Lilie und Drache - Karin Kehrer - E-Book
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Lilie und Drache E-Book

Karin Kehrer

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Beschreibung

Kann ein Lied die Macht der Dunkelheit bannen? Er ist der Oberste Wächter des Lichts – der Letzte eines einst sagenhaften Volkes. Doch sein Herz ist gefangen in der Finsternis. Kann die Liebe ihn vor dem Verderben retten, das in ihm selbst lauert? Sie war einst mächtig und gefürchtet – doch sie hat einen unheilvollen Bund geschlossen. Sie ist nur eine gewöhnliche Sterbliche. Doch in ihr ruht die Hoffnung auf die Zukunft der Welten. Ein magisches Pergament gewährt ihr Zutritt in ein fantastisches Reich. Ist sie bereit für die Reise in die Dunkelheit?

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Seitenzahl: 721

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Karin Kehrer

Lilie und Drache

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

EPILOG

Wichtige Charaktere

Wichtige Orte

Ausspracheregeln:

Karte

Impressum neobooks

PROLOG

The night is darkening round me,

The wild winds coldly blow;

But a tyrant spell has bound me

And I cannot, cannot go.

(„Song“, Emily Brontë)

Dunkelheit ist mehr als die Abwesenheit von Licht. Ein schlichter Geist mag davon überzeugt sein, dass auf jede Nacht ein Tag folgt, die Finsternis dem Licht weichen muss, dass dies ein Gesetz der Natur ist. Aber es gibt eine Dunkelheit, die alles besiegt, die den Anbruch eines neuen Morgens nicht zulässt.

Finsternis überall … die Schwarze … das Ende …

Rynwed de Gordaw schrak hoch. Er blinzelte, starrte auf seine Hände. Die Feder war ihm entglitten, lag auf der Platte des Tisches. Er betrachtete das von vielen Messern zerfurchte Holz, als sähe er es zum ersten Mal.

Hatte er geschlafen? Das durfte er nicht. Er musste seine Aufgabe zu Ende bringen.

Welche Aufgabe?

Er war müde, so unendlich müde. Mit einem tiefen Seufzer hob er den Kopf, lauschte in die Dunkelheit.

Stille. So allumfassend, dass er vermeinte, ein erstickendes Tuch hülle ihn ein. Kein Klagen der Nachtvögel, kein Tapsen von heimlichen Pfoten, die über den Steinboden huschten. Nicht einmal das Wispern des Windes war zu hören. Nur Schatten lagerten in den verborgenen Winkeln dieses ärmlichen Gemachs, das zu seiner letzten Zufluchtsstätte geworden war. Die Kerze spendete kaum Licht und er wollte seine Gabe nicht darauf verschwenden, sie heller leuchten zu lassen.

Er beobachtete sie, diese Schatten, schon seit er die Kerze entzündet hatte, aber sie lebten nicht, waren keine Abgesandten der Schwarzen. Nur die Abwesenheit von Licht.

Er runzelte die Stirn. Welcher Gedanke war ihm durch den Kopf gegangen, bevor die Erschöpfung ihn übermannt hatte?

Die Worte des Obersten Wächters des Lichts, Arcsardar Evlan de Gordaw, seines großen Vorfahren, der voraussah, was auf sein Volk zukommen würde. Ahnungen, kaum zu begreifen. Die Wirklichkeit sollte so viel schrecklicher werden als jede Vision zeigen konnte.

Falschheit. Verrat. Lüge. Vergebliche Opfer. Tod.

Warum war er so dumm gewesen und hatte den Einflüsterungen seiner Feindin vertraut? Er hätte es besser wissen müssen.

Ließ er sich nur deshalb von ihr täuschen, weil SIE einst eine von ihnen gewesen war? Eine Wächterin des Lichts, dazu bestimmt, den Menschen Hilfe und Heilung zu bringen? Hatte er geglaubt, er könne noch einen Funken Anstand in ihr entfachen, eine barmherzige Regung? Nun, seine Gutgläubigkeit hatte ihn genarrt.

Er war vor fünf Sonnenuntergängen von Colheldon, seiner heimatlichen Festung, aufgebrochen. War das tatsächlich noch nicht länger her? Inzwischen hatte er einen Blick in die finstersten Abgründe getan, hatte tiefste Hoffnungslosigkeit und Demütigung erfahren. Dass er seiner schlimmsten Feindin entkommen konnte, war kaum als Glücksfall zu bezeichnen. Oder hatte SIE es genau so gewollt? Nur, um ihn zu verhöhnen und ihn als Verlierer zurückkehren zu lassen?

Diesen Gefallen würde er ihr nicht tun. Er würde seine Heimat nie wieder betreten. Aber SIE wusste bestimmt nicht, dass er einen letzten Ausweg gefunden hatte, denn sonst hätte SIE ihn ebenfalls sofort getötet.

Rynwed presste die Hände an seine Schläfen, wie um den abschweifenden Gedanken Einhalt zu gebieten. Den Schmerz, der in ihm aufwallen wollte, drängte er mit aller Macht zurück.

Er strich das Pergament vor ihm glatt. Seine Arbeit war noch nicht getan. Langsam setzte er die Feder auf, schloss die Augen und sammelte sich. Ah, wie war er doch schwach geworden! Die Kraft, die sich in seinen Adern ausbreitete, war nur mehr ein kläglicher Rest seiner Gabe.

Seine Lippen bewegten sich lautlos, während seine Hand die magischen Worte auf das Pergament setzte. Hell leuchtende Buchstaben flossen aus der Feder, senkten sich nieder und wurden aufgesogen.

Für eine Weile nahm er die Umgebung nicht mehr wahr, richtete sein ganzes Augenmerk auf die Botschaft, die in fernen Zeiten Erlösung bringen sollte. Sein größtes Opfer, alles was ihm noch geblieben war, so wie es der Einzige und Große Heldon, Bewahrer des Lichts, ihm geboten hatte.

Die Kerze war bis auf eine Fingerbreite herabgebrannt, als er das letzte Wort schrieb. Er legte die Feder zur Seite, saß einfach nur da und fixierte das Pergament. Nichts deutete darauf hin, dass es eine geheime Botschaft enthielt, sie würde sich nur demjenigen offenbaren, der dazu bestimmt war.

Ein bitteres Lächeln huschte über seine Züge. Ein letzter, erbärmlicher Versuch, sein Volk zu retten. Ein Versuch, der mehr als waghalsig war, denn so vieles konnte ihn zunichtemachen.

Wieder lauschte er in die Dunkelheit. Die Diener der Schwarzen hatten ihn noch nicht aufgespürt, aber das war nur eine Frage der Zeit. Er konnte ihnen nicht mehr entwischen. Sie würden schnell herausfinden, wo er sich aufhielt, seine Gabe verriet ihn, auch wenn sie schon so schwach war. Das Turmzimmer der Ruine von Martok, in die er sich geflüchtet hatte, konnte ihrer Witterung nicht entgehen, aber er brauchte diesen Ort, weit genug entfernt von jeder menschlichen Regung, um seine Kraft ungestört fließen lassen zu können. Wenn die Diener seiner Feindin ihn aufstöberten, würde nichts mehr als ein kläglicher Funke in ihm sein.

Er hielt inne, als die Kerze leicht flackerte. Krochen sie bereits witternd und suchend durch die Dunkelheit? Leichte Panik überschwemmte ihn. Es war zu früh, er hatte sein Werk noch nicht vollendet.

Nein, er spürte nichts von der Anwesenheit der giftigen Schatten, die alles Lebendige überfielen und aussaugten. Ein Schicksal, das auch ihm bestimmt war, so gewiss, wie die Dunkelheit sein Volk ausgelöscht hatte. Nur die Finsternis, die das spärliche Licht nicht vertreiben konnte, sah durch die Fensteröffnung zu ihm herein. In der Ferne blinkten ein paar Sterne am Himmel. Viel zu wenige und zu weit weg, um Trost zu spenden. Eine mondlose, stille Nacht, wie geschaffen für sein Vorhaben – und seinen Tod.

Rynwed schüttelte unwirsch den Kopf. Er durfte seine verbliebene Zeit nicht mit unnützen Gedanken vergeuden.

Er tastete nach dem Leinenbeutel, den er über die Lehne des Stuhls gehängt hatte und der seine wenigen Habseligkeiten enthielt. Behutsam nahm er die hölzerne Schatulle heraus. Ein Geschenk seines jüngeren Sohnes, ein Relikt aus einer vergangenen, glücklicheren Zeit. Er schloss kurz die Augen und sog tief den Duft des Holzes ein. Erinnerungen stiegen in ihm auf und er musste schlucken, um die Tränen zu unterdrücken. Seine Gemahlin, seine beiden Söhne, die weiten Wälder von Sardaryon, der Geruch der mächtigen Nadelbäume, eingefangen in diesem geschnitzten Kästchen.

Und doch, wie wenige schöne Tage hatte es für sie alle gegeben! Das Böse war übermächtig geworden, hatte ihr Leben in jedem Augenblick bedroht. Nun gab es keine Wächter des Lichts mehr, bis auf ihn und seinen ältesten Sohn. Ein Knabe noch, viel zu jung, um diese große Bürde zu tragen.

Er verschloss seine Gedanken, um sie nicht auf das Kommende zu richten. Es war sinnlos. Warum sollte er sich damit quälen? Er konnte es nicht ändern und es war bestimmt besser, nichts darüber zu wissen.

