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Beschreibung

»Danke, dass ihr für revolutionären Nachwuchs sorgt.« Patriarchat auflösen! Kleinfamilie überwinden! Reproduktionsarbeit teilen! Care-Revolution! – Geht es um das Thema Kinder, fallen in linken Zusammenhängen häufig Schlagworte wie diese. Einige Menschen versuchen tatsächlich, diese politische Vision konkret in ihrem Alltag umzusetzen: in Freundschaften, Hausprojekten, Wohngemeinschaften oder Teilfamilien. Es gibt zahlreiche Erfahrungen mit gescheiterten, aber auch gelungenen Versuchen, mit Kindern in Gemeinschaft zu leben oder die Beziehung zu ihnen jenseits klassischer Eltern-Kind-Verhältnisse zu gestalten. Diese Erfahrungen zwischen politischem Anspruch und alltäglicher Realität kommen in diesem Buch in ihrer Vielstimmigkeit zum Ausdruck – mit dem Ziel, weiter gemeinsam für eine gesellschaftliche Utopie zu kämpfen, in der niemand allein mit Kind zurückbleibt.

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EPUB
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Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Almut Birken, Nicola Eschen (Hg.)

Links leben mit Kindern

Care Revolution zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Almut Birken, Nicola Eschen (Hg.)

Links leben mit Kindern

Care Revolution zwischen Anspruch und Wirklichkeit

1. Auflage, März 2020

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2021

ISBN 978-3-95405-085-7

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST-Verlag

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Worum geht’s?

Almut und Nicola: Wir wissen Bescheid – oder?

Almut: Care Revolution: Kapitalismus überwinden, Arsch abwischen und Banden bilden!

L.: Betreff: Gesuch für Hausprojekt

ViolA: Über Verbindlichkeit, Hedonismus und verbindlichen Hedonismus

Toni: Unter Eltern

Paul: I don’t care!

Nicola: Linke Freiheit macht Kleinfamilien!

Sich finden und verbinden

Nina: Risikofaktor Hausprojekt: Gemeinschaftliches Leben als Belastung

Fabian Schwitter: »Wir sind als Gemeinschaft chaotisch-anarchisch«

Sandra und Lucas: Babyfon an Theorie: »Hier soweit alles in Ordnung!«

Miriam: Die Mühen der Care Revolution

Kommune-Interview: »Lernen, dass die anderen doch nicht gehen«

Eltern werden – oder aus der Rolle fallen

Rosa & Luise: Co-Mütter werden

Mis Chief: Links, feministisch, queer – Mutter impossible?!

Helene Tornau: Schwangersein

Alina: Jeder Tropfen ... Herzblut.

Ana: Mehr als zwei Eltern

Juli: Manchmal Mutter

Nicola Eschen und Maria Bätzing: Mütter gegen Kinder – Welche Schuld hättest du gerne?

ViolA: Mama, Papa, Momo

Wölkchen: »Du bist aber nicht die Mutter!«

Ricarda Montag: Leben ohne Kinder mit Kindern

Franziska: Schraube, Mutter, Elternteil

Verlassen und verlassen werden

Ricarda Montag: Du mit mir, ich mit euch, ihr ohne mich

Louisa: Ein widerwilliges Lob der Kleinfamilie

Linn: Ich bin gegangen, als Kinder kamen

Sophie: »Mein ›Ja‹ zu dem Kind hätte ich niemals zurückgenommen«

Gunnar: Kinder sind kein politisches Projekt

Alltag mit Kindern

Friedrich: Der Traum von der Gemeinschaftsküche

Miriam: E-Mail aus dem Wochenbett

Ana: Machst du eigentlich noch Politik?

Oliver: »Du darfst nicht über meinen Körper bestimmen!«

Franziska: Auf dem Spielplatz

Literatur & Musik

Anmerkungen

Worum geht’s?

Wir wissen Bescheid – oder?

Wir wissen Bescheid: Patriarchat auflösen! Kleinfamilie überwinden! Reproduktionsarbeit teilen! Care Revolution! Das sind die Slogans, die gemeinhin in linken Zusammenhängen geteilt werden, und nicht wenige wagen den Versuch, dies in ihrem Alltag umzusetzen: in Freundschaften, Hausprojekten, WGs und Teilfamilien. Alles scheint allen klar zu sein. Aber: Was passiert im Detail mit uns – individuell, mit unserer WG, mit den Kindern – wenn wir unsere Überzeugungen auf reale Kinder und Erwachsene anwenden? Wer wischt dem Kind den Po ab, ohne dass die Theorie am Arsch ist?

Wenn wir alle einen Anspruch teilen, was macht es dann so schwierig, ihn umzusetzen? Es gibt zahlreiche Erfahrungen zu gescheiterten und gelingenden Versuchen, mit Kindern gemeinsam in einem linken/alternativen Zusammenhang zu leben. Wir wollen diese Erfahrungen sichtbar machen und zur Diskussion stellen. Wir haben seit Frühjahr 2017 Menschen eingeladen, ermutigt und bedrängt, für dieses Projekt Texte zu schreiben, Comics zu zeichnen, sich zu interviewen, sich interviewen zu lassen, um ihren Senf dazugeben zu können.

Der Prozess bis zum Buch

Anfänglich hatten wir eine fette Broschüre geplant, nach dem Vorbild der großartigen, dicken Broschüre »Ich tausch nicht mehr«[1], die sich mit einem ganz anderen Thema beschäftigt: nämlich den Erfahrungen damit, in Gemeinschaften Einkommen, Geld und Besitz zu teilen, als gelebte Alternative zum ganz normalen Leistungs- und Arbeitszwang im real existierenden Kapitalismus. Über deutschsprachige E-Mail-Verteiler im linken Milieu mobilisierten wir dann für unser Projekt, wir gaben Workshops (z.B. auf dem wunderbaren Move Utopia Festival, das erstmals 2017 stattfand, oder auf der radical bookfair in Leipzig, auch 2017) und wurden zu Veranstaltungen und Radiosendungen eingeladen (z.B. vom Care Revolution Netzwerk in Leipzig und vom Make Capitalism History Radio). Wann immer wir in einen Austausch zu dem Thema gingen, merkten wir: Einerseits gibt es eine Menge Erfahrungen, wunderschöne und hässliche, und andererseits gibt es einen massiven Bedarf, sich zu dem Thema auszutauschen, Worte zu finden, sich mit den eigenen Zweifeln und Wünschen zu zeigen.

Nach einem Jahr hatten wir einige tolle Beiträge zusammen. Aber zu wenige für eine dicke Broschüre. Wir entschieden uns, einen Blog zu machen. Er sollte wachsen und einen Dialog im Anschluss an die eigenen Beiträge ermöglichen. Das tat er. Wir freuten uns über jeden neuen Beitrag und eines Tages freuten wir uns besonders: Der Unrast-Verlag wollte gerne ein Buch zum Thema herausbringen – ob wir das machen wollten. Wir haben uns mit allen Autor*innen gemeinsam für das Buch entschieden. Das bedeutet, dass wir keine Schwester der geschätzten Broschüre zu nicht-kommerziellem Leben veröffentlichen und dass die Autor*innen die Rechte an ihren Beiträgen vorerst abtreten müssen. Dennoch bleiben alle Beiträge auch zukünftig auf unserem Blog, sodass dort der Dialog zu den Beiträgen weitergehen kann. Wir danken Marie vom Unrast-Verlag, die uns sehr geduldig und konstruktiv begleitet hat. Wir würden es wieder tun!

