Liontu - Anne Bernhardi - E-Book

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Anne Bernhardi

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Beschreibung

1634: Im Laufe der Schlacht von Nördlingen flüchtet der junge Adelige Georg von Wichtern ohne Erinnerungen vom Schlachtfeld. Er wird von den Waisen Ianthe und Jonas im Wald aufgenommen und verliebt sich in Ianthe. Während er die verlorenen Erinnerungen langsam zurückgewinnt, fasst er den Entschluss, seinem ungeliebten Elternhaus den Rücken zu kehren. Ganze sieben Jahre lebt er verborgen, hilft den Menschen als Arzt, und es scheint, als hätte die Welt den Herzogssohn vergessen. Als jedoch Georgs ärgster Widersacher Hieronymus von Graalfs, inzwischen Herzog an dessen Stelle, von Georgs Überleben erfährt, ist die Zeit des Versteckens endgültig beendet, denn Graalfs verfolgt einen düsteren Plan. -- 3. überarbeitete Auflage im Rahmen des Trilogie-Endes

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Seitenzahl: 488

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Bei Nördlingen

FREMDER

Lichtung bei Nördlingen

FREMDER

Lichtung

FREMDER

Lichtung

FREMDER

Räuberlager

GEORG

Räuberlager

IANTHE, JONAS

GEORG

Wald bei Nördlingen

GEORG

Wald

GEORG

Steinlingen

GEORG

Arzthaus

Steinlingen

IANTHE

GEORG

IANTHE

GEORG

IANTHE

GEORG

HIERONYMUS VON GRAALFS

GEORG

IANTHE, JONAS, ARENDT JACOBI

GEORG

IANTHE, JONAS, ARENDT JACOBI

Rothenberg

Weitere Informationen

Bei NördlingenSeptember 1634

Der Schimmel neben ihm erstarrte, stand mit hocherhobenem Kopf und zischendem Atem da und fürchtete etwas Unerklärliches. Außer eines rastlosen Brausens und Donnerns, welches sich nicht näherte, ließ sich jedoch nichts ausmachen, was sie hätten fürchten müssen.

Der junge Mann senkte verwirrt den Kopf. Ein warmes Rinnsal suchte sich den Weg über Stirn, Nase, Schnurrbart und Lippen und bildete am Kinnbart einen lästigen Tropfen, der schließlich auf ein Blatt am Boden fiel und zersprang. Blut! Er war verletzt. Wie es dazu gekommen war, wusste er nicht.

Kurz darauf brachte ihn ein Seitwärtsschritt des Pferdes beinahe aus der Balance, und er musste sich mit dem Arm am Sattel abstützen, um nicht zu stürzen. Der Hengst wollte weiterlaufen. Er beschloss, ihm zu folgen.

Während er über Brombeerranken stolperte, an umgefallenen Baumstämmen hängen blieb und sich, stur wie ein alter Ochse, wieder aufraffte, begann er zu grübeln. Er hatte den Namen vergessen. Den Namen des Schimmels, von dem er sich sicher war, dass er ihn hätte wissen müssen. Seinen eigenen noch dazu. Nichts war da mehr.

Am Nachmittag rasteten sie unter einer uralten Eiche am Wegesrand, die von vielen Stürmen und Blitzeinschlägen verkrüppelt war und nur noch an wenigen der knorrigen Äste Blätter hervorgebracht hatte. Der Schimmel hatte sich losgerissen, war aber nicht fortgelaufen, sondern graste etwas abseits nahe einer Schlehenhecke. Der junge Mann beobachtete ihn, während er hoffte, sich so an den Stamm der Eiche setzen zu können, dass sein Kopf, der entsetzlich schmerzte, endlich Ruhe geben würde. Mühsam rutschte er nach rechts und wieder nach links, aber die harte, unregelmäßige Borke störte im Rücken.

Schwer atmend blickte er vor sich hin, beobachtete die rauschenden Wipfel der Bäume, verfolgte die jagenden Wolken und entschied sich, die Augen lieber zu schließen. Das berstende Pochen verwandelte sich in einen dauerhaft ziehenden Schmerz, der weit besser erträglich war und eine bleierne Müdigkeit nach sich zog. Gerade wollte der Verletzte wegdämmern, als ihn der Klang von Hufschlägen zurück in die Wirklichkeit riss.

Der Schimmel wieherte. Das Geräusch war so grell, als bliese jemand neben dem Ohr des jungen Mannes in eine Posaune. Er wandte den Kopf und bemerkte einen Reiter, der sich ihnen näherte. Aufgeregt trabte der Schimmel ihm entgegen, wieherte erneut, wölbte den Hals und tänzelte.

»Verdammt, verschwinde!«, fauchte der Unbekannte, jedoch nicht heftig genug, um den Hengst auf Abstand zu halten. Die beiden Pferde blieben voreinander stehen und bliesen einander interessiert in die Nüstern. Nicht willens auf weiteren Kontakt, schlug die Stute mit dem Vorderhuf aus, woraufhin der Hengst frustriert den Kopf warf. Seine lange Mähne wirbelte durch die Luft. Er akzeptierte die Zurückweisung und begann sich etwas abseits dem frischen Gras zu widmen.

»Wer lässt sein Pferd derart frei herumlaufen?«, zischte der Reiter, als er den jungen Mann erreichte. Doch das letzte Wort war nur noch schwach zu verstehen. Der Mann bedauerte, überhaupt etwas gesagt zu haben. Zu Beginn mochte es nur eine dunkle Vermutung gewesen sein, eine viel zu abwegige, inzwischen befürchtete er, den jungen Mann zu kennen, und je näher er ihm kam, desto sicherer wurde er. Sie stammten aus demselben Ort, waren zusammen gereist und befanden sich in diesem Moment aus offenbar dem gleichen Grund an einem Ort, an dem sie nicht hätten sein dürfen.

Das Leder des Sattels knarzte leise, als er absaß.

»Bitte verzeiht, Herr«, brachte er besorgt hervor und zog seinen Hut. »Benötigt Ihr Hilfe?«

Der Verletzte drehte den Kopf zur Seite, so als wolle er der Stimme entkommen, die zu ihm sprach. Er versuchte den Kopf zu schütteln, doch er brachte es nicht fertig.

»Wartet, ich bringe Euch dahin zurück, wo Ihr herkommt. Man wird sich um Euch kümmern. Ihr braucht einen Arzt.«

»Nein, nein«, krächzte der junge Mann. »Nein.« Er schlug nach dem Unbekannten, versuchte zu treten. »Auf keinen Fall, nein …« Er wusste nicht, wovon der Reiter sprach, spürte aber tief im Herzen, dass er alles wollte, nur nicht zurück.

