Lioba wechselt die Saite - Doro May - E-Book

Lioba wechselt die Saite E-Book

Doro May

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Beschreibung

Völlig nackt steht Lioba auf einer Bank vor dem Hauptbahnhof und ruft in die Menge: "Wer will mich?" Alle glotzen sie an, doch keiner schreit "Hier!" Schweißgebadet wacht sie auf, schüttelt sich, um dieses entsetzlich peinliche Gefühl loszuwerden, und beschließt, sich umgehend von den Partnerbörsen im Internet wieder abzumelden. Nun hat sie sich damit abgefunden, dass es zurzeit keine unverhoffte Hauptrolle für sie gibt. Nein, in ihrem Inneren ist nichts, das morgen flüstert, morgen ist der Tag aller Tage, morgen passiert etwas Ungeahntes, etwas Wundervolles. Da überredet sie ihre beste Freundin, mit auf ein mittelalterliches Fest zu gehen. Lioba fühlt sich zunächst völlig fehl am Platz und übe sich im Fremdschämen. Doch als die "Galgenvögel" mit ihren frivolen Liedern vergangener Zeiten loslegen, lässt sie sich mitreißen. Vor allem der Hexengeiger hat es ihr angetan, denn der zieht alle Register seines Könnens. Zu Hause kramt Lioba ihre Geige hervor, die sie jahrelang der Familie geopfert hat, und spielt die eingängigen Melodien nach. Als Geschiedene hat sie jetzt mehr Zeit, als ihr lieb ist, zumal die beiden Töchter studieren und aus dem Haus sind. In ihren Beruf als Grundschullehrerin will sie auf keinen Fall zurück, denn sie hat sich geschworen, nie mehr zusammen mit grölenden Gören Rabimmel-Rabammel-Rabumm zu singen, zu keinem Sankt Martin der Welt. Nur kurze Zeit später geben die "Galgenvögel" wieder ein Konzert. Die Burgmauern vibrieren, Besucher und Liverollenspieler sind dicht gedrängt, die Menge ist kaum noch zu halten, die Atmosphäre lädt sich ekstatisch auf. Und für Lioba bricht die Nacht aller Nächte an…

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Doro May

Lioba wechselt die Saite

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Epilog

Die Burg

Auf ins Gefecht

Baumbestattung mit Fährfrauen und Spielleuten

Die Partnerbörse und warum sich Lioba wieder davon abwendet

Mittelalter zum Anfassen

Der verschrobene Abend

Valentina weiß Neues zu berichten

Siebte Sinfonie, Handwerkermarkt

und eine peinliche Begegnung

Frühstück bei Valentina

Eine Ursache für die drohende Staatspleite

Man gönnt sich ja sonst nichts...

Beinahe Mord

Die Früchte harter Arbeit

Frisch gestrichen

Die Vorzüge der Tauschbörse

Auf ins Mittelalter

Sauflieder

Kleinkriminelle Nachbarschaftshilfe

Pfaffen, Nonnen und andere

Metamorphose

Burgfest

Spielmannslieder

Allerlei Schweinkram

Liebenswerte Spinner

Das volle Programm

Noch ein Stück Musik

Burgleben und Duette

Die Symbolik des Falken

Die Galgenvögel

Parallelwelten

Spektakulum ...

... und Fehlbesetzung

Borgi

Noch mehr Strandleben

Szenenwechsel

Lioba verliert die Orientierung

Ein Plan muss her

Schlimmer geht immer

Die Orgie

Der Tag danach

Slâvest du friedel ziere...

Nachwort

Impressum

Epilog

Für alle Galgenvögel,

Streuner, Schelme, Schandmäuler

und Halunken.

Und für alle, die euch lieben.

Die Burg

Dicke Steinblöcke lugen durch die Bäume, grau wie der Himmel. Geheimnisvoll wachsen sie aus den Felsen heraus, haben etwas Endgültiges. Im Wald keine Bewegung. Nur aus der Ferne das Rauschen des Bachs.

Eine kleine, runde Frau ist unterwegs zur Eyneburg. Sie hebt den Kopf und blickt in eine Baumkrone, genießt die zarten Regentropfen auf ihrem Gesicht und nimmt den Geruch feuchter Erde in sich auf. In diesem verwunschenen Wald kommt sie sich vor wie eine Prinzessin auf der Suche nach dem Glück.

Immer, wenn sie eine Person kennenlernt, die an einem ungewöhnlichen Lebensentwurf strickt, ist ihre Neugier geweckt. Diesmal hat das der magische SatzDa wirst du Augen machenfertig gebracht. Er war das Tüpfelchen auf dem „i“, als sie am Sonntagabend der Freizeitritter Knut ansprach, zu einer Uhrzeit, zu der man das Wochenende eigentlich schon abgehakt hat. Im Hinausgehen aus der Tapasbar in der Elisabethstraße sind sie aneinandergestoßen. Doch anstatt die Lokalität zu verlassen, wie es Lioba, ihre beste Freundin, todsicher gemacht hätte, nahm Valentina mit ihrer Begegnung noch einmal Platz. Sie bestellten ein Glas Wein und ein Bier, und Knut erzählte die allererstaunlichsten Sachen über sein Leben als Kelte, die mittelalterliche Kluft, sein Schwert undseineBurg.

Heute ist Valentina bereit für das Abenteuer, denn sie liebt es,Augen zu machen.Sie schätzt die Zeit ab, etwa halb zwölf, eine gute Samstagvormittagzeit. Den alten Opel Corsa hat sie nach einer holprigen Tour über einen verwurzelten Weg am Waldrand im Matsch abgestellt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie sich außerhalb der närrischen Jahreszeit für eine Verkleidung entschieden, einen Umhang, wie ihn die Ritter trugen, bodenlang, erdfarben, ungefüttert. Diese ungewöhnliche Garderobe trägt sie zu Gefallen ihres neuen Herzensritters aus der Tapasbar, der vorgestern nach der Arbeit ein Paketchen bei ihr ablieferte.