Das Thema ist unser eigenes Thema. Und zur Ironie der Geschichte gehört, dass wir Herausgeberinnen selbst mit unserem Versuch, uns enger zu verweben, krachen gegangen sind. Unsere Herausgeberinnen-Freundschaft haben wir bewahrt und sind heute stolz und von Freude erfüllt, dass dieses Buch vor uns liegt. Das ist auch den vielen Menschen zu verdanken, die mit uns (und euch) ihre privaten, intimen Erfahrungen teilen. Das Redigieren der Beiträge war jedes Mal berührend. Mal hüpften unsere Herzen vor Freude, mal stieg uns die Wut in den Hals, mal füllten sich unsere Augen mit Tränen, mal brachen wir in Gelächter aus.

Wir sind überzeugt, dass es sich lohnt, diese Versuche zu starten. Diese Ansicht teilen wir mit allen Autor*innen des Buches. Das Scheitern ist jedes Mal bitter, manchmal sind es wahre Tragödien. Uns scheint, dass dies in Zukunft oftmals verhindert werden könnte. Auf keinen Fall wollen wir die Beispiele des Scheiterns als Richtspruch über unsere Utopie(n) verstanden wissen. Es ist alles gleichzeitig wahr: Die Erfahrungen sind traurig, sie sind hoffnungsfroh, sie sind beflügelnd.

Du und das Buch

Unser Wunsch ist, dass dieses Buch euch inspiriert. Vielleicht schmökert ihr euch alleine durchs Buch, vielleicht mit eurer Partnerin, vielleicht lest ihr euch in euren WGs und Hausprojekten die Beiträge an ein paar Leseabenden vor? Unsere Hoffnung ist, dass wir so allgemeinverständlich schreiben, dass wir möglichst alle Menschen in der und um die linke Szene einigermaßen mitnehmen können und dass vielleicht sogar eure eher unpolitischen Bekannten einen Schimmer davon kriegen könnten, was das alles soll. Ob das geklappt hat, werdet ihr uns sagen.

Ihr könnt natürlich kreuz und quer lesen. Folgendes haben wir uns zum Aufbau des Buchs gedacht:

Zwar wissen wir ja alle schon Bescheid, aber wir wollen es trotzdem nochmal klären: Worum geht’s? Was verbirgt sich hinter dem Begriff ›Care Revolution‹? Welche politischen Ansprüche stecken dahinter? Wer fordert was von wem?

Danach geht’s los. Sich finden und verbinden steht am Anfang. Hier geht es um größere Gemeinschaften und den unspektakulären, aufreibenden oder mitreißenden Alltag.

Der Verbindung zu Kindern widmet sich der nächste Abschnitt Eltern werden – oder aus der Rolle fallen. Hier geht es um Eltern, das Muttersein und um diejenigen, die der Gesetzgeber nicht kennt und für die verschiedene Namen kursieren: soziale Eltern, Beutefamilien, Co-Eltern, Pat*innen. Unklar sind auch die Vorstellungen davon, wie man diese Rollen ausgestaltet. Es lauern die Fettnäpfchen der Care Revolution am Straßenrand.

Nun sind starke Nerven gefragt. Die Texte im Abschnitt Verlassen und verlassen werden offenbaren ein Risiko, das grundsätzlich alle betrifft, die es wagen, sich zu Care-Gemeinschaften zusammenzuschließen. Wer die Hoffnung auf einen Zusammenschluss oder eine Elternschaft erlebt hat, empfindet das Übrigbleiben nach einer Trennung doppelt schmerzhaft. Oft ist es ein freier Fall, der durch keine gesetzlichen Sicherheiten abgefedert wird.

Ein linkes Leben mit Kindern ist vor allem Alltag. Und dieser Alltag hat es in sich. Kinder stoßen uns wieder neu auf die Widersprüche in dieser Gesellschaft. Und sie stoßen uns auch auf unsere eigene Kindheit und unser Erwachsenwerden in einer kapitalistischen, patriarchalen, autoritären und kinderfeindlichen Gesellschaft. Wir stoßen hier wieder auf die getrennten Welten von Kindern und Erwachsenen. Das Wochenbett ist fast ein anderer Planet. Was erleben wir als Linke und als linke Gemeinschaften, wenn wir unseren Alltag mit Kindern gestalten, nach der Geburt, in der Gemeinschaftsküche, beim Shoppen?

Das Buch lebt von den gegensätzlichen Standpunkten, die eingenommen werden. So unterschiedlich die Standpunkte sind, so divers sind auch die Stile der Autor*innen. Es schreiben Menschen ohne Kinder mit den verschiedensten Bezügen zu Kindern. Es schreiben Eltern, darunter soziale Eltern, Alleinerziehende, Pärchen, Mehreltern-Familien. Sie sind hetero, lesbisch oder queer. Sie sind cis und trans. Es hat ein bisschen gedauert, bis wir Männer motiviert hatten, von ihren persönlichen Erfahrungen zu berichten. Keine Stimme in unserem Buch und Blog haben Kinder, Jugendliche und Alte. Diskriminierung spielt in den Berichten der Autor*innen keine Rolle und der akademische Überhang ist offensichtlich.

Unser Blog existiert weiter, und vielleicht sogar als Vorbereitung für eine Fortsetzung. Noch während der letzten Wochen vor der Vollendung des Buchs hätten ein paar Autor*innen ihre Texte am liebsten schon den neueren Entwicklungen angepasst. Auch wenn sich bei ihnen vieles verändern wird, bleiben die Erfahrungen jedoch wahr. Wir fragen uns auch: Was denkt ihr, wenn ihr die Berichte lest? Was habt ihr zu erzählen? Welche Perspektive fehlt bisher völlig? Bitte fühlt euch alle wichtig genug, eure Erfahrungen zu teilen, eure Freude, euren Schmerz, eure Wut und eure Ängste. Schreibt etwas Eigenes oder teilt, was die Texte in euch auslösen. Denn wir sind uns bewusst, dass viele vor uns und gleichzeitig mit uns an diesem großen Thema – nämlich Fürsorge und Gemeinschaft jenseits von Klein- und Herkunftsfamilie – rumbasteln. Zum Glück! Welche Texte und Musik uns besonders inspiriert haben, findet ihr in der Liste am Ende des Buches. Auch diese Liste soll wachsen.

Nun viel Spaß beim Lesen!

Almut & Nicola

Care Revolution: Kapitalismus überwinden, Arsch abwischen und Banden bilden!

von Almut

Care ist englisch und heißt auf Deutsch Sorge. ›Sorge-Revolution‹ klingt nicht besonders heroisch, es klingt eher nach Socke oder nach Socken waschen. Trotzdem: Der Begriff ›Care Revolution‹ erhält zu Recht in der deutschen feministischen Debatte immer mehr Aufmerksamkeit. Vielleicht etabliert er sich inzwischen im Milieu der (radikalen) Linken, die in diesem Buch im Fokus steht, sogar als weithin geteilter politischer Grundkonsens. Care Revolution ist ein prominenter Slogan, er steht auf Transpis der Demos am 8. März, dem jährlichen Frauenkampftag. Care Revolution: Na klar! Aber wie sieht das denn jetzt genau aus, was bedeutet das heruntergebrochen auf den Alltag? Was steckt dahinter?

