Lillys Schweigen - Annika Sylvia Weber - E-Book

Lillys Schweigen E-Book

Annika Sylvia Weber

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Beschreibung

»Verschwinde aus meiner Stadt, Werwolf!«

Als die temperamentvolle Jägerin Lilly mitten in Hannover eine Werwölfin tötet, ist damit ein ganz normaler Auftrag der Organisation für sie abgeschlossen. Doch dann entdeckt sie in der Wohnung der Getöteten ein kleines Mädchen: die Tochter der Wölfin. Lilly nimmt sie bei sich auf – und verschweigt die wahren Hintergründe der Tat. Während sich das Netz der magischen Feinde immer enger um die Menschen der Stadt zieht, droht das Geheimnis der Jägerin ihr zum Verhängnis zu werden. Das fulminante Debüt einer jungen Autorin: Die Organisation erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Jägerin des Übersinnlichen.

Moderne Unterhaltung ist mysteriös und sexy!

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Seitenzahl: 522

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Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Die Autorin
Widmung
Prolog
Erster Teil - DAS ORAKEL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Copyright
Das Buch
Lilly, als Jugendliche im Internat der geheimen Organisation zur Jägerin ausgebildet, hat ihr ganzes Leben der Bekämpfung dunkler Kreaturen und des magischen Bösen gewidmet. Doch als sie eines Nachts in der Innenstadt von Hannover eine Werwölfin tötet und kurz darauf deren zehnjährige Tochter in Menschengestalt ruhig schlafend im Bett findet, lässt sie das kleine Mädchen entgegen allen Regeln der Organisation und wider alle Vernunft am Leben. Lilly nimmt sie bei sich auf - ohne zu ahnen, dass sie damit dem mächtigsten Feind der Organisation, dem uralten Zauberer Kimaris, den Schwachpunkt liefert, der im Kampf zwischen Gut und Böse alles entscheiden wird …
Die Autorin
Annika Sylvia Weber, 1984 geboren, wuchs in Marburg an der Lahn auf und lernte dort zunächst den Beruf der Verwaltungsfachangestellten, bevor sie sich ganz ihrer Herzensangelegenheit, dem Schreiben, widmete. Nach einem Studium der Journalistik an der Fachhochschule Hannover arbeitete sie einige Zeit bei einer Nachrichtenagentur in London. Lillys Schweigen ist das fulminante Debüt der Finalistin des Schreibwettbewerbs »Heyne magische Bestseller«. Im Moment schreibt die Autorin am zweiten Roman über die temperamentvolle und sexy Jägerin des Übersinnlichen, Lilly.
Für Antonia, die es sich anhörte,&S. K., der mein Leben veränderte
Prolog
Es ist kalt, als er aufwacht. Kalt und feucht, aber daran hat er sich schon vor Jahren gewöhnt. Auch der modrige Geruch des Schimmels, der ihn umgibt und sich in den Zwischenräumen seiner Finger und Zehen ausbreitet, macht ihm nichts aus. Womit er sich niemals wird abfinden können, ist die Enge. Er hat kaum Platz, um sich zu drehen, wenn ihm seine Position zu ungemütlich wird. Nicht, dass ihm dabei viele Möglichkeiten zur Wahl stehen. Entweder liegt er auf dem Rücken oder auf dem Bauch oder vielleicht auch mal auf der Seite, aber dann stößt er mit der Schulter schon gegen den Deckel. Deswegen vermeidet er es, sich zu sehr zu bewegen.
Der Stoff, auf dem er liegt, ist vom vielen Sichumdrehen schon ganz zerfetzt und bietet kaum Gemütlichkeit. Dem Erbauer seines Gefängnisses kam es natürlich auch nicht auf Behaglichkeit an, als er die vier Seitenwände und den Boden mit dem Polster auskleidete.
Wenigstens ist das kleine Kissen, auf dem sein Kopf gebettet liegt, einigermaßen weich. Sein übriger Körper fühlt sich an, als sei er auf ein Holzrad geflochten. Er hat schon lange nicht mehr die Möglichkeit gehabt, seine Glieder zu strecken. Das ist etwas, wovon er träumt, wenn er immer wieder in tiefen Schlaf gleitet, weil er sonst nicht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll. Aufzustehen, sich zu strecken, zu laufen und, wenn er den ganzen Tag an der Sonne verbracht hat, abends in ein weiches Bett zu sinken und die warme Decke um seinen kleinen Leib zu wickeln.
Die Sonne! Er weiß kaum noch, wie sie aussieht, wie sich die Strahlen auf seinem Körper anfühlen. Er hat eine verschwommene Erinnerung an einen Tag in seinem Zimmer, an dem er krank war und nicht in die Schule gehen musste. Stattdessen hat er auf einer breiten Fensterbank gesessen und gelesen. Dabei hat das einfallende Licht ein Muster auf die Seiten gezaubert, das von den Blättern der Eiche vor seinem Fenster herrührte, zwischen denen die Sonnenstrahlen hindurchschienen.
Wenn er nicht von seiner Vergangenheit heimgesucht wird, wenn er schläft, sieht er, was geschehen ist und was passieren wird. Nicht alles, so weit reichen seine Fähigkeiten nicht. Er ist zu früh von seiner Bestimmung abgehalten worden, um seine Kräfte voll zu entwickeln. Aber manchmal kann er weit voraussehen, wenn die Sterne günstig stehen und die Gezeiten wechseln. Und was er gesehen hat, kurz bevor die allumfassende Dunkelheit, die ihn umgibt, wieder in sein Blickfeld gerückt ist, lässt ihn lächeln. Noch ist es nicht so weit. In der Tat wird es noch einige Zeit dauern, vielleicht Jahre, aber er kann warten. Muss warten, weil ihm nichts anderes übrigbleibt. Währenddessen wird er sich mit den Erinnerungen aus seiner Zeit in Freiheit begnügen, als er mit seinen Brüdern, mit seiner Schwester spielte und mit seinen Eltern. Wobei »spielen« vielleicht nicht das richtige Wort ist, wenn er ehrlich zu sich selbst ist. Er kichert. Spaß hat es trotzdem gemacht. Einen Mordsspaß, man möge ihm das Wortspiel verzeihen. Er kichert wieder.
Zwischen den engen, mit Seide bespannten Wänden des Sarges hört sich der Laut dumpf, erstickt an. Das gefällt ihm nicht. Er verstummt. Dann hellt sich sein kleines, engelhaftes Gesicht wieder auf. Seine Familie ist nun natürlich schon lange tot, aber wenn er die Zeichen richtig gedeutet hat, wird er möglicherweise bald neue Spielkameraden finden, mit denen er im Sonnenlicht zusammen sein kann. Sehr bald!
Erster Teil
DAS ORAKEL
1
Auszug aus dem Journal der Organisation, Band 378, vom 29. September des Jahres 1903 (28 Jahre vor der endgültigen Wende). Name des Autors: [geschwärzt].
HÖCHSTE SICHERHEITSSTUFE!
Der Fall des Fabian Klaus Kurze ist nicht beispiellos. Im Laufe der Geschichte spielten sich Ereignisse wie das nun folgende häufig ab, vor allem im antiken Griechenland. Alte, verschleiernde Sagen von Orakeln sind Überbleibsel der wahren, schreckenerregenden Berichte von dem, was damals geschah. So geglättet und ritualisiert, wie die Sagen klingen, so blutig und schauderhaft ist die Wahrheit.