»Ihr könnt hier doch nicht derart sitzenbleiben.« Der Reiter hob den Blick, sah zu dem Waldstück, durch das der Verletzte geirrt sein musste. Geirrt würde des Rätsels Lösung sein, es wirkte nicht so, als hätte der junge Mann bei vollem Bewusstsein entschieden, davonzulaufen. Aber er mochte sich täuschen, so heftig wie der Verletzte reagierte. Noch lag das Unterholz ruhig vor ihnen, man war zu beschäftigt, aber es wäre nur eine Frage der Zeit, bis man ihnen folgte, und diese Zeit rann ihnen wie Sand durch die Finger.

Der Verletzte hatte sich inzwischen beruhigt und versuchte mit zitternden Fingern, die Schnallen des Kürasses zu öffnen. Es wollte ihm nicht gelingen. Er gab auf und strich fahrig über den kalten, ziselierten Stahl.

»Moment, das haben wir gleich.«

Kurz darauf lagen der prächtige Brustpanzer und das Rapier mit seinem goldverzierten Gehänge im Gras. Der Reiter hatte den Verletzten von allem befreit, was ihn gefangen hielt, nun sah er aus wie ein normaler Mensch, der vom Baum gefallen war.

»Kommt«, forderte er ihn leise auf. »Wir werden einen besseren Ort finden, an dem Ihr Euch ausruhen könnt.«

Er zog den Verletzten auf die Beine, stützte ihn, grübelte, ob es eine gute Lösung sei, den jungen Mann auf den Hengst zu setzen, und entschied sich dazu, es lieber mit seiner eigenen Stute versuchen zu wollen. Der Schimmel wirkte zu verstört, als dass es Sinn ergeben hätte, ihm eine halbe Leiche in den Sattel zu setzen.

Während die Sonne langsam ihre Bahn zog, suchten sie sich den Weg nach Westen, immer entlang des Waldes, um im Notfall untertauchen zu können. Es waren mühsame Meilen, eine nach der anderen. Zehn Tage lang hatte es nicht geregnet, was fast schon wunderlich gewesen war nach diesem kalten und verregneten Sommer, der eine solche Bezeichnung nicht verdient gehabt hatte. Nun tat die Trockenheit in doppeltem Sinne gut, denn der Boden würde ihre Schritte nicht verraten. Sobald sich der leichte Staub wie ein raues Tuch über Fuß- und Huftritte gelegt hätte, würde ihnen so schnell niemand folgen. Wenn sie nur nicht so furchtbar langsam wären, befand der Reiter, aber ein Blick auf den Verletzten machte seine Hoffnung zunichte, dass sie ihre Flucht beschleunigen könnten. Wie ein Halm im Wind wippte der Oberkörper des jungen Mannes vor und zurück, hin und her. Er brachte gerade einmal die nötige Kraft auf, nicht bewusstlos vom Pferd zu stürzen. Also mussten sie weiterhin so schnell und gleichzeitig so langsam wie möglich fliehen, ein Zustand, der an den Nerven zerrte. Hinzu kam der Hengst, der mal ein Stück vorausgaloppierte, dann zurückblieb, sie aber nie aus den Augen ließ. Immer wieder näherte er sich dem Verletzten und wirkte enttäuscht, wenn sein gewohnter Reiter kein Lebenszeichen von sich gab. Unwirsch schüttelte er den Kopf. Das prächtige Kopfstück klirrte leise.

Sie würden die Nacht über nicht in der Nähe des Weges lagern können, also wurde es Zeit, sich ins Unterholz zu schlagen. Der Reiter zog die Stute hinter sich her. Sie zögerte kurz, dann stieg sie gehorsam in die Büsche hinein, kämpfte sich durch das Dickicht aus Brombeeren und Heckenrosen, bis sie nach wenigen Fuß Wegstrecke auf offenen Waldboden trafen. Nur noch wenige dürre Schösslinge kämpften hier um ein Leben im Schatten der großen Bäume. Der Hengst folgte ihnen, trabte mit erhobenem Kopf, glücklich prustend, durch das Unterholz, so als sei er es gewohnt, derart umherzustromern. Einige späte Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Blattwerk der Eichen und Buchen, wie Spinnweben durchzogen sie die Luft, nur dass man durch sie hindurchreiten konnte, ohne dass sie einen einfingen und festhielten. Irgendwann bemerkte der Reiter einen schmalen Pfad, bei dem es sich um einen Wildwechsel handeln mochte. Da er in der Ungewissheit einladend wirkte, beschloss er, ihm zu folgen. Gewunden führte der rätselhafte Weg mal durch einen kleinen Bach, dann einen seichten Hügel empor, bis er schließlich auf einer Lichtung endete, auf der eine winzige Holzhütte stand. Zur Freude des Reiters war das Dach heil, und zudem sah sie verlassen aus. Einzig die Katze, die vor dem Haus faul in der Sonne lag, hätte man als Zeichen deuten können, dass in dieser Hütte jemand wohnte.

»Wir scheinen Glück zu haben«, sagte er leise zu dem Verletzten, der zwar kurz die Augen öffnete und ihn ansah, aber sofort wieder wegzudämmern schien.»Ich denke, hier finden wir Ruhe.«

Der Plan sollte so einfach nicht aufgehen.

»He!«

Erschrocken sprang der Reiter herum und wollte sein Rapier ziehen, doch er stockte, als er sah, dass sich ihnen nur ein schmächtiger junger Mann näherte. Dessen Alter war schwer zu bestimmen, durch Hunger und Auszehrung mochte er jünger sein, als er wirkte. Mindestens aber achtzehn Jahre. Die großen Augen in seinem schmalen Gesicht leuchteten misstrauisch. Als einzige Waffe hielt er eine hölzerne Mistgabel in Händen, die schon bessere Tage gesehen hatte.

»Was wollt ihr hier? Verschwindet!«

Der Reiter zögerte. Während er grübelte, ob es klüger sei, zu flüchten, trabte hinter ihnen der Schimmel auf die Lichtung, schüttelte sich vom Kopf bis zum Schweif und begann zu grasen.

»Was wollt ihr hier?«, wiederholte der junge Mann die Frage. Seine Stimme wurde drohender. »Hat es euch die Sprache verschlagen? Was habt ihr hier zu suchen? Ihr seid Soldaten, oder etwa nicht? Wollt ihr uns ausrauben?«

»Niemand plant irgendwen auszurauben.«

»Dann lasst uns in Ruhe. Verschwindet!« Der junge Mann hob seine Waffe. Er ahnte, dass die beiden Männer keine Marodeure waren, zumindest bislang nicht. Dass es sich aber um versprengte Soldaten handelte, das mochte so sicher sein wie das Amen in der Kirche.

»Ich bitte dich um eine Bleibe für diese eine Nacht. Wir reisen morgen früh weiter.«

Ein leises Lachen war die Antwort. »Und warum sollte ich so verrückt sein, euch hier übernachten zu lassen, mit diesen Kleidern voller Blut? Schert euch zum Teufel!«

Der Reiter warf einen zögernden Blick zu dem Verletzten und ahnte, dass er ihn nicht weiter mit sich schleppen konnte. Der junge Mann benötigte dringend Pflege und eine Möglichkeit, sich zu erholen.