Sanft strichen seine Finger über den Deckel. Das Wappen der de Gordaws war darauf eingeprägt, die Lilie und der Drache, der die kostbare Blume, Sinnbild des Lichts, schützend umschlang. So viele Äonen vergeudet in Kampf und Krieg! So viele sinnlose Tode! Und am Ende sein eigener.

Ein leises Rascheln ließ ihn zusammenzucken. Er starrte auf das Fenster. Hatte sich der Schatten, der dort lagerte, nicht gerade bewegt? Er saß wie gelähmt, lauschte.

Nein, da war nichts. Noch nicht.

Er öffnete die Schatulle, rollte das Pergament zusammen, drückte es in das Kästchen und klappte den Deckel zu. Er legte seine Hände darauf und schloss wieder die Augen. Es dauerte einen langen, qualvollen Moment, bis er die Quelle seiner Kraft wiederfand und sie in seine Hände fließen lassen konnte. Doch dann durchflutete ihn die vertraute Wärme und er öffnete die Augen. Sein ganzer Körper leuchtete sanft, so wie er es getan hatte von dem Tag seiner Geburt an, sobald er seine Gabe rief. Er lenkte das Licht in seine Finger, sammelte es dort, bis es die Schatulle mit hellem Schimmer erfasste.

Noch einmal richtete er all seine Gedanken auf die Person, die Rettung bringen würde. Er hatte lange nach ihr gesucht, war überrascht gewesen über die einfache Lösung. Aber es mochten noch viele Sonnenumläufe vergehen, ehe sein Volk neu erstarken würde. Und sein Opfer dafür war groß.

Er begann, den Bann zu murmeln. Worte, die ein Wächter des Lichts niemals aussprechen sollte, wollte er nicht dem Untergang geweiht sein. Worte, mit denen er sich selbst vernichtete.

Er keuchte leise, als sich seine Kraft in der Brust sammelte und langsam aus ihm zu fließen begann. Er lenkte sie auf die Schatulle, wo sie sich zu einem leuchtenden, pulsierenden Ball formte. Leiser Schmerz zog durch seinen Körper, als immer mehr von seinem Licht ihn verließ. Die wunderbare Gabe, das Geschenk des Schöpfergotts, das ihn seit Anbeginn seines Lebens begleitet hatte. Er musste sich dazu überwinden, auch noch den letzten Rest davon los zu lassen.

Sein Körper erlosch, während das Licht sich in der Schatulle bündelte, sie mit hellem Schein umgab. Rynwed senkte seine Hände, sah zu, wie es sich in das kleine Behältnis zurückzog. Dort würde es für lange Zeit bleiben. So hatte er es beschlossen.

Er sog den Atem ein, von plötzlicher Schwäche übermannt. Ein Letztes war noch zu tun. Er musste seine Botschaft dorthin senden, wo der Retter sie finden würde.

Noch einmal straffte er seinen Körper, murmelte mit tauben Lippen die Beschwörungsformel. Ein Lichtblitz flammte auf, hüllte die Schatulle ein und dann war sie fort. Ein heller Flecken schwebte kurz noch an der Stelle, wo sie gestanden hatte. Er verschwamm und das Gefühl eines endgültigen Verlustes übermannte Rynwed so stark, dass ein Schluchzen in seiner Kehle aufstieg. Er schluckte und blinzelte die Tränen weg, die in seinen Augen brannten. Jetzt blieb ihm nichts mehr als auf das Ende zu warten.

Er sank auf dem grob gezimmerten Stuhl zusammen, der mit dem Tisch und dem staubigen Strohsack, auf dem er zuvor noch geruht hatte, die einzige Einrichtung dieser armseligen Kammer darstellte, in der zu früheren Zeiten die Wachsoldaten ausgeharrt hatten.

Die Ruine von Martok. Einst mächtige Festung, ein Bollwerk gegen das Böse. Oder auch nicht, je nachdem, wie man es betrachtete. Sardar Myrwin de Trentaw, der Herr von Martok, hatte eine sehr zweifelhafte Rolle in den Kriegen gespielt. Man hatte ihn bezichtigt, einen Pakt mit den dunklen Mächten geschlossen zu haben.

Einerlei. Es tat nichts mehr zur Sache. Die Burg war gefallen, wie so viele andere auch und jetzt herrschte Stille in diesen zerborstenen Mauern. Für einen Moment glaubte Rynwed, die Verzweiflung zu spüren und die Stimmen der verlorenen Seelen zu hören, die von dem Gemäuer aufgesaugt worden waren, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Es gab viele solcher Orte im Reich der Sardars und niemand vermochte, ihre Schrecken zu lindern oder vergessen zu machen.Er erhob sich schwerfällig und trat zum Fenster. Kühle Luft umspielte sein Gesicht. Kurz ergab er sich der Vorstellung, wie es sein mochte, wenn er jetzt den Fuß auf das Sims setzen und sich fallen lassen würde. Niemand würde davon erfahren, wenn er seinem Leben selbst ein Ende setzte. Nein, einen solchen Frevel durfte er nicht begehen! Heldon würde ihm das nicht verzeihen!

Rynwed schleppte sich zu dem Strohsack, seinem armseligen Lager, auf dem er den Tod erwarten würde. Die wenigen Schritte erschienen ihm wie eine einzige Qual, jeder Knochen seines Körpers, jede Sehne, jeder Muskel schmerzte. Deutlich spürte er jetzt, da er sein Licht verschenkt hatte, die Last des Alters. Nun war er nichts mehr als ein gewöhnlicher, sterblicher Mensch mit einem letzten Rest an Lebensfunken. Genauso sollte es sein, wenn er der Schwarzen in die Hände fiel. Nicht mehr sollte SIE von ihm bekommen!

Er legte sich nieder, streckte sich aus. Es würde nicht mehr lange dauern, dessen war er sich gewiss. Seine Kraft hatte in der Finsternis geleuchtet wie ein Fingerzeig.

Er betrachtete das klägliche Flämmchen der Kerze, die langsam niederbrannte. Es sollte das letzte Licht sein, das er in seinem Leben sah. Seine Augen schlossen sich und er schlief ein.

Ein Geräusch weckte ihn. Er schrak hoch, fand sich für einen Moment nicht zurecht. Die Kerze war heruntergebrannt, tiefe Dunkelheit hüllte ihn ein. Es war kalt, er fror, aber er wagte nicht, sich zu rühren.

Ein leises Schaben auf dem Steinboden. Etwas bewegte sich auf ihn zu. Er konnte nichts sehen, aber er spürte deutlich die Gegenwart eines anderen Wesens. Oder nein, es mussten mehrere sein, denn jetzt hörte er ein scharrendes Geräusch am Fenster. Er starrte in die Finsternis, nahm eine Bewegung wahr, etwas Schwarzes, noch dunkler als die Nacht. In einer ersten Regung wollte er aufspringen, weglaufen, doch das hatte keinen Sinn. Die saugenden Schatten waren schnell und er würde ihnen nicht entkommen.

Ein Geruch stieg in seine Nase, vertraut und doch immer wieder aufs Neue verstörend. Der Gestank des Bösen, ein Hauch von Verwesung und etwas Uraltem, Unaussprechlichem. Er hielt den Atem an, aber es nützte nichts. Der Gestank saß bereits in ihm fest und breitete sich beißend aus. Etwas tastete sich an seinem Bein entlang. Wo es ihn berührte, gefror das Blut in seinen Adern. Und dann kam der Schmerz. Wie unzählige Nadelspitzen durchdrang er die Haut, fuhr in das Fleisch und in die Knochen, durchbohrte ihn. Er stöhnte, unterdrückte einen Schrei. Nein, er wollte nicht klagen, wollte diesen Ungeheuern den Triumph nicht gönnen, sie um sein Leben betteln zu hören!

Das Etwas hüllte seine Beine ein, ein zweites bemächtigte sich seines Oberkörpers. Der Schmerz wurde zur brennenden Qual, glühende Speere fraßen sich in sein Inneres und jetzt schrie er doch. Er bäumte sich auf, als sein Körper ausgesaugt wurde, aufgefressen von diesen gierigen Wesen.

Der Gestank wurde übermächtig, als ein Schatten sich auf sein Gesicht legte, aber er nahm ihn kaum mehr wahr, nur mehr diese brennende Qual, die alles Leben in ihm auslöschte. Sein letzter Schrei wurde erstickt, war nur ein Seufzen, das in der Dunkelheit verklang.

Die Schatten verharrten kurz, als ihr Werk getan war. Dann suchten ihre gierigen Finger nach weiteren Opfern. Als sie nichts Lebendiges mehr fanden, stießen sie ein leises, enttäuschtes Fauchen aus, glitten auf die Fensteröffnung zu und verschwanden in der Dunkelheit, um dem Ruf ihrer Herrin zu folgen.

Kapitel 1

Carys hastete zur Garderobe, griff blindlings nach ihrer Jacke und lief einfach los. Aus dem Theater in die Schlucht des New Globe Walk, in dem sich der Hall ihrer Schritte fortpflanzte, sodass sie kurz glaubte, jemand sei ihr gefolgt. Jemand, der sie für ihr Verhalten tadeln oder sie sogar für ihre kopflose Flucht verspotten würde. Aber sie drehte sich nicht um, um zu sehen, ob ihr Verdacht stimmte. Sie rannte einfach weiter. Selbst als sie in die Park Street kam, in der um diese Zeit bedrohliche Schatten in den Büschen lauerten, hielt sie nicht inne.

