir können doch zu Meli fahren, die kann mit ihrer Kristallkugel gucken, wo Lila ist!"
"Mensch, stimmt!" pflichtete Bernhard bei, "Meliolantha als Zauberin sollte das eigentlich nicht schwerfallen!"
Jetzt wischte sich auch Camilla die Tränen aus dem Gesicht und schaute ein kleines bißchen hoffnungsvoller drein.
"Kommt, dann laßt uns sofort lossausen!" forderte Martha, "immerhin müssen wir ja noch ein ganzes Stück fahren." Die vier hatten es so eilig, daß sie nicht einmal die Haustür zuschlossen, sondern sich hastig in den Wagen warfen und Bernhard so schnell anfuhr, daß die Reifen nur so quietschten und erschreckte Gesichter an den Fenstern der Nachbarhäuser erschienen. Doch das nahmen sie gar nicht mehr war. Bernhard holte das letzte aus dem Wagen heraus, sämtliche Verkehrsregeln mißachtend. Schon sechzehn Minuten später kam das Auto, durch Bernhards Vollbremsung schlitternd, vor der hölzernen Villa zum stehen. Hier wohnte die Magierin seit ein paar Monaten bei ihrer alten Freundin Lisbeth, nur ein paar Häuser von Annas Großeltern entfernt.
"Hoffentlich ist sie überhaupt zu Hause", brummte Bernhard, während sie ausstiegen und hinter Anna, die bereits zur Tür vorgerannt war und mit dem Türklopfer einen wahren Höllenlärm verursachte, auf das Haus zuschritten.
"Wo sollten sie schon sonst sein?" sagte Martha lächelnd, "Lisbeth ist siebenundachzig Jahre. In dem Alter geht man nicht mehr abends in die Diskothek oder dergleichen."
Mit dem Ende ihres Satzes wurde die Haustür aufgerissen und Anna, die immer noch den Klopfer betätigte, stolperte nach vorn und fiel gegen Meliolantha, die strahlend jung und schön, wie eh und je, vor ihnen stand und ein überraschtes, wie gleichzeitig leicht bestürztes Gesicht zeigte, denn sie konnte sich leicht denken, daß ein derartiger 'Überfall' mit einiger Sicherheit kein normaler Höflichkeitsbesuch war.
"Na, aber hallo! Wenn du so weitermachst, wird noch das Haus einstürzen!" begrüßte sie Anna, diese gleichzeitig aufhebend und in die Arme schließend. "Was führt euch zu dieser fortgeschrittenen Stunde zu uns? Ich fürchte, nichts Erfreuliches!"
"Ja, mein Gott, was ist geschehen?!" erklang nun auch die sanfte, leise Stimme Lisbeths, die ebenfalls herangeschlurft kam. Ehe einer der anderen antworten konnte, sprudelte Anna schon los: "Lila ist weg! Hat sich mit Milla gestritten und ist abgehauen. Jetzt ist sie schon ganz lange weg, und wir können sie nicht wiederfinden. Du mußt sie mit deiner Kugel suchen, Meli!"
"Ja", fügte Martha hinzu, "wir haben Angst, daß etwas passiert sein könnte, und wir wissen nicht weiter. Wenn du uns viellei...!"
"Da braucht ihr nicht erst lange zu bitten!" erwiderte die Zauberin, "kommt herein, ich werde schnell den Kristall holen. Ihr könnt schon mal mit Lisbeth in die Stube vorgehen!"