Anstatt also den Forderungen Folge zu leisten, löste er sein Rapiergehänge und ließ es mit leisem Klirren vor sich auf den Boden fallen. Ebenso verfuhr er mit Pistolen und Dolch sowie dem Bandelier mit seinen Pulverdosen und dem Behältnis für die Kugeln, die er für seine Muskete benötigt hätte. Die Schusswaffe hatte er schon vor Stunden fortgeworfen, ebenso wie die Zündschnur. Nun stieß er den Rest mit dem Fuß von sich.

»Nimm das, ich bitte dich. Wir können nicht mehr weiter, und wenn wir hier nicht rasten, wo dann?«

»Im Wald? Wenn ihr desertieren wollt, warum begebt ihr euch unter Menschen und schlaft nicht im Wald?«

Da hat der Kerl vollkommen recht, dachte der Reiter. Mit einem erneuten Blick auf den Verletzten wollte er alles wieder zusammenraffen und die Stute in Richtung Wald führen, aber er zögerte. »Lass uns hierbleiben, ich bitte dich. Meinen Begleiter hat es schwer erwischt, das siehst du doch. Es wäre besser für ihn, wenn er nicht im Wald schlafen müsste. Er braucht ein Dach über dem Kopf.« Die Stimme wurde schwächer, je länger der Mann sprach. Die Erlebnisse des Tages raubten auch ihm inzwischen selbst alle Kräfte.

»Sie können doch auf dem Strohhaufen neben der Hütte schlafen, Jonas«, rief eine helle Stimme vom Wald her. Ein Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren näherte sich langsam, gesellte sich zu ihrem Bruder und beobachtete aufmerksam die beiden ungebetenen Gäste.

»Das wäre leichtsinnig, Ianthe, lass dich nicht blenden. Sie sind Krieger und sie haben getötet. Solchen Menschen darfst du nicht vertrauen.«

Ianthe runzelte die Stirn. Sie bemerkte, wie der Reiter im Sattel immer wieder leise jammerte und zusammengekrümmt auf Erlösung zu hoffen schien. Ebenso wie sein Begleiter, der mit schweißbedeckter Stirn von einem Fuß auf den anderen trat, scheinbar nicht wissend, was er noch sagen oder tun sollte.

»Lass sie bleiben, Jonas. Er bittet uns, und wir sollten ihm diesen einfachen Wunsch nach Hilfe nicht abschlagen. Es gehört sich nicht. Nimm die Waffen und wir verriegeln die Tür.«

Jonas rammte die Mistgabel in den Boden. »Eine Nacht!«, rief er.

Der Reiter sah ihn an.

»Eine Nacht dulde ich dich hier. Und du schläfst mit deinem Kameraden draußen im Stroh.«

Ianthe glaubte, beide Männer erleichtert ausatmen zu hören.

»Danke. Zum Morgengrauen seid ihr mich los, aber bitte kümmert euch um meinen Begleiter.«

Jonas wollte längst wieder den Kopf schütteln, aber Ianthe kam ihm zuvor.

»Du siehst doch, dass er krank ist, Bruder, also lass ihn schon bleiben.«

Jonas schwieg. Vor seinen Augen zog der Soldat den Verletzten aus dem Sattel und trug ihn zu dem überdachten Bereich neben der Hütte, wo neben einem Stapel Holz ein kleiner Resthaufen Stroh aufgehäuft lag. Das schräge Dach aus grob gehauenen Latten schützte es vor Nässe, hinten und zur rechten Waldseite hin gab es zudem eine niedrige Wand aus Reisig. Im Licht der untergehenden Sonne wirkte der Platz fast einladend.

Sobald der Verletzte im Stroh lag, seufzte er tief, so als habe er in seinem Dämmerzustand bemerkt, dass er endlich weich liegen konnte.

»Mädchen?«

Ianthe näherte sich zögerlich.

»Er wird dich brauchen.«

»Herrje«, entkam es ihr, als sie einen genaueren Blick auf den jungen Mann geworfen hatte. Sie bemerkte das über und über mit Blut besudelte Gesicht, den verkrusteten Bart und die tiefen Furchen, welche der Schmerz in seine Züge gegraben hatte. »Ein klein wenig kenne ich mich mit Wunden aus, aber …«

»Ich hoffe, er übersteht es. Es werden noch Tage vergehen, bis er wieder gesund ist, deshalb kann ich ihn nicht mit mir nehmen. Bitte sorge dafür, dass er in nächster Zeit nicht unter Menschen geht, es ist sicherer für ihn. Und um alles in der Welt meidet die Soldaten.«

Ianthe warf ihm einen fragenden Blick zu. Diese Warnung erschien ihr merkwürdig, wo doch jeder die Soldaten mied, wenn ihm sein Leben lieb war.

»Er dürfte nicht hier sein«, erklärte der Mann leise. »Ich dürfte nicht hier sein, aber er schon gar nicht.«

***

Im letzten Schein des Tages setzte sich Ianthe an den Holztisch in der Mitte der Hütte, die nicht mehr als vier Schritt breit und fünf Schritt lang war. In ihr gab es nur diesen einen Tisch, zwei notdürftig zusammengezimmerte Schemel, eine Feuerstelle mit einem uralten Eisentopf und eine Art kleines Podest mit Schlafstellen. Zwei alte, strohgefüllte Säcke dienten den Geschwistern als Matratzen, darauf lagen mottenzerfressene Wolldecken und ein paar wenige Hasenfelle. Das Podest selbst schützte nur mäßig vor Ungeziefer und Feuchtigkeit.

Seit mehreren Jahren lebten sie nun schon auf dieser Lichtung und niemand hatte ihr Refugium je gefunden. Mit dem Eintreffen der beiden Soldaten mochte dies ein Ende haben. Sie griff sich eine kleine Lindenholzschatulle, die auf einem Balken an der seitlichen Wand stand. Ein feines, geschnitztes Rankenmuster zierte ihren Deckel, und sie enthielt in Form eines Büchleins die einzige Erinnerung, die Ianthe mit ihrer Mutter verband. Ab und an griff sie es sich und las darin, aber stets so vorsichtig, dass es auch nach Jahren noch immer in hervorragendem Zustand war, sah man von den gewellten Seiten ab, die die ewige Feuchtigkeit hervorgerufen hatte. Sie drückte ihren Schatz an sich und legte dann alles wieder zurück an seinen Ort. Selbst wenn sie Räuber bei sich aufgenommen hatten, was sollten die ihnen rauben? Sie besaßen rein gar nichts. Und Räuber neigten vermutlich nicht dazu, Bücher zu stehlen.