Wahr ist jedoch auch, dass das Verhalten des Fabian Klaus Kurze die meisten blutrünstigen Taten anderer seiner Artgenossen bei weitem übertrifft. Und seit er im Jahre 1903 von Mitarbeitern der Organisation gefasst wurde, ist kein weiterer Fall aufgetreten.
Doch man darf sich nicht täuschen lassen: Orakel gab es und wird es immer geben.
Ohne ein Orakel ist die Arbeit der Organisation nicht unmöglich, aber doch sehr schwierig. Orakel haben in vielen Fällen den richtigen Ansatz geliefert, um Vertreter des Bösen - wie den Kannibalen von Passau oder den dunklen Meister, der die Reihen der Organisation beträchtlich dezimierte - zu fassen und zu vernichten. Und dennoch geht auch von ihnen selbst eine große Gefahr aus.
Die Lebensgeschichte des Fabian Klaus Kurze soll eine Warnung sein, ein Orakel niemals, und ich wiederhole: NIEMALS, in die Freiheit zu entlassen, sollte je ein Mitarbeiter der Organisation auch nur auf den Gedanken kommen.
Das Ehepaar Kurze bekam 1884 sein erstes Kind, einen Sohn. Er wurde auf den Namen Friedrich Helmut getauft. Erst wenige Monate vor dessen Geburt ehelichte Helmut Kurze seine Frau Gerda, eine geborene Wiedel. Berechnungen zufolge war die jüngste Tochter des Schuhfabrikanten Gustav Wiedel bei der Hochzeit schon im vierten Monat schwanger. Trotzdem schienen Gerda sowie auch Helmut bei der Ehelichung guter Dinge und einander sehr zugetan, wie Verwandte zu berichten hatten. Ein Jahr nach Friedrich Helmut kam Sohn Hubertus zur Welt, 1888 die Tochter Jennifer Marie. Schließlich, 1889, erblickte Fabian das Licht der Welt. Dem Umstand, dass es an einem Freitag, dem 13., geschah, maßen die Eheleute keine große Bedeutung bei. Die Mitglieder der Familie Kurze waren gläubige Menschen, aber nicht abergläubisch. Nachforschungen der Organisation haben ergeben, dass im Dorf der Kurzes nicht-menschliche Kreaturen weder residieren noch jemals residierten. Auch besonders Begabte (Hexen, Zauberer u. ä.) waren der dörflichen Gemeinschaft unbekannt.
(An dieser Stelle wurde handschriftlich ein Vermerk angefügt: zur damaligen Zeit Vorkommen von übernatürlich begabten Personen und Kreaturen hauptsächlich in Städten, weil größere Akzeptanz. Angelerntes Verhalten resultierend aus Hexenverfolgungen etc.)
Weder die Kurzes noch jemand in ihrem näheren Umfeld hätte also ahnen können, was ihnen bevorstand.
Soweit bekannt ist, gab es keine körperliche Züchtigung im Hause Kurze. Der älteste Sohn, Friedrich, beabsichtigte, nach seiner Matura in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, Medizin zu studieren und später die Dorfpraxis seines Vaters zu übernehmen. Hubertus, ein hübscher, blonder Junge, war der beste Fußballspieler seines Vereins, und die kleine Jennifer Marie mit ihren roten Zöpfen und den Sommersprossen war allem Anschein nach bei all ihren Klassenkameraden beliebt. Fabian aber, der Lausbub mit dem strubbeligen Haar und den blauen Augen, war ein wahrer Engel, darin ist sich die Dorfgemeinschaft einig. Das Nesthäkchen der Familie, beschützt von seinen älteren Brüdern und verhätschelt von seinen Eltern, sah aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Keiner konnte später sagen, er hätte eine Veränderung in Fabians immer freundlichem Wesen bemerkt. In der Nachbarschaft gab es keine unerklärlichen Tiermorde, keine kleinen Kinder verschwanden urplötzlich, kein Fall von Vandalismus ist in den Archiven des Dorfes vermerkt.
War Fabian wirklich ein unschuldiger kleiner Junge? Oder schwärte schon immer der Stachel des Bösen in ihm? War er vielleicht eifersüchtig auf seinen tüchtigen Bruder Friedrich? Oder auf Hubertus’ Beliebtheit, auf das gute Aussehen seiner Schwester? Es gab keinen Grund dazu. Er hatte all das und noch viel mehr. Sein Leben schien selbst unter einem Glücksstern zu stehen. Bis zu dem Tag, an dem Fabian 14 Jahre alt wurde.
Dieser Tag ist relativ gut dokumentiert, da es eine große Geburtstagsfeier mit allen Freunden und Verwandten der Familie Kurze gab. So hatte es das Ehepaar schon immer bei allen seinen vier Kindern gehalten.
Am Morgen gingen die Kinder wie stets zur Schule. Frau Kurze bereitete alles für das große Ereignis vor. Obwohl es unter der Woche war, sollten die Feierlichkeiten bis spät in den Abend hinein vonstattengehen, und Frau Kurze freute sich auf die Feier, da sie in letzter Zeit wenig Gelegenheit gehabt hatte, mit ihrem Mann auszugehen. Er hatte zu viel in seiner Praxis zu tun, die von Jahr zu Jahr mehr Patienten anzog.
Frau Kurze und ihre Schwester, Frau Rosemarie Wiedel, eine alte Jungfer aus dem Nachbarort, buken den ganzen Morgen unzählige Kuchen und eine riesige Geburtstagstorte mit genau 14 Kerzen. Sie kochten Töpfe voller Eintopf nach einem Spezialrezept der Familie. Frisches Brot war im dorfeigenen Backhaus schon vor Tagen bestellt worden. Während die Schwester das Brot abholte, schmückte Frau Kurze den Garten mit Fackeln und die Tische mit kleinen Kerzen. Diese waren mit einem Spezialmittel getränkt, um Mücken und Fliegen zu vertreiben, die den warmen Sommerabend ansonsten zu einer Qual gemacht hätten. Als die Kinder später am Nachmittag aus der Schule kamen, halfen sie Frau Kurze beim Reinemachen. Fabian war von der Arbeit ausgenommen, schließlich war er das Geburtstagskind.
Bald trafen die ersten Gäste ein, und ein paar Stunden später war der Garten von rund vierzig Menschen bevölkert. Es wurde laut und lustig, und alle lobten das gute Essen der Familie Kurze. Als Fabian seine Geschenke öffnete, freute er sich besonders über ein eigenes Fahrrad, beachtete aber auch seine anderen Präsente, unter ihnen ein Globus, Holzsoldaten und eine Eisenbahn, mit gleichbleibender Verzückung. Die Kinder und Jugendlichen zogen sich später in eine Ecke des Gartens zurück, wo sie ein Lagerfeuer entzündeten und Würstchen und Brot rösteten. Die Erwachsenen entkorkten währenddessen die ein oder andere Weinflasche und unterhielten sich angeregt, denn viele von ihnen hatten sich lange nicht mehr gesehen und nutzten die Gelegenheit, alles zu erzählen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte.