Groß gewachsene Frauen werden nicht überfallen. Das behauptete ihre Zimmerkollegin Sheila immer. Sie umklammerte trotzdem den Schlüssel in ihrer Jackentasche fester.

Sie fluchte, als sie auf den Randstein trat und mit dem Fuß umknickte. Warum musste sie auch diese verdammten High Heels tragen? Kein geeignetes Schuhwerk für einen Dauerlauf, aber wer hätte auch gedacht, dass sie sich am Ende dieses Tages auf eine dermaßen unsinnige Flucht einlassen würde? Sie blieb stehen, überlegte kurz, umzukehren und zurückzugehen. Vielleicht hatte noch niemand ihre Abwesenheit bemerkt und sie konnte tun, als wäre sie nur kurz auf der Toilette gewesen.

Nein, sie wollte nicht mehr zur Party zurück und belanglosen Smalltalk absolvieren, nachdem sie die niederschmetternde Neuigkeit erfahren hatte.

Sie hätte vielleicht den Bus nehmen sollen, aber sie war viel zu aufgewühlt gewesen, um zu warten. Außerdem brauchte sie zu Fuß auch nicht viel länger. Bewegung würde ihr guttun und ihren Kopf reinigen, auch wenn sie nicht das geeignete Schuhwerk trug und ihr die Dunkelheit Angst einflößte. Sie fröstelte im kalten Abendwind. Sie hätte Hosen anziehen sollen und nicht den leichten geblümten Minirock.

Sie atmete tief durch und marschierte weiter, mit hoch erhobenem Kopf. Eine Ryder lässt sich nicht so einfach unterkriegen. Schon gar nicht von einem solchen Idioten!

Während sie an der Kunstgalerie in der Guildford Street vorbeiging, warf sie immer wieder kontrollierende Blicke auf die gegenüberliegende Straßenseite, die von einer Absperrung gesäumt war. Dahinter erhob sich der riesige Erdhaufen einer Baustelle. Die Gegend auf dieser Seite der Themse wurde einerseits geprägt von mehrstöckigen Wohnhäusern mit Parkanlagen, aber auch Industriegelände und besonders die Unterführungen machten ihr Angst.

Aber noch war ihre Wut größer als ihre Furcht. Wie konnte dieser Blödmann es wagen, ihr Leben wieder aus der Bahn zu werfen! Hatte er sie nicht schon genug gedemütigt?

Tränen stiegen in ihre Augen, als sie an die mitleidigen Blicke dachte, die ihr Derek zugeworfen hatte. Er wusste wahrscheinlich als Einziger Bescheid. Aber sicher nicht mehr lange. Es würde sich schnell herumsprechen, besonders, da Mark bestimmt nicht auf dreckige Anspielungen verzichten würde. Mark Hanson, dieser Mistkerl!

Carys lief weiter, jetzt blind für ihre Umgebung, beschleunigte ihr Tempo wieder, aber diesmal vor Zorn. Wehe dem, der ihr in die Quere kam! Einige Nachtschwärmer, die auf der belebteren Southwark Bridge Road unterwegs waren, warfen ihr verwunderte Blicke zu, aber niemand sprach sie an.

Der Heimweg erschien ihr diesmal endlos lange, obwohl sie ihn schon oft zu Fuß gegangen war.

Keuchend bog sie schließlich in die Library Street ein, achtete nicht auf die nächste Baustelle, die zu dieser Tageszeit in bedrohliches Dunkel gehüllt war. Selbst das Rascheln des Windes in den Abdeckplanen machte ihr keine Angst.

Eigentlich hatte sie unendliches Glück gehabt, diese Wohnung in der Nähe des Globe Theatre, ihres Arbeitsplatzes seit zwei Jahren, zu ergattern. Vor nicht ganz einem Monat hatte Sheila Walters die Stelle ihrer Assistentin bekommen, nachdem ihre Vorgängerin in Karenz gegangen war. Ihre Eltern besaßen eine kleine Dachgeschosswohnung mit zwei Schlafzimmern in der Library Street und Sheila bot ihr an, die Wohnung mit ihr zu teilen. Carys, die zuvor in Kingston upon Thames ein winziges Zimmer bewohnte und mit dem Zug eine Stunde nach London pendeln musste, sagte natürlich erfreut zu. Die Miete betrug einen Bruchteil dessen, was sie normalerweise hätte zahlen müssen. Ein Entgegenkommen von Sheilas Eltern, die froh waren, dass die Wohnung genutzt wurde. Die dreistöckigen Backsteinhäuser boten zwar einen gleichförmigen und tristen Anblick, und es gab keinen Lift, aber das störte sie nicht.

Das Licht am Eingang schaltete sich automatisch ein und warf einen trüb gelblichen Schein auf die metallene Eingangstür. Sie nestelte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche und sperrte auf. Wie immer empfing sie der Geruch nach Fish and Chips.

Ihre Füße schmerzten und ihr war übel. Sie hatte seit dem Morgen nichts gegessen, hatte geglaubt, sich nach Herzenslust auf der Party verköstigen zu können. Dann stürzte sie nur schnell ein Glas Wein hinunter und flüchtete nach dieser niederschmetternden Neuigkeit. Sie wollte es noch immer nicht glauben. Ausgerechnet Mark Hanson! Als ob es nicht genug andere Schauspieler gäbe!

Carys stieß den Atem aus und begann, die Treppe hoch zu stapfen. Im ersten Stock drangen laute Stimmen aus einer Wohnung. Bei Mrs. Forrester lief der Fernseher. Die alte Frau war nahezu taub und beinahe jeden Abend gab es Beschwerden. Sie war froh, dass sie im dritten Stock nichts davon mitbekam.

Endlich stand sie vor der Wohnungstür, schloss auf und knipste das Licht an. Wohltuende Stille empfing sie. In der Luft hing noch ein leichter Geruch von Sheilas Parfüm und der Duft nach Lavendel erfüllte den schmalen Flur. Sie zog ihre Jacke aus und hängte sie sorgfältig auf einen Bügel. Das Kleidungsstück aus dunkelgrünem Samt hatte sie selbst entworfen und genäht. Sie trug es nur zu besonderen Anlässen. Die Party zum Saisonende im Globe Theatre hätte ein solcher sein sollen. Mit einem Seufzer schlüpfte sie aus den High Heels, nahm die Haarspange ab und schüttelte ihre langen, rotbraunen Locken, bis sie ungebändigt über ihren Rücken fielen. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel ließ sie erschrocken zusammenzucken. Sie sah aus wie ein Gespenst. Blasse Haut, riesengroße graublaue Augen, dunkle Ringe darunter. Mit schlaflosen Nächten und Albträumen hatte sie auch ohne Mark Hanson zu kämpfen. „Blöder Scheißkerl“, murmelte sie.

Carys ging in ihr Schlafzimmer, schlüpfte in ein bequemes T-Shirt und Leggings und zog dicke Socken an.

Im Wohnzimmer herrschte das übliche Chaos an Stoffresten und Zubehör ihrer kleinen privaten Werkstatt. Auf Sheilas Schneiderpuppe war ihr derzeitiges Werkstück drapiert, die Fragmente einer knallroten Chiffonrobe, die sie für eine Bekannte anfertigte. Ihre eigene war gerade leer, der Torso, übersät mit Stecknadeln, bot einen etwas gruseligen Anblick.

Sie schob ein Stoffbündel zur Seite und setzte sich auf die Couch, ratlos, was sie nun mit dem restlichen Abend anfangen sollte. Es war dumm gewesen, einfach wegzulaufen. Was mochte Sheila von ihr denken? Sie hatte sich nicht einmal ordentlich verabschiedet. Noch jetzt sah sie das erstaunte Gesicht ihrer Kollegin und Freundin vor sich. Sheila würde ihr wahrscheinlich gehörig die Leviten lesen, wenn sie nach Hause kam. Was noch dauern konnte. Die Party würde erfahrungsgemäß nach Dereks Ankündigung erst so richtig in Schwung kommen.

Das Piepsen ihres Handys, das vor ihr auf dem Tisch lag, ließ sie zusammenzucken. Sie warf einen Blick auf das Display. Natürlich Sheila. Was ist los? Wo bist du?

Zuhause, habe Kopfschmerzen, tippte sie als Antwort.

Oje. So plötzlich?

Ja. Tut mir leid. Genieß den Abend.

Mach ich. Wird sicher nicht spät.

Carys legte das Handy zurück auf den Tisch. Eigentlich hätte sie froh darüber sein sollen, dass ihr Vertrag als Kostümbildnerin am Globe für ein weiteres Jahr verlängert wurde. Es war immer ihr Traum gewesen, für dieses Theater zu arbeiten. Doch Dereks Bekanntgabe des Spielplans für die nächste Saison hatte ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen.

Mark Hanson würde den Hamlet spielen. Und sie würde für seine Kostüme verantwortlich sein. Was für ein Desaster!

Düster starrte sie vor sich hin. Es war unmöglich, Mark noch einmal unter die Augen zu treten, geschweige denn, ihm nahe zu sein, ihn zu berühren. Nicht nach dem, was geschehen war.

Ob er sich noch an sie erinnerte? Es mochte sein, dass er sie vergessen hatte, schließlich bedeutete sie ihm nichts – nur eine von vielen Episoden in seinem Leben. Aber das ihre hatte er völlig aus der Bahn geworfen.