Entschlossen griff sie sich einen tönernen Krug, füllte ihn mit kühlem Quellwasser und brachte ihn den zwei Männern. Der Verletzte schien vor Erschöpfung tief zu schlafen, stellte sie fest, und selbst sein Begleiter brachte nicht mehr als ein hölzernes Nicken zustande, dann starrte er weiter reglos in den Wald. Still und nachdenklich zog sie sich zurück, bemerkte erst spät, dass Jonas ihr mit der Mistgabel gefolgt war. Sie schüttelte den Kopf, schob ihren Bruder sanft zur Hütte zurück und beobachtete dort, wie er die Tür nach allen Regeln der Kunst verrammelte. Misstrauisch horchte er immer wieder nach Geräuschen, doch alles blieb still und nichts ließ darauf schließen, dass draußen überhaupt jemand lag. Die Nacht verstrich schnell und ohne Vorkommnisse, Schlaf fanden sie trotzdem nicht.

Als der Morgen graute, holte sich der Soldat seine Waffen, sattelte die Stute und machte sich auf in den Wald. Bevor er im fast undurchdringlich scheinenden Gewirr der Bäume und Sträucher verschwand, warf er einen letzten Blick zurück auf die Lichtung, dorthin, wo der junge Mann lag. Er war erleichtert, ihn versorgt zu wissen, und wollte nur noch eins: gen Norden reisen. Fort von dem Elend.

Ianthe beobachtete den Aufbruch des Reiters. Sie lugte aus der Hütte, lehnte sich an den Türrahmen und zog sich ihre Wollstola enger um die Schultern. So sehr sie Jonas’ Misstrauen verstand, so stark war ihr Glaube, dass von diesen beiden Männern keine Gefahr ausging. Die wahre Bedrohung lauerte irgendwo jenseits des Waldes, und sie war ihnen inzwischen näher, als ihr lieb war.

Nachdenklich trat sie zu dem Verletzten, den sie in Zukunft nur noch den Fremden nennen wollte. Sein Zustand hatte sich verschlechtert, stellte sie fest. Er fieberte stark und zitterte vor Schüttelfrost. Eilig holte sie ihm eine ältere, geflickte Wolldecke, packte ihn so gut es ging darin ein und versuchte, ihm einen Sud aus Weidenrinde einzuflößen, der, abgesehen von wenigen Schlucken, größtenteils im Spitzenkragen versickerte. Die Säuberung der Wunde war nicht weniger schwierig, denn sie hatte sich bereits oberflächlich geschlossen. Mit warmem Wasser löste Ianthe die Kruste und rümpfte ihre Nase über Eiter und Fäulnis, die ihr entgegenquollen. Sie spülte die Wunde mit kaltem Salbeiaufguss und verband sie mit dem saubersten Tuch, das sie finden konnte.

Nun würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als zu warten. Mit fortschreitender Stunde war die Waldlichtung erwärmt vom Sonnenlicht, die vereinzelten langen Gräser beugten sich einem seichten Wind, um kurz darauf wieder der Sonne zu trotzen. Hummeln surrten von Kleeblüte zu Habichtskraut und vorbei an einer dicken Butterblume, auf der sich eine nicht minder dicke Biene im Pollenstaub vergnügte, und über allem lag eine große Ruhe, die nur gelegentlich von einer zarten Vogelstimme durchbrochen wurde. Es war Mittagszeit, und auf seinem Lieblingsplatz vor der Hütte rekelte sich der alte, getigerte Kater in der Sonne. Dann und wann erwachte er aus seinem Schlaf, nur um kurz aufzustehen, sich einmal um die eigene Achse zu drehen und sich leicht verändert wieder hinzulegen. Er hatte nur noch ein himmelblaues Auge und war der Hüter dieses Waldflecks.

Ianthe saß neben dem Fremden und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Etwa alle halbe Stunde tauschte sie die kühlenden Tücher aus, die sie dem jungen Mann um Arme und Beine gewickelt und oberhalb der Verletzung auf den Kopf gelegt hatte. Ihre Behandlung schien Erfolg zu haben, denn zum frühen Abend hin fieberte er nicht mehr so stark. Er schlief ruhiger und entspannter und wirkte gar zufrieden.

In einem ruhigen Moment, zwischen zwei Umschlagwechseln und während Jonas auf Jagd war, ging Ianthe in die Hütte und trank etwas Wasser aus einem der zwei Eimer, die sie besaßen. Ganz in Gedanken versunken setzte sie sich mit dem hölzernen Becher in der Hand auf einen Schemel und blickte durch die Tür in den Wald. Ein Fenster besaß die Hütte nicht, nur eine Öffnung unterhalb des Daches, damit der Rauch des Feuers abziehen konnte. Zumindest die kleine Feuerstelle hatten sie mit Bruchsteinen befestigt, alles andere war aus dem Holz des Waldes gefertigt oder irgendwann einmal auf Jonas’ Wanderungen durch die umliegenden Dörfer gefunden oder erworben worden.

Damit der Wind im Winter nicht zu arg durch die Ritzen zwischen den groben Brettern zog, hatten sie ein Gemisch aus Lehm und Stroh in die Lücken geschmiert, was durchaus half, aber immer wieder erneuert werden musste.

Das Rascheln der Büsche am Rand der Lichtung ließ sie aufhorchen. Sie streckte den Kopf aus der Hütte und erkannte schnell, dass Jonas auf seiner Jagd Erfolg gehabt hatte: Ein Rebhuhn war ihm in die Falle gegangen. Peter folgte ihm mit freudig erhobenem Schwanz, längst wissend, dass etwas Fleisch von dem kleinen Vogel eine dürre Maus bei Weitem übertraf.

Ianthe lief ihrem Bruder freudig entgegen und erreichte ihn auf Höhe des Unterstands. Jonas warf einen zweifelnden Blick auf den Fremden. »Schläft er immer noch?«

»Ja. Aber das Fieber ist zurückgegangen, seitdem ich ihm die kühlen Wickel gebe. Da fällt mir ein: Es ist bald wieder Zeit. Sie müssten inzwischen warm sein.«

»Gut, ich mache mich solange ans Zupfen.« Jonas verschwand mit seinem Jagderfolg in der Hütte. »Dann haben wir wieder einige Feder für die Kopfkissen. Aber wehe, du schimpfst hinterher, dass es zu gerupft aussieht.«

»Da mach dir mal keine Gedanken«, rief Ianthe ihm hinterher. »Wie arg auch immer du das Huhn zurichtest, ich werde es schon essen, so laut wie mein Magen knurrt. Wenn du sie knusprig brätst, esse ich wahrscheinlich sogar die Federn.«

Kaum hatte sie das letzte Wort gerufen, als zum ersten Mal eine Regung durch den Körper des jungen Mannes ging. Er bewegte sich verhalten, lag dann für eine Weile wieder ruhig und öffnete schließlich blinzelnd die Augen. Da Ianthe seitlich von ihm saß, fiel sein schmerzender Blick nur auf ein paar Holzbalken und den abendlichen Wald dahinter. Er suchte mit den Händen nach Halt, um sich aufzurichten, rutschte aber mehrfach ab.