1968 z.B. war von Care Revolution noch nicht die Rede, sondern der Themenkomplex ›Wer kümmert sich um wen und warum?‹ fiel unter den Begriff ›Reproduktionsarbeit‹. Der Begriff kommt aus der Marx’schen Gesellschaftsanalyse, die er in seinem Buch Das Kapital geleistet hat. Diese ergab, dass sich die kapitalistische Wirtschaftsweise vor allem für die Produktion von Waren interessiert.[2] Und in der bunten Warenwelt gibt es eine Ware, die vor den anderen heraussticht: Das ist die Ware Arbeitskraft. Für deren Produktion interessiert sich der Kapitalismus allerdings eher weniger, er setzt einfach voraus, dass es die Arbeitskraft gibt. Als Begriff für die Produktion dieser Ware führte Marx das Wort ›Reproduktion‹ ein: Der Arbeiter muss seine Arbeitskraft ›reproduzieren‹.

Marxistische Feminist*innen der 68er-Bewegung haben sich aus gutem Grund genauer damit befasst, was sich hinter der besonderen Ware Arbeitskraft verbirgt: Wie bei Tomaten und Straßenlaternen ist es auch bei der Arbeitskraft so, dass sie nur hergestellt oder erhalten werden kann, weil jemand Arbeit in diese Ware gesteckt hat. Anders als bei Tomaten oder Straßenlaternen ist es jedoch so, dass die Ware Arbeitskraft unentgeltlich hergestellt wird, meist zu Hause, indem Frauen den Haushalt schmeißen, müde Füße massieren, den seelischen Müllabladeplatz bereitstellen und vor allem Kinder gebären und Alte pflegen. Reproduktion von Arbeitskraft heißt zum einen, dass die Ware Arbeitskraft für jeden folgenden Tag reproduziert wird. Arbeitsfähige Menschen, die gegessen und geschlafen haben und sich konzentrieren können, treten ihre Arbeit am nächsten Morgen wieder an. Zum anderen heißt Reproduktion, dass zukünftige Arbeitskräfte ›hergestellt‹ werden, was bedeutet, dass sie geboren und großgezogen werden. Der Kapitalismus spaltet diese reproduktiven Tätigkeiten vom für ihn relevanten Teil (nämlich der Produktion) ab, so als seien diese reproduktiven Tätigkeiten völlig irrelevant für das System. Deshalb ist diese Arbeit nicht entlohnt. Auch Marx war jedoch schon klar: ohne Reproduktion keine Produktion. Wer nicht gefüttert und einigermaßen beisammen ist, kann auf Dauer keine Autos oder Dampfloks produzieren. Feminist*innen sagten nun selbstbewusst: All das Arschabwischen wird vielleicht nicht bezahlt, aber es ist Arbeit, Reproduktionsarbeit eben.[3]

1968: Die Kleinfamilie zerschlagen

Der Feminismus nahm in der 68er-Bewegung wieder Fahrt auf, und er stand im Zentrum der Bewegung.[4] Die damalige feministische Debatte startete mit zwei wesentlichen Forderungen: Erstens forderten Frauen Selbstbestimmung in jeglicher, vor allem in sexueller Hinsicht. Da, zweitens, die Reproduktionsarbeit, ohne die in der Gesellschaft gar nichts läuft, auf Kosten von Frauen und zum Privileg von Männern organisiert war, sollte sie radikal anders organisiert werden. Und wo findet Reproarbeit hauptsächlich statt? Genau, in der Familie. Diese Familie ist im Deutschland der Nachkriegszeit die bürgerliche Kleinfamilie, in der Regel: Vater, Mutter, Kinder.

Die 68er*innen erfanden die WG als Gegenentwurf zur Kleinfamilie. Einige davon waren Kommunen, wie die berühmten Kommune 1 und Kommune 2 in West-Berlin. Neben diesen männerdominierten WGs gab es aber auch zahlreiche Frauen- und Lesben-WGs. Die meisten WGs waren studentisch geprägt und urban. Wohngemeinschaften sind heute im studentischen Milieu etwas ganz Normales, aber damals, zur Zeit des Kuppel-Paragrafen, war das etwas Spektakuläres, bis dahin undenkbar: nicht in der Herkunftsfamilie oder der neu gegründeten ›normalen‹ Familie zu leben, sondern mit scheinbar ›Wildfremden‹. Die Motivation, der Kleinfamilie den Rücken zu kehren, wurde von dem Drang befeuert, mit einer Elterngeneration zu brechen, in der die überwältigende Mehrheit ihre Nazivergangenheit nur zu gerne unter den Teppich kehren wollte. Das stützte die wachsende Erkenntnis, der zufolge die Kleinfamilie ein Hort von patriarchaler Macht war, in dem Mutti Ärsche abwischte und Vati das Geld ranschaffte. Die Kleinfamilie war die unmittelbare Institutionalisierung von männlicher Vorherrschaft, vom Vater an den Ehemann weitergereicht: Ohne Zustimmung ihrer Männer durften Frauen weder ein Bankkonto eröffnen, noch selbst bestimmen, wann sie Sex haben wollten. Es war gängig und galt als Erziehungsmittel, Kinder zu schlagen. Dabei reichten Erwachsene ihre Gewaltgeschichte – nicht nur aus der Nazizeit, sondern aus vielen vergangenen Generationen – direkt weiter. »Unter den ›68ern‹ galt Familie als Auslaufmodell, kontaminiert mit dem braunen Gift der Nazis (…). Familienkritik wurde zu einem der wichtigsten Programmpunkte der westdeutschen Neuen Frauenbewegungen. Sie entlarvten die bürgerliche Kleinfamilie als ein Repressionsinstrument, das möglichst schnell durch neue Formen des Zusammenlebens ersetzt werden sollte« (Notz 2016, S. 101).[5] Einige Autor*innen waren sich Anfang der 70er-Jahre recht sicher, dass sich die Kleinfamilie glücklicherweise bald erledigt haben würde.

Aber: Die Theorie wischt der Praxis nicht den Arsch ab

Da es feministischen Frauen nun im Wesentlichen nicht darum ging, mehr Schulterklopfen für die Reproduktionsarbeit zu bekommen, sondern die Gesellschaft in dieser Hinsicht umzustülpen, wurde ihre Kritik für linke Genossen unbequem. Obwohl die meisten linken Männer der feministischen Kritik in der Theorie nicht nur zustimmten, sondern sie ja auch mit ausformulierten, stand die dazu passende Praxis auf einem anderen Blatt. Ziemlich schnell wurde klar: Die Theorie wischt der Praxis nicht den Arsch ab.[6]

Frauen standen mit der Reproarbeit im Alltag alleine da, ohne ihre feministischen Genossen. Die sexuelle Befreiung dagegen wurde von linken Männern auch praktisch vorangetrieben. Allerdings deuteten Männer ›Befreiung‹ regelmäßig in sexuelle Verfügbarkeit um. Auch sonst wuchsen die Ansprüche, die an linke Frauen gestellt wurden, die sich von der Heimchen-am-Herd-Rolle befreien wollten:[7] »Sie sollten lohnabhängig und politisch aktiv leben, weiterhin alleine die Reproduktionsarbeit übernehmen, zugleich aber sexuell ›emanzipiert‹ bzw. verfügbar sein.« (Adamczak 2017, S. 196). Deshalb gab es nicht nur Kritik an der bösen Gesellschaft außerhalb der linken Bewegung, sondern eben auch innerhalb – an den eigenen Genoss*innen in den politischen Gruppen und WGs.