Als die Uhr halb eins anzeigte, verließen auch die letzten Gäste das Haus. Das Ehepaar Mönninger sagte aus, als es sich von dem Ehepaar Kurze verabschiedete, machten die beiden einen müden, aber glücklichen Eindruck. Herr Dr. Kurze hatte zwei oder drei Gläser Rotwein im Verlaufe des Abends getrunken, nicht mehr, da waren sich alle sicher. Frau Kurze trank gar keinen Alkohol, weil sie ihn noch nie vertragen hatte. Sie erklärten dem Ehepaar Mönninger, den Garten erst am nächsten Tag aufräumen zu wollen, da es nicht regnen sollte, und wünschten ihnen eine gute Nacht.
Was danach geschah, kann nur erraten werden, obwohl es weit über den menschlichen Verstand hinausgeht. Fakt ist, dass Dr. Kurze am folgenden Tag die hauseigene Praxis nicht öffnete. Seine Gehilfin Sandra Brinker, ein zuvorkommendes Mädchen aus gutem Hause, dessen Eltern mit dem Ehepaar Kurze befreundet waren, klopfte nach eigener Aussage gegen die Eingangstür. Die Fensterläden waren allesamt geschlossen, und kein Rauch stieg aus dem Schornstein des Kamins. Die junge Frau klopfte noch ein paarmal und ging danach um das Haus herum in den Garten. Unter dem Fenster, von dem sie wusste, dass es zu Friedrichs Zimmer gehörte, rief sie nach ihm, da sie gut mit ihm befreundet war. Sie erhielt keine Antwort.
Nicht sicher, was jetzt zu tun war, eilte sie nach Hause und berichtete ihren Eltern über das eben Erlebte. Beunruhigt kam das Ehepaar Brinker zu dem Entschluss, die Dorfwache aufzusuchen. Mitarbeiter der Wache begaben sich sofort zum Haus der Familie Kurze, und nachdem sie ebenfalls keine Reaktionen auf ihr Rufen erhielten, brachen sie die Terrassentür des Hauses auf. Was sie dort vorfanden, soll der nun folgende Auszug aus einem Protokoll der Organisation aufzeigen, welches ein Mitarbeiter während eines Gesprächs mit dem Hilfspolizisten Walther Liebig aufzeichnete …
2
Nebel liegt über dem nächtlichen Hannover. Kalt und klamm lässt er auch diejenigen in ihren Betten verharren, die sonst die dunklen Stunden nach Mitternacht denen der klaren Herbsttage vorziehen.
Dichte Schwaden verhüllen den fast vollen Mond. Keine Straßenlaternen beleuchten den Kröpke-Platz, Hannovers Stadtmitte. Die Neonlichter der umliegenden Kaufhäuser können den Nebel nicht durchdringen, und so herrscht tiefste Dunkelheit rund um eines der Wahrzeichen der Stadt: Die Kröpke-Uhr.
Das altmodische Ziffernblatt verkündet sieben Minuten vor drei. Ein vorher kaum zu bemerkender rotglühender Lichtpunkt wird plötzlich heller und sinkt dann zu Boden. Ein hoher, schwarzer Stiefelabsatz fährt mit in der Stille noch lauter wirkendem Klacken darauf nieder. Das warme Glühen erlischt. Und die Frau, die für eine Zigarettenpause im vermeintlichen Schutze der Uhr stehen geblieben ist, setzt ihren Weg Richtung Bahnhof fort.
Ihr braunes, langes Haar ist gelockt und schwer von der Luftfeuchtigkeit. Sie wischt sich fortwährend eine widerspenstige Strähne aus den Augen, scheint es aber nicht wahrzunehmen. Sie trägt einen eng anliegenden Mantel, der ihr bis zu den Knien reicht. Nur ihre Absätze auf der Treppe, die in die Nikki-de-Saint-Phalle-Promenade, eine Ebene unter dem Kröpke, führt, sind zu hören. Die Passage ist von hier bis zum Bahnhof nach oben hin offen. Einige Treppen verbinden sie mit der Oberfläche. Links und rechts der Passage erstrecken sich Bekleidungsgeschäfte, Drogerien und Imbissstände. Keiner davon hat zu dieser Stunde noch geöffnet. Kein Schaufenster ist beleuchtet.
Ein leises, stetiges Brummen erklingt. Mit einem Seufzen schiebt die junge Frau ihre behandschuhte Hand in die Manteltasche und wühlt so lange darin herum, bis sie ein Handy herauszieht und es aufklappt. Dabei fallen ihr einige Papierfetzen aus der Tasche.
Sie spricht kein Grußwort, hört nur zu und kneift ihren Mund zusammen. Sie sieht weder nach rechts noch nach links, geht weiter und sagt schließlich: »Reg dich nicht auf, ich bin ja gleich da«, und nach einer kurzen Pause: »Nein, natürlich werde ich leise sein!« Während des Gesprächs streift sie ihre Handschuhe mit Hilfe ihrer Zähne ab, weswegen ihre Worte gedämpft klingen, und stopft sie geistesabwesend in die Seitentasche ihres Mantels.
Sie klappt das schwarze Mobiltelefon wieder zu. Bevor sie es in ihre Tasche zurückschieben kann, zerschellt hinter ihr etwas mit markerschütterndem Klirren auf dem Boden. Winzige Glassplitter bohren sich in ihre Wange, da sie sich fast im selben Moment nach dem Geräusch umdreht. Sie verzieht das Gesicht und schaut nach oben. Über jedem der unter Straßenniveau gelegenen Geschäfte steht ein kleines, gläsernes Sonnendach ein Stück hervor. Über der Frau befinden sich nur gezackte Glasstücke, die in der Wand stecken. Der Rest des Sonnendachs liegt zu ihren Füßen. Manche Stücke sind bis ganz ans andere Ende der Passage geschlittert.
Das aufschlagende Glas war ohrenbetäubend laut. Das Telefon noch in der Hand, lauscht die junge Frau in die Dunkelheit. Die Stelle über dem zerstörten Sonnendach, von einem Geländer begrenzt, ist menschenleer. Aber man muss nur wenige Schritte rückwärts gehen, um von unten nicht mehr zu sehen zu sein.
Als in ihrem Rücken ein leiser, fast sanfter Ton erklingt, so als habe jemand ein mit Daunen gefülltes Kissen fallen lassen, fast unhörbar für das menschliche Ohr, setzt sie ihren Weg fort. Sie steckt das Mobiltelefon weg. Die Hand belässt die Frau in der Nähe ihres Mantelaufschlags. Nach mehreren Metern werden Schritte in ihrem Rücken laut, hohe Stahlabsätze, denen an ihren Stiefeln nicht unähnlich. Der Ton wird von den gegenüberliegenden Schaufenstern zurückgeworfen und vom Nebel verschluckt, aber in den Ohren der jungen Frau, die ihn im Nacken hat, hallt er laut wider.
Sie streicht die widerspenstige Locke ein weiteres Mal fort, knöpft ihren Mantel auf, lässt ihn von den Schultern gleiten, dreht sich um und zieht ein zweischneidiges Schwert aus einer Lederscheide an ihrer Hüfte. Gut austariert, ohne künstlerischen Schnickschnack, liegt es in ihrer Hand. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass diese Waffe zum Kämpfen gefertigt worden ist und keinem anderen Zweck dient.