„Samstag komme ich auch zur Burg“, hat sie ihm versichert, als sich dieses Gefühl von Verheißung in ihr breit machte. „Und lieben Dank für das tolle Geschenk. Ja – ich zieh’s an. Versprochen.“

Wie ein Heinzelmann schaut sie von hinten aus, wie sie, klein und rund, die Kapuze auf dem Kopf, über den aufgeweichten Weg quootscht. Sie stellt sich vor, wie romantisch es hier im Sommer sein muss, neben dem Göhlbach zu den kantigen Felsen aufzuschauen, die in die bemoosten Grundmauern der Burg münden. Und wie idyllisch sie auf der großen Wiese mit ihrem Ritter auf einer ganz unmittelalterlichen Karodecke mit Isolierbeschichtung ein Schäferstündchen halten könnte.Schäferstündchen.Sie sinnt dem Wort hinterher und lacht in sich hinein.

Das Burgareal liegt auf einer Anhöhe – genau so, wie es sich für eine richtige Burg mit Wachturm gehört. Jetzt ist sie oben angekommen, ein gesundes Rot auf den runden Wangen. Sie erwartet etwas als Belohnung für ihre Mühe. Ein Meeting, eine kleine Wochenendschlacht. Und natürlich ihren Ritter.

Als sie durch den dick gemauerten Torbogen geht, putzt sie ihr Lächeln deutlicher heraus. Am Rand des Platzes, der mit dicken Wackermännern ausgelegt ist, bleibt sie stehen. Da entdeckt sie Knut zwischen wilden Gesellen. Angestrengt führt er das Schwert und schiebt mit der freien Hand die abgerutschte Brille wieder hoch. Dabei kneift er die Augen zusammen, als würde er geblendet. Als er die runde Heinzelmännin erblickt, strahlt er übers ganze Gesicht, nickt ihr zu und ruft: „Hier geht’s gleich rund, Valentina.“

In dem Moment erscheint eine Person auf der Bildfläche, die alle Blicke auf sich zieht. Auch Valentina starrt auf die Frau in ihrem bodenlangen, dunkelroten Miederkleid mit einem Ausschnitt, dass man erwartet, jeden Moment springe einem der üppige Busen entgegen. Dazu tizianrote Locken und ein Lippenstift, der ins Schwarzrote geht. Eine Nutte, ach nein, Hure muss es heißen, wir sind ja im Mittelalter, durchfährt es Valentina, der das anzügliche Grinsen der Kämpen nicht entgeht. Auch die Zuschauer blicken ausnahmslos auf die aufgedonnerte, nicht mehr ganz junge Lady, die so ungeniert die Arme ins Hüftgold stemmt.

Nur gut, dass Lioba nicht mitgekommen ist, durchzuckt es Valentina. Sie würde sich jetzt mit ihrem typischenMuss-ich-nicht-um-mich-habenabwenden. Valentina wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, lässt den Arm fallen, als wolle sie den Gedanken an die kritische Freundin auf den Boden werfen.

Als die Wochenendritter in Stellung gehen, martialisch mit ihren erhobenen Schwertern und voller Konzentration, erfasst Valentina die Vorstellung von Gewalt und ihren Folgen. Ein wonniger Angstschauer stellt die feinen Armhärchen in die Senkrechte. Wäre es nicht denkbar, dass die Typen gleich Ernst machen? Ob es Verletzte geben wird? Womöglich winkt dem Sieger diese Wahnsinnsfrau in Dunkelrot...

Etüden

Der Globus war nicht aus der Bahn geflogen. Und die Welt nahm keine Notiz von der Frau, deren Alltag von jetzt auf gleich seinen festen Ablauf verloren hatte. Da kam Lioba die Geige gerade recht. Sie ist ihr ureigenes Instrument, war es lange, bevor sie eine Familie gründete. So kann sie mit ihrer Hilfe an Vergangenes anknüpfen und gleichzeitig ein großes Stück Vergangenheit überspringen und damit das Gedächtnis austricksen, damit die kaputten Nerven verödet werden. Jetzt können neue nachwachsen.

Gerne wäre Lioba Orchesterspielerin geworden. Sie hätte sich gut gemacht auf dem CD-Cover bei den ersten Geigen, das lange Schwarze figurbetont, das Haar hinter den Schultern. Doch bald stand fest: Ihre Begabung reichte nur für ein gehobenes Hobbyniveau. So wechselte sie von der Musikhochschule auf Grundschullehramt und verwirklichte sich in einem kleinen Freizeitorchester.

Sie opferte die Geige der Familie, hüllte sie in ein dunkelblaues, weiches Tuch und sargte sie in den Instrumentenkoffer ein, der wiederum in den Tiefen ihres Kleiderschranks verschwand. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Nun hat Lioba die Vierzig deutlich überschritten und mehr Muße als jemals zuvor. Weil sie sich von den Etüden aus ihrer Studienzeit nie getrennt hat, ist es ein Leichtes, sie hervorzuholen und ganz bescheiden wieder anzufangen. Mit dem Geigenhals in ihrer Hand hat sie ihre Gefühle recht gut im Griff, kann sie durch das Etüdentraining bezwingen.

Jede zweite Ehe wird heutzutage geschieden. Wenn sie ihre Blusen bügelte, bügelte sie in Gedanken eins seiner Hemden. Sortierte sie den Kühlschrank, dann fiel ihr der karge Inhalt auf. Sein Bier stand nicht da, wo es gewöhnlich stand, und es fehlte an Wurst und Fleisch, war eben ein Frauenkühlschrank mit Käse, Gemüse, Joghurt, fettreduzierter Margarine, kohlensäurearmem Mineralwasser und Direktsäften. Alles in sehr überschaubaren Mengen. Aber das schlimmste war, dass ihr der Frauenplural einer Verlassenen übergestülpt wurde. Vom ehelichen Freundeskreis, vom Internetforum Partnersuchender, vom Vermieter. Und von den beiden Töchtern. Natürlich unausgesprochen.