Deshalb: Das Private ist politisch!

Feminist*innen besaßen also die Klugheit, nicht nur die Gesellschaft samt Kleinfamilie zu hinterfragen und zu kritisieren, sondern auch das Gefüge in der linkspolitischen Bewegung. Es schien an der Zeit, das Verständnis davon, was eigentlich ›Politik‹ ist, radikal zu hinterfragen. Daraus wurde die zentrale Losung geboren: »Das Private ist politisch.« Politik sei eben nicht nur als Hobby in der Freizeit zu betreiben. Politik finde nicht nur in der Politgruppe, dem Theoriezirkel oder auf einer Demo statt, sondern auch im eigenen Leben und im Alltag. Und überzeugt werden müssen nicht nur andere Leute, wie z.B. ›die Arbeiter‹, sondern alle, an sich selbst zu arbeiten. Das war ein Paradigmenwechsel. »Mit dem Postulat, dass das Private (auch) politisch ist, wurde ein anderes Verständnis des Politischen eingeklagt (…). Die Klarstellung, ›dass diese Privatsache keine Privatsache ist‹ (Ulrike Meinhof 1968), richtete sich gegen ein bloßes Hinzuaddieren des ›Privaten‹ zum ›Öffentlichen‹, das sich weiterhin an patriarchalen Normen orientierte« (Notz 2016, S. 103). Mit anderen Worten: Es sollte nicht länger Privatsache sein, wenn Männer auf dem Plenum Marx diskutierten, während ihre Partnerinnen den Haushalt machten, Kinder betreuten oder Schnittchen schmierten. Diese Aufgabenteilung ging nicht mehr durch als ›private Entscheidung‹ der Paare oder Frauen, sondern sie wurde als politischer Tatbestand entlarvt, der zu kritisieren war, da er Ausdruck von strukturellen männlichen Privilegien und der gesellschaftlichen Herabsetzung von Frauen war. Es ging somit darum, alles, was vormals als unhinterfragte Normalität oder als private Entscheidung galt – wer macht sauber, wer betreut die Kinder, wer geht Geld verdienen usw. –, zur Diskussion zu stellen.

Diese Erkenntnis musste Konsequenzen für das Zusammenleben in Familien und in den neuen linken Lebenszusammenhängen haben, gerade auch in jenen mit Kindern. Es war die Ankündigung einer Art von Revolution, die nicht nur die kapitalistische Vergesellschaftung umstülpen wollte, sondern die patriarchale gleich mit – eine tiefgreifende Umwälzung des Alltagslebens eben anstelle der Gründung einer neuen Partei und des Gewinnens einer Wahl.

Rückblick: 1917

Die 68er*innen waren nicht die ersten Spinner*innen, die es ganz anders machen wollten. Der erste groß angelegte Versuch zur Abschaffung patriarchaler Geschlechterrollen in der Moderne wurde im Laufe der Russischen Revolution (1917 und folgende Jahre) gewagt. Die Losung war nicht: Das Private ist politisch! Sondern: Wir schaffen das Private ab! Die reproduktiven Tätigkeiten galten als rückständig, als lästig, als abzuschaffen eben.

Lenin, den ich nur ungern zitiere, hat sehr einprägsam ausgedrückt, wie sich viele damals die Frauenemanzipation vorstellten: Der Plan war, die Frau »in die gesellschaftliche Produktionsarbeit einzubeziehen, sie aus dem Haussklaventum herauszureißen, sie aus der niederdrückenden und aufgezwungenen Unterordnung unter die ewige und ausschließliche Welt der Küche und des Kinderzimmers zu befreien« (Lenin 1919, zitiert nach Reuschling 2010, S. 2). Das Private sollte also im Öffentlichen aufgehen. Ungefähr so: Die ganze Haushaltsarbeit wird außer Haus kollektiviert, die Unterhosen werden zentral gewaschen, Essen wird für alle gekocht und gemeinsam verzehrt. Neuen Wohnformen wird in der avantgardistischen Architektur der Weg bereitet.[8] Die Aufgaben, die vorher Frauen zugeschoben worden waren, sollten nun kollektiv erledigt werden. Die bürgerliche Familie, so bereits der damalige Optimismus, war ohnehin im Zerfall und die Revolutionäre waren bereit, ihr nun den Rest zu geben (vgl. Reuschling 2010).

Was bedeutete das für Kinder – wer sollte sich in dieser Welt um wen kümmern und warum? Die Unterhosen können problemlos zentral gewaschen werden, aber mit Kindern ist das schon komplizierter. Ein Programm, das für die damaligen Marxist*innen nahelag, lautete: Kinderheime aufbauen, in denen Kinder jenseits der Herkunftsfamilie betreut und aufgezogen werden.[9] Ein beeindruckendes Beispiel ist das Moskauer Kinderheim-Laboratorium unter der Leitung der Psychoanalytikerin Vera Schmidt in den 1920er-Jahren. So gruselig der Name klingt, so unerhört vielen die Idee erscheinen mag, Kinder nur an Wochenenden mit den Eltern zusammenzubringen, so verblüffend freiheitlich und liebevoll war Schmidts Ansatz: keine Strafen, kein Beschämen, freizügiger Umgang mit kindlicher Sexualität, individuelle Zuwendung, Aushandeln von Besitzverhältnissen und Konflikten (vgl. Schmidt 1924). Diese Idee wurde später auch in den israelischen Kibbuzim umgesetzt, wo es oft zentrale Kinderhäuser gab, in denen die Kinder von klein auf die meiste Zeit des Tages und der Nacht ohne die leiblichen Eltern verbrachten (vgl. z.B. Gil in von Gizycki & Habicht 1981).

1969 zogen die ungarischen Marxist*innen Agnes Heller und Mihaly Vajda das Fazit, dass die Absonderung der Kinder aus ihren Herkunftsfamilien »in Form von Kinderbetreuungszentren, die vom Staat oder von der Gesellschaft als Grundzellen der Heranbildung neuer Generationen organisiert würden«, eher »im Gegensatz zu den Wertannahmen des Kommunismus« stehe, weil es »die innerlichen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als organischem Teil der umfassenden menschlichen Beziehungen aus dem Leben entfernen« würde (1969, S. 196). Und trotzdem ist es bedauerlich, dass diejenigen Versuche, die es mit den besten Absichten anders machen wollten, keinen Raum hatten, sich weiterzuentwickeln, sodass die Kleinfamilie selbst in ihrer heutigen Zombiehaftigkeit noch behaupten kann, es gebe keine Alternative.