Mit wehendem Kleid eilte die Magierin voran und verschwand in einem Nebenraum, während die anderen hinter Lisbeth her die Stube betraten und sich, auf deren Aufforderung hin, auf das Sofa setzten. Camilla nahm auf Marthas Knie Platz. Lisbeth ließ sich seufzend in einen der Sessel fallen, die aussahen, als habe die Alte sie aus ihrer Jugendzeit mit herübergerettet. Dann kam auch Meliolantha raschen Schrittes wieder herein, eine kristallklare Kugel in ihren Händen haltend. Ihr Gesicht war vor Aufregung und Sorge gerötet. Wenn man sie nun so neben Lisbeth sah, konnte man kaum glauben, daß sie dreißig Jahre älter war als die gebrechliche alte Frau, deren augenblicklich sorgenvolles Gesicht von unzähligen Falten durchzogen und von dem entbehrungsreichen langen Leben gezeichnet war. Die Magierin plazierte die Kugel auf einem kleinen Ständer auf dem Tisch und begann in einer den anderen unverständlichen Sprache zu murmeln. Die Kugel erhellte sich und strahlte in eigenem Licht. Im Inneren wirbelten Wolken, wie in Wasser aufgewühlter Schlamm, dann verzogen sie sich zusehends, und die Kugel wurde dunkel. Meliolantha schüttelte verwirrt den Kopf und versuchte es mit einem neuen Anlauf, doch das Ergebnis war das gleiche.
"Heißt das ... , heißt das, Lila ist ... ", Camilla brachte das schreckliche Wort nicht heraus. Ihr Gesicht war totenbleich und wieder kullerten Tränen über ihr Gesicht.
"Nein, nein!" versicherte Meliolantha eilig, "hätte die Suche nach Lila kein Ergebnis gebracht, und das wäre der Fall gewesen, wenn sie nicht mehr am Leben wäre, da ich explizit nach einer lebenden Person gesucht habe, hätte die Kugel weiterhin nur wirbelnde, wolkenähnliche Gebilde gezeigt. Nein, sie hat Lila offensichtlich gefunden, war aber nicht in der Lage, sie zu zeigen. Ich kann mir das nur so erklären, daß sich Lila an einem Ort völliger Dunkelheit befinden muß, der zudem auch noch sehr, sehr weit entfernt ist, denn die Suche hat verhältnismäßig lange gedauert und mehr Energie erfordert als sonst. Ich kann auf derart große Entfernungen auch ihre Position nicht genau bestimmen, nur, daß sie sich irgendwo weit westlich von uns befindet. Außerdem schien es mir, wenn es nicht an meiner schnell schwindenden Kraft lag, daß sich Lila bei meinem zweiten Versuch noch weiter entfernt hatte und bereits nahe der Grenze des Erfassungsbereiches der Kristallkugel war, und dieser liegt bei immerhin so um die vierhundert Kilometer, wenn ich bei vollen Kräften bin."
"Aber, wie kann sich Lila in so kurzer Zeit denn schon derart weit entfernt haben?" wollte Martha wissen, "so schnell können Elfen doch gar nicht fliegen!"
"Tja, das kann ich mir auch nicht erklären", gab Meliolantha hilflos zu, "bei der schnellen Abnahme der Intensität der Erfassung muß sie sich schon mit fast unglaublicher Geschwindigkeit fortbewegen."
"Wie mit einem Düsenjäger", murmelte Anna.
"He!" horchte Meliolantha auf, "das ist gar nicht so abwegig! Befände sie sich an Bord eines Flugzeuges, erklärte das jenes Phänomen mit der Kugel eben!"
"Aber, wie sollte Lila denn in ein Flugzeug geraten?" schüttelte Bernhard den Kopf, "zumal es hier gar keinen Flugplatz gibt, den Lila in der Zeit hätte erreichen können!"
"Wenn sie selbst geflogen ist, nicht", stimmte Martha zu, "aber, wenn jemand sie eingefangen hat und sie zum Beispiel im Auto dorthin beförderte?"
"Trotzdem ist das ziemlich merkwürdig", fand Bernhard, "selbst wenn sie von irgendjemandem gefangen worden wäre, hätte derjenige sie doch bestimmt erst einmal mit nach Hause genommen, um sie genauer zu untersuchen oder so, und wäre nicht schnurstracks mit ihr zum Flughafen gefahren und sofort an Bord einer Maschine gegangen."