Sie schlägt die Stimmgabel an den Couchtisch und ihr Gehör nimmt das ‚a' auf. Sie dreht an den Wirbeln und zupft die Saiten an. Wenn sie den Ton kontrolliert, sind ihre Augen vor Konzentration auf den Klang fast geschlossen. Sie wird dranbleiben, soviel steht fest.

Ohne die altmodische, zusätzliche Kinnstütze läge ihr Kopf zu schief auf dem Kinnhalter, denn ihr Hals ist lang.Schwäninhat ihr Vater früher zu ihr gesagt. Dabei hat er sie angesehen - liebevoll und ein bisschen stolz.

Schon lange vor der Trennung begann ihr Mann, wenn er nach Hause kam, eine ungewohnte Freundlichkeit an den Tag zu legen. Das hätte sie stutzig machen müssen. Wie erleichtert sie damals war. Und wie grenzenlos dumm. War sie doch davon ausgegangen, dass sie beide nach zwanzig Ehejahren den Punkt erreicht hatten, wo man die Gedanken des anderen lesen kann wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Die einschlägigen Lektüren zur Suche nach einer passenden Lebensform liegen auf der Ablage unter dem dunklen Couchtisch, einer Notlösung aus Eiche antik mit Dackelbeinen. Einige Ratgeber für Verlassene, die in die Sinnkrise stürzten, waren durchaus ernst zu nehmen, taten nicht so, als könnten sie das Problem, dessen Diagnose auf der Hand lag, lösen. Lioba las dann häufig bis in die Nacht. Da kam doch bestimmt noch etwas in dem Buch, was für sie passte.

Doch es kam nur der Schlaf.

Nun hat sie sich damit abgefunden, dass es zurzeit keine unvorhersehbare Rolle für sie gibt. Nein, in ihrem Inneren ist nichts, dasmorgenflüstert, morgen ist der Tag aller Tage, morgen passiert etwas Ungeahntes, etwas Wundervolles.

Auf ins Gefecht

Ein kahlköpfiger Haudegen ruft in Richtung der üppigen Frau: „Geh ins Warme! Wie sollen wir uns auf den Kampf konzentrieren, wenn du da so stehst?“

Die Angesprochene lacht breit. „Als Baderin stehen mir andere Möglichkeiten zur Verfügung. Da brauch ich kein Schwert.“ Mit Schwung dreht sie sich um und stiefelt, betont mit ihren kapitalen Hüften wackelnd, ins Haus.

Die beiden Gruppen gehen in Stellung. Gleich neben dem Burgtor steht breitbeinig der Priester, die Arme verschränkt, die schwarzen Schuhspitzen zeigen nach außen. Mit hin- und herflitzenden Äuglein in seinem blassen Mondgesicht nimmt er die feindlichen Lager in den Blick. Sein priesterliches Haarkränzchen erinnert an eine natürlich gewachsene Tonsur. Eine Vorsehung seines Hobbys, denn der Geistliche ist nicht echt. Alles hier ist nicht ganz echt – von der Burg einmal abgesehen.

Außer Valentina sind noch weitere Zuschauer zur Eyneburg gekommen, die im Volksmund Emmaburg genannt wird und in Ostbelgien liegt. Die Leute stecken in dicken Anoraks und machen den Eindruck, als stellten sie sich extra als Publikum zur Verfügung.

Die anderen, die die Mitte für sich beanspruchen, tragen dünn besohlte braune Stulpenstiefel, Tunika und Landsknechthosen. Sie stehen in Grüppchen zusammen, werfen skeptische Blicke nach oben in das trostlose Einheitsgrau. Knut, der korpulente Ritter mit der Brille, winkt mit der freien Linken Valentina zu, während die andere Hand mit einem fulminanten Schwert herumfuchtelt.

„Und los!", brüllt eine nicht mehr ganz junge Ritterfrau, deren lange, rote Tunika mit den rot gefärbten, wild zerzausten Haaren um die Wette leuchtet, und schwingt keuchend die Waffe vor ihrem Kopf hin und her. Die anderen machen es ihr nach. Jeder Kelte sucht sich einen gegnerischen Wikinger oder auch umgekehrt - der Zuschauer hat mit der Feindbestimmung so seine Probleme. Die Jahrhunderte erscheinen wie weggefegt, Autos und Motorräder sind außer Sichtweite geparkt und Busse fahren nicht bis zur Burg.

Die lückenlos gefugten Burgmauern bringen den Hof zum Klingen. Man hörtHa! - Hoher Zwerg!,wenn die Schneide kurz vor der Enthauptung gestoppt worden ist, oderDas war ein Dach, wenn das Schwert auf den gegnerischen Kopf niederfährt und wenige Millimeter vor der Spaltung des Schädels abgefangen wird.

Die Freizeitkämpen befinden sich am äußersten Rand ihres Lebens. Zweimal die Woche mindestens.OchsundEber, die diagonalen Vernichtungsschläge, wechseln sich ab. Auch das Mittelalter hat sein Fachchinesisch, stellt Valentina fest. Zünftig geht man der archaischen Neigung zur Gewalt nach und hat einen Heidenspaß dabei - ganz im wörtlichen Sinne. Gestöhn mischt sich mit dem Klang aufeinander krachenden Eisens. Das Schuhwerk kratzt und scharrt über den Boden. Dazwischen einzelne Lacher.

Frida, Mitglied der Berserker, eines Wikingerstamms, der es wegen seiner Schlachtenraserei ohne Rücksicht auf Verluste zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat, unterbricht unvermittelt ihren Angriff . „Mir wird der Arm lahm."