Die junge Frau sieht die Gestalt, die vor ihr steht, nun zum ersten Mal über die Schneide ihrer Waffe hinweg an. Sie runzelt ihre Stirn und sagt: »Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!«
Vor ihr steht eine Formwandlerin, nur ein wenig älter als sie selbst. Eine Wolfen, das erkennt ihr erfahrenes Auge gleich. Langes, struppiges, gräulich blondes Haar, spitze Zähne und lange, scharfe Fingernägel. Gefährliche Fingernägel. Doch am schlimmsten ist die Aufmachung. Ein kurzer, nuttiger Lacklederrock, zerrissen und fleckig. Ein Netzshirt mit Löchern und - Muttergottes, die 80er sind vorbei!- das verfilzte Haar auch noch Vokuhila! Aber, denkt die junge Frau, schöne Stiefel.
»Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, oder?«, fragt sie, aber die Wolfen reagiert nicht, sondern starrt sie nur mit hungrigem Blick an. Sie leckt sich die Lippen und verteilt den zu dick aufgetragenen Lippenstift auf ihren Eckzähnen. Ihr herzförmiges Gesicht hätte schön sein können, wenn es nicht so furchtbar mit Make-up zugekleistert wäre. Aber selbst dann wäre da immer noch der grausame Zug um ihre Augen, der ihr wahres Wesen verrät.
Die junge Frau schätzt ihre Chancen ab. Wolfen sind schnell, auch in ihrer menschlichen Form. Der am Himmel stehende Vollmond verstärkt ihre immensen Kräfte zusätzlich. Doch sie hat wohl schon längere Zeit auf dem Sonnendach über der Passage auf ihr vermeintliches Opfer gewartet, und wenn die junge Frau Glück hat, sind die Muskeln der Wolfen so kalt, dass sie langsam sein wird. Ein bisschen langsamer nur, aber das könnte die entscheidenden paar Sekunden ausmachen.
Eine andere Waffe als das Schwert hat die junge Frau nicht. Trotzdem gibt sie sich mutig. »Komm schon, Blondie«, sagt sie mit einem aufreizenden Lächeln. Aber die Wolfen knurrt nicht einmal. Ein schlechtes Zeichen.
Irgendwie muss sie es schaffen, dass die Formwandlerin als Erste angreift. Aber mit Worten lässt die sich nicht beeinflussen. Sie scheint eine erfahrene Kämpferin zu sein, hat ihre Kräfte voll unter Kontrolle. Sie hat vielleicht schon ein Tänzchen hinter sich, wie der Zustand ihrer Kleidung vermuten lässt.
Der jungen Frau bleibt nur noch eins übrig: Sie lässt ihr Schwert fallen. In dem Moment, als sich ihre Finger öffnen und das eisige Gefühl des Griffs aus ihrer Hand verschwindet, greift die Wolfen an. Nein, die Kälte hat ihr nicht geschadet, sie ist verdammt schnell.
Die braunhaarige Frau hat nicht den Fehler begangen, ihrer Waffe hinterherzuschauen, als sie den Griff losgelassen hat. Sie hat ihre Gegnerin nicht aus den Augen gelassen. Als diese zu einem gewaltigen Sprung ansetzt, lässt sich die junge Frau gleichzeitig auf den Boden fallen, fängt ihr Schwert auf, bevor es den Beton berührt, und rollt sich auf den Rücken.
Die Wolfen bemerkt ihren Fehler fast zu spät, kann im Sprung aber noch die Richtung korrigieren. Als sie dicht neben der am Boden liegenden Frau aufkommt, ritzt das nach oben gerichtete Schwert nur ihr Bein auf. Der Schnitt ist nicht tief, trotzdem färbt sich ihre zerrissene Strumpfhose blutrot.
»Eins zu null für mich, du dämliche Schnalle!«, knurrt die junge Frau, während sie wieder auf die Beine springt. Ihre Gesichtshaut spannt, und ihre Lippen sind aufgeplatzt, aber sie nimmt die Kälte nicht mehr wahr. Ihr Atem steigt in Wolken von ihrem Mund auf, als sie lächelt. Sie ist so nah an ihrer Gegnerin dran, dass sie nun Wut in deren Augen erkennen kann. Sehr gut!
Ein heiseres Knurren entweicht der Kehle der Blondine, als sie mit gebeugten Knien Abstand nimmt und in einem Kreis um ihre Feindin herumschleicht. Die Absätze klicken auf dem Asphalt, langsam, als tanze die Besitzerin einen Schmuseblues, anstatt ihr vermeintliches Opfer zu taxieren. Dieses hält den Augenkontakt, das Schwert locker in der Hand. Die Spitze weist genau auf das Gesicht der Formwandlerin.
Die Wolfen greift an. Währenddessen verwandelt sie sich. Darauf hat die junge Frau nur gewartet. Das Gesicht ihrer Gegnerin wird länger, der blonde Haarschopf verschmilzt mit ihrem Hals, und die Kleidung scheint sich in den Körper zurückzuziehen. Gleichzeitig sprießt ihr ein dichtes, graublondes Fell. Ihre Nase wird dunkler, nicht auf einmal, sondern in verschiedenen Schattierungen, von Fleischfarben zu Schwarz. Der Lippenstift verschwindet nicht, sondern verteilt sich als grotesker, pinkfarbener Ring auf ihren Lefzen. Geifer glitzert auf ihren weit herausragenden Reißzähnen, und als die Wolfen knurrt, werden kleine, aber spitze Vorderzähne sichtbar.
Als die Hände sich in Pfoten wandeln, sind nur einige Sekunden vergangen, und die Wolfen befindet sich gefährlich nahe am Gesicht ihrer Gegnerin, der ein Geruch wie von verfaultem Hühnchen entgegenschlägt. Aber anstatt ihr Schwert zu benutzen, wirft die junge Frau es beiseite und holt mit ihrem schwarzen Stiefel aus. Fast wie in Zeitlupe kann sie ihren Fuß beobachten, der zurückschwingt und dabei an Geschwindigkeit gewinnt.
Die Zeit läuft wieder normal, als er sein Ziel erreicht. Er trifft die Wolfen mitten zwischen die gelben Augen. Der spitze Absatz bohrt sich in die empfindliche Nase der Formwandlerin, die perplex und vor Schmerz aufheult und durch die Wucht des Trittes gegen die nächste Mauer geschleudert wird. Dort prallt sie mit dem Kopf auf und bleibt benommen liegen. Ihre Hinterläufe zucken, und die Augen trüben sich.
Die junge Frau tritt langsam auf die Wolfen zu, die sich gerade wieder zurückverwandelt. Der Anblick kann einem die Tränen in die Augen treiben. Glieder, die vorher Schnelligkeit verhießen, formen sich zurück in schlanke, doch im Vergleich zu vorher plump wirkende Arme und Beine. Das Fell der Wolfen scheint sich vom Körper zu lösen, und darunter kommt wieder die Kleidung zum Vorschein. Die nicht bedeckte Haut färbt sich augenblicklich frostig blau.