»Wartet, ich helfe Euch.« Ianthe griff nach seinem Arm und jagte dem Verletzten einen solchen Schrecken ein, dass er zusammenfuhr und sie selbst quietschte.

»Ent- Entschuldigung«, stammelte sie. »Habe ich Euch wehgetan?«

»Brauchst du Hilfe?«, hörte sie Jonas aus der Hütte rufen.

»Nein«, kam ihre Antwort vorsichtig zurück. »Alles gut.« Sie wandte sich zu dem Fremden. »Habt Ihr große Schmerzen? Möchtet Ihr etwas trinken?«

Im Kopf des jungen Mannes jagten die Gedanken durcheinander. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wo er und vor allen Dingen, wie er an diesen Ort gekommen war. Es herrschte eine beängstigende Leere in seinem Kopf. Nur eins wusste er. »Ja, bitte.« Der Durst war schier unerträglich und seine Kehle so rau, als sei sie mit Sand überzogen.

Bevor Jonas überhaupt von seinem gerupften Rebhuhn aufschauen konnte, war Ianthe in der Hütte, schnappte sich einen Holzbecher voll Wasser und verschwand wieder um die Ecke.

»Brauchst du wirklich keine Hilfe? Ist er endlich zu sich gekommen?«

»Es ist alles gut«, wiederholte sie nur.

Draußen hockte sie sich neben den Fremden und flößte ihm vorsichtig das Wasser ein. Er trank wie ein Halbverdursteter und hatte den Becher schnell bis zum Grund geleert.

»Möchtet Ihr noch etwas mehr?«

Die Antwort war ein schwaches Kopfschütteln, dem kurz darauf eine schmerzverzerrte Miene folgte. »Nein«, kam dem Verletzten mühsam über die Lippen. »Danke.«

Er versuchte, sich hinzusetzen, jedoch ohne Erfolg. Seine Arme fühlten sich so kraftlos an, als hätte er sie seit Wochen nicht benutzt. Auch der Rest seines Körpers war durchzogen von Schwäche, und wenn er den Kopf bewegte oder die Augen öffnete, dann drehte sich die Welt um ihn in schwindelerregender Geschwindigkeit. So döste er eine Weile vor sich hin, versuchte, sich auf die Gesänge der Vögel zu konzentrieren, die er durch den Nebel des Fiebers und Schmerzes wahrnahm. Schließlich holte ihn die Erschöpfung und ließ ihn erneut einschlafen.

Ianthe bemerkte, wie der Verletzte im Stroh zusammensackte. Sie lauschte seinem gleichmäßigen Atmen und beschloss, ihn für kurze Zeit allein zu lassen. Müde von den Ereignissen des Tages ging sie zu Jonas in die Hütte, der das Rebhuhn inzwischen so weit vorbereitet hatte, dass sie es nur noch zu braten brauchten. Er strahlte sie voller Vorfreude an, so als sei er ein dürrer Hund, der seit Tagen hungerte. Was auch der Wahrheit entsprach, wenn man näher darüber nachdachte. Ein Mensch konnte sich wie ein Hund über Essen freuen, wenn er nur lange genug darauf warten musste.

»Hatte ich recht? Ist er endlich wach?« Neugierig beobachtete Jonas, wie sich Ianthe auf ihren Schemel setzte, die Ellbogen auf den Holztisch stemmte und ihren Kopf in den Händen vergrub. Er bekam ein müdes Nicken als Antwort.

»Schön, wenn wir Glück haben, ist er auf dem Weg der Besserung. Hat er irgendwas erzählt?«

Sie schüttelte nur den Kopf. Weiter antwortete sie nicht. Also stand er auf und begann, das Feuer in der kleinen Feuerstelle zu schüren, legte Holz nach und beobachtete, wie die Flammen sich nach und nach Futter holten und bald genug Hitze boten, um das Rebhuhn zu braten.

»Hilfst du mir, ihn auf das Podest zu tragen?«, fragte Ianthe, nachdem sich Jonas wieder an den Tisch gesetzt hatte.

»Ianthe, er ist und bleibt ein Mensch, über den wir nichts wissen. Ich möchte nicht, dass er bei uns schläft. Es ist zu gefährlich.«

»Er kann doch heute Nacht nicht dort draußen liegen«, rief sie besorgt. »Er ist so schwach, er benötigt meine Hilfe.«

Doch Jonas spürte nur eine unklare Sorge in sich und bekam außer eines Kopfschüttelns nichts zustande.

»Gut.« Ianthe sprang auf und holte den Rest ihrer Lagerstatt vom Podest. »Wenn du ihn nicht in der Hütte duldest, dann übernachte ich mit ihm im Stroh. Irgendjemand muss auf ihn achtgeben.«

»Ianthe …« Er hob verwirrt den Kopf. »Wenn du bei ihm draußen schläfst …«

»Ja, dann kann er auch gleich hier drinnen bei uns sein. Aber ich habe mich entschieden, ich wache bei ihm im Stroh und gut ist es. Sobald ein Wolf oder Bär kommt, um uns beide zu fressen, schreie ich.«

»Nimm lieber das Messer mit«, sprach er so leise, als befürchte er, dass der Fremde ihn hören könnte. »Versteck es gut, dann bist du im Zweifel sicher, bis ich bei dir bin.«

Ianthe nickte. Stand auf und begann den Spieß, auf dem das Rebhuhn hing, zu drehen. Der Duft von gebratenem Fleisch erfüllte bald die Hütte und ließ allen Anwesenden das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auch der getigerte Kater kam angelaufen und bekam sein Stück vom Braten ab.

Spät am Abend saß Ianthe wieder bei dem Verletzten, eingewickelt in eine der mottenzerfressenen Wolldecken, die über die Jahre mehr und mehr einem Flickenteppich glich. Ein leichter, recht warmer Wind wehte über die Lichtung und durch ihre losen Haare. Sie schloss die Augen und folgte einem Tagtraum, als sie ein Rascheln aufhorchen ließ. Der Verletzte sog Luft in seine Lungen, als habe er sich vor etwas erschreckt. Sein Atem war schnell und gehetzt.

»Ist gut, ich bin da«, flüsterte sie und hockte sich neben ihn. »Habt Ihr etwas Schlechtes geträumt?«

»Ich sehe nichts mehr«, murmelte der Fremde entsetzt und brachte Ianthe ungewollt zum Lachen.

»Es ist Nacht«, erklärte sie sanft. »Ich sehe ebenso wenig, wie Ihr es tut. Wenn man sich konzentriert, kann man leichte Schemen wahrnehmen, mehr aber nicht.«

Das Atmen beruhigte sich.

»Möchtet Ihr noch etwas Wasser?« Sie suchte nach dem Krug, den sie in der Nähe eines Holzbalkens gelassen hatte.

Stille.

»Mir ist eher nach dem Gegenteil zumute«, kam es leicht gequält aus dem Dunkeln.