Sie biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Warum musste sie auch nur so dumm und leichtgläubig sein! Bitterkeit wallte in ihr auf, ein Gefühl, als müsse sie daran ersticken. Sie stand auf, ging in die winzige Küche, fand eine Tüte Chips und im Kühlschrank eine angebrochene Flasche Chardonnay. Nicht unbedingt das beste Mittel, um ihren Kummer zu bekämpfen, aber es musste genügen. Um die lähmende Stille zu beenden, schaltete sie das Fernsehgerät ein. Dudelsackmusik und Bilder von grünen Hügeln und alten Schlössern faszinierten sie nicht wirklich, aber es war besser als nur dazusitzen und sich düsteren Gedanken hinzugeben. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und trank in großen Schlucken.

Der Alkohol wirkte sofort auf ihren leeren Magen und versetzte sie in eine leichte Betäubung. Geistesabwesend futterte sie die Chips aus der Packung und trank die Flasche leer. Danach wankte sie ins Bett, verkroch sich unter der Decke und dämmerte weg. Und die Finsternis fiel über sie her wie ein hungriges Raubtier.

Kapitel 2

„He Langschläferin!“ Sheilas Stimme riss Carys aus einem wirren Eindruck von Kälte, Dunkelheit und unsagbarer Angst. Sie öffnete die Augen, schloss sie gleich wieder, als das helle Sonnenlicht sie blendete. Sheila hatte rücksichtslos die Vorhänge zurückgezogen und die gleißende Helle, die selbst durch ihre geschlossenen Augenlider drang, brachte ihren Kopf zum Schmerzen. Oder er hatte es schon vorher getan und es wurde ihr nur jetzt in diesem Moment so richtig bewusst.

„Was‘n los?“ Mehr als ein undeutliches Nuscheln brachte sie nicht zustande.

„Ach du liebe Zeit! Du siehst ja grauenvoll aus! Was hast du nur angestellt?“ Sheilas Stimme klang unerfreulich munter, sie war Frühaufsteherin und ein Ausbund an unerschöpflicher Energie.

„Nichts. Mir geht’s nicht gut. Hab Kopfschmerzen.“ Carys zog die Bettdecke über den Kopf, aber das half nicht viel gegen Sheilas Tatendrang.

„Unsinn! Das hab ich dir gestern schon nicht geglaubt. Du hast mir außerdem versprochen, dass wir nach Notting Hill fahren. Schon vergessen?“

Carys stöhnte. Ja, das hatte sie tatsächlich. Normalerweise hätte sie sich auch darauf gefreut. Es gab nichts Schöneres, als an einem Samstag den Portobello Market zu besuchen, in den Menschenmengen unterzutauchen und nach allem möglichen Krimskrams zu stöbern.

„Was war eigentlich gestern wirklich mit dir los?“

Carys öffnete die Augen, nur um sie sofort wieder zu schließen, als sie Sheilas forschenden Blick bemerkte.

„Nichts. Kopfschmerzen. Sagte ich schon.“

„Schon wieder Unsinn. Es war alles in Ordnung bis Derek den Spielplan für die nächste Saison bekanntgab. Was ist so schlimm an Hamlet?“

„Nichts.“ Nur die Tatsache, dass Mark Hanson dabei sein wird.

Sheila zog eine Schnute. „Das glaub ich dir nicht. Aber ich werde dir dein Geheimnis schon aus der Nase ziehen, verlass dich drauf!“ Sie versetzte Carys einen sanften Stoß. „Und nun raus aus den Federn. Sonst versäumen wir das Beste.“

„Und das wäre?“ Carys rappelte sich hoch. In ihrem Kopf klopfte es dumpf und ihr Mund fühlte sich pelzig an. Zu viel billiger Wein.

Sheila strahlte. „Frühstück in Charlie’s Café, was sonst? Die besten Muffins von London!“

Ihre Freundin wusste genau, dass Carys dieses Café liebte. Der hohe Raum mit dem alten Holzboden und dem zusammengewürfelten Mobiliar strahlte eine altmodische und zugleich lässige Behaglichkeit aus, die ihr gefiel. Und die Muffins dort waren wirklich einzigartig.

Carys gähnte herzhaft und grinste schwach. „Schon überredet. Lass mich nur schnell unter die Dusche gehen, damit ich vorzeigbar bin.“

„Klar, aber beeil dich. Eigentlich wollte ich schon jetzt los.“

„Was? Aber es ist doch erst halb acht! Sag mal, wann bist du eigentlich nach Hause gekommen? Ich habe gar nichts mehr mitgekriegt.“

Über Sheilas hübsches Gesicht flog eine zarte Röte. „Keine Ahnung, ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Aber es war gar nicht so spät. Irgendwie war es doch nicht so lustig. Derek hat mich nach Hause gebracht.“

„Derek?“

Sheila wich ihrem Blick aus und fixierte beharrlich den Vorhang. „Naja, du hast mich ja im Stich gelassen.“

„Ja, klar. Tut mir leid.“ Carys senkte schuldbewusst den Kopf. Sheila boxte sachte gegen ihren Arm. „Du wirst mir das noch erklären müssen. Keine Ausreden!“

„Aber nicht jetzt.“ Carys seufzte. „Sonst schaffen wir es nie nach Notting Hill.“

„Schon gut. Verstehe. Ab mit dir unter die Dusche!“

Wenig später ließ Carys das heiße Wasser auf ihren Körper prasseln. Sie fühlte sich danach bedeutend besser und freute sich genau wie Sheila auf ihren Ausflug. Sie fasste ihre langen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen, schlüpfte in Jeans, T-Shirt, Sneakers und zog ihren schwarzen Wollmantel an, drapierte noch einen Schal mit blau-grünem Schottenkaro um den Hals. Zwar schien die Sonne, aber der Wind war um diese Jahreszeit schon empfindlich kalt.

Mit dem Bus würden sie eine gute Stunde brauchen. Leider Zeit genug für ihre Zimmergenossin, sie auszufragen. Aber sie würde sie vertrösten müssen. Auf keinen Fall wollte sie unter all den Leuten über Mark Hanson sprechen.

Es war aber nicht weiter schwierig, Sheila abzulenken. Sie erzählte ihr sämtliche Einzelheiten über den Abend, den Carys versäumt hatte und untermalte ihre Schilderungen mit lebhaften Gesten und viel Kichern, wie es ihre Art war. Dass die Affäre zwischen Valerie Mitchell und Don Peters, Käthchen und Petruchio in der Widerspenstigen Zähmung in der abgelaufenen Saison, nun offiziell war, obwohl beide eigentlich anderweitig gebunden waren. Dass die neue Sekretärin ein Auge auf Derek geworfen hatte, der sie aber ignorierte. Bei der Erwähnung von Dereks Namen wurde Sheila wieder rot und Carys beschlich der Verdacht, dass ihre Kollegin neuerdings für den Spielleiter des Globe Gefühle entwickelt hatte. Was nicht verwunderte, denn Derek war tatsächlich ein netter Kerl. Auch wenn er durchaus verstand, sich durchzusetzen, wirkte er Frauen gegenüber immer ein wenig linkisch und schüchtern. Und er sah ganz gut aus, war aber nicht Carys‘ Typ, auch aus dem Grund, weil sie eher auf Männer stand, die sie körperlich überragten.

Sie ließ Sheila reden und hoffte, sie würde nicht noch einmal das Thema Mark Hanson zur Sprache bringen.

Erleichtert atmete sie auf, als sie den Bus verließen und sog tief die frische Oktoberluft ein. Es war ein wunderschöner Tag, der Himmel wölbte sich blitzblau über ihnen und die Sonne ließ die noblen viktorianischen Villen von Notting Hill strahlen. Im Gegensatz dazu wirkten die zahllosen Verkaufsstände, an denen alles Mögliche angeboten wurde – von Früchten und Gemüse bis über Secondhand-Kleidung, Schmuck, Bildern und Antiquitäten - wie das pralle, bunte Leben.

„Was meinst du? Zuerst Frühstück?“ Sheila strahlte mit der Sonne um die Wette.

„Klar. Ich habe einen Bärenhunger!“

„Na dann los!“

Das kleine Café in der Portobello Road, untergebracht in einem ebenerdigen weißen Gebäude, war bereits ziemlich bevölkert. Aber Sheila entdeckte noch einen winzigen Tisch im Hof in einer Ecke. Carys setzte sich, während ihre Freundin sich in die Schlange an der Theke einreihte, um zu bestellen. Wenig später war sie auch schon da und ließ sich mit einem Seufzer auf den Stuhl fallen.

„So und nun keine Ausreden mehr. Ich möchte endlich wissen, was mit dir los ist. Du schleichst neuerdings herum wie ein Gespenst, träumst schlecht …“

„Aber …“

Sheila wedelte mit der Hand. „Denkst du, ich kriege es nicht mit, dass du immer wieder Albträume hast? Außerdem sprichst du im Schlaf.“

„Tut mir leid. Ich wollte nicht …“ Carys senkte peinlich berührt den Kopf.

„Du kannst ja nichts dafür. Diese Rigips-Wände sind nun mal ziemlich dünn. Es ist nur manchmal ganz schön unheimlich. Du brabbelst unverständliches Zeug, aber es klingt, als hättest du wahnsinnige Angst vor irgendetwas.“

Carys zuckte mit den Schultern. „Ich hatte das schon als Kind. Das kommt wahrscheinlich von zu viel Fantasie. Hat zumindest meine Mutter immer gesagt.“ Ein leiser Schmerz wehte durch ihr Inneres. Die Erinnerung an ihre Mutter hätte sie gerne verdrängt.

