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Eine unbekannte Krankheit, die entweder den Tod oder entsetzliche psychische Veränderungen der Betroffenen zur Folge hat, gibt den Elfen Rätsel auf und stellt sie vor schier unlösbare Probleme. Auch Lila wird mit ihren jugendlichen Freunden auf unangenehmste Art mit dieser neuen Bedrohung konfrontiert, die nicht nur alles intelligente wie auch tierische, sondern ebenso alles pflanzliche Leben bedroht und unwiederbringlich zu zerstören scheint. Kann es noch Hoffnung geben? Die Elfen versuchen alles, doch eine nach der anderen fällt der ‘tödlichen Königin’ zum Opfer. ‘Verloren’ ist der vorerst letzte Band der fünfteiligen Fantasyreihe ‘Lila’.
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Weitere Bände der Fantasyreihe ‘Lila‘:
Lila 1, Teuflische Experimente
Lila 2, Das Duell
Lila 3, Die Rache
Lila 4, Verloren
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
"He, Lil, sieh mal, wer da kommt!" rief Camilla, als sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte, den ihr der Anblick des heranjagenden Falken beschert hatte. Lila drehte sich in der Luft und blickte in die von ihrer Cousine gewiesene Richtung.
"Gnumba!" freute sich die zwölfjährige Elfe, "das wurde auch mal wieder Zeit!"
Schon wurde der Falke bei ihnen abgebremst und verhielt auf der Stelle rüttelnd in der Luft. Auf seinem Rücken saß das vierzehnjährige Gumbenmädchen, das mit rund sechzehn Zentimetern in etwa Lilas Größe hatte.
"Hallo, Lil, hallo, öh, Milla!"
"Hi, öh, Gnumba!" ahmte Lila die Gumbin lachend nach, die daraufhin auch sofort verlegen errötete. Camilla, die mit ihren sechzehn Jahren über etwas mehr Feingefühl verfügte, sah Lila strafend an: "Du bist echt fies, Lil!"
"Halb so wild", wehrte Gnumba ab, "das macht mir nichts aus! Aber wollen wir nicht lieber, öh, landen, als hier eine Luftkonferenz abzuhalten?"
"Du hast Recht, Gnummi, dann schick dein Reittier mal fort!" Camilla gab Lila einen Wink, und schon hatten die zwei Elfen das Gumbenmädchen unter den Achseln gefaßt und aus dem Sattel gehoben. Gnumba kreischte im ersten Moment vor Schreck und fing auch noch an zu zappeln, weil sie extrem kitzelig war.
"Hey, Gnumba, halt still, oder wir lassen dich fallen!" drohte Lila.
"Wenn ihr aufhört, mich zu, öh, kitzeln, schaffe ich das auch!" keuchte die Angesprochene, "außerdem zieht ihr mich aus!" Sie bemühte sich, das hochgerutschte Hemd wieder herunterzuziehen.
"Stell dich nicht so an", grinste Lila, die allerdings gut reden hatte, da Elfen bis zum Alter von sechzehn Jahren keine Kleidung tragen und Nacktheit deshalb gewöhnt waren. "Mich an deiner Stelle würde mehr stören", setzte sie mit einem Zwinkern hinzu, welches jedoch nur Camilla sehen konnte, "daß dir Bregard gerade genau unter den Rock schaut!"
"Was?!" kreischte Gnumba, kniff die Beine zusammen und schaute nach unten. Dort war aber im Gegensatz zu Lilas Behauptung weder Bregard (ein Exfreund von Camilla) noch sonst irgendjemand zu sehen.
"Ooh, Lila! Wieso falle ich auf deine Scherze bloß immer wieder herein?" regte sich die Gefoppte auf, die jetzt von den beiden Elfen auf dem Boden abgesetzt wurde. Mit einem schrillen Pfiff rief sie ihren Falken herbei, der unschlüssig in der Luft kreiste.
"Bevor ich ihn, öh, wegschicke, müßte ich erstmal von euch wissen, wie lange ich bleiben kann, damit ich ihm deutlich machen kann, wann er, öh, wiederkommen soll."
"Da brauchst du uns doch nicht extra zu fragen, Gnumba", sagte Camilla, "du kannst natürlich so lange bleiben, wie du Lust hast!"
"Super!" freute sich das Mädchen, "dann bleibe ich eine Woche, o.k.?" Sie flüsterte ihrem Vogel etwas zu, dabei seinen Hals tätschelnd. Das Tier hob den Kopf, ließ einen Schrei ertönen, der wie eine Antwort klang, und flog dann pfeilschnell davon. Anschließend schlenderten die drei Freundinnen an dem kristallklaren Karbach entlang zum Biberteich, an dessen Ufer sich das Elfendorf befand. Die Häuser waren allesamt in den Kronen der Bäume erbaut worden, damit die Bewohner nicht unnötig von am Boden lebendem Getier belästigt oder bedroht wurden.
"Wie sieht es denn bei euch so aus?" wollte Lila von Gnumba wissen, "ist mittlerweile alles so einigermaßen nachgewachsen, nach dem großen Waldbrand?"
"Größtenteils schon. Zumindest unsere Wohnhöhlen sind soweit zugewachsen, daß sie wieder gut verborgen sind. Bis der Wald sich komplett erholt hat, werden aber wohl noch, öh, Jahre vergehen."
"Und, gibt es immer noch mutierte Tiere aus Urkalans Zeiten da oben?" interessierte es Camilla, "wir hatten hier ja kürzlich erst ein neues Nest mit Reißzahnteufeln entdeckt. Zum Glück hat Bernhard es vernichtet, indem er es mit irgendwelchen von ihm entwickelten Mitteln geschafft hat, ihre Fortpflanzungsfähigkeit zu zerstören."
"Nö, bei uns, wie auch bei und in der toten Stadt in der Umbnugödnis, haben wir seit einiger Zeit keine dieser, öh, Wesen mehr gesehen, obwohl wir, und soweit ich weiß auch niemand anderes, etwas gegen sie unternommen haben. Eigenartigerweise scheinen in der Stadt praktisch überhaupt keine Tiere mehr zu leben. Gezzo stöbert ja öfter in den Ruinen, wie auch in den unterirdischen Teilen herum und hat berichtet, daß dort nicht einmal mehr, öh, Ratten oder Mäuse anzutreffen sind."
"Das ist seltsam", meinte Lila, "als wir damals da eingesperrt waren, lebten dort ja noch ganze Heerscharen von allen möglichen Viechern."
"Stimmt", bestätigte Gnumba, "und es ist nicht nur das: Auch die Pflanzen, die dort wuchsen, sind zum größten Teil, öh, eingegangen oder haben sich seltsam verändert, sind so graubraun und krüppelig geworden."
"Ts, ts, ein Segen, daß ihr und wir da nicht wohnen müssen. Zumindest ist es gut, daß wir alle anscheinend keine Angst mehr vor den Mutationen haben müssen."