"Das ist tatsächlich alles ziemlich rätselhaft", urteilte Meliolantha, "und ich habe vorläufig auch keine Ahnung, wie wir sie jetzt noch finden sollen!"
Enttäuscht und verzweifelt barg Camilla den Kopf zwischen den Armen und schluchzte vor sich hin, was wiederum auch der kleinen Anna die Tränen in die Augen trieb.
"Könnte man nicht beim Flughafen anrufen", warf Lisbeth mit ihrer zitterigen Stimme ein, "und fragen, was für eine Maschine, mit welchem Ziel, zu der fraglichen Zeit geflogen ist?"
"Das ist eine gute Idee!" rief Martha, und ihre Miene erhellte sich ein wenig, "darf ich deinen Apparat benutzen, Tante Lisbeth?" (Lisbeth war zwar nicht Marthas Tante, doch sie wurde eigentlich von allen Menschen, die sie kannten, so tituliert.)
"Aber natürlich, mein Kind, welch eine Frage! Ich hätte es sonst auch selbst gemacht, doch du wirst im Umgang mit solchen Leuten sicher mehr Erfahrung haben und besser wissen, wonach man genau fragen muß." Das folgende Telefonat dauerte quälend lange. Immer wieder wurde Martha an andere Stellen weiterverbunden und mußte warten. Dann aber erhielt sie schließlich die gewünschten Auskünfte und schrieb hastig mit. Als sie den Hörer auflegte, verhieß ihr Gesicht nichts Gutes.
"Was ist los?" fragte Lisbeth, "ist ausgerechnet die Maschine an einen besonders weit entfernten Ort unterwegs?"
"Wenn es nur das wäre!" antwortete Martha mit enttäuschter Stimme, "da ich keine genaue Zeit angeben konnte, sondern nur eine ungefähre Zeitspanne, kommen insgesamt vierzehn Flüge in Frage, die innerhalb dieser eineinhalb Stunden dort abgegangen sind!"
"Ach du Schreck!" entfuhr es Meliolantha, "dann hilft uns das ja überhaupt nicht weiter!"
"Mal sehen", sagte Bernhard, "laßt uns erst einmal die aussieben, die davon nicht in Frage kommen, denn wir wissen doch, wenn ich dich vorhin richtig verstanden habe, Meliolantha, daß Lila auf dem Weg nach Westen war." Doch selbst dann waren es noch sechs Flüge zu den unterschiedlichsten Zielen, so daß eine erfolgreiche Suche nach der kleinen Elfe praktisch aussichtslos war. Wo war die arme Lila jetzt, wie mochte es ihr gehen?
Ein heftiges Schütteln weckte Lila auf. Ihr 'Gefängnis' wurde wieder einmal umgeladen. Das hieß, sie hatte die Landung offensichtlich verschlafen, was aber nach Lilas Meinung keine weitere Katastrophe darstellte, da ja die Tasche bislang offenkundig nicht geöffnet worden war und sie deshalb sowieso keine Gelegenheit zu einer Flucht gehabt hätte. Wahrscheinlich befand sich die Tasche in einer Gepäckverteilungsstelle, denn sie wurde mehrfach umgesetzt. Dabei vernahm Lila auch wieder etliche menschliche Stimmen, konnte aber kein Wort verstehen. Die Menschen hier schienen eine andere Sprache zu benutzen! Das war nicht gut, denn wie sollte sie sich dann im Ernstfall verständlich machen?
"Da, das ist eine von unseren!" hörte sie plötzlich die Stimme des Mannes, in dessen Auto sie der Freiheit beraubt worden war. Also sprachen wenigstens nicht alle Menschen hier so unverständlich! Sie spürte, wie die Tasche hochgehoben wurde. Dann folgte ein heftiges Schütteln und Zerren.
"Laß los, Tommy, das ist meine Tasche! Mammi, Tommy gibt meine Tasche nicht her, immer will der nur ärgern!"