Zurück zu 1968: Das Alltagsleben mit Kindern revolutionieren

Anders als für die Genoss*innen der Russischen Revolution war es unter 68er*innen nicht üblich, Kinder aus ihren elterlichen Wohnstrukturen herauszunehmen. Stattdessen entschieden sich die Ambitionierteren dafür, mit Kindern und mehreren erwachsenen Menschen gemeinsam in große, billige Altbauwohnungen zu ziehen.

Parallel zum feministischen Denken und Handeln eignete man sich weiteres theoretisches Rüstzeug an, das den neuen Politikbegriff und die neuen (Alltags-)Utopien nährte. Erstens die neu entdeckten philosophischen Schriften von Marx, die weniger arbeiterkampfbewegt waren, als vielmehr auf die wirklich tiefgreifende Befreiung und Emanzipation des menschlichen Individuums abzielten – nicht individualistisch, sondern eben in Verbindung miteinander:[10] »Erst in der Gemeinschaft [mit Andern hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich. (…) In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit« (MEW 3, S. 74).[11] Herbert Marcuse z.B., der als eine Art sympathischer Onkel der 68er-Bewegung vom Boys Club der Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer herausstach, wurde nicht müde, diese radikal humanistische Seite von Marx immer wieder starkzumachen.[12]

Zweitens wurden die Schriften der Psychoanalyse seit Freud und ihre Interpretation durch Wilhelm Reich weithin gelesen.[13] Das befreiende politische Potenzial der Psychoanalyse lag für diese 68er*innen darin, nicht mehr nur die Umgestaltung der Gesellschaft (vermeintlich außerhalb des Individuums) und der Familie anzugehen, sondern am Individuum selbst anzusetzen, den Weg der Befreiung mit sich selbst und im Hier und Jetzt zu beginnen. Revolution lief somit auch auf eine Revolutionierung der Persönlichkeiten und dadurch der Beziehungen hinaus. Auch die frühkindliche Sexualität wurde enttabuisiert. Die Erziehung von Kindern in einer typischen Familie der Zeit taugte dazu, Menschen von Kindesbeinen an und nachhaltig in Verklemmung hineinzuerziehen – Masturbation war ebenso verpönt wie das kindliche Erkunden anderer kindlicher Körper, während die Reinlichkeitserziehung einen hohen Stellenwert hatte.

Mit der Befreiung des Individuums bezog sich die radikale Kritik der Kleinfamilie nun nicht nur auf die Abhängigkeit der Frauen von Männern in jeglicher Hinsicht, sondern auch auf die Unterdrückung von Kindern. Zahlreiche Bücher zum Thema anti-autoritäre, sozialistische, proletarische Kindererziehung erschienen. Zentral war hierfür eine weitere Einsicht, der zufolge nämlich Menschen von Kindesbeinen an der bürgerlichen Etikette entsprechend dressiert werden und jeglichen Komplexen und Neurosen ihrer Eltern schlichtweg hilflos ausgeliefert sind.[14] Mit der noch sehr frischen Erfahrung des Faschismus im Nacken entwickelte sich in der Kritischen Theorie und in der linken Bewegung das Argument, dass der Faschismus kein Ausrutscher aus der bürgerlichen Aufklärung war, sondern sich ganz grundsätzlich auch aus den autoritären Charakterstrukturen erklären ließ, die in der bürgerlichen Familie ausgebrütet und kultiviert worden waren: »In der Familie werden die Züge der menschlichen Persönlichkeit geschaffen, die die Menschen anpaßbar an die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse insgesamt machen und die ihnen diese Verhältnisse als ›natürliche‹ erscheinen lassen« (Heller & Vajda 1969, S. 199).[15] Somit brauchte es eine umfassende, radikale Abkehr von den Erziehungsmethoden der Eltern- und Großelterngeneration und der Konstellation der »zeitgenössische(n) Familie«, die »nicht dazu geeignet [ist], das Kind zu lehren, wie man in einer Gemeinschaft lebt und handelt«, weil »die bürgerliche Familie autoritär (ist): sie ist keine Gemeinschaft« (Heller & Vajda 1969, S. 201).

Kollektive Erziehung in WGs und Kommunen sollte vor der Unterdrückung in der Kleinfamilie schützen. Und so einleuchtend das theoretisch für viele gewesen sein mag, so wahr war auch, dass in der Praxis nicht alle Kinder immer eine gute Zeit in den WGs und Kommunen hatten. Manchmal wurden sie in einen Betreuungsplan wechselnder Bezugspersonen eingetaktet, der ihren Vorlieben für bestimmte Menschen gar nicht entsprach. Sie mussten sich von wechselnden Erwachsenen ins Bett bringen und betreuen lassen und mussten mit einer hohen Fluktuation von Mitbewohner*innen oder eigenen Umzügen fertigwerden (vgl. Binger 2018, S. 94 ff.). Man könnte entschuldigend sagen, dass die Beteiligten keine Rollenvorbilder hatten außer den von ihren Eltern vorgelebten, die sie ja um jeden Preis überwinden wollten – »aber wer erzieht die Erzieher«, hatte bereits Marx 1845 gefragt – und viele 68er*innen stellten diese Frage nun ganz unmittelbar. Auch hier ist es bedauerlich, dass die Tendenz zur Kommune sich nicht festigen konnte: Was in der Masse über die Jahrzehnte erhalten blieb, waren die Studi-WGs. Naja, immerhin.

Neben den Versuchen des gemeinschaftlichen Wohnens gab es weitere Ideen zum linken Leben mit Kindern. In einigen Ideen scheint das Erbe der Russischen Revolution und der Prägung durch die Arbeiterbewegung wider: Da gab es den Gedanken, dass Kinder ja (zukünftiges) revolutionäres Subjekt sind. Also einerseits schon auch so etwas wie die potenziellen ›neuen Menschen‹, aber andererseits eben auch selbst Opfer und damit zu organisierende Menschen für die Arbeiterbewegung. Deshalb knüpften manche 68er*innen an die Idee der Arbeiterbewegung des frühen 20. Jahrhunderts an, dass es sinnvoll sein könnte, auch schon Kinder, vor allem Arbeiterkinder, kommunistisch zu organisieren (z.B. Raspe 1972). Andere fokussierten sich auf die eigenen Kinder und die des eigenen Umfelds und taten sich in Kinderläden zusammen. Diese Kinderläden waren nicht nur dazu gedacht, eine anti-autoritäre Kita-Umgebung für Kinder zu schaffen, sondern sollten auch den notwendigen Raum für die Erwachsenen schaffen, über sich, das eigene Kind sowie die anderen Kinder zu reflektieren. Eltern, die neue Wege suchten, taten sich hier zusammen und boten der sogenannten Schwarzen Pädagogik die Stirn – so gut sie, die sie selbst durch autoritäre Sozialisation geprägt waren, eben konnten.

Kinder waren also einerseits zukünftiges revolutionäres Subjekt, deshalb brauchten sie eine Erziehung, die sie nicht nur über die Gesellschaft aufklärte, sondern ihnen auch die Möglichkeit eröffnete, für individuelle Befreiung zu kämpfen. Ein unangepasstes Kind, das aus eigener Lust heraus auf bürgerliche Etikette (saubere Kleidung) pfiff, laut »Scheiße« rief und auch mal auf die Bullen schimpfte, konnte (vorläufig) als voller Erziehungserfolg gewertet werden.