Die drei hatten sich eine gemütliche, weich bemooste Uferstelle am Teich gesucht und ließen ihre Beine in das kühle Wasser baumeln.
"Wißt ihr, wozu ich Lust hätte?" sagte Lila.
"Nee, woher sollten wir wohl!" gab Camilla zurück.
"Ich hätte Lust, nochmal in die unterirdischen Teile der toten Stadt zu gehen. Jetzt, wo Gnumba sagt, daß dort keine gefährlichen Tiere mehr sind, kann man das doch wagen!"
"Hm, also ich fände das auch interessant", gab Camilla zu, "wir haben ja damals, zu Urkalans Zeiten, wie auch später, als Eotan dort herrschte, längst nicht alles gesehen. Würdest du auch mitkommen, Gnumba?"
"Öh, ja, ich komme mit. Aber wir sollten dann lieber auch noch, öh, Gezzo mitnehmen, der kennt sich da unten bei weitem am besten aus."
"Klar, warum nicht? Gezzo ist schon in Ordnung!"
"Wann wollen wir los?" fragte Lila, begierig, möglichst bald ihre Idee in die Tat umzusetzen.
"In einer Woche?" schlug Gnumba vor. "Leider habe ich nun ja meinen Falken fortgeschickt, und vor Ablauf der vereinbarten Zeit wird er nicht, öh, wiederkehren", bedauerte sie, "und zu Fuß würde es viel zu lange dauern!"
"Iieeh! Was ist das denn?" rief Camilla, gleichzeitig ihre Füße aus dem Wasser reißend und zeigte auf ein schleimiges undefinierbares Etwas, das träge in der schwachen Strömung des Teiches vorbeitrieb. Als sie es ebenfalls erblickten, zogen auch Lila und Gnumba hastig die Beine hoch.
"Scheint mal ein, öh, Tier gewesen zu sein", stellte Gnumba angeekelt fest.
Lila nickte: "Ein Frosch war es, aber der hat so komische fadenförmige Auswüchse an den Beinen und ist irgendwie verschimmelt!"
"Äh, bäh! Da halte ich meine Füße erstmal nicht mehr 'rein!" schüttelte sich Camilla, "kommt, wir geh'n zu uns, ich hab Hunger!"
"Iii! Ausgerechnet jetzt mußt du von essen reden! Ich sehe die ganze Zeit dies Ekelding vor mir. Wenn ich jetzt essen sollte, müßte ich bestimmt kotzen!" war Lila überzeugt, "aber wir können ja trotzdem hingehen und schon mal unsere Mütter fragen, ob wir in ein paar Tagen mit zu dir dürfen, Gnummi."
Gemächlich trödelten sie in ihr Dorf, wobei sich Lila, entgegen dem, was sie eben noch gesagt hatte, im Vorbeigehen ein paar Blaubeeren pflückte und diese mit offensichtlichem Genuß verspeiste. Als sie die mächtige Buche erreicht hatten, in welcher sich ihr Heim auf einem dicken, das Wasser überragenden Ast befand, griffen Lila und Camilla ihre Freundin erneut an den Händen und flogen mit ihr zu dem in schwindelerregender Höhe befindlichen Eingang hinauf.
"Sieh mal einer an, da haben wir ja seltenen Besuch. Hallo, Gnumba, schön, dich mal wieder hier bei uns zu sehen!" wurde das Gumbenmädchen von Killy, Camillas Mutter, begrüßt, "ihr kommt gerade recht, das Essen ist in einer Minute fertig!"
Die Mädchen sahen sich an. "Also, ich kann schon wieder", meinte Camilla, "und Lila kaut ja sowieso die ganze Zeit. Wie steht's mit dir, Gnumba?"
"Doch, ich glaube, das geht", erklärte diese, wenngleich mit leicht zweifelndem Tonfall.
"Was gibt es denn da zu überlegen?" wollte die gerade hinzugetretene Mutter von Lila, Sara, wissen, "ihr habt doch sonst nie Probleme, den ganzen lieben langen Tag Essen in euch hineinzuschlingen!"
"Da war eben so'n ekliges, vergammeltes, totes Tier, das uns zwischen die Füße getrieben ist", erklärte Lila, "und das hatte uns vorübergehend den Appetit verdorben."
"Denkt einfach an etwas anderes", riet Sara, "denn jetzt gibt es Blaubeerpfannkuchen und Preiselbeeren."
"Mmmh!" riefen Lila und Camilla wie aus einem Munde, und auch Gnumbas Augen strahlten in Vorfreude auf eines ihrer Lieblingsgerichte, das kein anderer so zuzubereiten wußte wie Sara. Als sie nun zusammen am Tisch saßen, war die Erinnerung an den unappetitlichen Zwischenfall vorhin wie weggeblasen, und alle drei machten sich derart heißhungrig über die Köstlichkeiten her, daß Sara mit dem Backen kaum hinterherkam.
"Du, Mama, wenn Gnumba nach Hause zurückfliegt, so in einer Woche, können Milla und ich dann mit, sie besuchen?"
"Lila! Du sollst doch nicht immer mit vollem Mund reden!" tadelte Sara, "also, ja, von mir aus dürft ihr."
"Ich habe auch nichts dagegen", pflichtete Killy bei.
"Klasse!" freute sich Gnumba, "dann haben wir ja jetzt eine ganz schön, öh, lange Zeit zusammen vor uns!"
Von ihrem Vorhaben, die unterirdische Stadt aufzusuchen, erzählten sie ihren Müttern wohlweislich nichts, denn in dem Fall könnte die Besuchserlaubnis schnell wieder zurückgezogen werden, da Erwachsene immer so übermäßig besorgt waren, und Gnumbas Versicherung, daß dort keine gefährlichen Tiere mehr herumstreiften, ihnen vermutlich nicht ausreichen würde. Als sie später in ihrem Zimmer in den Betten lagen - Sara hatte Gnumba eines neben dem von Lila zurechtgemacht - planten sie eifrig weiter an ihrem Vorhaben.
"Du, Gnumba, wie ist das eigentlich mit Licht da unten? Brennen noch die Lampen aus Urkalans und Eotans Zeiten? Bernhard hatte sie ja angelassen, als wir damals die Anlagen verlassen hatten."
"Nein, die sind vor ungefähr einem halben Jahr so nach und nach, öh, erloschen, als die Energievorräte aufgebraucht waren."
"Schade, mit den kleinen Lampen, wie wir sie tragen können, sieht man ja nicht so viel", bedauerte Lila.
"Is' doch, öh, egal, das wird auch so toll und spannend!"
"Vielleicht finden wir ja sogar noch Splitter von diesem wunderbaren Rubin, über den Urkalan die Tiere gesteuert hat", sinnierte Lila.
Camilla schüttelte den Kopf: "Das glaube ich kaum; Bernhard hatte doch die letzten Stücke nach Eotans Tod zu feinem Staub zermalmt. Außerdem wurde dieser unseelige Stein nur für derart üble Zwecke eingesetzt, daß wir, auch wenn wir noch Teile finden, diese liegenlassen oder sogar zerstören sollten!"