„Echt? Scheint mir eine ziemlich armselige Erklärung zu sein. Hast du schon mal daran gedacht, dir professionelle Hilfe zu suchen?“Carys zuckte mit den Schultern. „Doch. Aber es hat nichts gebracht. Es kommt und geht. Wenn der ärgste Stress vorbei ist, wird es sicherlich wieder besser.“

Sie wich Sheilas forschendem Blick aus. Ganz stimmte das nicht.

„Und was ist jetzt mit Mark Hanson?“

Carys zuckte zusammen. War es so offensichtlich?

„Nun guck nicht so. Ich habe dich gestern beobachtet. Es war alles in Ordnung, bis sein Name fiel. Du warst plötzlich bleich wie Hamlets Totenschädel, als Derek die Neuigkeit bekanntgab.“

„Das ist nicht Hamlets Schädel“, sagte Carys automatisch.

„Lenk nicht ab“. Sheila sah sie mit gespielter Strenge an. „Du weißt, was ich meine.“

Carys seufzte. „Also gut. Es wird ja sowieso herauskommen, also kann ich es dir genauso gut jetzt sagen. Ich rede nur nicht gerne darüber. Aber vielleicht ist es besser, wenn du es von mir erfährst. Dann musst du dir die wilden Gerüchte erst gar nicht anhören. Ich war mit ihm zusammen.“

Sheilas blaue Augen wurden kugelrund. „Was? Du warst … mit IHM, mit Mark Hanson???“

„Pst! Muss ja nicht jeder wissen!“ Carys warf einen verstohlenen Blick in die Runde. Aber anscheinend hatte niemand Sheilas Ausbruch mitbekommen.

„Und? Wie … ich meine … das ist doch kaum zu glauben! Mark Hanson! Mit dir! Warum hast du nie etwas erzählt?“

Carys lächelte bitter. „Naja, ich rede wirklich nicht gerne darüber.“

„Ja, schon klar. Also war es eher unerfreulich? Das verstehe ich nicht.“

„Hey, er ist kein Halbgott oder so. Nur ein Mann, zugegeben, ziemlich berühmt, aber in Wahrheit …“

„Was? Immerhin sieht er traumhaft aus, ist der gefragteste Shakespeare-Darsteller überhaupt, sein Hamlet ist Weltklasse!“

„Er ist ein Idiot. Ein eitler, selbstgefälliger Idiot.“

Sheila starrte sie entsetzt an

„Nun sei nicht so schockiert.“ Carys hätte gelacht, wäre ihr die ganze Sache nicht so peinlich gewesen. „Natürlich sieht er umwerfend aus und die Frauen laufen ihm scharenweise hinterher. Deshalb war ich auch so durch den Wind, als er sich plötzlich für mich interessierte. Ich konnte es gar nicht glauben.“

Sie schwieg, verlor sich in wehmütigen Erinnerungen. Er hatte beinahe altmodisch um sie geworben, ihr Schmuck und Blumen geschenkt, sie zum Essen ausgeführt. Geiz konnte man ihm gewiss nicht vorwerfen.

Sie schrak auf, als der Kellner die Bestellung brachte. Tee und Schokomuffins.

„Was ist passiert?“ Sheila stach in den Kuchen, ließ die Gabel in der Luft schweben und sah sie erwartungsvoll an.

„Ich romantischer Trottel dachte, er wäre die Liebe meines Lebens“, sagte Carys leise. „Es war wie ein Traum.“

Mark war ein wundervoller Liebhaber gewesen. Hitze stieg in ihr auf, als sie daran dachte.

„Er war gut“, sagte Sheila vergnügt. „Das dachte ich mir immer schon. Er hat dieses gewisse Etwas.“

„Tja, das Problem war nur, er konnte dieses gewisse Etwas nicht auf eine Frau beschränken. Wäre doch jammerschade gewesen, wenn er es sich wegen einer bei all den anderen verscherzt hätte.“ Carys lächelte bitter, in Erinnerung an die Demütigung, die sie erleiden musste.

„Ich glaubte die Gerüchte über seine notorische Untreue nicht. Ich wusste zwar, dass er vor mir andere gehabt hatte, aber ich dachte nicht, dass er gleichzeitig …“ Sie atmete tief durch. „Er hatte neben mir noch eine Affäre mit Cheryl de Vere.“

Und sie musste es auf eine dermaßen demütigende Art und Weise erfahren, dass ihr jetzt noch übel wurde, wenn sie daran dachte …

Er hatte sie an ihrem Geburtstag erst zu Mittag angerufen, obwohl sie schon seit dem Morgen auf seine Glückwünsche wartete. Sie plante, an diesem Abend eine Party zu geben. Nichts Besonderes, nur ein paar gute Freunde. Und Mark. Malte sich das so schön aus, dass dies der Anlass wäre, ihre Beziehung offiziell zu machen.

Stattdessen teilte er ihr mit, dass er nicht kommen könne, dass er anderweitige Verpflichtungen habe. Cheryl habe ihn eingeladen.

Sie war noch so dumm gewesen, zu insistieren, er könne diese Verabredung ja absagen, als er ihr die schonungslose Wahrheit offenbarte. Er sei schon länger mit Cheryl zusammen, er habe nur nicht gewusst, wie er es ihr, Carys, beibringen könne. Dass ihre Beziehung nur eine kurze, vergnügliche Affäre für ihn gewesen sei und er eine Wette gewonnen habe, dass er die scheue unzugängliche Schönheit aus Wales knacken würde. Sie wollte es immer noch nicht glauben, brachte ihn dazu, sie anzuschreien. Ob sie denn so dumm sei und nicht begreife, dass sie ihm im Weg sei.

Carys zog die Schultern hoch und drehte die Teetasse in ihren Händen. Selbst jetzt tat die Erinnerung an diese furchtbare Szene noch weh.

Sheila öffnete ihren Mund und klappte ihn wieder zu. Natürlich wusste sie, wer Cheryl de Vere war. Die wunderschöne blonde Schauspielerin spielte ebenfalls hauptsächlich Shakespeare-Rollen und war gleichzeitig mit Mark vor einem Jahr engagiert gewesen, auch wenn sie nicht zusammen in einem Stück aufgetreten waren.

„Ok, das ist stark“, murmelte sie endlich. „Aber er ist nicht mehr mit ihr zusammen.“

Carys lachte bitter. „Nein, natürlich nicht. Er wechselt seine Geliebten wie seine Rollen. Und jetzt kommt er wieder. Und ich werde für seine Kostüme verantwortlich sein.“ Ein Schauder erfasste sie und Tränen traten in ihre Augen. Undenkbar, ihn wiederzusehen und so tun zu müssen, als wäre er ihr egal …

Sheila ergriff ihre Hand. „Das ist ja echt scheiße. Du musst da durch, oder?“

Carys schluckte. „Ja. Muss ich. Obwohl ich mich, ehrlich gesagt, momentan am liebsten einfach nur verkriechen würde.“

„Oh nein! Du schaffst das schon. Es ist ja noch genug Zeit. Vielleicht hast du bis dahin gelernt, damit umzugehen. Oder du lernst jemand anderen kennen und vergisst diesen Mistkerl.“ Das war typisch Sheila. Immer positiv gestimmt. Sie war derzeit Single und genoss ihre Freiheit.

„Ja, mag sein.“ So ganz überzeugt war Carys nicht. Marks Verrat hatte eine tiefe Wunde geschlagen. Dabei hatte sie bis jetzt geglaubt, einigermaßen darüber hinweg zu sein.

Sie nippte an ihrem Tee, der inzwischen Trinktemperatur erreicht hatte und kaute auf ihrem Muffin herum. Sie hatte keinen Appetit mehr, aber sie wollte sich nichts anmerken lassen.

„Hör mal.“ Sheila beugte sich vor, fasste wieder ihre Hand. „Ich weiß, dass du deinen Job liebst. Du darfst nicht wegen dieses Kerls aufgeben. Außerdem sind wir beide ein absolutes Dream Team. Ich wäre dermaßen sauer auf dich, wenn du alles hinschmeißen würdest, du hättest nur mehr Albträume!“

Carys musste lachen. Natürlich stimmte es. Sie konnte sich keinen anderen Beruf vorstellen. Es war immer wieder faszinierend, wie sehr ihre Kostüme die Menschen verwandelten. Wie aus dem netten, ruhigen Don Peters der feurige Petruchio wurde, oder aus der freundlichen Margret Helm die intrigante Lady Macbeth. Natürlich hatten die Kostüme nur einen gewissen Anteil daran, aber er war wichtig. Und sie liebte es, ihre Fantasie spielen zu lassen. Sheila als ihre Assistentin kannte inzwischen jeden Winkel der Bühne genau, wusste, wie das Licht eingesetzt werden musste, um die Darsteller am vorteilhaftesten zur Geltung zu bringen, oder vermittelte auch einmal zwischen dem Spielleiter und ihr, wenn ihre Vorstellungen zu weit auseinanderlagen.

Sie liebte den Geruch und die Atmosphäre in den Räumen des Theaters, den riesigen Fundus, in dem sie liebend gerne stöberten, die Fröhlichkeit Sheilas und ihren unerschöpflichen Optimismus.