Auch einige männliche Kämpen stehen noch am Beginn ihrer martialischen Karriere. Knut ist nicht nur korpulent, sondern auch schnell außer Puste. Ein Schnürsenkel hat sich geöffnet und die Brille fliegt ihm von der Nase.

„Pass auf!", ruft er noch, da ist schon ein Feind draufgetreten.

Valentina zuckt zusammen. Soll sie eingreifen?

„Ach du Scheiße! Tut mir echt leid", sagt Felan, hebt die zertretenen Reste auf und serviert sie dem kurzsichtigen Feind auf der flach ausgestreckten Hand.

„Nicht so tragisch. Früher hatten sie auch keine. Außerdem ist es nur meine Ersatzbrille. Das Designermodell liegt im Handschuhfach." Knut lacht angestrengt, reibt sich das Nasenbein und bückt sich, um seinen rechten Stulpenstiefel wieder zuzuschnüren. Er trägt Bauch und das Bücken dauert. Beim Aufstehen tritt er auf den Saum seines Überwurfs und stranguliert sich fast mit der Kordel, die den schwarzen Poncho am Hals fixiert.

„Gefährliches Spiel, was wir hier treiben." Er prustet los. „Früher war ich Winnetou. In meinem nächsten Leben werde ich wieder Indianer - back to the roots."

Die anderen freuen sich mit ihm.

Baumbestattung mit Fährfrauen und Spielleuten

„Meint ihr nicht auch, dass wir reichlich laut sind? Ist schließlich eine Beerdigung.“ Der junge Mann sieht anklagend auf die Mutter aller Trommeln, die sich ein großer Mönch vor seinen ausladenden Bauch geschnallt hat.

„Nee, Erasmus. Das siehst du ganz falsch.“ Bonifacius streichelt seine Trommel. „Wir sind engagiert, um unser Liedgut abzuliefern. Und wenn die Tote halt auf Mittelalter stand, dann sind wir hier genau richtig.“

„Du kannst doch nicht wie sonst auf deiner Trommel herumschlagen.“

„Ich streichel sie halt nur ein bisschen.“

„Wir sind gebucht und Ende Gelände. Mein Kühlschrank ist leer.“ Die junge Frau zieht ihren Haarreifen ab, streicht sich die langen, glatten Haare aus dem blassen Gesicht und zwingt sie mit dem perlmuttfarbenen Reif wieder nach hinten.

„Du hast einen Kühlschrank?“, sagt Erasmus spöttisch.

„Wen bringen wir eigentlich unter die Erde?“, wendet sich die blonde Langmähnige, die an eine Meerjungfrau erinnert, an den Mönch.

„Du meinst, unter die Wurzel? Einen eingefleischten Fan, wen sonst?“ Samuel, der die Fidel streicht, wundert sich über sich selber. Ja, er kann wieder witzeln. Länger schon. Erasmus ist es ebenfalls aufgefallen, denn er lächelt zu ihm hinüber. Wussten die anderen eigentlich, dass sie alle seine Familie waren? Nicht mehr und nicht weniger. Die Szene ist eigentlich Nebensache. Obwohl... . Vielleicht doch nicht. Im städtischen Orchester hat er sich zunehmend gelangweilt. Außerdem hatte er es nicht ertragen können, dass Elisabeth nach der Vorstellung nicht mehr auf ihn wartete. Sollten sie ihn doch ruhig für bescheuert erklären. Vor allem der Bratschist. Samuel muss grinsen. Dieser Affe. Wie der sich aufgespielt hat, als Samuel verkündete, er habe sich beruflich verändert, und als er dann mit der Wahrheit rausrückte. Absturz aus dem klassischen Olymp ins Bettelpack. Der Bratschist hatte im Grunde nur ausgesprochen, was die anderen dachten. Jedenfalls hat Samuel das allgemeine Kopfschütteln noch vor Augen.

Der dicke Mönch sagt: „Die Tote ist eine Bürgerliche aus der Jetztzeit. Sie hatte Krebs, die Arme. Und es war ihr Wunsch, von den Fährfrauen begleitet zu werden und wir sollen den Schlusspunkt setzen. Weil das Leben doch weitergeht und lustig sein soll.“

„Und was tun die Fährfrauen hier, wo wir doch engagiert sind?“ Erasmus hat einen etwas beleidigten Ton angeschnitten. Man merkt, dass er sich nach einer richtigen Bühne sehnt. Damit kennt er sich aus. Aber das hier...

„Die Seele hat es nicht so eilig, weißt du“, erklärt ihm Hildegard mit Geduldsstimme, „da freut sie sich, wenn sie zum endgültigen Abschied ein bisschen Begleitung hat.“

„Wer? Die Seele?“

„Ja klar. Davon reden wir doch gerade, oder?“ Sie sieht Erasmus an wie eine genervte Mutter.

„Und was macht die Seele, wenn der Tote als Organspender zerlegt wird?“, fragt Erasmus.

„Das muss für eine Seele fürchterlich sein.“ Hildegard senkt die Stimme. „Früher haben sie drei Tage lang den Toten aufgebahrt, ihm vorgelesen, waren bei ihm, haben für ihn gebetet. Das Fenster stand offen. Da konnte die Seele dann raus, wenn ihr danach war.“

„Nee, ne?“ Erasmus gibt den dummen Schüler, der seiner Lehrerin den Unsinn nicht abkaufen mag.

„Glaub doch, was du willst. Ich lasse mich jedenfalls nicht zerteilen“, sagt Hildegard.