"Das finde ich auch! Ich würde jedenfalls nichts davon, öh, anfassen! Aber da unten gibt es bestimmt genug andere schöne Dinge, auch Schmuck und Edelsteine, von denen wir etwas, öh, mitnehmen können."
Nach der Nacht, in der alle drei Mädchen - oh Wunder - von kostbaren Schätzen träumten, begannen sie am folgenden Morgen bereits damit, die ersten Utensilien für die Reise bereitzulegen. Die zwei Elfen konnten zwar während des Fluges kaum etwas tragen, aber Gnumbas Falke war kräftig genug, daß sie ihm einiges zumuten konnten. Im Augenblick befanden sie sich am Ende des Biberteiches, wo Camilla sich nach einem geeigneten Zweig umsah, aus welchem sie sich einen Bogen bauen konnte. Schließlich hatte sie einen gefunden und begann diesen von der Rinde zu befreien. Gnumba, die bereits einen Bogen besaß, half ihr dabei, während Lila sich damit beschäftigte, Pfeile aus Holz mit Steinspitzen und Federn zu versehen. Von der anderen Teichseite kam ein Elfenjunge über den Biberdamm auf sie zu geklettert, mit der rechten Hand etwas im Wasser hinter sich herziehend, was zu tragen offenbar zu schwer war.
"He, Lil, sieh mal, was ich gefunden habe!" rief der Junge dem ihm am nächsten sitzenden Mädchen zu.
Lila schaute auf. "Was ist es denn, Dorgo?"
Der siebenjährige Elf mühte sich, das Etwas in seiner Hand auf den Damm aus Geäst zu ziehen.
"Igitt, Dorgo, wirf ihn wieder zurück, der ist doch schon total verwest!" rief Lila, angewidert auf den Kadaver des Frosches starrend, den sie schon tags zuvor gesehen hatten. Enttäuscht, daß Lila seine Freude über den Fund nicht teilte, ließ Dorgo das tote Tier treiben, das kurz darauf zwischen den Ästen des Dammes verschwunden war.
"Dorgo, wo bleibst du denn? Du solltest doch schon längst zu Hause sein!" Die Stimme gehörte Dorgos Mutter, Lavia, die sich über das Geländer eines nicht weit entfernten Baumhauses beugte. Erschrocken zuckte der Junge zusammen, wischte schnell die Hände an seinen Beinen ab und flog hastig hinüber.
"Bäh, wie kann man so etwas nur freiwillig, öh, anfassen!"
"Typisch Jungs!" war Camillas Kommentar, damit war das Thema für sie auch abgehakt, und sie widmeten sich wieder dem Waffenbau. Den Nachmittag und auch den folgenden Tag beschäftigten sich die drei Freundinnen damit, ihre eher zweifelhaften Schießkünste zu verbessern. Camillas Laune verschlechterte sich im Verlaufe dieser Übungen immer mehr, denn obwohl auch sie Fortschritte machte, waren ihr Lila und Gnumba doch eindeutig überlegen. Gnumba konnte dank des kräftigeren Körperbaues der Gumben mit Abstand am weitesten schießen, während Lila am zielsichersten war. "Wieso habe ich denn bloß kein Glück dabei?" ärgerte sich Camilla und warf den neuen Bogen frustriert ins Gras.
"Glück?" echote Lila, "das hat doch nichts mit Glück zu tun, sondern mit Können! Vielleicht brauchst du ja eine Brille, wie die Menschen sie tragen, zum Beispiel die alte Lisbeth! Würde dir bestimmt gut stehen!" Sie grinste breit, und auch Gnumba fing bei der Vorstellung einer Brille in Camillas Gesicht an zu kichern.
"Tolle Freundinnen seid ihr!" erboste sich diese, "ihr könnt mich alle mal!"
"Milla, komm, nun sei doch nicht gleich eingeschnappt, das war doch nur ein Scherz! Außerdem übst du ja auch erst seit gestern, das kann doch morgen oder übermorgen schon ganz anders aussehen!" versuchte Lila die Wogen zu glätten.
"Ja, toller Trost! Du übst aber doch auch noch nicht länger. Ich glaub', ich habe einfach zwei linke Hände für so etwas." Lila wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr dazu, denn gerade in diesem Moment flog Lavia vorbei. "He, habt ihr Lavias Gesicht gesehen?" fragte Lila, als die Elfe außer Hörweite war, "die sah ja schlimm aus!"
"Stimmt, als ob sie geheult hätte", fand auch Camilla, ihren Frust von eben vergessend, "was die wohl hat?"
Nur wenige Minuten später kam Lavia wieder an ihnen vorbei, diesmal in Begleitung von Boron, dem Arzt der Elfen. "Oh weia, hoffentlich ist da nichts, öh, Schlimmes passiert!" sagte Gnumba, hinter den beiden herstarrend.
"Ich hab' keinen Bock mehr auf Bogenschießen", meinte Lila, "wollen wir nicht hinterherfliegen und in Erfahrung bringen, was da geschehen ist?"
"Von mir aus", stimmte Camilla zu, "nach meinen grandiosen Erfolgen ist mir eh die Lust vergangen!"
Die Mädchen folgten den Erwachsenen in respektvollem Abstand und versuchten anschließend, einen Blick durch die Fenster des Hauses zu erhaschen, das sich in der Krone einer dicken Birke befand.
"Habt ihr 'was gesehen?" wollte Gnumba anschließend wissen, als Lila und Camilla wieder neben ihr landeten. "Nicht so genau", erklärte Lila, "aber es scheint so, als sei Dorgo krank. Er liegt im Bett, und sein Vater sitzt mit ziemlich besorgtem Gesicht bei ihm, während Boron ihn untersucht."
"Was hat er denn nur?" wollte im gleichen Moment oben im Haus Dorgos Mutter von Boron wissen. So etwas hat er doch noch nie gehabt!"
"Ich kann auch noch nichts Genaues sagen", bedauerte der Arzt, "diese eigenartigen Stellen an den Fingern, Händen und Oberschenkeln sind auch mir völlig schleierhaft. Ich kenne keine Pflanzen- Tier- oder Mineralienart hier in der Gegend, die derartige - ich vermute mal allergische - Reaktionen auslösen könnte." "Es tut auch furchtbar weh!" klagte Dorgo, "und es geht immer weiter die Arme hoch!"
"Tja", grübelte Boron, "ich werde ihm ein Antiallergikum geben und eine Gewebeprobe nehmen, die ich zu Hause untersuchen werde. Aber ich glaube, ihr braucht euch keine unnötigen Sorgen zu machen: Wahrscheinlich hat er irgendeine giftige Pflanze angefaßt; das wird sich schon bald geben!" Behutsam löste er ein winziges Stückchen Haut von einem Finger und gab es in ein Reagenzglas. "Na, mein Junge, war das sehr schlimm?"