Ja, sie waren wirklich ein tolles Team!

Sollte Mark nur ruhig kommen und seinen tödlichen Charme versprühen! Diesmal würde sie immun gegen ihn sein!

„Du könntest ja mal unabsichtlich eine Nadel in seiner Hose vergessen.“ Sheila schien ihre Gedanken erraten zu haben und lächelte spitzbübisch.

„Keine gute Idee. Womöglich würde ich auf der Stelle gefeuert.“ Carys grinste. Sie fühlte sich plötzlich, als wäre eine schwere Last von ihr genommen worden. Vielleicht hätte sie schon längst ihre Sorgen mit Sheila teilen sollen, anstatt ihren Kummer hineinzufressen. Und das sagte sie ihr auch.

„Ach was, dazu sind Freundinnen ja da!“ Sheila umarmte sie kurz und heftig. Dann sprang sie auf.

„Na komm! Jetzt stürzen wir uns ins Gewühl!“ Sie hakte sich bei ihr unter. Wieder einmal fühlte sich Carys ein wenig befangen. Sheila war mindestens einen Kopf kleiner als sie und sie kam sich immer ein bisschen unbeholfen neben ihr vor.

Wenig später tauchten sie in das Gewimmel auf dem Markt ein. Menschenmassen schoben sich durch die Gassen und versperrten oft genug die Sicht auf die einzelnen Stände, aber das machte Carys nichts aus. Sie genoss den Bummel, drängte sich sachte, aber bestimmt vor, wenn sie etwas Vielversprechendes entdeckte. Bald trennten sich die Freundinnen, um einzeln zu stöbern. Sie vereinbarten, sich in zwei Stunden bei Mr. Lee’s zum Lunch zu treffen, einem relativ preisgünstigen Chinarestaurant in der Kensington Park Road.

Carys streifte weiter durch die Gassen. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, keine genaue Vorstellung, ob und was sie einkaufen sollte. Das war meistens die beste Voraussetzung, um unverhofft zu einem Schnäppchen zu kommen. Sie begutachtete einige Stoffe, die auf einem Wühltisch lagen, wurde aber nicht fündig. Die nächste Produktion in der neuen Saison, die sie ausstatten sollte, war ein Stück eines zurzeit noch unbekannten jungen Autors. Es spielte in den 1990ern, die Hauptrollen würden mit Nachwuchsschauspielern besetzt werden.

Sie schlenderte weiter und musste vor einem Antiquitätengeschäft stehen bleiben, weil wieder einmal kein Durchkommen war. Dabei fiel ihr Blick in die Auslage und blieb an einem Kästchen, offensichtlich aus Holz, hängen. Sie starrte wie gebannt darauf. Auf den ersten Blick schien es nichts Besonderes zu sein, aber irgendetwas daran faszinierte sie. Sobald die Menschenmenge sich ein wenig auflöste, ging sie näher. Die Scheibe war ziemlich schmutzig, deshalb konnte sie kaum Einzelheiten erkennen. Auf dem Deckel befand sich ein geschnitztes, rundes Motiv.

Aus einem Impuls heraus öffnete sie die Ladentür. Eine Kaskade von Glöckchen bimmelte melodisch, als sie in das dämmerige Innere trat. Überwältigt blieb sie stehen. Der kleine Raum war vollgestopft mit Unmengen von Krempel. Es mochte auch das eine oder andere wertvolle Exponat darunter sein, das war aber in diesem Durcheinander nicht wirklich auszumachen. Vor ihr stand ein Glasschränkchen, das nach Regency aussah, die beiden Stühle daneben waren eindeutig diesem Stil zuzuordnen. Daneben lehnte ein massiver goldener Bilderrahmen mit Art-Déco-Motiven. Über ihr schwebte eine ausgestopfte Eule mit ausgebreiteten Flügeln. Sie zog den Kopf ein, um nicht anzustoßen und spähte in das Halbdunkel.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Sie zuckte zusammen, als sie die brüchige Altmännerstimme hörte, die irgendwo aus dem hinteren Teil des Ladens kam. Schlurfende Schritte näherten sich und dann tauchte der Besitzer der Stimme – und wahrscheinlich auch des Ladens – vor ihr auf. Er sah genau so aus, wie sie sich ihn in ihrer Fantasie gerade ausgemalt hatte. Ein schmächtiger Mann mit vollem weißem Haar und einer goldgefassten Brille auf der Nase.

„Ich … entschuldigen Sie, aber ich interessiere mich für das Kästchen in der Auslage.“

Der alte Mann hob die buschigen weißen Augenbrauen. „Ein Kästchen?“

„Ja, es steht ganz vorne links.“

„Wenn Sie es sagen.“ Er lächelte entschuldigend. „Ich fürchte, ich habe ein wenig den Überblick verloren. Seit mein Geschäftspartner gestorben ist, bin ich noch nicht dazu gekommen, hier alles zu sortieren.“

Er wandte sich ab, ohne auf ihre Antwort zu warten und sie hätte auch nicht gewusst, was sie ihm sagen sollte.

Er schlurfte zur Auslage, sorgsam darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen und begann, herumzukramen. Dabei murmelte er Unverständliches vor sich hin. Carys sah sich ein wenig unbehaglich um. Es widerstrebte ihr, diesem gebrechlichen Mann Umstände zu machen, und das aus einer Laune heraus.

Mit einem triumphierenden Lächeln tauchte er so plötzlich zwischen dem alten Kram auf, dass sie zusammenzuckte. „Meinten Sie das?“ Er hielt ihr das Kästchen hin.

Carys nickte und nahm es in die Hand. Es fühlte sich angenehm an. Sie trat zur Tür, um es im Licht zu betrachten. Es war etwa sechs mal vier Inches groß und schlicht gearbeitet. Auf dem Deckel befand sich ein geschnitztes Wappen. Sie sah es genauer an und hielt erstaunt inne. Sie kannte dieses Motiv, aber woher? Es war rund und stellte eine stilisierte Lilie dar, die von einem Drachen umrahmt wurde. Der schuppige Leib legte sich wie schützend um die Blume. Die Krallen berührten zärtlich eine der Blütenblätter. Vorsichtig strich sie mit dem Daumen darüber. Die Schnitzerei war äußerst fein gearbeitet, aber sie konnte den Stil nicht zuordnen. Trotz des Drachenmotivs wirkte es nicht asiatisch. Ein eigenartiger Duft entströmte dem Holz. Sie hielt das Kästchen an ihre Nase und schnupperte. Ein sanfter und zugleich herber Geruch, mit einer leichten, warmen Note, wie ein Hauch aus einer anderen Welt, der etwas in ihr berührte, etwas, das sie nicht benennen konnte.

„Gefällt es Ihnen?“ Die Stimme des Mannes holte sie aus ihrer Versunkenheit.

Sie räusperte sich. „Ja. Wieviel würde es kosten?“

„Lassen Sie mal sehen.“ Er drehte es in den Händen. „Es ist mit keinem Preis ausgezeichnet, womöglich steht es nicht auf der Inventarliste. Merkwürdig.“ Der Mann runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt schon einmal gesehen habe.“

Er reichte es ihr zurück und sie suchte nach dem Verschluss, aber es gab keinen, obwohl ein schmaler Spalt darauf hinwies, dass es sich öffnen lassen musste. Vielleicht war er auch verloren gegangen, aber auf dem glatten Holz gab es keine Spuren davon.

„Ich würde es Ihnen für fünfzig Pfund überlassen, was meinen Sie?“

Carys überlegte kurz.

„Es ist sehr hübsch gearbeitet und ich glaube, es ist ziemlich alt, auch wenn ich sonst nichts darüber sagen kann“, meinte der Mann. „Also fragen Sie mich nicht, woher es stammt.“

„Ich denke, das ist ein angemessener Preis.“ Carys lächelte und der Mann nickte zustimmend. „In Ordnung. Soll ich es Ihnen einpacken?“, meinte er noch dienstfertig, als sie ihm den Fünfzig-Pfund-Schein überreichte.

Sie schüttelte den Kopf. „Es geht so, lassen Sie nur. Ich habe eine große Tasche mit.“

Aber er hielt schon ein purpurrotes Seidentuch in den Händen und schlug das Kästchen ein. „Damit es nicht zerkratzt wird.“ Er lächelte sie an. „Viel Freude damit und alles Gute für Sie.“

Sie dankte ihm, seltsam gerührt über seine Freundlichkeit.

Carys verließ den Laden und das melodische Bimmeln der Glöckchen klang in ihren Ohren nach.

Sie blinzelte ein wenig benommen im hellen Sonnenschein, so als wäre sie aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt zurückgekehrt in ihr normales Leben. Die Menschen, die sich durch die Menge schoben, um ihren alltäglichen Geschäften nachzugehen, das ganze Treiben rings um sie her, kam ihr fremd vor. Sie gehörte nicht hierher. Ein merkwürdiger Gedanke. Sie schüttelte den Kopf über diese seltsame Anwandlung.