»Gebt mir Eure Hand!« Mit aller Kraft schaffte sie es, dem jungen Mann auf die Beine zu helfen und mit ihm ein Stück in die Büsche am Rande der Lichtung zu laufen, damit er seine Notdurft verrichten konnte.

»Herrje, ist mir übel«, sagte er leise.

»Sprecht nicht so viel, wenn es Euch die Kräfte raubt. Soviel ich weiß, ist Übelkeit vollkommen normal, wenn man sich den Kopf heftig stößt.«

»Wie konnte das geschehen?«

»Das wisst Ihr nicht? Ein Soldat hat Euch derart hierhergebracht, aber er hat nicht erwähnt, wie es dazu gekommen ist. Vermutlich habt Ihr gekämpft?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, brachte der junge Mann hervor. Er suchte nach Erinnerungen, fand aber nur dieselbe gähnende, schwarze Leere, wie sie ihn auch von außen umgab. Ratlos ließ er sich zurück ins Stroh sinken.

»Danke.« Er spähte in ihre Richtung, um Näheres über die Person herauszufinden, die ihm geholfen hatte, aber mehr als ihre Umrisse konnte er nicht ausmachen. »Wie heißt du?«, versuchte er schließlich, seine Neugier anderweitig zu befriedigen. Nach ihrer Stimme zu urteilen, war sie jung.

»Ianthe, und Ihr?«

Wieder Stille.

»Habt Ihr denn keinen Namen?«, amüsierte sie sich, bis ihr dämmerte, dass der Fremde alle Erinnerungen an sein früheres Leben verloren haben mochte.

Verzweiflung machte sich in seinem Kopf breit. Er erinnerte sich vage an ein weißes Pferd und an eine Wanderung durch den Wald, nein, vielmehr eine Art Flucht, aber Weiteres wollte ihm sein Kopf nicht enthüllen.

Als die Zeit verstrich und Ianthe noch immer keine Antwort erhalten hatte, entschloss sie sich, die Fragerei nach seiner Herkunft vorerst aufzugeben. »Habt Ihr Hunger?«

»Ja, mein Magen knurrt wie verrückt, ganz gleich, wie übel mir ist.« Die Stimme des Fremden versuchte hörbar, die Unsicherheit zu verdrängen. Er richtete sich vorsichtig auf. Jetzt, wo die Sonne untergegangen und die Luft kühl war, fühlte sich das Leben leichter an.

»Gut! Ich habe uns eine Art Rebhuhnbrühe gekocht. Mit ein paar Wurzeln und einigen Graupen. Nur fehlt uns das Salz, das als kleine Warnung.« Ianthe holte die Suppe und fütterte ihren Pflegling Löffel für Löffel, bis die Schüssel leer war. Wie ein junger Vogel öffnete er erneut den Mund. Sie lachte herzlich. »Tut mir leid, das war alles.«

»Verdammt«, kam ein leiser Fluch, dann sah sie im schwachen Licht des Mondes, der sich inzwischen durch die Wolken geschoben hatte, ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht huschen. »Vielen Dank, es schmeckte ausgezeichnet«, meinte er, gähnte vorsichtig und legte sich zurück ins wärmende Stroh. »Auch ohne Salz.«

»Na, dann ist ja gut«, schmunzelte sie ebenso, setzte sich auf ihren Strohsack und verkroch sich unter ihrer Decke. »Ihr habt recht, Ihr solltet jetzt schlafen. Ich halte währenddessen Wache.« Sie gähnte leise. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, kam die Antwort. »Schläfst du nicht?«

»Nein, ich werde die Augen oder besser gesagt die Ohren offenhalten. Falls sich Wölfe nähern.«

»Falls sich Wölfe nähern?«, wiederholte der Fremde. Dann blieb es ruhig.

***

FREMDER1. TraumNermberg, 1619

Ein Sturm brauste. Blätter und kleinere Zweige wirbelten durch die Luft, streiften das Gesicht des Jungen. Der prasselnde Regen hatte seine Kleider längst vollständig durchnässt. Und kein Schutz weit und breit. Nicht mal ein Weg, von dem er gewusst hätte, dass er ihn zurück nach Hause zur väterlichen Burg brächte.

Für kurze Zeit hielt der Junge inne, presste sich an die raue Borke einer alten Eiche und keuchte. Über ihm schossen die Blitze durch die Wolken und immer wieder hinab zur Erde, gefolgt von einem stetigen Donnern. Der Sturm spielte sein fürchterliches Spiel. Es war, als schleudere ein mächtiger Riese Blitze in den Wald, um die Bäume wie Kegel zu fällen. Immer wieder hörte der Junge das dumpfe Krachen, wenn einer von ihnen zerbarst und zu Boden stürzte.

In seinem ganzen bisherigen Leben hatte er kein solches Gewitter erlebt. Und ausgerechnet an diesem Nachmittag war er hinaus in die Wälder gelaufen, obwohl er die dunkle Wolkenwand bereits hatte aufziehen sehen. Er bereute es. Aber das Wissen half ihm nichts, denn er musste allein auslöffeln, was er sich eingebrockt hatte.

»Friedrich«, jammerte er leise. Er presste die Augenlider aufeinander und versuchte zu vergessen, was ihn in diese Situation gebracht hatte. Die Wut auf ihn! Den Vater.

Friedrich hingegen war nicht sein Vater, sondern der Hauptmann der herzoglichen Wache. Über die Jahre war der Junge ihm zugelaufen, weil er gemerkt hatte, dass er dort etwas bekam, was ihm innerhalb des Palastes verwehrt blieb. Ein liebendes Wort und eine feste Umarmung. Wärme.

Der Junge fror entsetzlich. Er schlotterte und wischte sich die Bäche aus dem Gesicht, die der Regen seine Haare hinabfließen ließ. Friedrich sollte kommen und ihn retten, aber er würde nicht wissen, wo er suchen musste. Denn als der Junge durch die Ställe über die Weiden zum Wald hin gestürmt war, hatte sich Friedrich jenseits der Burg befunden, unterwegs mit einem Auftrag, den er von Graalfs erhalten hatte, dem ach so geliebten Berater des Vaters. Der Junge hasste ihn von ganzem Herzen. Wenn er eines in seinem jungen Leben längst begriffen hatte, dann, dass dieser Berater der Grund war, weshalb alles, was der Junge trieb, falsch und verdorben und missraten war. Zumindest in den Augen des Vaters.

Er schluchzte leise. Ließ sich am Stamm der Eiche hinabgleiten und rollte sich zwischen den dicken Wurzeln zu einer Kugel. Er umfasste die Knie und stellte fest, dass ihm ganz langsam wieder wärmer wurde. So man es warm nennen mochte, wenn die Zähne ohne Unterlass aufeinander schlugen und die Gänsehaut den gesamten Körper bedeckte, wahrscheinlich sogar die Ohren.