"Nein, gar nicht", antwortete Dorgo, "ich habe überhaupt nichts gespürt. Eigentlich merke ich an den Stellen, wo diese Flecken sind, sowieso nichts. Nur immer da, wo sie dann kurze Zeit später auftauchen, tut es weh."
Der Arzt schüttelte den Kopf. "Das sind wirklich höchst merkwürdige Symptome! Derartiges habe ich noch nie gesehen oder gehört. Ich komme morgen früh wieder und schau mir an, ob es besser geworden ist. Dann werde ich auch die Gewebeproben untersucht haben und kann näheres dazu sagen." Als er ging, nahm er Dorgos Eltern noch kurz beiseite. "Sollte sich sein Zustand verschlechtern oder neue Symptome auftreten, sagt mir sofort Bescheid, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit!"
Dorgos Vater und Mutter nickten. "Danke, daß du sofort gekommen bist und extra dein Essen unterbrochen hast", sagte Lavia, "können wir dir noch etwas anbieten?"
"Nein, nein!" wehrte Boron ab, "erstens kann ich mir das Essen jederzeit wieder aufwärmen, und zweitens will ich keine Zeit verlieren, die Hautprobe zu untersuchen. Sollte ich in dieser Geschichte nicht weiterkommen, kann ich dann ja noch Grond, den Arzt der Gumben oder auch Bernhard von den Menschen zu Rate ziehen. Wir werden schon etwas finden, Dorgo gesund zu kriegen. Bis morgen!" Damit startete er und flog zu seinem Haus zurück, welches ihm gleichzeitig als Praxis diente.
Unten, in der Nähe von Dorgos Zuhause, grübelten die drei Mädchen, was Dorgo wohl für eine Krankheit haben könnte. Lila und Camilla hatten sich nicht so nah herangetraut, daß sie etwas Genaueres hätten erkennen können. Doch wollte ihnen nichts Schlüssiges einfallen. Eigentlich wurden Elfen sehr selten krank. Und daß eine so schwer erkrankte, daß man es für nötig hielt, den Arzt zu holen, geschah nur alle Jubeljahre einmal. "Vielleicht ist er ja gar nicht krank", vermutete Lila schließlich, "er kann sich ja auch einfach verletzt haben. Zum Beispiel einen Arm gebrochen oder so." Damit gaben sie sich zufrieden und bummelten in Richtung von Lilas und Camillas Haus. Plötzlich hielt Gnumba die beiden Elfen am Arm zurück und starrte gen Himmel. Dann nahm sie zwei Finger in den Mund und ließ einen grellen Pfiff ertönen. Lila und Camilla hielten sich die Ohren zu. "Konntest du uns nicht vorwarnen!" schimpfte Lila empört, "mir wären beinahe die Trommelfelle geplatzt!"
"Ich mußte halt schnell, öh, reagieren, da oben habe ich nämlich gerade meinen Falken gesehen. Wenn er mich gehört hat, brauchen wir nicht noch drei oder vier Tage zu warten, sondern können schon, öh, morgen los."
"Das wäre ja super!" fand Camilla und blickte erwartungsvoll in den blauen Himmel, konnte aber nichts entdecken. "Ich glaube, der hat dich nicht gehört. Schade!"
Doch just in diesem Moment rauschte es hinter ihnen, und der elegante Flieger landete bei Gnumba, diese mit schräggelegtem Kopf erwartungsvoll ansehend. Gumba zog eine kleine Kugel aus einer ihrer Taschen und stopfte sie dem Falken in den Schnabel, gleichzeitig Unverständliches auf ihn einredend.
"So, das ist gebont", erklärte sie den anderen, "er wird morgen früh hier sein, dann können wir los!"
Am nächsten Tag machten sie sich dann schon in aller Herrgottsfrühe mit Saras und Killys Einverständnis auf den Weg zu den Gumben. Lila und Camilla bestimmten das Tempo, da sie natürlich mit der Geschwindigkeit eines Falken bei weitem nicht hätten mithalten können. Schon bald waren sie den Blicken ihrer Mütter entschwunden.
Boron klopfte leise. Sofort wurde die Tür geöffnet, und Lavia ließ den Arzt herein.
"Wie geht es unserem kleinen Patienten?" wollte er gleich als erstes wissen.
"im Augenblick schläft er gerade", antwortete Lavia, "und ich hoffe, auch noch etwas länger, denn in der Nacht hat er vor Schmerzen kaum ein Auge zugetan! Hast du denn schon etwas herausgefunden, Boron?" setzte sie noch ängstlich hinzu. Auch Forn, Dorgos Vater, trat hinzu und sah den Arzt erwartungsvoll an.
"Nun ja, es scheint sich um eine Art Pilz zu handeln", erläuterte Boron, "als ich die Probe unter dem Mikroskop untersuchte, fand ich etliche Fäden eines pilzähnlichen Gewächses. Die meisten waren bereits abgestorben. Andere, die ich auf ein Stück frisches Fleisch gab, wucherten binnen kurzem derart aggressiv, daß das Fleisch heute früh bereits als solches kaum noch zu erkennen war."
"Oh Gott!" entsetzte sich Lavia, "aber bei Dorgo sieht es doch nicht so schlimm aus?!"
"Ich nehme an, es liegt daran, daß Dorgos Körper sich gegen den Eindringling wehrt, während das Fleisch, das ich zu Testzwecken nutzte, tot war. Ich habe über Nacht etliche Mittel an diesem Pilz erprobt, muß aber eingestehen, daß keines durchschlagenden Erfolg zeigte. Allerdings war es, wie gesagt, totes Fleisch. Die Mittel mögen bei Dorgo womöglich mehr erreichen."
"Das klingt ja alles furchtbar; hoffentlich hilft es Dorgo dennoch!" sagte Forn gepreßt.
"Das hoffe ich auch", murmelte Boron, "ich möchte mal einen Blick auf den Jungen werfen. Ich werde auch versuchen, ihn nicht zu wecken."
Leise betraten sie gemeinsam das Krankenzimmer. Dorgo lag auf dem Rücken, die Flügel nach beiden Seiten abgespreizt und schien in einem unruhigen Dämmerzustand. Boron setzte sich auf die Bettkante und nahm einen Arm des Kindes hoch, um ihn zu untersuchen.
"Es scheint sich kaum weiter ausgebreitet zu haben", flüsterte er, "seht ihr, die Flecken sind nur auf Händen und Unterarmen zu sehen. Ich meine, wir sollten ihn schlafen lassen, dann wird er sich am besten erholen. Wenn er aufwacht, gebt ihm zwei Löffel voll von diesem Mittel und cremt die Hautpartien, die diese Flecken zeigen, sowie die Umgebung derselben großzügig mit dieser antimyotischen Salbe ein!"
"Das machen wir. Wann kommst du wieder?"
"Sagt mir doch einfach Bescheid, wenn etwas ist. Ansonsten komme ich morgen so gegen Mittag vorbei, o.k.?"
"Alles klar, bis dann."