All das scheint die junge Frau nicht im Geringsten zu schockieren oder zu überraschen. Sie hebt ihr Schwert auf, hält es locker in der rechten Hand, umfasst es dann fester und schwingt es durch die Luft. Ein pfeifendes Geräusch begleitet das Ausholen, und sie sagt mit leiser, sachlicher Stimme: »Nur zur Info: Du warst nicht die Jägerin, sondern die Gejagte. Es tut mir leid, aber so läuft das nun mal.«
Kurz bevor die Klinge den Hals der blonden Frau erreicht, hebt diese abwehrend die Hand, und ein flehender Ton schwingt in ihren Worten mit, als sie sagt: »Bitte nicht, meine …«, aber weiter kommt sie nicht. Der Stahl, geführt von einem Arm, dem größere Kraft innewohnt, als man im ersten Moment vermuten kann, durchtrennt ihren Nacken gekonnt zwischen zwei Wirbeln, gleitet durch die Haut wie durch Butter. Ihr Kopf rollt auf das Pflaster, und die junge Frau beobachtet, wie sich der tote Körper der Blondine in einen Wolf zurückverwandelt. Dieses Mal geht es langsam vonstatten, der Leichnam verwendet die letzten Reste Energie, die sich in dem noch warmen Körper befinden, zu dem Zweck, den eigentlichen Zustand wiederherzustellen.
Die Frau sieht noch einige Sekunden der Rückverwandlung zu, dann steckt sie die Klinge in einen nahen Blumenkübel mit Erde und reinigt sie auf diese Weise, bevor sie ihre Waffe in die Scheide zurückschiebt. Schwer atmend wischt sie sich den Schweiß von der Stirn und geht müde zu der Stelle zurück, an der sie ihren Mantel liegen gelassen hat.
Plötzlich kommen einige Gestalten, schwer zu erkennen in der Dunkelheit und dem Nebel, aus den Schatten der beginnenden Unterführung unter dem Hauptbahnhof. Die junge Frau hebt seelenruhig ihren vom Nebel feuchten Mantel auf, und als sich ein riesenhafter Mann in Lederkluft und mit Nietenhalsband aus der Gruppe löst und auf sie zukommt, lächelt sie nur schwach, während sie mit klammen Fingern versucht, ihre Handschuhe wieder anzuziehen.
»Mann!« Der glatzköpfige Riese lässt seine Pranke schwer auf ihre Schulter fallen. »Das war stark!«, ruft er und grinst über das ganze Gesicht, das dadurch, anstatt den bedrohlichen Ausdruck zu verlieren, noch furchterregender aussieht.
»Hast du sie noch alle beisammen? Meine Schulter!«, ruft sie leise, aber ihr Mund, der immer noch leicht lächelt, verrät, dass sie den Schlag als das Zeichen der Kameradschaft nimmt, als das er gedacht war.
»Stell dich nicht wie ein Mädchen an, Lilly. Du hast gerade gegen eine ausgewachsene Wolfen gekämpft und noch nicht mal einen Kratzer abbekommen!«, sagt der Mann. Er sieht aus, als glaube er seinen eigenen Worten nur schwer. Er geht zu der Leiche. Dort sind die schemenhaften Umrisse derjenigen auszumachen, mit denen der Koloss eingetroffen ist.
»Ja«, sagt Lilly und folgt ihm, »aber euer Verdienst war das nicht. Ihr hättet euch ruhig mal bequemen können, mir zu helfen.«
»Na ja«, meint der Mann und zuckt mit den muskulösen Schultern, »besser als Kino. Die hast du doch locker erledigt. Weiß gar nicht, warum wir hier sind. Doch nur wieder, um den Dreck wegzumachen.«
Er betrachtet die kopflose Leiche und pfeift leise. »Ich hätte zehn zu eins gewettet, dass sie mehr Mensch als Wolf war. Dumm, dass man’s immer erst sieht, wenn sie tot sind. Ich hätte nicht in der Haut ihres Vaters stecken wollen, als seine Frau anstatt eines süßen, kleinen Babys einen süßen, kleinen Welpen als Erbin präsentiert hat.« Er stößt den Körper mit einem für seine Größe erstaunlich kleinen Fuß an.
»Da hast du wohl Glück, dass du nicht gewettet hast«, sagt Lilly und rollt mit den Augen.
In diesem Moment löst sich ein alter, weißhaariger Mann aus den Schatten und sagt: »Hey Kriecher, du schuldest mir’nen Fünfziger. Hab von Anfang an gesagt, so wie die hier die Ruhe weg hatte, konnte sie nur eine Ursprüngliche sein.« Sein Gesicht mit den tief eingegrabenen Falten verzieht sich zu einem breiten Grinsen. Er deutet auf den Tierkörper.
Lilly schaut den Muskelberg, den der Alte Kriecher genannt hat, nur an. Der zieht die Schultern ein und murmelt: »Sag mir nochmal, warum ich immer mit dir wette, Singer.«
»Weil du immer denkst, du könntest mich aufs Kreuz legen«, sagt der weißhaarige Alte mit rauchiger Stimme und grinst übers ganze Gesicht. Er entfaltet einen großen, dunklen Müllsack, den er mühsam aus seiner hinteren Jeanstasche gezogen hat. Er hält ihn auf, und ein junger, gut aussehender Mann, der lautlos an seine Seite getreten ist, nimmt den Kopf der Wolfen und wirft ihn hinein. Auf dem Rücken seines schwarzen T-Shirts, das eigentlich zu dünn für diese Jahreszeit ist, steht in verschnörkelten Lettern Henne. Er feixt und schüttelt seine halblangen, schwarz gefärbten Haare. Ein paar Strähnen fallen ihm in die hellblauen Augen, was ihm aber nichts auszumachen scheint. Ein silbernes Piercing zieht sich durch seine Unterlippe nahe dem Mundwinkel, und er kaut darauf herum, ohne es zu merken.
»Wo sind Sandrine und Herr Pohl?«, fragt Lilly, während Henne und Singer den Körper eintüten.
»Kleines Stelldichein. Nein, Witz beiseite«, sagt Kriecher, als er Lillys Blick bemerkt. »Die müssen hier irgendwo rumhängen. Dem Geruch nach hatte die Wolfen hier in der Nähe’ne Bude, hat der alte Blutsauger jedenfalls gesagt. Ob das stimmt, weiß ich natürlich nicht. Dem trau ich nicht weiter, als ich ihn werfen kann. Was schon ein Zugeständnis ist, weil ich bei dem Klappergerüst vermutlich eine ziemlich gute Entfernung erreichen könnte, wenn ich weit ausholen würde.«
»Herr Pohl kämpft schon länger für unsere Organisation als du oder ich, Kriecher. Und zufällig weiß ich, dass du erst gestern beim Kartenspielen eine größere Summe an ihn verloren hast. Könnte es sein, dass dein plötzliches Misstrauen daher rührt?«
»Vampir bleibt Vampir. Seit wann holen wir uns denn den Feind auf unsere Seite?«
»Seit ziemlich genau 208 Jahren«, erklingt eine leise, einschmeichelnde Stimme über ihnen.
»Komm runter, und gib mir mein Geld wieder. Oder hat die Blutbank die Preise erhöht?«, fragt Kriecher und blickt nach oben. Auf dem Geländer über der Passage hockt eine dürre Gestalt. Die Füße in den schwarzen Lacklederschuhen scheinen mühelos Halt auf dem nur zentimeterdicken Stahl zu finden.
Blitzschnell gleitet der Vampir von der Stange und an der Wand nach unten. Seine Hände und Füße sind kaum zu sehen, zielsicher findet er unwahrscheinlich kleine Spalten und Risse, die ein normaler Mensch nicht wahrgenommen hätte, krallt seine Finger- und Fußspitzen hinein, und in wenigen Sekunden hat er die Entfernung kopfüber überwunden.