Zur gleichen Zeit entkamen fünf Mutterstuten mit ihren Fohlen den herzoglichen Weiden jenseits der Burg. Umgestürzte Bäume hatten den Zaun an mehreren Stellen zerschlagen. In ihrer Panik vor den Blitzen und dem Sturm jagten die Pferde in den Wald, unter ihnen eine junge Schimmelstute mit einem erst vor wenigen Tagen geborenen Hengstfohlen. Die Tiere jagten wie kopflos dahin, scheuten immer wieder und verloren sich aus den Augen. Und mit einem Mal war das Fohlen allein. Seine Mutter war verschwunden, man würde sie auch später nicht wiederfinden.

Leise wiehernd trabte der kleine, braune Hengst durch das Unterholz. Er blieb stehen und hob den Kopf, versuchte, etwas Weißes zu erkennen in der Dunkelheit, doch da war nichts. Weiter ging es, tiefer hinein zwischen die Bäume. Niemand antwortete auf sein Rufen. Erst als das kleine Wesen längst die Hoffnung aufzugeben schien, dass es die Mutter wiederfinden könnte, entdeckte es etwas Helles am Stamm einer Eiche. Es versuchte es erneut mit einem Wiehern, und da plötzlich regte sich etwas. Das helle Wesen hob den Kopf und sah ihn an, aber es war kein anderes Pferd, es war ein Mensch.

Der Junge staunte. Er richtete sich langsam auf und bewunderte das ebenso nasse Pferdekind, das vor ihm stand und leise prustete. Er sah die Angst in den Augen des Tieres, es schien ähnlich verloren wie er selbst. Vorsichtig und ruhig streckte er seine Hand nach ihm aus, berührte das weiche, nasse Fell des Halses und strich vorsichtig darüber. Beinahe dankbar drückte sich der junge Hengst gegen ihn.

»Bleib bei mir«, sprach der Junge. »Sobald der Regen aufhört, wird alles besser.«

Das Fohlen hörte auf ihn, wenn auch aus anderen Gründen, als der Junge glaubte. Es war dankbar, eine freundliche Seele gefunden zu haben. In diesem Moment wurde das Band zwischen ihnen geschmiedet und sollte ein Leben lang halten.

Als Friedrich Melosch am frühen nächsten Tag mit seinen Männern in den Wald aufbrach, um den Jungen zu suchen, traute er seinen Augen nicht. Nach den Vorhaltungen des Vaters, wie es hatte sein können, dass das Kind entlief, hatte er sich selbst größte Sorgen gemacht. Nun aber kam ihnen der Junge entgegen, winkte strahlend und hatte ein Fohlen an seiner Seite, das ihm ohne jegliches Halfter folgte.

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Lichtung bei Nördlingen1634

Der Morgen brachte einen leichten Regen. Die kurz vor der Dämmerung aufgezogenen Wolken ergossen ihren Inhalt bedächtig und hartnäckig über die Lichtung wie auch kleine Hütte. Durch die tagelange Trockenheit begann die Welt um sie süßlich und verlockend zu duften. So schwermütig der frühmorgendliche Himmel war, Ianthe spürte ein winziges, ungewohntes Glück in sich keimen. Sie streckte sich auf ihrem Strohsack unter der klammen Decke aus, grub ihren Kopf ins Stroh und genoss die Entspannung, die durch ihren Körper floß.

Neben ihr lag der Fremde, inzwischen nicht mehr steif auf dem Rücken, sondern auf die Seite gerollt, und atmete ruhig. Sie hatte sein Gesicht reinigen können, und nun, da er nicht mehr aussah wie geradewegs der Hölle entsprungen, wagte sie, ihn zum ersten Mal länger anzusehen. Er mochte ähnlich jung sein wie sie selbst, vielleicht ein paar Jahre älter, nach seinem vollen Bart zu urteilen. Aber seine Züge waren fein, sah man von der auffallend säbelartigen Nase ab, die ihm trotz aller Jugend ein verwegenes Aussehen gab. Die tiefen Furchen des Schmerzes waren verschwunden, er wirkte ähnlich zufrieden wie sie selbst.

Während sie ihn weiterhin beobachtete, kam die Müdigkeit und ließ sie tief und fest einschlafen, wenn auch nur für kurze Zeit, dann hörte sie, wie Jonas die Tür der Hütte aufzog, die das Wort Tür nur deshalb verdiente, weil sie die Öffnung der Hütte verschloss. Angeln besaß sie keine, und fixiert wurde sie des Nachts durch ein Holzbrett, welches sie von innen davorhängten.

Kräftig gähnend schlich sie in die Hütte und begann, Hafer zu quetschen. Die so gewonnenen Flocken kochte sie in Wasser, bis eine schleimige Masse entstand, und füllte zwei hölzerne Schalen und einen alten Tonteller. Jonas schlang seinen Brei herunter und machte sich auf den Weg in den Wald, um zu jagen, sie selbst schnappte sich die beiden Schüsselchen. Am Unterstand angelangt, blickte ihr der Fremde bereits entgegen. Er hatte sich hingesetzt, den Kopf an die Reisigwand gelehnt, und wagte, sie aus halb geschlossenen Augen zu beobachten.

»Es tut mir leid, dass ich Euch nichts Besseres bieten kann.« Sie stellte ihre Mitbringsel vor ihm ab und bemerkte, wie er fasziniert die gräuliche, dampfende Masse bestaunte, die ihm vollkommen unbekannt schien. »Mit etwas Sahne schmeckt es besser«, bemerkte sie. »Nur, wir haben keine. Es ist wie mit dem Salz.«

»Salz wird ohnehin überbewertet«, glaubte er und begann sich vorzubeugen, um eine der Portionen zu ergreifen, doch der Schmerz, der ihm wie ein Blitz in den Kopf schoss, raubte ihm beinah die Besinnung. »Oh«, keuchte er und sank zurück.

»Bewegt Euch nicht«, sprang sie ihm zu Hilfe. »Ich füttere Euch wieder.«

Sie aßen schweigend, und Ianthe war froh, als sie seiner Nähe entkam und in die Hütte zurückkehrte. Ihm derart nah zu sein, fühlte sich seltsam an. Nicht unangenehm, aber seltsam und vor allen Dingen auf eine Art verrückt und befremdlich, dass sie sich hätte schütteln mögen.

Den Vormittag verbrachte sie unter einer Linde in der Nähe des Gatters, in dem sich der Schimmel aufhielt. Während die ausladenden Äste des alten Baumes sie vor dem Regen schützten, beobachtete sie, wie der Hengst gelegentlich den Kopf hob, mit Blick in Richtung des Verletzten, und argwöhnisch darüber zu wachen schien, dass sein Herr bei ihm blieb. Eine ungewöhnlich starke Bindung musste zwischen beiden existieren, denn in ihrem ganzen Leben hatte Ianthe noch kein Pferd gesehen, das einem Menschen so anhänglich folgte.