Um sich abzulenken, warf sie einen Blick auf die Uhr. Es blieb ihr noch fast eine Stunde bis zum Treffen mit Sheila, die sie damit verbringen würde, weiter nach Kleidern und Stoffen Ausschau zu halten. Sie fand einen alten Vorhang aus schwerem Brokat mit bordeaux- und ecrufarbenem Muster, aus dem sie eine perfekt fallende Robe schneidern konnte, und eine Rolle Spitzenstoff. Auch an einem Stand, an dem handgehäkelte Borten angeboten wurden, kaufte sie ein. Außerdem entdeckte sie ein schwarzes Kleid im Stil der zwanziger Jahre mit einem langen Oberteil und einem tief gesetzten, in Falten gelegten Rock, der gerade das Knie umspielte. Goldfarbene Knöpfe auf den Schultern sorgten für einen eleganten Blickfang. Das Kleid musste sie einfach für sich selbst kaufen. Sie wusste zwar noch nicht, zu welcher Gelegenheit sie es tragen sollte, aber sie liebte Samtstoff.

Als sie bei Mr. Lee’s eintraf, winkte Sheila ihr von einem Zweier-Tisch zu. Wie immer hatte ihre Freundin es geschafft, pünktlich zu sein, während Carys meist die Zeit vergaß, wenn sie ins Stöbern geriet. Aber als sie Sheila ihre Einkäufe zeigte, war die wieder versöhnt. Besonders das schwarze Kleid gefiel ihr sehr gut. „Du bist groß und schlank, das wird dir wunderbar stehen“, seufzte Sheila und musterte ihre eigene Figur. „Ich werde eher in der Kinderabteilung fündig, aber ich hasse rosa T-Shirts mit Häschen darauf.“ Sie zog eine Grimasse und Carys musste lachen. „Du übertreibst. Du nähst dir, genau wie ich, das meiste selbst. Und ich habe dich noch nie in einem rosa T-Shirt mit Häschen gesehen. Es würde dich wahrscheinlich jünger machen.“

Sheila kicherte. „Das nehme ich jetzt als Kompliment, obwohl es in unserem Alter eher eine Beleidigung sein könnte.“ Ihre Augen funkelten. „Ich sehe, es geht dir besser. Ich wusste doch, dass ein Ausflug auf den Markt genau das Richtige für dich sein wird.“

„Ja, du hast recht.“

Ein Kellner brachte ihnen die Speisekarte. Als Carys das Drachenmotiv auf dem Umschlag der Karte entdeckte, dachte sie wieder an ihren spontanen Einkauf. Der Drache sah aber definitiv nicht so aus wie der auf dem Kästchen. Wo hatte sie dieses Wappen – wenn es denn eines war - schon gesehen?

„Ist alles in Ordnung?“ Sheila sah sie forschend über den Rand der Speisekarte an.

Carys zuckte zusammen. „Ja, natürlich, warum?“

„Du guckst so komisch. So, als ob du meilenweit weg wärst.“

„Ich habe gerade nachgedacht. Über ein Kostüm.“ Das war nur halb gelogen, aber sie hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Nur – wie sollte sie Sheila ihre merkwürdigen Empfindungen erklären?

„Ach so.“ Sheila gab sich damit zufrieden. Sie kannte Carys inzwischen so gut, um zu wissen, dass sie öfter gedanklich in fremde Welten abdriftete und machte sich darüber keine Sorgen. Deshalb akzeptierte sie auch das Schweigen ihrer Zimmergenossin und eine gewisse Zerstreutheit während des Essens. Was diese mit Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Gerade bevor die Rechnung kam, läutete Carys‘ Handy und holte sie aus ihren Grübeleien. Sie sah auf das Display.

Anne.

Sofort überfiel sie das schlechte Gewissen, das sich seit dem Tod ihrer Mutter ihrer Schwester gegenüber verstärkt hatte. Wann hatte sie zum letzten Mal mit Anne gesprochen? Sie konnte sich momentan nicht erinnern.

Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm sie das Gespräch an.

„Helo, Kleine.“ Es berührte sie seltsam, dass ihre ältere Schwester sie immer noch so bezeichnete. „Wie geht’s dir?“

„Gut, danke.“ Carys wollte nicht, dass ihre Antwort so knapp und unhöflich ausfiel, deshalb setzte sie hinzu: „Ich bin gerade mit Sheila beim Lunch. Alles ok.“

„Das freut mich. Hör mal, ich möchte dir einen Vorschlag machen.“ Wie immer kam Anne sofort zur Sache. „Die Saison im Globe ist doch zu Ende und du müsstest ja endlich frei haben. Komm für ein paar Tage zu uns, wir haben uns ewig nicht gesehen und die Jungs würden sich auch freuen.“

Mit den Jungs meinte sie ihren Mann und ihre Zwillingssöhne. Anne war ein Familienmensch durch und durch, etwas, das sie schon immer von Carys unterschieden hatte. Deshalb hatte Anne auch mit neunzehn geheiratet und die jüngere war nach London geflüchtet.

„Na, was sagst du?“ In Annes Stimme lag eine Spur Ungeduld, Carys hatte zu lange geschwiegen.

„Ich überlege gerade“, sagte Carys. „Ein paar Tage muss ich noch dranhängen, um die Kostüme durchzusehen und einzulagern, aber danach könnte ich mir frei nehmen. Ab Donnerstag?“

„Perfekt! Du kommst bestimmt mit dem Zug? Curt kann dich vom Bahnhof abholen. Ich habe nachgesehen. Wenn du um halb neun abfährst, bist du um viertel nach zwölf in Bangor, und wir können gemeinsam um eins lunchen.“

Carys seufzte unhörbar. Annes Fürsorge und ihre Vorliebe, das Leben anderer zu planen, waren manchmal schwer zu ertragen.

„Also gut. Abgemacht. Ich freu mich.“ Sie versuchte, so viel Herzlichkeit wie möglich in ihre Stimme zu legen. Sie wusste noch nicht so recht, ob es tatsächlich stimmte, Anne hatte sie überrumpelt. Andererseits – sie schuldete ihrer älteren Schwester mehr als einen Gefallen, nachdem sie sie so schmählich im Stich gelassen hatte.

Kapitel 3

Die untergehende Sonne zauberte ein Farbenspiel von hellgoldenen bis tiefroten Streifen an den Himmel. Sie sah aus wie ein großer, orangegelber Klecks, dessen Ränder zerfaserten. Darunter lagerten die dunklen Spitzen der mächtigen Rothanos, einer Zedernart, die nur in Sardaryon, der Provinz der Lichtwächter, vorkam. Eine leichte Brise wehte ihren würzigen Duft bis auf den Hügel, auf dem die mächtige Burg Colheldon stand, die seit Urzeiten der Sitz des Obersten Lichtwächters, des Arcsardars, war. Die grauen Mauern bildeten einen Ring um die Kuppe der höchsten Erhebung im Umkreis, die wie eine Insel aus dem Meer von Bäumen ragte. Das Farbenspiel des Himmels lag auch auf den grauen Steinen, tauchte sie in zauberhaftes Licht. Ein Falke zog seine einsamen Kreise über dem Hügel, es mochte sein, dass er sein Nest in einem der mächtigen Türme gebaut hatte. Es waren sieben und sie standen noch immer stolz und aufrecht, ihrer einstigen Bedeutung bewusst.

Ein früh erwachtes Käuzchen klagte in der Dämmerung und der Wind rauschte leise in den mächtigen Nadelbäumen.

Arcsardar Arian de Gordaw stand an der Mauer, die den Burggarten vom steil abfallenden Abhang trennte. Er starrte auf die sich ausbreitenden Schatten der Bäume unter ihm. Manche der Wipfel waren so hochgewachsen, dass sie sich beinahe auf Augenhöhe mit ihm befanden. Fast sein ganzes Reich war von Wald bedeckt, von diesen mächtigen Riesen, deren würzig duftendes Holz den Sardars, den Wächtern des Lichts, zur Herstellung ihrer Möbel gedient hatte. Sie überdauerten Generationen und würden auch ihn überleben.

Er strich geistesabwesend eine Strähne seines langen Haars zurück und richtete den Blick auf den Horizont nach Süden. Die sanfte Silhouette der Hügelkette von Kelingow hob sich dunkel von den feurigen Farben des Himmels ab. Dahinter lag Ladarnon wie eine ferne, bittersüße Erinnerung an vergangene Zeiten.

Sein forschender Blick prüfte wieder das Dunkel unter ihm. Er misstraute der Finsternis und der Schrecken, die sie barg, obwohl er wusste, dass ihm hier keine Gefahr drohte. Trotzdem überlief ihn ein Schauder und er wandte sich ab, vermied bewusst den Blick nach Osten, dorthin, wo die fernen Nebelwälder von Zordon lagen.

Zordon, die Wasserreiche, deren Fluten dunkel und fruchtbar das Land überschwemmen. Begrenzt von mächtigen, mit Schnee bedeckten Bergen. Mit zahlreichen wundersamen Pflanzen und Tieren beschenkt. Ein wahres Paradies, so wird erzählt aus vergangener Zeit, bevor das Böse über das Land kam. Die mächtige Burg, einst strahlendes Bollwerk, versunken in den Tiefen dunkler Sümpfe, beherbergt das Böse, das lauernd wartet, die Welt zu vernichten.

Eine Gänsehaut rieselte über Arians Rücken, als ihm die Worte seines Vaters in den Sinn kamen. Er kannte sie beinahe auswendig, so oft hatte er sie gelesen. Auch wenn sie niemals das zu beschreiben vermochten, was er selbst gesehen hatte.