Care Revolution 2020: Die Logik der Verwertung gegen die Logik der Beziehungsweisen

Auch im Care Revolution-Feminismus gibt es die zwei Seiten: Kritik des Kapitalismus und der Kleinfamilie. Die Versuche von heutigen WGs, Hausprojekten und alternativen Familienkonstellationen sind Teil der größeren Anstrengung, ein Familienmodell überflüssig zu machen, das Frauen und Männer auf die immer gleichen Rollen festschreibt. Aus dem Erbe des Feminismus der 68er*innen und ihrer marxistischen Vorläufer*innen lebt die Erkenntnis fort, dass der Kapitalismus notwendig auf unbezahlte Sorgearbeit (Care) angewiesen ist. Im Hinblick auf Kinder hat sich parallel dazu in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis breitgemacht, dass Kinder nicht nur in der Familie, sondern strukturell in der ganzen Gesellschaft diskriminierenden Zumutungen ausgesetzt sind. Es spricht viel dafür, diese beiden Linien – kapitalismuskritischer Feminismus und Adultismuskritik – miteinander zu verknüpfen.

Nun ist es im Kapitalismus seit 1968 sehr wohl gelungen, allerlei Versorgungstätigkeiten aus der Familie auszukoppeln und warenförmig zu organisieren: Kinderbetreuung als Arbeit von Erzieher*innen, Liebe als Arbeit von Prostituierten, die Versorgung von Älteren als Pflegearbeit usw. Vielleicht werden wir auch irgendwann unsere Organe verkaufen dürfen. Und die Eizellen. Und die Kinder auch (›Leihmutterschaft‹). Mit dem Begriff der Care Revolution kann man einerseits sehr bescheiden und systemimmanent dafür kämpfen, dass Sorgearbeit aufgewertet, also besser bezahlt wird, weil sie eben unverzichtbare Tätigkeiten für die Gesellschaft leistet: Die Kinderbetreuung ist ja nicht weniger wichtig als der Straßenbau. Reproduktionsarbeit oder Sorgearbeit ›aufzuwerten‹ ist sicherlich legitim (natürlich verdienen Pädagog*innen ein höheres Gehalt!), aber mit einer Aufwertung bleibt die wesentliche Logik kapitalistischer Vergesellschaftung mit ihrer Trennung von ›Produktion‹ und ›Reproduktion‹ eben bestehen. Deshalb muss es gleichzeitig immer auch darum gehen, möglichst viele Bereiche der Verwertungslogik zu entziehen, anstatt nur für eine Aufwertung zu kämpfen.[16]

Nicht nur wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Menge Sorgearbeit in Lohnarbeit umgewandelt, sondern auch ein bestimmtes Verständnis von Freiheit und Individualität etabliert, das sehr gut dazu passt. Hatten die 1968er-Bewegung und folgende tatsächlich eine relative Befreiung des Individuums erkämpft, so wurden die Werte von Freiheit und Individualität in den Drang zu unbedingter (vermeintlicher) Selbstverwirklichung und zum Konsum kanalisiert. Und das wirkt bis in die linke Subjektivität, bis in unser Verständnis davon, wer wir sind und mit wem wir sein wollen. Familie kommt dabei – zumindest theoretisch – nicht gut weg. Verständlicherweise wehre ich mich als linker Mensch gegen die Anforderungen, die ich als falsch empfinde: Leistungszwang, Arbeitszwang, Funktionierensollen, Geschlechterklischees, Vorgaben zur Lebensführung: Familie gründen oder halt kinderlos und ganz unabhängig bleiben. Entweder Familie oder Alleinsein. Leider liegen Alternativen dazu nicht auf der Hand, die sowohl das Individuum-Sein ermöglichen als auch das Verbunden-Sein. Das ist eine der wesentlichen Aufgaben, vor der wir stehen, wenn wir eine andere Gesellschaft konstruieren wollen, wenn wir Kapitalismus und patriarchale Kleinfamilie überwinden wollen: »Durch welche Beziehungen wollen wir existieren?«, ist die programmatische Frage (Adamczak 2017, S. 221).

Dafür braucht es dann das andere, das systemsprengende Verständnis vom Begriff der Care Revolution: als Programm, mit dem man die gesamte Gesellschaft umkrempelt. Anstatt die Logik der Verwertung auf die Pflege von Menschen auszuweiten, wird genau andersherum die Logik der menschlichen Zuwendung als Prinzip auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt. An die Stelle kalter Rationalität tritt eine zwischenmenschliche Vernunft, an die Stelle von Verwertung tritt die Sorge um sich, um andere, um den Planeten und das gute Leben. Nicht mehr ein Leben für die Arbeit, sondern gemeinsames Tätigsein zum Wohle aller. Nicht mehr maximale Effizienz, sondern allseitige Fürsorge und gemeinsame Bewältigung der gesellschaftlich notwendigen Aufgaben.

Es geht somit in der kommenden Revolution nicht nur um eine Transformation der Produktionsweise – gemeinschaftlich produzieren statt Privateigentum und Konkurrenz –, sondern genauso auch um eine Transformation der Beziehungsweisen (vgl. Adamczak 2017, S. 239). Die Menschen treten sich in einer besseren Zeit nicht mehr als Chefs und Angestellte gegenüber, nicht mehr als Produzentin und Verkäuferin und Konsumentin, sie begegnen sich nicht mehr als Charaktermasken, sondern als Menschen. Als Menschen, die miteinander tätig sind, in Beziehung zueinander stehen und bewusst diese Gesellschaft gestalten. An die Stelle von Individualismus tritt authentische Gemeinschaftlichkeit, die ein Individuum ohne die Drohung des Alleinseins überhaupt erst ermöglicht, und zwar gerade auch über die Phase der Jugendlichkeit und des jungen Erwachsenenalters hinaus. Das Pochen auf Individualismus, auf meiner Freiheit, alles für mich allein zu entscheiden, autonom zu sein, mich selbst zu verwirklichen, blockiert eine verbindliche, solidarische Verknüpfung von Menschen. Diesen Paradigmenwechsel brauchen wir im linken Milieu mindestens so dringend wie in der Mainstream-Gesellschaft. Der Sozialist Hendrik Wallat schreibt: »Das Ziel der Befreiung und ihr Ausgangspunkt können nur Individuen sein, die sich selbst zu befreien entschließen« – und die anarchistische Kommunistin Adamczak hält dagegen: »Warum sollten Ziel und Ausgangspunkt von Befreiung nicht Kommunen, WGs, romantische Dreierbeziehungen, Nachbarschaftstreffen, Betriebsräte sein?« (Adamczak 2017, S. 232). Es ist einer der schönsten Gedanken von Marx, dass »der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt« (Die deutsche Ideologie MEW 3, S. 37).