Obwohl Lilly schon mehrere Male Gelegenheit hatte, die Fähigkeit ihres Kollegen und Freundes Herrn Pohl zu bewundern, bekommt sie doch jedes Mal eine Gänsehaut und muss an alte Christopher-Lee-Filme denken. Und in der Tat sieht der Vampir, der jetzt seine Füße von der Wand löst und elegant vom Boden aufsteht, auch ein wenig aus wie der berühmte Schauspieler - in seinen früheren Werken.
»Wir haben die Wohnung gefunden, waren aber noch nicht drin. Ich dachte mir, dass du vielleicht zuerst hinein möchtest, weil du sie erlegt hast«, sagt er und klopft sich imaginären Staub von der Schulter seines Tweedmantels. Manchmal macht es ihm Spaß, die gängigen Vorurteile gegen Vampire zu unterstützen.
Lilly nickt. »Wo ist der Wagen?«
»Er parkt vorn, gegenüber vom Tourismuszentrum. Sandrine wartet da mit Müller auf uns. Der macht sich fast in die Hose, weil er heute das Auto fahren muss. Ist eben doch ein Theoretiker, der liebe Müller«, sagt der Vampir und lächelt mild. Er lässt dabei seine beunruhigenden spitzen Zähne aufblitzen.
»Los, kommt. Wir lassen Singer und den Kleinen die Leiche wegschaffen, und das Aufräumteam ist auch schon unterwegs. Die werden nicht viel Arbeit haben. Aber die zwei anderen können dann mit ihnen zurückfahren.« Er winkt sie hinter sich her, und Kriecher und Lilly folgen dem Vampir, der beim Gehen nicht das geringste Geräusch verursacht.
Am oberen Ende der Treppe, die sie zur Oberfläche führt, klopft Herr Pohl an die Glasscheibe, die den Treppenabgang umgibt. Lilly muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass der Vampir auf das Piktogramm einer Kamera deutet.
»Ja, ich weiß, scheiß Computerzeitalter! Du sagst es immer wieder. Und ja, das Aufräumteam weiß schon Bescheid. So oft, wie die in Überwachungsfirmen einsteigen müssen, um Videobänder zu klauen …«
Lilly seufzt.
»Was meinst du, was sie noch sagen wollte?«, fragt Kriecher, während er zu Lilly aufschließt.
»Was?«, fragt sie, mit den Gedanken schon bei dem nächsten zu erledigenden Posten.
»Die Wolfen wollte dir irgendwas sagen, bevor du ihr mit einem Schlag den Schädel abgehackt hast, oder?«
Lilly zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Eigentlich will ich es auch nicht wissen. Du weißt doch, was Dr. Ofus immer sagt: Wir dürfen kein Mitleid haben, denn sie haben auch keines mit uns.«
»Na ja, was hätte die auch schon Wichtiges zu sagen gehabt. Allgemeines Betteln vermutlich, wie immer«, sagt Kriecher. »Obwohl ich es bei der nicht gedacht hätte.«
Lilly bleibt stehen, fasst ihm an die Schulter und sieht ihm ernst in die Augen.
»Was ist?«, fragt er.
»Genau deswegen hast du fünfzig Eier gegen Singer verloren, wegen deiner guten Kenntnis des Feindes.«
Sie geht weiter, ohne Kriecher anzusehen. Kriecher murmelt irgendetwas und folgt ihr und Herrn Pohl zum Wagen, in dem ihre Kollegen schon auf sie warten. Herr Pohl kann ein Lachen kaum unterdrücken. Er hat gute Ohren.
3
Handschriftliche Aufzeichnung aus der Personalakte von Lilliana [Nachname zum Schutz der Schülerin geschwärzt], eine persönliche Notiz von Prof. Dr. J. Ofus an den stellvertretenden Schulleiter Rufus Lefringhausen:
Betrifft: Aufnahme einer neuen Schülerin
Rufus,
ich kann deine Bedenken verstehen. Es ist nicht einfach, ein Kind, noch dazu ein so halsstarriges wie die junge Lilliana, in der Mitte des Schuljahres in eine Klasse zu integrieren, in der alle anderen schon Beziehungen untereinander geknüpft haben. Allerdings musst du mir auch zugestehen, hättest du nicht die Akten aus ihren vorherigen Schulen gelesen, du würdest nicht merken, dass Lilliana als schwierig gilt. Bisher hat sie weder Ärger gemacht noch den Unterricht geschwänzt. Sie erbringt konstant gute Leistungen, wie die anderen Kollegen mir berichten. Von dir selbst hat sie ebenfalls keine negative Beurteilung erhalten.
Auch ich bin besorgt über ihr Desinteresse an den anderen Mitschülern. Sie weigert sich strikt, mit anderen Jugendlichen ihr Zimmer zu teilen. Die Schülerin, die ich ihr als Mitbewohnerin zugeteilt habe, ist nach einem Tag wieder ausgezogen und verweigert ein Gespräch über die Gründe.
Trotzdem denke ich, dass eine Verbesserung in ihrem Verhalten eintreten wird. Je länger sie von ihren Eltern getrennt ist, desto offener scheint sie zu werden. In unseren Sitzungen ist sie vor allem sehr angetan von dir. Sie scheint dich sehr zu bewundern. Außerdem ist mir aufgefallen, dass sie seit kurzem viel Zeit mit dem Referenten aus Afrika verbringt, dem jungen Kimaris. Er ist zwar nicht in ihrem Alter, aber immerhin scheint sie sich ihm mitzuteilen.
Ich möchte noch einmal schriftlich festhalten, dass ihre Familie NICHT BESCHEID weiß. Auf Lillianas Wunsch soll es auch so bleiben. Außerdem ist jeder Kontakt mit ihren Eltern zu vermeiden. Lilliana würde es als schweren Vertrauensbruch betrachten, sollten wir uns mit ihnen in Verbindung setzen. Das könnte ihr sofortiges Verlassen des Internats und damit auch der Organisation nach sich ziehen. Seit dem erzwungenen Schwangerschaftsabbruch sind ihre Eltern für sie als Thema tabu, sie spricht noch nicht einmal in unseren Sitzungen darüber. Früher oder später muss sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen (ihr außergewöhnlich hoher Intelligenzquotient lässt dies unvermeidlich erscheinen), aber für den Moment ist es sicherlich besser, ihre Wünsche zu respektieren.
Herzlichst, Jarno
4
Nur zehn Autominuten entfernt von Hannovers Mitte und dem Kröpke liegt der Stadtteil Vahrenheide. Um die Jahrhundertwende herum erst als Militärübungsgelände, dann für einen Militärflughafen genutzt, wird er im Norden von der Autobahn A 2 und im Süden vom Mittellandkanal begrenzt. Nur wenige Straßen entfernt wurde in den späten 60er Jahren der Hochhauskomplex Klingenthal erbaut. Aus der Luft gesehen, erinnert er an ein riesenhaftes Ypsilon. Der lange Stamm, der die Blöcke 5 bis 5c beherbergt, zeigt gen Norden. Hell- und dunkelgraue Gebäudeteile liegen versetzt aneinander, so dass die Außenlinie an eine gezackte Felsenküste gemahnt. Regen und Schnee haben dunkle Schlieren an den verputzten Wänden hinterlassen. Betonplatten verbinden die einzelnen Eingänge miteinander und beherrschen die Umgebung. Nur wenige Grünflächen kämpfen um einen Platz zwischen den Gebäudeteilen.