„Ist ja in Ordnung“, zischt Erasmus. „Wenn du gestorben bist, les ich dir also drei mal 24 Stunden vor und spiel dir paar von unseren Liedern und das Fenster mach ich auch auf. Dann kann deine Seele ungestört abhauen. Bist du nun zufrieden?“

Ein älterer Mann tritt zu der mittelalterlichen Band, so dass Hildegard die Antwort schuldig bleibt. Als er in dem grauen Wetter die Sonnenbrille abnimmt, werden gerötete Augen frei. Hinter ihm geht eine weiß gekleidete Frauengruppe, eine Melodie summend. Es klingt harmonisch warm und auf eine angenehme Weise feierlich. Eine der Frauen, die ausstrahlen, dass sie genau wissen, was zu tun ist, trägt eine Urne in den ein wenig vorgestreckten Händen.

„Schön, dass Sie kommen konnten“, sagt der Witwer zu Bonifacius, dem als Mönch verkleideten Bandleader. „Meine Frau war sehr dem Mittelalter verbunden, müssen Sie wissen. Sie hatte Mediävistik studiert und interessierte sich besonders für das mittelalterliche Liedgut. Diese zuweilen recht deftige Musik hatte es ihr angetan.“ Er zwingt sich zu einem Lächeln.

Bonifacius macht eine Geste, als wolle er den Mann umarmen. Stattdessen legt er seine Arme um die riesige Trommel vor seinem Bauch, was ihn in Samuels Augen irgendwie lächerlich erscheinen lässt. Kummer tötet leider nicht, denkt Samuel und blickt mitleidig auf den Mann. Nur endlose Müdigkeit kommt und geht, wie es ihr gefällt. Und dass einem bald alles gleichgültig wird, was einmal von Bedeutung war. Vor seinem inneren Auge isteres, der hinter dem Sarg einer Frau hergeht. Seiner Frau. Es ist bald zwei Jahre her.

Die Fährfrauen, die sich eigens dazu zusammengefunden haben, die Toten auf ihrer letzten Reise zu begleiten, ziehen an den Wartenden vorbei. Hinter ihnen geht jetzt der Witwer, dem ein Trauerzug von etwa dreißig Leuten folgt. Die Mittelalterlichen bilden den Schluss. Im Vergleich zu den in feinem Schwarz gekleideten Trauergästen und den weißen Fährfrauen wirken sie wie Lumpengesindel, das sich hinterher schleicht, um zu sehen, was vom Leichenschmaus für sie abfällt.

Vielleicht besuche ich nachher Sina, überlegt Samuel. Sie gab sich von Anfang an, als sie in die mittelalterliche Subkultur hineinplatzte, als Baderin aus. Natürlich weiß jeder, der auf der Eyneburg mitmacht, dass sie den Männern nicht nur den Rücken schrubbte. Sie empfindet ein besonderes Glück beim Körperkontakt und wird weich wie Butter, sobald jemand seinen Kummer bei ihr ablädt. Als Elisabeth tot war, endlich, nachdem die Quälerei unerträglich geworden war, da hatte er sich in ihr verkrochen. Sina hatte keine Fragen gestellt und nicht von der Zukunft geredet. Die Leute aus der Szene wollen sie wohl eher weghaben. Die Frauen vor allem.

Es ist Samuel gleichgültig.

Die Partnerbörse und warum sich Lioba wieder davon abwendet

Völlig nackt steht Lioba auf einer Bank vor dem Aachener Hauptbahnhof und ruft in die Menge: „Wer will mich?“ Alle glotzen sie an, doch keiner schreit „Hier!“

Schweißgebadet wacht sie auf, schüttelt sich, um dieses entsetzlich peinliche Gefühl loszuwerden, und beschließt, sich umgehend von den Partnerbörsen im Internet wieder abzumelden.

Vor jedem Verlassen der staubgrauen Wohnung macht sich Lioba sorgfältig zurecht. Lippenstift und Kleidung harmonieren, die Haare steckt sie in Ermangelung einer brauchbaren Frisur hoch und sprüht das Ganze gründlich fest. Sie will passabel rüberkommen, für den Fall, dass sie Robert begegnet. Obwohl – sie ist darüber hinweg. Längst schon. Aber ihm begegnen? Zu ihrem Glück blieb ihr das bislang erspart.

Eigentlich war sie zunächst fest entschlossen gewesen, nicht aktiv eine neue Beziehung aufzuspüren. Entweder so etwas ergab sich von selbst oder eben nicht und damit Basta. Aber nichts ergab sich von selbst. Gar nichts. Und irgendwann hat sie sich beschwatzen lassen, hat sich überwunden und das passende Portal herausgesucht. Sie hakte ab, füllte aus, machte mit der tausendsten Formulierungsvariante, die ihr am wenigsten peinlich war, für sich Werbung und kam sich vor wie eine Nutte. Dafür konnteMannnun über sie, ihr Alter, ihre Größe, Statur, Haarfarbe, Gewicht, Bildung, Anhängsel wie Kinder oder pflegebedürftige Eltern - in Fachkreisen auch Altlasten genannt - und Vorlieben nachlesen.

Partnersuche online in bildungsnahen Kreisen kostete natürlich einiges. Und die Fotografin war auch nicht umsonst, verstand aber immerhin ihr Handwerk, denn auf den Bildern lächelte eine dezent geschminkte, optimistisch dreinblickende, jung gebliebene Frau verheißungsvoll über ihre linke Schulter. Die müden Augen und den etwas faltigen Zug um den Mund hatte die Fotografin mit den WortenDas mach ich Ihnen ruckzuck wegkorrigiert. Dann folgten die online arrangierten Treffen aus dem für sie zusammengestellten Männersortiment im richtigen Leben.

Die einzige Ausnahme hätte gepasst. Jonathan spielte Klavier und hatte schlanke, große Hände. Pianistenhände. Seine Stimme war sanfter Akzent. Nach dem zweiten gemeinsamen Restaurantbesuch musizierten sie zusammen. Nicht in Liobas Notunterkunft mit diesem Stempel von Tristesse, sondern in seiner Wohnung. Schon wegen des Klaviers.