Im Laufe des Tages wachte Dorgo nur sporadisch und jeweils sehr kurz auf, so daß gerade genug Zeit blieb, ihm die Medikamente zu verabreichen. In der Nacht war von ihm nichts zu hören, so daß seine Eltern ungestört schlafen konnten. Kurz vor dem Frühstück ging Lavia dann in sein Zimmer, um zu fragen, was er zu essen wünschte. Dorgo lag still in seinem Bett. Lavia zog die Vorhänge zurück; das helle Sonnenlicht fiel herein und beschien das bleiche Gesicht des Jungen. Lavia krampfte sich das Herz angstvoll zusammen. Mit zwei schnellen Schritten war sie am Bett und sah in die starren leblosen Augen ihres Kindes. Entsetzt faßte sie sein Handgelenk um den Puls zu fühlen, doch der Arm war bereits kalt. Verzweifelt schrie sie ihren Kummer heraus, den Kopf Dorgos in den Händen haltend. Alarmiert durch ihr Weinen, stürzte Forn herein und blieb bei dem sich ihm bietenden Anblick geschockt stehen. Mit zitternden Knien wankte er an das Bett.
"Nein, nein, das kann einfach nicht sein!" flüsterte er und wollte Dorgos Leichnam auf die Arme nehmen. Doch irgendetwas hielt ihn am Bett fest. Forn griff etwas fester zu und hob ihn kräftiger an. Es gab ein häßliches reißendes Geräusch, als unzählige weißliche Fäden rissen, die entlang des Rückgrates und Hinterkopfes aus dem Körper des toten Kindes in das Laken und die Matratze des Bettes gewachsen waren. Entsetzt ließ Forn Dorgo los, während Lavia ohnmächtig in sich zusammensank. Um Hilfe rufend stürzte Forn aus der Wohnung und jagte zu der Praxis von Boron. Überall öffneten sich Türen und erschrockene, wie fragende Gesichter blickten heraus. Doch Forn reagierte auf keine Frage, auf keinen Zuruf. Als er das Haus Borons erreicht hatte, war dieser, von dem Lärm alarmiert, bereits herausgekommen. Die kaum verständlichen Worte, die Forn hervorstammelte, waren nicht nötig, Boron hatte nur einen Blick auf das Gesicht seines Gegenübers geworfen, da war seine schlimmste Befürchtung bestätigt. Er folgte dem gebrochenen Elf in dessen Behausung. Traurig und bestürzt stand er vor dem toten Kind und dessen immer noch ohnmächtiger Mutter. Boron machte sich schwerste Vorwürfe; wie hatte er diesen Pilz, oder was auch immer es sein mochte, nur derart unterschätzen können. Wortlos und mit steinernem Blick hob nun Forn seinen Sohn soweit an, daß Boron sehen konnte, was das Gewächs angerichtet hatte. Bei dem Anblick der tausenden weißer, sich in die Matratzen krallender Fäden, fuhr Boron geschockt zurück. Das hätte er sich selbst in seinen schlimmsten Träumen nicht ausgemalt. Ungläubig trat er hinzu, um das grausige Werk der Pflanze zu untersuchen. Immer wieder schüttelte er seinen Kopf. Dann drehte er sich mit bleichem Gesicht zu Forn um.
"Bitte, Forn, vergib mir! Das habe ich nicht geahnt! Als ich Dorgo gestern Abend untersuchte, war ich guter Hoffnung, daß sich diese 'Krankheit' nicht weiter ausbreiten würde. Und daß es jetzt über Nacht so rasend schnell ging, war nun wirklich nicht abzusehen."
"Da gibt es nichts zu verzeihen!" sagte Forn mit tonloser Stimme, "du hättest ja vermutlich so oder so nichts dagegen tun können."
Boron nickte. "Forn, es tut mir leid, jetzt so kurz nach dem Tod eures Kindes darüber reden zu müssen, aber dieses Wesen, egal ob Pflanze, Tier oder was auch immer, ist offenbar so gefährlich, daß wir sofort Maßnahmen ergreifen müssen. Das heißt, Dorgo muß so schnell wie möglich in einen luftdichten Sarg, der von diesen 'Wurzeln' nicht durchdrungen werden kann. Dann müssen die Bettwäsche und die Matratze verbrannt werden, und schließlich und endlich werden wir drei, die wir Körperkontakt zu Dorgo hatten, in Quarantäne bleiben müssen, bis wir wissen, ob auch wir befallen sind. Zudem muß Histran, als unser Oberster, informiert werden, damit er entscheiden kann, was weiterhin zu unternehmen ist."
"Ich verstehe", gab Forn einigermaßen gefaßt zurück, "ich werde jemanden herbeirufen, der Histran holen soll. Es ist besser, keiner von uns geht unnötig hinaus, damit wir niemandem versehentlich dieses Etwas übertragen."
Während Forn einen der vielen Elfen, die neugierig in der Nähe des Hauses warteten, zu sich rief, kümmerte sich Boron um Lavia. Er hielt ihr ein Fläschchen mit Riechsalz unter die Nase, das sie fast augenblicklich wieder zu sich brachte. Tröstend nahm er ihre Hand, gleichzeitig diese unauffällig nach Anzeichen einer erfolgten Ansteckung untersuchend. Zu seiner vorläufigen Beruhigung konnte er weder bei Lavia noch bei sich selbst Anzeichen davon ausmachen. Als er aber den zurückkehrenden Forn bat, seine Hände inspizieren zu dürfen, stellte er mit Schrecken die ersten Flecken daran fest.
"Ich habe es selbst auch schon bemerkt", erklärte Forn, "vorhin, als du gesagt hast, daß wir in Quarantäne müssen."
"Ich werde die Salbe darauftun, auch wenn sie anscheinend nicht allzuviel hilft; immer noch besser als gar nichts. Jedenfalls solltest du es vermeiden, andere unnötig zu berühren!" mahnte Boron noch.
Dessen ungeachtet nahm Lavia ihren Mann in die Arme. "Mir ist das völlig egal. Wenn du daran stirbst, will ich es auch. Erst Dorgo und dann womöglich dich verlieren und allein zurückzubleiben, das könnte ich nicht ertragen!"
Mittlerweile war der Oberste der Elfen, Histran, hereingekommen. Er war ein besonders großer, kräftiger Elf, mit einem ernsten, intelligenten Gesicht. In seiner Begleitung waren auch noch der Goldschmied Jondras und der Korbflechter Meanmar. Ausführlich setzte Boron die drei Elfen des Dorfrates in Kenntnis, was sich ereignet hatte und welche Befürchtungen er hegte. "Das ist wirklich eine ernste Geschichte!" urteilte Histran, "und ich fürchte, daß die Maßnahmen, die du zur Vorbeugung weiterer Fälle treffen willst, nicht ausreichen werden, denn auch Dorgo muß sich ja diesen Pilz irgendwo geholt haben, so daß wir davon ausgehen können, daß es in unserer näheren Umgebung eine gefährliche Quelle dieses Übels geben muß. Ich werde gleich alle Bewohner zusammenrufen und warnen, irgendetwas zu berühren, was sie nicht zweifelsfrei als sicher erkennen können."