Auch um diese späte Stunde drücken sich zwei Jugendliche, ein Junge mit zurückgegelten Haaren und ein etwas jüngeres Mädchen, in einem der dunklen Hauseingänge herum, als die Gruppe, angeführt von Herrn Pohl, auf Eingang 5 b zugeht. Lilly erkennt den süßlichen Geruch von Marihuana in der Luft. Als die Kinder ihren Blick bemerken, werfen sie das Hasch betont lässig in ein nahes Gebüsch und schlendern langsam in verschiedene Richtungen davon. Dadurch ist der Weg frei, und Lilly, Kriecher, Herr Pohl und Sandrine, die Französin mit dem hüftlangen Haar, können das Haus betreten. Müller hat darauf bestanden, im Auto zu warten, falls sie schnell wegmüssen, wie er zu bedenken gab. Dabei hat sein Auge nervös gezuckt.
Im Treppenhaus, in dem die Glühbirne kaputt ist, riecht es nach Urin und Erbrochenem. Graffiti verunzieren die Wände. Da der Aufzug einen klapprigen Eindruck macht, weist Lilly die Gruppe an, die Treppe zu benutzen. Im siebten Stock liegt die Wohnung, die Herr Pohl als die der toten Wolfen identifiziert hat. Lilly lässt ihre behandschuhten Finger leicht über den Handlauf gleiten, während sie dicht hinter dem Vampir die Stufen hinaufsteigt. Obwohl sie gut in Form ist, keucht sie leise, als sie vor der hellen Billighaustür ankommt. Den anderen geht es nicht viel besser, nur Herr Pohl macht einen gut gelaunten und erfrischten Eindruck. Wie immer.
»Dann wollen wir mal«, sagt Kriecher und muss ein Husten unterdrücken.
Lilly hält ihn zurück. »Warte. Ist jemand in der Wohnung, Herr Pohl?«
Der Vampir bläht seine Nasenflügel und konzentriert sich. Dann zuckt er unsicher mit den Schultern und meint: »Kann sein. Ich bin mir nicht sicher. Da ist zwar noch ein anderer Geruch, aber ganz schwach. Die persönliche Duftnote unserer unlängst verstorbenen Freundin ist, um es gelinde auszudrücken, sehr dominant.«
»Dann müssen wir vorsichtig sein, obwohl ich euch das eigentlich nicht extra sagen muss«, erwidert Lilly und fährt fort: »Ich gehe vor. Kriecher, wenn wir drinnen sind, nimmst du das nächste Zimmer links, Herr Pohl an die Decke, Sandrine, du rechts.«
Lilly zieht ein Lederetui aus einer Innentasche ihres Mantels und klappt es auf. Einige Dietriche in verschiedenen Größen liegen nebeneinander im samtenen Innenfutter. Sie überlegt einen Moment und entscheidet sich dann für einen kurzen, gebogenen Türöffner. Schnell und professionell bewältigt sie das Schloss. Einige Handgriffe nur, schon hört sie ein Klicken. Sie drückt unendlich langsam und vorsichtig die Klinke. Dann schiebt sie die Tür einen kleinen Spalt auf und gibt Sandrine ein Zeichen. Die zieht ein kleines Fläschchen mit Schmieröl hervor und ölt sorgfältig die Angeln. Anschließend betritt die ganze Gruppe leise nacheinander die Wohnung, und Sandrine zieht die Tür hinter sich zu.
Die ganze Aktion hat nicht mehr als eine Minute gedauert, und Lilly betet, dass sie weiterhin so viel Glück haben werden und keine Aufmerksamkeit erregen. Seit der endgültigen Wende sind mehrere Jahrzehnte vergangen, und obwohl einige Kreaturen ab und zu in südamerikanischen Dschungeln oder auf afrikanischen Safaris entdeckt und gejagt werden, gelten sie in der westlichen Zivilisation doch als ausgelöscht. Die Organisation hat offiziell nur noch eine wissenschaftliche Aufgabe. Die restliche Welt geht davon aus, dass Dr. Ofus und seine Mitarbeiter die Geschichte von Untoten und Nicht-Menschen erforschen, nicht mehr.
In der kleinen Wohnung schwärmt die Gruppe aus, und Lilly geht weiter geradeaus. Vor ihr liegt nur ein Zimmer, auf das sie, ohne zu zögern, zugeht. Sandrine stößt wieder zu ihr, nickt nach rechts und flüstert: »Alles sicher. War nur das Bad.«
Kriecher kommt aus dem ersten Raum auf der linken Seite rückwärts wieder heraus, dreht sich zu Lilly und schüttelt den Kopf. Von oben hört sie die leise Stimme Herrn Pohls, der sagt: »Zweiter Raum links ist das Wohnzimmer. Keiner drin, aber dort ist eine zweite Spur stärker zu erkennen. Ebenfalls weiblich.«
Bleibt nur noch das Zimmer vor ihnen. Entweder Schlafzimmer oder Küche. Lilly deutet auf den Raum, den Kriecher untersucht hat. Er versteht sofort und flüstert: »Küche.«
Also Schlafzimmer. Wenn jemand in der Wohnung ist, befindet er sich dort. Lilly zieht ihr Schwert und bemerkt aus den Augenwinkeln, dass auch die anderen vorschriftsmäßig ihre Waffen bereitmachen.
Kriecher ist genauso gut im Umgang mit dem Schwert wie sie, hat aber heute nur einen kleinen Totschläger dabei, mit dem er sich leicht in die Hand schlägt und dessen Gewicht er prüft. Sandrine holt ein kurzes, scharfes Klappmesser aus ihrem linken Stiefel, und Herr Pohl prüft mit der Zungenspitze die Schärfe eines Eckzahns.
»Angeber«, sagt Kriecher und stößt dem Vampir freundschaftlich in die Seite. Ein breites, erwartungsvolles Grinsen zieht sich über sein Gesicht. Er hat heute noch nicht gekämpft. Also gut.
Lilly holt tief Luft, reißt die Tür mit einem Ruck auf und hält sie an der Außenseite fest, damit sie nicht gegen die Wand schlägt. Sie geht ins Zimmer. Adrenalin schießt durch ihre Adern. Herr Pohl wieselt über die Decke. Sandrine und Kriecher stellen sich rechts und links der Tür auf. Nichts regt sich.
Abgestandene Luft wabert durch den Raum. Die Vorhänge sind offen, und das Licht des Vollmonds beleuchtet das Zimmer, lässt alles darin silbergrau erscheinen.
Der kleine Raum wird von einem Doppelbett beherrscht, in dem ein ganzer Berg Kissen und Decken zerknüllt liegt. Keine Bilder an den Wänden, nur zwei ausgeschaltete Nachttischlampen rechts und links vom Bett, die nicht zueinander passen. Ein ausgefranster Läufer und ein klappriger Kleiderschrank vervollständigen den Raum, in dem kaum alle Mitglieder der Gruppe Platz finden.