Er hatte offensichtlich aufgeräumt und es roch angenehm. Jonathan spielte gerne Grieg, kannte sogar Stücke aus Peer Gynt, und Lioba spielte die Melodie auf ihrer Geige mit. Sie war froh, dass er sie nicht drängte, obwohl er mit Sicherheit um seine Wirkung auf sie wusste. Die Hände sahen auf den Tasten schön aus. Sie versprachen die Art von Berührung, die sie mochte. Aber Tatsache war, dass er mehrere Angebote hatte und sie nicht seine erste Wahl war.

Nach diesem neuerlichen Schock brach das letzte Fiasko in Person eines arbeitslosen Vorwerk-Vertreters mit rosigem Kindergesichtchen über sie herein, der neben seinem verkorksten Status den zwei Jahre zurückliegenden Tod seiner Frau beweinte. Fast geräuschlos erhob sich Lioba, ignorierte seinen offenstehenden Mund, knallte zehn Euro auf den Tresen, eilte aus dem Restaurant und begann zu rennen, als sei der Teufel hinter ihr her.

Nach diesem Abgang kultivierte sie ihren Eindruck, über das Medium Internet für ihr Leben nichts Bahnbrechendes ausrichten zu können. Sie löste die Verträge und vernichtete die neckischen Über-die-Schulter-Grinsefotos.

Damit war endlich Schluss mit den Peinlichkeitsgefühlen.

Mittelalter zum Anfassen

Die Krieger fachsimpeln über die Vorzüge der unterschiedlichen Waffentypen. Valentina tritt einen Schritt näher heran, ihren Ritter, der den Kampf wieder aufgenommen hat, fest im Blick.

Ein schlaksiger Kerl steht in der Tür des Burgcafés. „Seid ihr noch nicht müde, Krieger? Et fiselt."

Unter seinem Filzschlapphut fällt das graue, wellige Haar bis auf die Schulter. Das Baumwollhemd und die dunkelbraunen Lederbeinlinge sind abgenutzt. Aus wasserblauen Augen betrachtet er mit angespöttelten Mundwinkeln die Liverollenspieler. Im Gegensatz zu ihnen arbeitet er hauptberuflich in der neomittelalterlichen Branche, fertigt mit Schulklassen, Betriebsausflüglern, Seniorengruppen lederne Glücksbeutelchen, die mit Hilfe einer kleinen Holzperle verschlossen werden. So kann das Glück nicht entweichen.

„Wirkt todsicher", verspricht der Beutelmacher jedes Mal seiner Klientel, die ihm lebhaft zunickt, wie um zu zeigen, dass sie ihm gerne Glauben schenkt. „Es braucht aber seinen festen Ort. Das Beste ist, man trägt es um den Hals. Dann ist es nah am Herzen dran."

Genau so macht es Valentina seit jenem Sonntagabend, als Knut ihr in der Tapasbar sein Glücksbeutelchen überreicht hat. In ihm ist ein kleiner Bergkristall als Pfand für das noch kleine Glück, dass sie sich begegnet sind.

„Kommt, Leute. Schmalzstullen und Kaffee sind fertig." Der Beutelmacher macht eine einladende Geste Richtung Burgcafé. „UnsereGalgenvögelsind auch soeben eingetroffen.“

Ein allgemeinesAaahist zu hören.

Da haut der Burgwachenleutnant einen Kelten um.

„Entschuldige. Wollt ich nicht. Hab ich dir weh getan?", wechselt er unvermittelt in den Stand der Unschuld.

Auch die anderen schauen auf den Geschlagenen. Der rappelt sich mit Hilfe seines Gegners auf. „Danke. Geht schon wieder."

Daraufhin begeben sich alle ins Innere der Burg. Auch Knut und Valentina schieben sich hinein in die Behaglichkeit. EinGalgenvogelträgt einen Torques um den Hals, ein güldenes Schmuckstück, das an einen gedrehten Strick erinnert, dessen Enden zwei Tierköpfe zieren. Er ist mit einer Hose aus Ziegenfell und einem verwaschenen Baumwollhemd gekleidet.

„Wahnsinn! Solche Beinlinge hab ich noch nie gesehen“, ruft jemand durchs Café.

„Total warm", sagt Erasmus laut. „Schließlich waren wir bei dem Scheißwetter bis eben auf einer Baumbestattung.“

„Was man nicht alles für die Kohle tut“, übertönt eine Frauenstimme, Tonlage Alt, den allgemeinen Geräuschpegel.

„Musst du gerade sagen, Sina“, bemerkt einer halblaut in Richtung der aufgedonnerten Baderin, die sofort in kehliges Lachen ausbricht.

„Jeder, der möchte, darf mal an mir fühlen." Erasmus hebt die Arme hoch über den Kopf, wackelt mit seinem kleinen männlichen Hinterteil und näselt, er sei der Promischwule von der Eyneburg. „Packt mir an die Ziege. Tut es bitte jetzt.“

Die meisten strecken demonstrativ die Arme nach der Hose aus, befühlen das Ziegenfell und lachen, woraufhin der junge Mann einWowin die Fangemeinde entlässt.

„Erinnert mich an einen Pan mit Bocksfüßen", gackert eine Ritterfrau, deren Haarfärbung ins Orange geht. „Fehlen dir nur noch so kleine, niedliche Hufe."

„Hab ich doch. Guck mal in meine Schuhe", sagt der Ziegenbehoste und keilt aus.

Die Stimmung der in Waffen- und Kettenkult Schwelgenden ist gut in dem kleinen Café in der kleinen ostbelgischen Burg, der das Aus droht, wenn sich keine Investoren finden.