1917 – 1968 – 2020

Care Revolution bedeutet also, dass die Art und Weise, wie gesorgt wird und welchen Stellenwert die Sorgetätigkeit hat, umgewälzt wird. Zweitens verweist der Begriff darauf, dass die kommende Revolution eine sein muss, die Care zum zentralen Prinzip der Umwälzung erhebt. Die Logik der Fabrik wird abgelöst von der Logik der Beziehungsweisen. Insofern zielt das Konzept nicht darauf ab, ein Programm für Frauen zu sein oder der feministische Anteil an einer Revolution, sondern es erhebt den Anspruch, das Programm der Revolution selbst zu sein. Anders als 1917 drückt Care Revolution aus, dass reproduktive keine niederen Tätigkeiten sind, die abzuschaffen wären. Denn 1917 wurde die Trennung von Produktion/Reproduktion noch für bare Münze genommen und damit auch die kapitalistische Ideologie, der zufolge produktive Arbeit der Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaft sein sollte. 1968 wurde die gerechte Verteilung von Reproarbeit erfunden. 2020 könnten wir erkennen, dass die Trennung von Produktion/Reproduktion hinfällig ist, wenn man und weil man die gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten gemeinschaftlich, bewusst und im Sinne eines guten Lebens für alle Menschen bewältigt.

Was die Debatte um die Care Revolution noch viel zu wenig auf dem Schirm hat, ist aber die Frage, die 1917 angerissen wurde und 1968 viel Raum einnahm: Was tun mit der Kleinfamilie und den Kindern? Vielleicht ist die Debatte – z.B. die akademische Debatte, zu der auch Vordenkerin Gabriele Winker gehört – in dieser Hinsicht so zurückhaltend, weil die Angst besteht, dass real existierende Familien sich auf den Schlips getreten, nicht wertgeschätzt fühlen?[17] Vielleicht auch, weil es architektonisch kaum machbar erscheint, etwas anderes als möglichst kinderfreundliche Erziehung in der Dreizimmerwohnung zu praktizieren? Obwohl es in den letzten Jahrzehnten viele gute Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen gab – die Kämpfe lohnen sich ja! – bleiben die Probleme, die das Kleinfamilienmodell den Menschen bereitet, aktuell. Ein Problem etwa, das sich mit ihren tatsächlichen Zerfallserscheinungen (steigende Scheidungsraten etwa) nicht mildert, sondern verschärft, ist die Einsamkeit. Trotz viel guter gesellschaftlicher Veränderung in den Geschlechterverhältnissen bleibt wahr: »Die Kernfamilie mindert die Möglichkeit zu intensiven, vielseitigen Beziehungen (in Gesellschaften, in denen fast ohne Ausnahme menschliche Bindungen außerhalb der Familie lediglich funktional sind). Dieses Problem ist desto ernster im Fall der alten Menschen, die allein gelassen werden« und »ergibt sich bei Geschiedenen, besonders Frauen, die Kinder aufziehen müssen« (Heller & Vajda 1969, S. 197).

Hausprojekte und Groß-WGs, Dorfkommunen und wohnungsübergreifende Care Communitys sind diejenigen, die den Faden der Familienkritik und die Utopie des anderen, freieren Lebens mit Kindern von 1917, 1968 und sonstigen Spinner*innen weiterspinnen. Das Leben in Gemeinschaft, gerade auch mit Kindern, ist die praktische Umsetzung der Care Revolution im Alltag. Das Verdienst dieser Projekte ist es, die Möglichkeit eines alternativen Lebens sichtbar zu machen. Das Versprechen ist groß: Das Leben in Gemeinschaft ist schön. Es verspricht Zeitersparnis: viele Hände, schnelles Ende. Und Annehmlichkeiten: nicht nur die eigene Suppe essen. Und Unterstützung: nicht nur die eigene Suppe auslöffeln müssen. Vor allem aber verspricht es ein besseres Leben, das größere Glück. Das schönere Älterwerden und das freiere Aufwachsen der Kinder. Die Möglichkeit, die politischen Ansprüche nicht auf das wöchentliche Politplenum oder auf den Bioladeneinkauf zu reduzieren. Das Leben in Gemeinschaft, zumal mit Kindern, ist aber nicht nur theoretisch richtig und schön, sondern auch unfassbar anstrengend und verdammt schwierig. It’s the hardest way to make an easy living. Und weil dabei nicht weniger als die Utopie einer besseren Gesellschaft auf dem Spiel steht, schmerzt das regelmäßige Scheitern vieler Projekte im Hinblick auf Kinder.[18] Die alltägliche Praxis deckt sich nicht immer mit dem schönen und guten Anspruch der Beteiligten, Protagonist*innen der Care Revolution zu sein. Da war man in der einen Sekunde noch ganz sicher, einen Beitrag zur Zersetzung von Kleinfamilie und Patriarchat zu leisten, und schon stolpert man über die eigene bürgerliche Sozialisierung oder über die Mühen der alltäglichen, verbindlichen Solidarität. So bleibt 2020 wahr, dass die Theorie der Praxis nicht den Arsch abwischt. Die Care Revolution macht sich nicht von alleine und alleine macht niemand die Care Revolution. Bindet euch, bindet andere, bildet Banden![19]

Almut, Mit-Herausgeberin dieses Buches, ist Mitte 30 und hat zwei Kinder. Sie ist bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, die zum Glück fast alles anders machte als ihre Eltern. Almut verbrachte den Großteil ihres bisherigen Erwachsenenlebens in verschiedenen WGs. Mit ihrem ersten Kind hat sie in einer WG und einem Hausprojekt gelebt. Gerade wohnt sie in einer Kleinfamilien-Dreizimmersituation, was ziemlich gut klappt. Sie beschäftigt sich privat, akademisch und in politischer Bildungsarbeit mit Diskriminierung, mit marxistischer, anarchistischer und anderer gesellschaftskritischer Theorie & Praxis. Sie hält an ihrem Traum fest, den Kommunismus noch erleben zu dürfen.

Betreff: Gesuch für Hausprojekt

Hallo an alle,

wir, zwei Erwachsene und ein Kind (1,5 J.), suchen ab sofort ein bis zwei Zimmer in einem Hausprojekt in der Stadt X. Wir leben in Stadt Y in einem Hausprojekt und unsere Suche bisher war leider nicht sehr erfolgreich …

Wir sehen uns damit konfrontiert, dass ein Leben mit Kind als unmöglich, zu gefährlich oder kompliziert, nervig oder unpassend gesehen wird. Aber wir wollen weiterhin politisch aktiv sein und gleichzeitig in einer Gemeinschaft leben, in der man Probleme gemeinsam anpackt. Wir hoffen, als Personen gesehen zu werden, die sich im Hausprojekt einbringen, Teil einer Selbstorganisierung sein können und wollen und gern Küfas, Infoveranstaltungen und Konzerte organisieren. Wir sind aktiv in antirassistischen und feministischen Gruppen und unser Kind ist immer mit dabei.

Wir hoffen auf ein aufgeschlossenes Hausprojekt & auf Leute, die uns kennenlernen wollen. Wir kommen gern mal vorbei, um uns vorzustellen! Meldet euch gern unter [email protected]

Viele Grüße

L.

Das Gesuch ging im August 2018 über einen E-Mail-Verteiler in der Stadt X. Die Autorin hat uns die Veröffentlichung erlaubt.