"Ja", stimmte Jondras zu, "und alle Eltern, besonders die kleinerer Kinder, müssen ihren Nachwuchs unter ständiger Aufsicht halten."
"Und wir werden dafür Sorge tragen, daß es euch an nichts mangelt, während ihr euch in eurer selbstauferlegten Isolation befindet", versicherte Meanmar mit seiner typisch quäkigen Stimme.
"Hat Dorgo vor seinem Tod denn noch irgendetwas gesagt, wo er sich diesen Pilz geholt haben könnte?" wollte Histran wissen.
"Nein", antwortete Boron, "zuerst wußte ich gar nicht, was er überhaupt hatte, und am nächsten Tag, als ich es als Pilz identifiziert hatte, schlief er. Außerdem muß ich zugeben, daß ich zu dem Zeitpunkt auch einfach nicht daran gedacht habe. Hat er vielleicht euch gegenüber etwas erwähnt?" wandte sich der Arzt an die trauernden Eltern.
"Nein, zu uns hat er nichts gesagt", versicherten beide.
"Nun", resümierte Histran, "dann werden wir wohl oder übel nach etwas völlig Unbekanntem suchen müssen."
Boron nickte betrübt: "Das läßt sich leider nicht mehr ändern. Sagt bitte allen, daß sie an sich und anderen auf die Symptome achten sollen; also rötliche Flecken, die sich bei Fortschreiten der Infektion in der Mitte weißlich-grau verfärben. Jeder der betroffen ist, soll hierher gebracht werden und muß unsere Quarantäne teilen."
Histran und seine beiden Begleiter verließen die Wohnung und flogen zum Rathaus hinüber. Dort läutete Meanmar die große Glocke, die ganz oben in der Eiche angebracht worden war, während Histran und Jonras auf dem Balkon, der den Dorfplatz überragte, auf das Eintreffen der Bewohner warteten. Diese strömten auch sehr schnell zusammen, denn einerseits waren viele schon von Forns Schreien aufgeschreckt worden, und andererseits verhieß das Läuten der Glocke auch nichts Gutes, denn sie wurde nur in dringenden Notfällen benutzt, damit nicht unnötig die Aufmerksamkeit anderer Lebewesen geweckt wurde. Histran unterrichtete nun die Elfen von dem traurigen Ereignis und den Konsequenzen, die es nach sich zog. Mit Schrecken und Angst lauschten die Elfen seinem Bericht. Nach der Ansprache bat Histran einige Elfen, die Umgebung gründlich abzusuchen, um den Ursprung dieser Bedrohung zu finden. Der Tischler Byrd brachte mit seinem Gehilfen einen besonders dichten und stabilen Sarg zum Haus von Lavia und Forn. Hier hinein wurde der Leichnam des Jungen gebettet, dann der Sarg luftdicht verschlossen. Anschließend verbrannten Boron und Forn alle Teile, die in Verdacht standen, mit dem Pilz in Berührung gekommen zu sein. Ab jetzt konnten sie nur noch abwarten, ob und wie sich Forns Infektion ausbreitete und ob auch Lavia und Boron sich angesteckt hatten.
Derweil saßen Sara und Killy in großer Besorgnis beisammen. Was war mit ihren Kindern? Waren auch sie eventuell in Gefahr? Schließlich hatten sie nichts von dieser schrecklichen Krankheit mitbekommen und waren deshalb nicht gewarnt. Wo waren sie jetzt?
Wie jedesmal, wenn sie die düstere Schlucht, die zur Umbnugödnis hinaufführte, durchflogen, hatte Camilla ein beklemmendes Gefühl. Die Erinnerung, wie sie hier damals von den Geschöpfen des Magiers Urkalan überfallen worden waren, kam ihr erneut in den Sinn. Andererseits hatten die Felsen am oberen Ende sie später vor dem sicheren Tod bewahrt, als sie dort vor dem von Urkalan entfachten Tornado Schutz fanden. Trotzdem war sie froh, als sie die Enge hinter sich gelassen hatten und nun über die kahle Weite der windigen Hochebene den Wäldern, in denen die Gumben wohnten, entgegenflogen.
"He, das ist ja alles schon wieder richtig grün!" staunte Lila, als sie den Waldrand erreicht hatten. Tatsächlich war schon viel Unterholz seit dem verheerenden Waldbrand nachgewachsen, und auch der ein oder andere große Baum hatte überlebt. Doch waren auch die Schäden nicht zu übersehen, ragten doch überall die schwarzen Reste verkohlter Bäume in den Himmel.
"Stimmt, ich hätte nicht gedacht, daß das so schnell geht", meinte Camilla, "hier sieht es jedenfalls frischer aus als in der Schlucht."
"Wie meinst du das, öh, Milla?"
"Habt ihr das nicht gesehen? Da gab es einige Stellen, wo die Büsche und auch die Krüppelkiefern so richtig grau und faulig aussahen."
"Nee, das habe ich nicht, bemerkt. Ich hab' nur darauf geachtet, meinen Falken zu zügeln, damit ich euch nicht, öh, wegfliege."
"Aber ich habe auch ein oder zwei solche Stellen gesehen", sagte Lila, "ich habe mir nur nichts dabei gedacht. Meinst du, Milla, daß das etwas Besonderes ist?"
"Das weiß ich nicht, aber zumindest kann ich mich nicht erinnern, sie sonst schon mal gesehen zu haben, wenn wir da durchgeflogen sind."
"Vielleicht ist das ja das gleiche, wie in der, öh, toten Stadt", vermutete Gnumba, "ich hatte euch doch erzählt, daß Gezzo dort die meisten Pflanzen tot oder krank vorgefunden hat."
"Oh je!" warf Lila ein, "hoffentlich breitet sich so etwas nicht überall aus, denn das sieht ja alles andere als gut aus!"
Ungeduldig flogen sie weiter, denn nach der mittlerweile schon zurückgelegten langen Strecke hatten sie alle großen Appetit. Besonders natürlich die zwei Elfen, da sie sich ja wesentlich mehr anstrengen mußten als die auf dem Falken reitende Gumbin. Endlich hatten sie die Lichtung inmitten des Waldes erreicht, unter deren weichem, hohem Gras sich die Wohnhöhlen der Gumben verbargen. Gerade wollte Lila landen, da sprang etwas Braunes, mit entsetzlichen Zähnen bewehrtes Etwas aus dem Gras empor und schlug mit Stummelflügeln.
"Aaahh!" kreischte Lila, "zurück, hier sind welche von den Reißzahnteufeln!"
Auch Camilla war erschrocken zusammengefahren und drehte sich zur Flucht, als ein unterdrücktes Prusten sie innehalten ließ. Sie sah zu dem Wesen zurück und erkannte nun bei genauerem Hinsehen, daß es sich um einen der Gumben handelte, der sich mit den Zähnen eines der vormals getöteten Raubwesen so furchterregend ausstaffiert hatte. Auch die 'Flügel' waren nur Stoffstücke.