Auf Stühlen liegen die Schwerter und Schilder, Armschoner, lederne Brustpanzer und ein Kettenhemd, dessen Draht damals noch nicht aus dem Baumarkt stammte. Wirt und Wirtin, ebenfalls mittelalterlich gewandet, sind mit den Kämpen bestens bekannt. Nach jedem Gefecht wird hier gegessen und getrunken. Der Ort dieses Rituals erinnert an eine Wohnküche, so gemütlich ist es hier und so riecht es auch.

Der geschlagene Kelte greift sich als erster ein ansehnliches Schmalzbrot, was er mit nur drei Hapsen nicht ganz manierlich in seinem Mund verschwinden lässt. Der Ziegenbehoste hat seine Laute mit ins Café gebracht. Er leert seinen Humpen und stimmt ein deftiges Sauflied an. Der Text ist allgemein bekannt und zotig genug, dass er zum Grölen taugt, wenn man erst mal genug Bier und Schnaps intus hat. Hinterher haun sie mit der Faust auf Tisch und Tresen, dass die Humpen nur so hüpfen. Die Zuschauer, die ebenfalls vor dem Regen ins Café geflüchtet sind, genießen die Atmosphäre aus Urwuchs und Anrüchigem. Ein bisschen tun sie so, als gehörten sie richtig dazu. Wie sie demonstrativ laut die Liedtexte mitsingen und in vertraulichem Du die aufgedonnerte Freizeit-Hure anquatschen.

Im Moment sind alle entwaffnet. Der Raum ist von Bier- und Kaffeeduft durchzogen, die verschwitzten Körper heizen zusammen mit dem provisorischen Gasbrenner das kleine Burgcafé ordentlich auf, und das Rauchverbot ist nicht bis ins Mittelalter durchgedrungen. Die Luft ist bald zum Schneiden. Knut und Valentina hocken eng nebeneinander auf einer Holzbank, jeder einen Bierkrug in der Hand. Samuel, der Geiger, sitzt neben Sina und lässt sich ihre gelegentlichen Umarmungen gefallen.

„Und wenn’smirmal eines Tages so schlecht geht?“, schnappt Valentina Sinas Sätze auf. „So wie dir, mein armer, kleiner Galgenvogel, vor nicht allzu langer Zeit?“

„Bier her!“, brüllt ein Recke über den Tresen.

„Tröstest du mich dann auch?“, fragt die Frau in eine kurze Sangespause hinein.

Da stimmt der Ziegenbehoste ein neues Lied an. Der Pfaffe wird durch den Kakao gezogen. Ob Lioba schreiend hinausrennen würde, durchfährt es Valentina. Sie beobachtet, wie der große, etwas ausgemergelte Mann seiner üppigen Begleitung zunickt. Zwischen zwei Strophen hört sie, wie das Weib „Schwörst du es?“zu ihrem Nachbarn sagt. Der Schmalhans namens Samuel hebt die Finger zum Schwur. Da schließt die Hure ihre Arme um ihn und Valentina bekommt mit, wie sie mit den Worten „Dann kann ich ja beruhigt abziehen“ den Lärm übertönt.

Draußen hat sich eine trübe Dämmerung über die Burg gelegt. Bei schlechtem Wetter findet die Schlacht eben im Saal statt.

Der verschrobene Abend

Valentina, mit der Lioba ihre Vorliebe für alte Krimis teilt, hatte vor Kurzem wieder einmal einen Schlusspunkt unter die Turbulenzen einer in die Jahre gekommenen Zweisamkeit gesetzt. Trotzdem ist sie natürlich kein Luder. Allein diese Bezeichnung fände Lioba für Valentina, die in ihrem Berufsleben Hebamme aus Leidenschaft ist, ganz unpassend. Die beiden Freundinnen verabreden sich immer, wenn Miss Marple, Pater Brown oder ein Edgar Wallace läuft - und das ist heute der Fall.Unseren verschrobenen Abendnennen sie ihre Krimitreffen, die in der ersten Zeit nach Liobas Trennung von Robert den Status einer Therapie einnahmen. So konnte Lioba auf ihrer Couch sitzen, anstatt sich auf die berühmtberüchtigte legen zu müssen.

Natürlich kennen beide jede Sequenz aus demWachsblumenstrauß. Die schrullige Margaret Rutherford und ihren Partner haben sie in ihre Herzen geschlossen. Sie genießen die alten Filme stets bei einem leckeren Imbiss. Ohne Liobas erwachsene Töchter, die mit Beendigung der Schule von zu Hause ausgezogen sind - aus einem großen Einfamilienhaus, zu dessen Besitz Lioba einmal gehört hat. Zu einem Haus mit hohen Ansprüchen. Das versorgt sein wollte, geputzt, herausgeputzt, erlesen. Daina, die ältere der beiden Töchter, hat sich nach der elterlichen Trennung heftig um Lioba gesorgt, weil diese kaum noch etwas aß. Inzwischen ist das Schnee von gestern, aber Lioba ist immer noch sehr schlank, was sich Valentinas Ansicht nach auch in ihrem Nachnamen gut macht: Aus Lioba Schulte-Rademacher ist wieder Lioba Schulte geworden.

Valentina bringt einen Bordeaux mit und Lioba bereitet Kanapees zu. Alkoholisches hat sie seit einiger Zeit nicht mehr vorrätig. Wenn Valentina Rufbereitschaft hat, bleibt es ohnehin bei Saft mit Selters.

„Trink dir doch ruhig einen, wenn dir danach ist", riet Valentina, als alles noch frisch war.

„Hab ich ja. Aber die Flasche war jedes Mal leer. Und ich hasse besoffene Frauen, die weinselig alleine in ihrer Kemenate sitzen." Dass sie damals fürchtete, in einen Abgrund zu stürzen, behält sie für sich.