Er drehte sich um, betrachtete das gepflegte Geviert des Burggartens, die einzige Fläche, die auf Colheldon noch bebaut wurde. Hier zog sein Vertrauter Eway das Gemüse und die Kräuter für die Küche. An der Mauerseite zu seiner Linken wuchsen die weißen Lilien von Colheldon, die Wappenblume der de Gordaws. Ihr angenehm frischer Duft drang in seine Nase und für einen Moment wurde sein Herz weit.

Ein bitteres Lächeln huschte über seine Züge. Diese Blumen waren – wie alles in Colheldon - nur eine Erinnerung an glanzvolle Zeiten. Die einstmals so stolze Festung war nutzlos geworden. Ein trauriges Denkmal vergangener Größe. Manchmal hatte er Angst, sich in diesen weitläufigen Mauern zu verlieren, aber wenigstens quälten ihn die Seelen der Verlorenen nicht. Colheldon war nie von den Armeen der Schwarzen erobert worden, hier lagerten nur die Erinnerungen an ferne Jugendzeit und glücklichere Tage in den grauen Steinen. Vielleicht hatte er deshalb genau hier Zuflucht gesucht und gefunden.

Ein leises Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Er wandte sich mit einer fließenden Bewegung um, aber es war nur Eway, der durch die offene Tür in den Garten getreten war.

„Das Abendessen ist angerichtet, Euer Hochwohlgeboren.“ Der alte Mann warf ihm einen forschenden Blick zu. Seit Arians Rückkehr nach Colheldon vor – war das wirklich schon drei Sonnenumläufe her? - tat er das oft, wie um zu erkunden, ob sein Herr auch wohlauf war. Kein Wunder, Eway hatte Schreckliches gesehen und würde das, genau wie er selbst, niemals vergessen.

Arian nickte nur. Er fröstelte, als eine kühle Brise seine Haut streifte und legte unwillkürlich die Hand auf sein Herz. Eway bemerkte es und Arian nahm die Hand rasch weg.

Sein Vertrauter drehte sich wortlos um und wartete an der Tür auf ihn. Arian betrat vor ihm das Gebäude. Es war ein Anbau an die Außenmauer der Burg, ursprünglich das Wohnhaus für den Gärtner. Sogleich hüllte ihn behagliche Wärme und weicher Kerzenschein ein. Eway hatte wie jeden Abend die großen Leuchter entzündet, ihr Licht flutete den Raum, der mit einfachen Möbeln aus dem Holz der Rothanos bestückt war. Ihr Duft vermischte sich mit dem des Kerzenwachses.

Er durchquerte das Zimmer und betrat den angrenzenden Raum, der als sein Esszimmer diente. Der Fürst von Colheldon bewohnte nicht mehr als ein Dienstbotenquartier, aber es brauchte nichts weiter für ihn und seinen Bediensteten.

Das Abendessen stand auf dem Tisch, eine bescheidene Mahlzeit aus gekochtem Gemüse und etwas Getreidebrei. Zwei Stühle und ein Geschirrschrank bildeten die weitere Einrichtung.

Eway schloss sorgfältig die schweren Vorhänge, um die Dunkelheit auszuschließen und Arian fühlte einen Moment fast so etwas wie Geborgenheit. Eingehüllt in Wärme und Licht.

Natürlich war das nur eine Täuschung.

Er aß wortlos und geistesabwesend. Eway schenkte schweigend das Wasser, das er zuvor vom Brunnen geholt hatte, in einen Becher. Der alte Mann diente den de Gordaws seit ewigen Zeiten und war Zeuge ihres Glücks und vor allem ihres Unglücks gewesen. Ein verlässlicher Anker in der wilden Brandung des Schicksals, ein schweigsamer und mitfühlender Untergebener. Der einzige, der geblieben war.

Arian beendete sein Mahl und wollte sich gerade erheben, als Eway sich räusperte. „Ihr habt heute eine Botschaft erhalten“, sagte er leise.

Arian zuckte zusammen. Er hatte befürchtet, dass Eway die Sprache darauf bringen würde, hatte er sie doch selbst dem Falken abgenommen.

„Sie ist von Eurem Bruder, nicht wahr? Werdet Ihr ihm antworten?“

Arian wurde von einem Schwall an Gefühlen überschwemmt. Trauer, Sorge, Wut, Verwirrung. Er konnte für einen Moment nicht unterscheiden, ob es seine eigenen oder die seines Vertrauten waren. Er sah Eway an. Der alte Mann erwiderte seinen Blick ruhig. „Ihr müsst ihm antworten. Er ist Euer einziger Verwandter.“

„Das weiß ich selbst.“ Arian kämpfte noch immer mit seiner Fassung. Er blinzelte, um das Brennen in seinen Augen zu vertreiben. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun sollte.“

Eway schnaubte. „Das meint Ihr nicht ernst, oder?“ Er straffte sich und in seinem Blick lag eine Mischung von Achtung und Zorn. „Ich sehe Euch jetzt seit drei Sonnenumläufen zu, wie Ihr Euch quält. Meint Ihr nicht, es wäre endlich an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und die Hand zur Versöhnung auszustrecken?“

Arian fuhr auf. „Darum geht es nicht! Das weißt du ganz genau!“

„Ach? Worum dann? Ja, Ihr seid verletzt worden, Ihr habt schreckliche Wunden erlitten, aber das war doch nicht die Schuld Eures Bruders! Außerdem habt Ihr Verpflichtungen – nicht nur ihm gegenüber!“

„Verpflichtungen?“ Arian lachte bitter. „Ja, natürlich. Das hätte ich beinahe vergessen. Ich bin der letzte Wächter des Lichts, der Heilsbringer. Nur dass ich das nicht sein will und auch nicht sein kann. Nie wieder. Verstehst du das nicht?“

„Nein. Ich sehe im Augenblick nur einen Mann, der sich in Selbstmitleid suhlt“, sagte Eway trocken.

Arian schnappte nach Luft. „Das … das ist Unsinn!“

Eway sah ihn schweigend an, nicht im Geringsten erschrocken über seine Unbotmäßigkeit und Arian musste sich eingestehen, dass er recht hatte. Er stand mit einem Ruck auf. „Ich werde es mir überlegen“, sagte er schroff.

Eway nickte. „Tut das. Aber nicht zu lange. Der Falke möchte wieder nach Hause.“

Arian kehrte in die Bibliothek zurück, in der er, ungeachtet des schönen Sommerwetters, den größten Teil des Tages verbracht hatte. Im Kamin brannte bereits Feuer, das die Kälte der Nacht mildern sollte. Auf dem Schreibtisch stand ein Kelch mit gewürztem Wein, wie jeden Abend.

Eway würde jetzt seine Mahlzeit zu sich nehmen. Er aß nie in Gegenwart seines Herrn, eine Angewohnheit, die er niemals ablegen würde.

Arian nahm einen Schluck aus dem Kelch und hob den Pergamentstreifen auf, der auf seinem Schreibtisch lag. Vielleicht zum hundertsten Mal las er die eng geschriebenen Zeilen, die ihm am Morgen der gezähmte Falke gebracht hatte.

An den Hochwohlgeborenen Arcsardar, Großfürst von Sardaryon, Fürst zu Colheldon, Arian de Gordaw. So lautete die offizielle Anrede für ihn und dagegen war eigentlich nichts einzuwenden. Wäre der Absender nicht Ifan de Gordaw, Großfürst von Ladarnon und Fürst zu Silkarnon, gewesen. Sein jüngerer und einziger Bruder, genauer gesagt, sein Halbbruder. Ifan, mit dem er hier auf Colheldon seine Kindheit verbracht hatte, der stets beim Ballspiel gewann, der mit seinem strahlenden Wesen alle bezauberte und der ihm immer in aufrichtiger Liebe zugetan gewesen war.

Er hätte sich über das Lebenszeichen Ifans freuen können, aber es erfüllte ihn mit Wehmut. Wo war die Vertrautheit zwischen ihnen geblieben? Wann hatten sie sich dermaßen entfremdet, dass sein Bruder an ihn schrieb, als sei er einer seiner untergebenen Landesfürsten?

Arian seufzte unwillkürlich. Natürlich hätte er die Antwort geben können, aber es widerstrebte ihm, darüber nachzudenken. All das war viel zu schmerzlich.

Seine Blicke flogen über die Zeilen in akkurater Schönschrift. Ifan berichtete von einem Vorfall an der Grenze zur Provinz Mardonnon, der ihn beunruhigte. Es schien, als wäre ein Dorf von den saugenden Schatten, den Orrmoks, überfallen worden. Er wisse noch nicht, wie viele Opfer zu beklagen seien, aber es wären hauptsächlich Rinder abhandengekommen. Er nähme an, dass der Schutzwall beschädigt sein müsse, denn sonst hätten die Diener der Schwarzen die Provinz Ladarnon nicht heimsuchen können. All das klang sehr vage. Am Ende die zaghafte Bitte, Arian möge ihm einen Besuch abstatten und sich selbst von der Lage der Dinge überzeugen, auch wenn dieser Vorfall vielleicht viel zu wenig bedeutend sei, um seine Aufmerksamkeit zu fordern.

Das alles klang so unterwürfig und beinahe ängstlich, dass in Arian erneut Zorn aufwallte, obwohl er die Worte mittlerweile auswendig kannte.

Was brachte seinen Bruder zu einer derartigen Wortwahl? Er war nie demütig gewesen, sondern immer stolz und aufrecht. War es eine Finte, um ihn nach Silkarnon zurück zu locken? Wenn ja, dann war sie erbärmlich und seines Bruders nicht würdig.