"Gezzo, du Nichtsnutz!" rief jetzt Gnumba, den Übeltäter erkennend, der vor Freude über seinen Schabernack in lautes Gelächter ausbrach.
"Ha, ha, ha, voll reingelegt! Dass war doch 'ne sschöne Überrasschung, oder!"
"Du bist ein echt blöder Sack!" schimpfte Lila mit rotem Kopf, ärgerlich, auf den Gumbenjungen hereingefallen zu sein. Gnumba indessen lächelte still vor sich hin, zufrieden, daß diesmal Lila das Opfer war. Sie hatte Lilas Scherz von vor ein paar Tagen noch nicht vergessen. Sie landete den Vogel und sprang von seinem Rücken herab.
"Du hast aber auch nur, öh, Blödsinn im Kopf!" tadelte Gnumba. Allerdings klang ihre Stimme nicht unbedingt so, als meine sie auch, was sie da sagte. Doch Lila wäre nicht Lila, wenn sie so etwas länger nachtrüge. Auch sie lachte nun und landete mit Camilla neben Gezzo.
"Mann, du hast mich vielleicht erschreckt!" gestand sie, "das sah im ersten Augenblick so echt aus ...!"
Gezzo legte freundschaftlich seinen Arm um ihre Schultern: "Bisst du auch nicht mehr ssauer, Lil? Es war doch nur'n Sspaßs!"
"Nee, Quatsch, ich bin dir nicht böse, schließlich mache ich manchmal auch so etwas!"
"Manchmal?" echote Camilla und erntete dafür einen bösen Blick ihrer Cousine.
"Na, und wass treibt euch hierher? Wollt ihr vielleicht mal wieder ein bißschen zsündeln?"
"Ey, Gezzo, jetzt wirst du aber ungerecht!" protestierte Gnumba, "das war doch nicht Lilas, Camillas oder meine Idee, sondern die von Beate! Wir haben ihr ja nur, öh, geholfen! Außerdem war es notwendig, sonst würdest du auch deine Trophäen jetzt nicht hier in der Gegend herumtragen, sondern die Reißzahnteufel würden umgekehrt höchstens mit deinen, öh, Zähnen und Knochen herumspielen."
"Meine Güte, Gnummi, nun reg dich doch nicht künsstlich auf, ich habe ess doch nicht ernsst gemeint!" "Wir wollten uns gerne noch 'mal die unterirdische Stadt genauer ansehen und erkunden", erklärte Lila nun, "und dich wollten wir fragen, ob du mitkommst und uns die Wege zeigst, weil du doch der Experte für die Anlage bist; schließlich warst du am häufigsten da und kennst dich bei weitem am besten aus."
"Da hasst du wohl recht, Lil", sagte Gezzo geschmeichelt, "ich zseige euch gerne alless, wass ich kenne!"
Camilla konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken; Lila hatte das ja voll drauf! Ihn einfach so bei seiner Eitelkeit zu packen! Sie selbst hatte es sich weit schwerer vorgestellt, Gezzo zu überzeugen, mit drei Mädchen auf Tour zu gehen.
Gemeinsam schlenderten sie zu Gnumbas Wohnhöhle, wo sie überrascht und erfreut von deren Eltern, Grapp und Gnessa, begrüßt wurden. Beide hatten nichts dagegen, daß Lila und Camilla einige Zeit bei Gnumba bleiben wollten; ganz im Gegenteil, sie freuten sich sogar sehr über den unverhofften Besuch.
"Wie geht's denn so bei euch?" wollte Gnessa wissen, "gibt es irgendetwas Neues?"
Lila und Camilla sahen sich an, dann schüttelten sie die Köpfe.
"Nö, eigentlich nicht", meinte Lila, "zumindest fällt mir im Augenblick nichts Besonderes ein, außer, daß wir euch natürlich von meiner und Millas Mutter grüßen sollen. Und bei euch?"
"Allzuviel gibt es hier auch nicht. Daß es alles wieder ganz gut zugewachsen ist, habt ihr ja selbst schon gesehen. Ach ja, seit vorgestern ist die alte Gwinda verschwunden. Aber wahrscheinlich hat sie sich in ihrer geistigen Verwirrung neuerlich verlaufen. Wir müssen sie halt nur wiederfinden, bevor sie verhungert, schließlich kann sie nicht mehr so recht für sich selbst sorgen. Gnubbel, unser Häuptling, hat auch schon ein paar Leute losgeschickt, sie zu suchen."
"Aber, wenn sie so verwirrt ist", warf Lila ein, "ist sie dann nicht in großer Gefahr, einem Tier zum Opfer zu fallen?"
"Ach, das glaube ich eigentlich weniger", antwortete Grapp, "seit dem Brand habe ich kaum noch Tiere beobachtet, die uns gefährlich werden können. Ich denke, wir werden sie schon unversehrt wiederfinden."
"Wenn wir morgen zur toten Stadt gehen, können wir auf dem Weg dahin ja auch nach, öh, Gwinda Ausschau halten."
"Aha, ihr wollt also in die Stadt! Und bei so einer Unternehmung hältst du es mittlerweile nicht einmal mehr für nötig, uns vorher um Erlaubnis zu fragen?!" stellte Gnessa, die Hände in die Hüften gestemmt, verärgert fest.
"Aber, Mama! Es ist dort doch gar nicht mehr, öh, gefährlich!" verteidigte sich Gnumba, "außerdem kommt, öh, Gezzo mit, und der kennt sich schließlich dort aus!"
"Gnessa, ich verstehe zwar deine Sorgen, aber ich glaube auch, daß eine derartige Tour nicht mit außergewöhnlich hohen Risiken verbunden ist", unterstützte Grapp die Mädchen, "zumal sie ja zu viert sind."
"Na gut. Aber abends kommt ihr zurück, es wird dort nicht übernachtet! Klar?"
"Na klar, Mama, das hatten wir auch gar nicht vor!"
"Wie ist denn das mit euren Müttern, Lila, Camilla? Haben die euch denn die Erlaubnis gegeben?"
"Ja, natürlich!" versicherte Lila schnell, ehe Camilla etwas anderes sagen konnte, 'zumindest für den Flug hierher', setzte sie für sich im Stillen hinzu, so daß es in ihren Augen keine Lüge mehr war. Damit war das Thema für Gnumbas Eltern auch abgehakt. Während Grapp sich nun nach draußen begab, um noch ein bißchen nach Gwinda Ausschau zu halten, bereitete Gnessa das Abendessen für die drei Mädchen. Gezzo war unterdessen mit der Versicherung nach Hause gegangen, am nächsten Morgen pünktlich bei Sonnenaufgang da zu sein. Sie hatten sich auf die frühe Zeit geeinigt, damit sie auch wirklich genügend Stunden zur Erkundung der Stadt zur Verfügung hatten.