In einer Werbepause, gerade nach Miss Marples berechtigten Zweifeln an einem normalen Ableben von Mr. Enderby, fragt Valentina: „Hast du eigentlich keine Lust, wieder an einer Schule zu arbeiten?"

„Eher bringe ich mich um."

Valentina überschlägt sich daraufhin: „Aber mit deinem Fach Musik würden sie dir den roten Teppich ausrollen."

„Ich mag keine roten Teppiche."

„Aber in einem Kollegium kann man sich aufgehoben fühlen.“

„Da kennst du die Grundschulkollegien schlecht.“ Lioba erstattet über den rapiden Anstieg von Burnouts Bericht, beklagt die steigende Zahl von Kindern, die bereits mit sechs zu Zombies mutieren, und echauffiert sich über den behördlichen Überbau mit seinen Ansprüchen auf Verschriftlichung jedes Furzes, was auch dem Motiviertesten den letzten Nerv raube.

„Und was ist mit Geld?"

Lioba lächelt nur und schüttelt den Kopf. „Kein Thema."

„Hast du es gut.“

Lioba holt geräuschvoll Luft. „Hör zu, Valentina! Ich habe den heiligen Eid geschworen, nie mehr ‚Rabimmel, Rabammel, Rabumm' zu singen oder zu spielen." Sie spricht jedes einzelne Wort überdeutlich. „Zu keinem Sankt Martin der Welt. In meinem ganzen Leben nicht mehr. Es ist einer der Gründe, warum ich meinen Job als Ehefrau nicht wirklich schlecht fand."

Der Werbeblock ist zu Ende und Miss Marple treibt sich gerade im Pferdestall herum.

„Wenn du wüsstest, wie froh ich damals war, als meine erste Tochter mich mangels Kita, passender Tagesmutter oder brauchbarer Oma von dieser Schullast befreit hat."

Auch zu Pferd macht Miss Marple eine gute Figur - genau wie gegen Ende des Films, wenn sie nachher eine „kesse Sohle aufs Parkett" legen wird, wie Lioba und Valentina wissen.

Gleich nach dem Erziehungsurlaub quittierte Lioba den Dienst. Das wäre erledigt, dachte sie damals und investierte ihre Zeit in die Familie, in gute Konzertbesuche und inBauch, Beine,Po, später inPilatesundZumba. Schließlich brachte Robert als Personalchef einer gut gehenden Möbelfirma genug Geld nach Hause.

Durch den Verkauf des Anwesens nach der Scheidung und dank einer kleinen Erbschaft kann es sich Lioba noch eine Zeitlang leisten, an den Grundschulen, die auf Klingelton undefinierbare Kinderknäuel ausspucken, vorbeizugehen, mit einem feinen Lächeln über den Lärm hinwegzuhören und in einem Anflug von Mitleid und Schadenfreude die Aufsicht führende Lehrerin in den Blick zu nehmen.

Auch das große Einfamilienhaus vermisst sie keineswegs. Sollte es doch seine Ansprüche an andere stellen, die ihm gerne die edlen Boden- und Treppenhölzer mit Bodenseife und Wachs auf Hochglanz pedikürten. Auch für eine passionierte Putzfrau die absolute Herausforderung.

In einer neuerlichen Werbepause erzählt Valentina von einem Stadtteilfest im Südviertel. Lioba beschließt spontan, dieses Ereignis in ihre Samstagsplanung einzubeziehen, es sozusagen zum Hauptereignis zu machen. So bekommt das Wochenende mit Geigeüben, Körperpflege, dem Studium der Tageszeitung, der Zubereitung kleiner Mahlzeiten und dem Schlendern über den Handwerkermarkt Struktur.

Diese schneidige Art, wie Miss Marple zum Schluss höflich, aber bestimmt den Heiratsantrag ablehnt. Dieses unglaubliche Selbstbewusstsein, das sie durch ihre Haltung ausdrückt. Das hat was.

Die Freundinnen prosten der Weißhaarigen zu.

Valentina weiß Neues zu berichten

Als Miss Marple definitiv den Fall gelöst hat, sagt Valentina: „Wenn mal wieder ein zünftiges Spectaculum auf der Emmaburg läuft oder im Bergischen Land, kommst du mit."

„Emmaburg? Was für eine Emmaburg?"

Die Freundin hebt ihr Glas. „Die Emmaburg heißt eigentlich Eyneburg und steht in Ostbelgien. Also gleich um die Ecke.“

Sie stoßen an.

Und dann legt Valentina mit ihren Erlebnissen los. Die Sache mit ihrem neuen Herzensritter will sie ihrer Freundin, die unfreiwillig zum Single mutiert ist, nicht aufs Brot schmieren.

Lioba zieht die Brauen hoch, lacht hohl. „Nur, dass ich da nichts falsch verstehe: Diese Leute gehen einfach so aufeinander los. Mit echten Schwertern, ja?“

„Mhm.“ Valentina lächelt.

„Arme Männerseelen."

„Von wegen. Gibt auch Frauen, die sich duellieren. Übrigens haben sie auf der Eyneburg sogar eine Baderin."

„Eine was?“

„Früher hatten sie keine Wannen. Wenn man mal baden wollte, ging man zum Bader. Der hatte Holzbottiche und goss immer warmes Wasser nach, das in riesigen Kesseln auf offenem Feuer heiß gemacht wurde.“

„Hört sich gut an.“ Lioba kichert.

„Und der weibliche Bader – na ja – einer nannte sieunsere Hübschlerin. Ist wohl so eine Art Nutte.“

Lioba prustet: „Find ich kurios." An ihrer Stirn steht, die haben nicht alle Tassen im Schrank.

Valentina faltet ihre fleischigen, kleinen Hände. „Die Hundertzehnprozentigen nehmen es ganz genau mit ihrer Ausstaffierung. Je nachdem, zu welchem Stamm und in welches Jahrhundert sie gehören."