"Geht das schon wieder los?!" schimpfte der Vater, "sofort hört ihr auf! Gib Kathrin ihre Tasche und kümmere dich um dein eigenes Gepäck, Thomas!"
"Und beeilt euch ein bißchen, sonst sind die anderen Leute alle vor uns draußen, und wir können ewig auf ein Taxi warten!" drängte die Mutter.
Wenig später folgte die nächste Autofahrt, dann wurde das Gepäck ausgeladen, und das Auto entfernte sich.
"Ist es nicht herrlich hier, Georg?!"
"Traumhaft! Allein schon der tolle Ausblick auf's Meer!"
"Ich hab' mir unser Ferienhaus größer vorgestellt!"
"Du mußt aber auch immer was zu meckern haben, Tommy!"
"Misch dich nicht ein, du blöde Kuh!"
"Georg, was haben wir mit unseren Kindern bloß falsch gemacht? Ich halte diesen Dauerstreit bald nicht mehr aus!"
"Also, Thomas, Kathrin, wenn ihr hier einen erträglichen Urlaub verbringen wollt, benehmt ihr euch ab sofort, oder ihr werdet es noch bereuen!" schimpfte der Vater. Danach erkannte Lila an den veränderten Geräuschen, daß sie sich nun im Inneren des Hauses befinden mußten. Sie hörte mehrere Türen klappen.
"Ah, hier ist das Bad."
"Hier die Küche und das daneben ist unser Schlafzimmer. Die beiden anderen sind eure Zimmer."
Es gab einen heftigen Ruck, und die Tasche prallte mehrfach gegen die Wand, als das Mädchen lossprintete. "Das hier ist meins!" hörte sie Kathrins triumphierende Stimme rufen.
"Toll, super, und ich kann dann auf die Straße gucken!" quengelte Thomas.
"Tja, das kommt davon! Reaktion wie 'n alter Opa!" kicherte seine Schwester, und bevor sie die Zimmertür hinter sich zuschlug, konnte Lila noch das ergebene Seufzen der Mutter hören.
Jetzt wurde es kritisch! Es war nur eine Frage der Zeit, wann das Mädchen die Tasche auspacken würde. Lila hatte keine Ahnung, wie sie dabei einer Entdeckung entgehen sollte. Der Reißverschluß wurde gegriffen, und das Mädchen versuchte ihn zu öffnen.
"Scheiße!" hörte Lila jenes unflätige Wort, welches auch ihr so manches Mal nur allzuleicht über die Lippen kam, "dauernd ist dieser Kack-Stoff dazwischen!" Es folgte ein wüstes, noch von mehreren Flüchen begleitetes Gezerre und Gepule, bis der Reißverschluß endlich nachgab und sich mit einem Ruck öffnete.
"Na endlich!" rief Kathrin, und die Tasche bekam noch einen abschließenden wütenden Fußtritt, der glücklicherweise nicht die Stelle traf, wo sich die Elfe aufhielt. Nach der langen Dunkelheit geblendet, schloß Lila die Augen, drückte sich soweit es ging an die Seite und blinzelte vorsichtig ins Licht. Das Menschenmädchen stand dicht neben der Tasche und zog soeben Pullover, Unterhemd und die lange Hose aus.
"Hm, was zieh ich denn mal an ...?"
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und der Junge platze herein: "Kathy, weißt du was ...?"
"Ey, kannst du nicht anklopfen, du Arsch!" kreischte die Angesprochene und hielt die Arme vor die nackten Brüste.
"Manno, das konnte ich doch nicht wissen! Reg dich ab, ich bin ja schon wieder weg!" Die Tür wurde heftig zugeknallt, und es herrschte wieder Ruhe.