Lillys Blick wandert zum Schrank. Zu klein. Herr Pohl erregt ihre Aufmerksamkeit, indem er mit einer Hand hin und her winkt. Sie schaut nach oben. Er deutet mit dem Kopf auf das Bett und legt einen langen, knochigen Finger an die Lippen. Als Lilly näher tritt, kann sie eine Gestalt unter den Decken ausmachen. Verdammt! Sie hat nicht aufgepasst. Einer von ihnen könnte jetzt schon tot sein. Ein unverzeihlicher Fehler!
Mit erhobenem Schwert tritt sie auf das Bett zu, holt aus und zieht die Decken weg. Was sie sieht, veranlasst sie augenblicklich, ihr Schwert in die Scheide zurückzustecken. Sie bedeutet den anderen, es ihr gleichzutun.
»Was?«, flüstert Kriecher.
Sie winkt ihn an ihre Seite. Mit großen Augen starrt er auf das zerwühlte Laken und runzelt die Stirn. Herr Pohl lässt sich von der Decke fallen und landet auf seinen Füßen, ohne einen Ton zu verursachen. Er tritt an Lillys andere Seite, und Sandrine folgt ihm.
In einem Berg von Kissen schläft ein etwa zehnjähriges Mädchen. Sie trägt einen gelben Schlafanzug mit einer Comic-Figur darauf und hält ein Kuscheltier fest im Arm. Ihre verschwitzten, blonden Haare liegen auf dem Kopfkissen wie ein Fächer. Die Kleine wirft sich im Schlaf unruhig hin und her und zittert. Lilly deckt sie mit einer Fürsorge wieder zu, die ihre Kollegen von ihr so nicht kennen. Sie bedeutet ihnen, ihr aus dem Schlafzimmer zu folgen. Im Flur schließt sie die Tür.
»Und was jetzt?«, murmelt sie, mehr zu sich selbst, und starrt auf die Schlafzimmertür. »Ein Kind? Ist sie eine Wolfen? Vielleicht ist sie nur entführt worden und …«
»Doch«, unterbricht Herr Pohl sie. »Sie ist eine, definitiv. Ich kann es riechen. Obwohl ich bei ihr auf zum Großteil Mensch tippen würde.«
Lilly schaut ihn an, als bemerke sie ihn erst jetzt.
»Wir können ihr doch nichts antun, sie ist noch so klein«, sagt Sandrine mit ihrem französischen Akzent. Ihr ist sichtlich unwohl, und sie schlingt die Arme um den Körper. Dabei hat sie noch immer das offene Klappmesser in der Hand.
»Wolfen bleibt Wolfen«, meint Kriecher, sieht aber Lilly nicht in die Augen, als er die Worte spricht.
Lilly denkt daran, was Dr. Ofus sagen würde. Sie überschreitet hier auf alle Fälle ihre Kompetenzen, lässt sie das Kind am Leben. Die Jungen gewalttätiger Kreaturen … Wäre es mit seiner Mutter auf der Jagd gewesen, hätte Lilly keine Sekunde gezögert. Aber so? Kann sie das Mädchen am Leben lassen? Wenn ja, muss sie es mitnehmen. Allein hat das Kind keine Chance. Welche Angst muss es fühlen, wenn es aufwacht, und niemand ist da?
Junge Formwandler können nicht steuern, wann und wie ihre tierische Seite ausbricht. Wenn jemand sie zu sich nimmt, und dann verwandelt sie sich in einen Wolf, nicht auszudenken.
Das Kind ist jung. Die Chancen stehen gut, dass es sich noch nie verwandelt, noch nie gejagt hat. Das Credo der Organisation lautet, nur den zu töten, der das Abkommen der endgültigen Wende verletzt. Die Mutter dieses Kindes hat ganz klar das Gesetz gebrochen, als sie versucht hat, Lilly anzugreifen. Aber darf Lilly das Mädchen nach seinen Eltern beurteilen? Natürlich sollte sie Dr. Ofus informieren, bevor sie eine Entscheidung fällt, aber ist das nicht nur eine Formalität?
»Sandrine hat Recht«, sagt Lilly. Alle Augenpaare wenden sich ihr zu.
»Wir können ihr nichts tun, sie ist unschuldig. Aber hierlassen können wir sie auch nicht. Wir nehmen sie mit in die Villa.«
»Bist du bescheuert?«, fragt Kriecher. »Dr. Ofus flippt aus!«
»Ich leite die Aktion, und deswegen übernehme ich die volle Verantwortung. Außerdem glaube ich, dass Dr. Ofus auch so handeln würde. Aber wir haben keine Zeit, ihn zu verständigen. Wir sind schon viel zu lange hier.«
»Dein Wort in Ofus’ Ohr«, stöhnt Kriecher. Dann zieht er seinen Mantel aus, reicht ihn Lilly und sagt: »Hier. Darin kannst du sie einwickeln. Draußen ist es kalt.«
Lilly grinst. »Ich wusste, dass in deiner harten, hässlichen Schale doch ein weicher Kern steckt«, meint sie und geht allein wieder in das schäbige Schlafzimmer. Herr Pohl sieht ihr besorgt nach, sagt aber nichts.
Sanft, um das Mädchen nicht zu erschrecken, schüttelt sie es an der Schulter. Langsam taucht die Kleine aus dem Tiefschlaf auf, gähnt und fragt: »Mami?«
Lilly steigt das Blut in den Kopf. Sie hat die Mutter der Kleinen getötet. Deswegen hat sie kein schlechtes Gewissen, die Gesetze sind eindeutig, und sie hat schon mehr als eine dunkle Kreatur vernichtet. Aber sie fühlt sich dem Mädchen verpflichtet. Sie hat ihm die Mutter geraubt, und obwohl die eine Bestie war, scheint sie doch ihr Kind gut behandelt zu haben, hat es ins Bett gebracht, ihm ein Kuscheltier gegeben und …
Die letzten Worte der Wolfen schießen Lilly durch den Kopf: »Bitte nicht, meine …« Meine Tochter braucht mich? Meine Kleine soll nicht allein sein? So etwas in der Art, ja, das muss es gewesen sein. Selbst dann hätte Lilly nicht gezögert. Aber die Verantwortung liegt jetzt bei ihr.
»Deine Mami ist nicht da, Schatz«, sagt Lilly.
Sanft streicht sie dem Mädchen eine Locke aus der Stirn. Sie fragt sich, wie sie einem Kind erklären soll, dass seine Mutter tot ist.
Umgebracht von mir, denkt sie. Es gibt keinen einfachen Weg, es dem Mädchen begreiflich zu machen. Besser nicht zu viel sagen, noch nicht. Wenn das Kind älter ist, vielleicht.
»Ist sie vor den bösen Männern weggelaufen? Wegen denen wir immer umziehen müssen?«
Lilly hat keine Ahnung, von wem das Mädchen redet, aber im Moment scheint es ihr die beste Lösung zu sein, einfach nur zu nicken.
»Warum hat sie mich nicht mitgenommen?«, fragt das Kind, und in seinen Augen stehen Tränen.
Lilly sucht fieberhaft nach einer Antwort. Ihr fällt nichts Besseres ein als: »Deine Mami hat dich so lieb, dass sie gedacht hat, du wärst bei mir sicherer. Deswegen hat sie mich gebeten, mich um dich zu kümmern. Du sollst bei mir wohnen, in einem ganz tollen Haus. Da hast du
Originalausgabe 08/2010 Redaktion: Uta Dahnke
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