Über Verbindlichkeit, Hedonismus und verbindlichen Hedonismus

von ViolA

Hintertüren – Alex

(Auszug)

Weißt du noch, wie wir anders warn?

Wie wir träumten leidenschaftlich radikal?

Das war ne geile Zeit, damals vor Jahrn.

Naja, is spät geworden, ich glaub ich muss dann mal.

Ey, jetzt lass mich doch mal mit deinem Kind in Frieden,

is doch dein Körper, du hattest doch die Wahl.

Was weiß ich, mit wem du’s sonst noch getrieben

hast, bis die Vaterschaft bewiesen ist, is mir das Balg egal.

Du, das mit dem Kind hier im Haus, das wird nicht gehen,

tut mir leid, aber das Plenum war dagegen.

Da waren Bedürfnisse, das musst du doch verstehen,

Aber wir helfen gern beim Umzug – kein Problem!

Ja, ich find auch, die is voll bürgerlich geworden.

Seit das Kind da ist, kommt die kaum noch hier ins Haus.

Das Kinderkriegen hat ja so viele schon verdorben,

denn dann woll’n die immer auf ne Kleinfamilie raus.

Und der Wind rüttelt an den Fensterläden,

die Kerzen hat er längst schon ausgeblasen,

ja er zieht, während wir im Finstern reden,

denn wir haben die Hintertüren aufgelassen.

Ich hab’ ja schon lange davon geträumt, dass ich mal die Inspiration für jemanden bin, einen Song zu schreiben. Doch in meiner Fantasie trällerte eher ein sehr verliebter Mensch unter meinem Balkon ein Lied, in der mein Name den Refrain bildet, und zwar nur mein Name. Als der Patenonkel meines Kindes mir sehr vorsichtig, aus der Befürchtung heraus, dass Menschen erkennen könnten, dass es Parallelen zu meiner Geschichte und dem Lied gibt, den Auszug aus dem oben aufgeführten Lied vorspielte, fühlte es sich doch irgendwie anders an.

Klar, auf der einen Seite war ich berührt, dass er einige Inhalte aus meinem Leben und dem meines Kindes in einem Lied verarbeitet. Ich war aber auch traurig und wütend darüber, was mir passiert ist. Die Geschehnisse aus einem anderen Mund zu hören, vorgetragen auf einer Bühne, gab mir selbst einen anderen Zugang zu all dem.

Doch erst mal zum Anfang, denn eigentlich sollte mein Text so losgehen:

Nichts hat mein Leben so verändert wie die Geburt meines Kindes. Das sagen sicher die meisten Eltern. Ich meine damit aber weniger den Schlafentzug, die plötzliche allgegenwärtige Verantwortung oder die schönen Momente voller Leichtigkeit, die ein Kind mitbringt. Ich meine vor allem den Verlust von Freund*innenschaften, die Isolation und den fehlenden Anschluss an die linke (queerfeministische) Szene.

Die Gründe für den Verlust der Freund*innenschaften sind komplex und verschiedener Intensität. Selbst Jahre, nachdem das alles passiert ist, fällt es mir schwer, darüber zu schreiben, weil die Trauer und die Enttäuschung so tief sitzen. Ich hab’ mit der Geburt meines Kindes ca. 2/3 meiner Freund*innenschaften eingebüßt. In den ersten Wochen nach der Geburt raubten mir die Gedanken an die Freund*innenschaften gefühlt mehr Schlaf als das wiederholte nächtliche Stillen meines Babys. Wobei ich alle zwei Stunden gestillt habe …

Einige Menschen standen mir sehr nahe, sodass der Bruch sehr schmerzte. Es waren insgesamt vier meiner engsten Freund*innen. Eine von ihnen begleitete mich durch die Schwangerschaft und war auch bei der Geburt dabei. Kurz nachdem das Kind da war, brach sie den Kontakt ab. Ich kann nur spekulieren, was ihre Gründe sind. Vermutlich war das passive Erleben dieser Geburt eine unüberwindbare Belastung. Die Geburt verlief nicht planmäßig und war … hm … wie beschreibe ich denn adäquat, wie diese Geburt war … ich glaube, ›schrecklich‹ ist passend. Schrecklich trifft’s, und in Psychosprech: traumatisch. Ich hatte noch ein Jahr später Flashbacks von einzelnen Momentaufnahmen. Das war auch für die Begleiterinnen zu viel. Zumindest war diese Freund*innenschaft dann vorbei.

Eine andere mir sehr nahe Person verabschiedete sich in den Monaten darauf. Wenn ich ehrlich bin, hab’ ich den Verlust nie überwunden. Es war ein Konglomerat aus Überforderung, Eifersucht, Prioritäten setzen (zu meinen Ungunsten) und vielleicht seinem Umgang mit Konfliktsituationen. Eigentlich ist es auch noch mehr, aber es hängen auch noch mehr Menschen dran. Und die linke Szene ist zu klein, als dass ich jetzt detaillierter beschreiben kann, was genau passiert ist. Es ist auch nicht nur meine Geschichte … Andere Menschen aus meinem Freund*innenkreis hatten wohl einfach einen anderen Lebensrhythmus oder wir waren uns nicht so nah, dass die Freund*innenschaft diese Veränderung, die ein Kind mit sich bringt, hätte aushalten können.

Klar, fehlende Freund*innenschaften führen neben der Trauer um den Verlust auch zu Isolation. Um nicht isoliert zu sein, hatte ich mir von Anfang an vorgenommen, nicht allein mit dem Kind zu wohnen. Ich wollte das Kind in meiner damaligen WG bekommen und habe versucht, das dort früh zu thematisieren, also haben wir das besprochen, als ich im vierten Monat schwanger war. Es schien, als sei alles abgemacht, doch als ich dann im achten Monat war, löste sich die WG auf und ich musste mir schnell etwas zum Wohnen suchen. Ich bin allein in eine Wohnung gezogen. Vorübergehend, so dachte ich. Bis ich eine gute kollektive Alternative gefunden hab’. Das hat jedoch nicht geklappt, weil viele WGs und Projekte keine Lust auf ein Kind hatten oder aber die nötige Infrastruktur fehlte, die es braucht, um mit einem Kind zu leben. So haben Kind und ich zwei Jahre nach einer neuen kollektiveren Wohnform gesucht. Vergeblich. Leider.

Schwierige Voraussetzungen, ohne mit Menschen zu wohnen und mit vielen nicht mehr befreundet sein zu können, um trotzdem an die Szene angebunden zu bleiben. Was bleibt noch? Zur KüFa (Küche für Alle, früher Vokü/Volxküche) rennen mit Kind? Gern, aber wenn das Essen erst um 20 Uhr fertig ist und da doch eigentlich das Kind schon im Bett sein muss … schwierig. In Gruppen aktiv sein. Hab’s versucht, aber ohne Kinderbetreuung und ohne dass die Gruppe sich mit auf das Kind bezieht oder zumindest die Existenz berücksichtigt, ist auch das schwer. Und wenn ich ehrlich bin, bekomme ich oftmals nicht mit, dass Gruppen existieren, in denen ich gegebenenfalls mitwirken könnte. Denn solche Informationen verbreiten sich in der Linken an kollektiv genutzten Küchentischen und in Plena.