Lila fühlte sich alles andere als ausgeschlafen, als Gezzo sie am nächsten Morgen durch heftiges Klopfen auf die Scheibe des Lichtschachtes weckte. Unwillig rieb sie sich die Augen und richtete sich träge auf. Die beiden anderen schliefen so fest, daß sie nichts mitbekommen hatten. Lila dehnte und streckte sich, stand dann auf, lief unter den Lichtschacht und machte Gezzo Zeichen nach oben, daß sie ihn bemerkt hatten und gleich kommen würden. Danach schlich sie zuerst zu Gnumbas, dann zu Camillas Bett, um beiden nacheinander mit einem Ruck die Decken wegzuziehen. Während Gnumba erschreckt hochfuhr und wild um sich blickte, bestand Camillas einzige Reaktion darin, sich auf die Seite zu drehen, die Beine anzuziehen und weiterzuschlafen. Lila schüttelte zu Gnumba gewandt den Kopf. "Wie kann man nur so fest pennen?" wunderte sie sich. Gnumba war mittlerweile hellwach. Rasch stand sie auf, lief zum Waschbecken und füllte ihre Hände mit kaltem Wasser.
"Hey, gute Idee, Gnummi!" lachte Lila und schloß sich dem Beispiel ihrer Freundin an. Dann stellten sie sich beidseitig von Camillas Bett auf.
Auf Gnumbas Kopfnicken hin leerte Lila ihre Hände über Camillas Gesicht, während Gnumba das kühle Naß über Camillas Bauch und Po laufen ließ. Der Erfolg war überwältigend: Die so unsanft aus dem Reich der Träume Gerissene schreckte hoch, sprang auf und stieß gleichzeitig einen markerschütternden Schrei aus.
"Pssst!" zischte Lila, "willst du etwa Gnumbas Eltern wecken?!"
Camilla japste nach Luft, denn das eisige Wasser hatte ihr einen derben Schock versetzt. "Ihr widerlichen Arschlöcher, ihr ...!" Sie brach erschrocken ab und errötete heftig, als sie bemerkte, daß ausgerechnet in diesem Moment Grapp und Gnessa das Zimmer betreten hatten.
"Was ist denn hier los?" wollte Gnessa mit schlaftrunkener Stimme und erschreckter Miene wissen. "Ach, nichts, Mammi!" beeilte sich Gnumba zu sagen, "Milla ist nur vielleicht ein bißchen plötzlich aufgewacht." Sie mußte sich gewaltsam zwingen, nicht laut herauszuplatzen, und Lila mußte sich gar wegdrehen, damit man ihr Grinsen nicht sah. Camilla stand völlig konsterniert auf dem Bett: "Ich bin ...? Das ist doch ...! Aber ...!"
"Nun mal ruhig, Camilla", beschwichtigte Gnessa, "jeder kann mal einen Alptraum haben! Wenn denn weiter nichts ist, legen wir uns wieder hin. Das Frühstück könnt ihr euch ja wohl selber machen. Aber bitte seid etwas leiser dabei!"
"Klar, wir passen jetzt besser auf Camilla auf!" gluckste Lila, als Grapp und Gnessa den Raum verließen.
"Echt toll! Klasse! Ihr seid wirklich meine liebsten Freundinnen!" empörte sich Camilla mit beißender Stimme, "das werde ich euch so schnell nicht vergessen, mich erst so zu erschrecken und dann die Unschuldslämmer zu spielen! Was sollen denn deine Eltern jetzt von mir denken?!"
"Och, die werden sich nicht viel dabei, öh, denken", gab Gnumba zurück und mühte sich, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten, "höchstens halten sie dich für etwas hysterisch!"
Die beiden Jüngeren prusteten vor Lachen.
"Sowas soll ja bei jungen 'Damen' häufiger vorkommen!" setzte Lila noch eins drauf. Das war nun aber des Guten doch etwas zuviel. Wütend packte Camilla ihre Cousine an den Haaren und zerrte sie zum Waschbecken, um dort ihren Kopf hineinzudrücken und das kalte Wasser voll aufzudrehen. Lila schnappte nach Luft und versuchte sich keuchend aus Camillas Griff zu befreien. "Gnummi, nun hilf mir doch!"
"Untersteh dich!" befahl Camilla, "sonst bist du auch gleich dran!" Endlich ließ sie Lila los, die sich mit gut gekühltem Kopf und klitschnassen Haaren aufrichtete.
"Puh, daß du immer gleich so brutal werden mußt!" beschwerte sie sich.
"Irgendwie mußt du es mal lernen, anders kapierst du es ja nicht!" belehrte Camilla kühl.
"Kommt, öh, vertragen wir uns wieder, o.k.?"
"Von mir aus", stimmte Camilla zu.
Auch Lila war einverstanden, konnte es sich aber nicht verkneifen, Gnumba für ihre unterlassene Hilfeleistung noch eins auszuwischen, indem sie ihren Kopf heftig schüttelte, als sie an ihr vorbeiging, so daß nun auch Gnumba ihren Teil abbekam. Zum Frühstück ließen sie auch Gezzo hereinkommen, der sich neugierig berichten ließ, was denn eben Schreckliches passiert war, das solches Geschrei hervorrief.
"Mädchen!" war sein einziger Kommentar.
"Vorsicht Gezzo!" warnte Gnumba, "wir sind immerhin deutlich in der, öh, Überzahl!"
Gezzo hielt sich mit übertrieben ängstlicher Miene die Hände vor den Mund: "Jetzst fürchte ich mich aber ssehr! Hoffentlich nicht sso ssehr, daßs ich auss Angsst in der unterirdisschen Anlage vor euch fliehe und euch alleinlassse!"
"He, Gezzo, willst du uns etwa erpressen?!" erkundigte sich Lila.
"Ach Quatssch! Aber ich finde, wir ssollten allmählich loss, und nicht die ganzse Zseit mit Reden verplempern!"
Die vier packten die am Vorabend bereitgelegten Sachen zusammen - hauptsächlich Lebensmittel, Lampen und Seile - und machten sich auf den Weg.
Es war noch empfindlich kühl und das Gras taunaß, was den Anfang der Tour für Gnumba und Gezzo nicht gerade besonders angenehm machte. Lila und Camilla hatten es da wesentlich besser, da sie ja fliegen konnten. Gnumba hätte zwar auch ihren Falken rufen können, aber einerseits lohnte sich das in Anbetracht des nicht allzu weiten Weges kaum, und andererseits hätte dann Gezzo allein zu Fuß gehen müssen, da er weder einen Falken besaß, noch überhaupt imstande war, ein solches Tier zu reiten. Auch so wurde es schnell angenehmer, da die steigende Sonne die Pflanzen trocknete, und sie auch bereits nach etwa einer Stunde den Rand der öden Hochebene erreichten, auf der sowieso so gut wie nichts wuchs. Gerade wollten sie auf die freie Fläche hinaus, als Camilla eine Bewegung im hohen Gras, unweit ihrer Position bemerkte.
"Gnummi, Gezzo, paßt auf, da kommt irgend ein Tier auf euch zu!" rief sie hinunter.