"Idiot!" grummelte Kathrin noch, dann griff sie in die Reisetasche, zog ein T-Shirt hervor und streifte es über, um erneut in die Tasche zu langen. Diesmal war alles zu spät: Sie faßte ausgerechnet eine Shorts, auf deren einem Bein Lila hockte und so, als das Mädchen zog, zur Seite gerissen wurde und in die Mitte der Tasche plumpste. Der Schrei, den die Fünfzehnjährige ausstieß, war derart gräßlich, daß man meinen konnte, es ginge ihr ans Leben. Sie stolperte mit kalkweißem Gesicht zur Wand und preßte sich mit dem Rücken dagegen, gleichzeitig mit der Rechten blind nach dem Türgriff tastend, ohne die Elfe aus den Augen zu lassen. Als Lila nun aus der Tasche kletterte und mit noch etwas unsicheren Bewegungen zum Tisch flog, ließ sie den nächsten, kaum weniger entsetzlichen Schrei los, weiterhin jeder Bewegung Lilas mit weit aufgerissenen, starren Augen folgend.
"Bitte, bitte!" wisperte Lila und legte den Finger auf die Lippen, "ich tue dir doch nichts!"
Kathrin schüttelte nur den Kopf, daß die Haare flogen und hielt sich, immer noch äußerst ängstlich dreinblickend, eine Hand auf den Mund.
"Was ist los, Heulsuse?!" erklang nun Thomas' Stimme auf der anderen Seite der Tür, "hast'e 'ne Spinne gesehen, Schißhäsin?"
Lila sah das Mädchen flehend an, aber diese schien immer noch so in Panik, daß Lila echte Zweifel hegte, ob sie ihr überhaupt zuhörte. Sie beschloß, dichter heranzufliegen, damit sie mit ihr reden konnte, ohne daß die anderen sie hörten. Sie sprang ab und schwirrte auf die zitternde Jugendliche zu. Doch das war offensichtlich zuviel für das Mädchen. Sie kreischte entsetzt, drehte sich um, riß die Tür auf und sprang, den davorstehenden Thomas über den Haufen rennend, hinaus.
"Paß doch auf, Schnepfe! Wie kann man nur ...?"
Den Rest hörte Lila nicht mehr, sie hatte erspäht, daß das Fenster geöffnet war und nutzte die Aufregung, um hinauszuschlüpfen und schnell einigen Abstand zwischen sich und das Haus zu bringen. Dort verbarg sie sich zwischen den Zweigen eines dichten Busches und sah sich um, damit sie sich überhaupt erst einmal orientieren konnte. Das Haus, aus dem sie gerade geflohen war, stand an einem sanften Hang, an dem sich die Zufahrtsstraße in vielen Kurven entlangwand. Im Hintergrund erhoben sich mächtige Berge, auf deren Gipfeln sogar Schnee zu sehen war. Hinter Lila brach der Hang plötzlich steil ab, und weiter unten war eine Bucht mit weißem Sandstrand zu sehen, dahinter das Meer. Lila war sprachlos. Das Meer kannte sie nur aus Büchern, jetzt hatte sie es wirklich vor sich. Der Anblick war überwältigend! Wasser, so weit man schaute, und an dessen Ende die Welt wie abgeschnitten. Am Ufer brachen sich unglaublich hohe Wellen - zumindest im Vergleich zu jenen, die Lila von den Seen kannte - in gleichmäßigen Abständen. Weiter hinten, wo der Sandstrand zu Ende war und die Wellen gegen die Felsen schlugen, schoß die Gischt bis zu dreißig, vierzig Meter an den Klippen hoch, und auch der Zusammenprall der zurückgeworfenen Wellen mit den neu ankommenden war ein derart beeindruckendes Schauspiel, daß sie minutenlang die Blicke nicht davon losreißen konnte. Lila war völlig fasziniert; diese Landschaft hatte schon ihren Reiz. Auch die Pflanzen, die hier wuchsen, waren andere als daheim. Es gab viele Bäume, deren Kronen sich wie Schirme ausbreiteten, andere waren schmal und hoch und ragten Säulen gleich in den Himmel. Dazwischen wuchsen dickfleischige, mächtige Pflanzen mit spitzen