Zur Mittagszeit holte sie neues Wasser an der Quelle und reinigte die Hütte von zig goldenen Birken- und Lindenblättern, die der Wind von der Lichtung hineinwehte. Während sie den Reisigbesen zurück in die Ecke stellte, bemerkte sie die kleine Holzschatulle. Nachdenklich strich sie einige Staubflocken fort und versuchte, an ihre Mutter zu denken, doch wie so vieles aus dem alten Leben verblasste auch die Erinnerung an ihr Aussehen. Sie hätte nicht einmal mehr mit Gewissheit sagen können, welcher Farbe ihre Augen gewesen waren …

Die Stimme des Fremden riss sie aus ihrer Träumerei.

Kaum aus der Hütte, fand sie ihn totenbleich an einen Pfosten der Überdachung gelehnt. Bis zum Rand der Lichtung hatte er es ohne sie geschafft, aber auf dem Rückweg war ihm schwindelig geworden.

»Wartet, stützt Euch auf mich!« Sie brachte ihn zurück auf das Strohlager.

»Danke«, stöhnte er und hielt seinen Kopf mit beiden Händen, um dem pochenden Schmerz zu entkommen. Langsam ließ das Hämmern nach, nur ein dumpfes Pochen blieb zurück. Er atmete tief ein und entspannte sich. Als er die Augen öffnete, hockte Ianthe an seiner Seite.

»Geht es Euch wieder besser?«

Er musste sanft lächeln und hob nur die Hand als Antwort.

»Ihr hättet mich rufen sollen. Es macht mir nichts aus, Euch zu helfen.« Sie sah ihn mitleidig an, wie er so regungslos dasaß und sich um Haltung bemühte. Sein Gesicht glänzte vom feinen Regen. Auch die Haare waren mit einem filigranen Tropfennetz überzogen.

»Wisst Ihr inzwischen Euren Namen? Fremder?«

Er legte die Stirn in Falten. Nichts wusste er. Außer ... Er wandte den Kopf nach rechts, auf der Suche nach dem Schimmel. War dieser Hengst das Fohlen aus dem Traum? Es wirkte, als besäße sein Kopf des Nachts die Kraft, sich zu erinnern, bevor er sie beim Erwachen verlor.

Der Schimmel betrachtete ihn mit gespitzten Ohren ebenfalls und wieherte leise.

»So leid es mir tut, ich kann dir meinen Namen nicht nennen. Er will mir nicht in den Sinn kommen«, murmelte der Fremde. »Es ist das absonderlichste Gefühl der Welt.« Er wandte sich zu Ianthe und entdeckte, dass sie graublaue Augen hatte.

»Macht Euch keine Sorgen, wir belassen es bei Fremder, bis Ihr es leid seid«, befand sie schmunzelnd. »Jetzt werde ich erst einmal Euren Verband erneuern, und dann können wir nur hoffen, dass Jonas Erfolg auf der Jagd hat.«

»Wer ist Jonas?«

»Mein Bruder. Er ist etwas über ein Jahr älter als ich«, erklärte sie und rutschte näher an ihn heran. »Wundert Euch nicht, er grummelt immer mal wieder vor sich hin, besonders wenn er müde ist.«

»Und er geht auf die Jagd?« Der Fremde verzog schmerzlich das Gesicht, inbrünstig hoffend, dass sie den Verband schnell gelöst bekam.

»Ja, uns fehlen die Taler, um uns Mehl und Gemüse zu kaufen. Also versuchen wir, das Essen selbst anzubauen. Aber die Wurzeln sind in diesem Jahr nicht gut gewachsen, der Hafer ist uns halb verschimmelt. Das Wetter war zu kalt und feucht. Die wenige Gerste reicht nicht. Also muss Jonas jagen, um uns am Leben zu halten.« Ianthe machte sich daran, die Verbände zu wechseln. Die Wunde hatte sich bislang nicht vollständig geschlossen, aber es saß auch keine Entzündung darin, wie sie zufrieden feststellte. »Es ist gefährlich, denn er vergreift sich am Wild des Grafen. Wenn sie ihn fangen, hängen sie ihn auf. Und für die Rebhühner muss er furchtbar weit laufen, oft ist er den ganzen Tag unterwegs, denn sie verirren sich fast nie in den Wald. Er muss an die Waldränder, wo die Felder sind.«

Der Fremde sah sie an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch seine Gedanken schienen ihm zu abwegig.

»Er gibt sich Mühe, unsichtbar zu sein. Und er jagt fast nie etwas Größeres als ein Rebhuhn, aber manchmal lässt es sich nicht umgehen. Es bliebe ihm nur, Hühner oder Hasen bei den wohlhabenderen Bauern zu stehlen ...«

Sie stockte. War sie dabei, dem Falschen von dem verbotenen Handeln ihres Bruders zu erzählen? Nach der Kleidung des Fremden zu schließen, war er wohlhabend. Wohlhabender, als ihre Eltern es je gewesen waren. Möglich, dass er, kaum gesundet, den Häschern des Grafen von den Vergehen ihres Bruders berichtete.

Der Fremde schien zu ahnen, was ihr durch den Kopf ging. »Es wird unser Geheimnis bleiben«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Du kannst mir glauben, was und wer auch immer ich bin, ich werde kein Wort verraten.«

»Versprecht Ihr mir das?«

»In jedem Fall!«

Der Verband war gewechselt. Ebenso hatte sie versucht, die Haare des Fremden vom verkrusteten Blut zu befreien, jedoch ohne Erfolg. Er besaß rötliches Haar, schulterlang und sanft gelockt. Derzeit schien es dunkelbraun, schmutzig und verfilzt. Das dunkelrote Wams, das Hemd sowie der feine Spitzenkragen waren nicht minder blutverschmiert, zudem durch Staub und Erde in ihrer Farbigkeit beinah unkenntlich geworden. Beides ließe sich leicht entfernen, grübelte sie, mit ein wenig Seife. Doch weder besaßen sie welche noch konnten sie welche kaufen.

»Weshalb müsst ihr jagen?«, kam er indes noch einmal auf ihr Gespräch zurück. »Weshalb lebt ihr mitten im Wald, wenn es so gefährlich ist?«

»Wir sind Waisen, wir besitzen nichts mehr. Manchmal findet Jonas als Tagelöhner bei den Bauern Arbeit, aber das wenige Geld, das sie zahlen, reicht nicht fürs Überleben. Wir könnten auch in Nördlingen oder Donauwörth betteln und hausen, aber wir haben uns schon vor Jahren dazu entschieden, lieber hier im Wald als in den Gassen. um unser Leben zu kämpfen. Jonas fand, es sei sicherer.«

»Sicherer, ja, vermutlich«, wiederholte der Fremde und zuckte mit den Schultern. Noch so etwas, von dem er nichts wusste. Das Leben in Städten war ihm unbekannt. Nicht aber die Natur. »Es ist schön hier, das stimmt.«

»Zumindest im Frühjahr, Sommer und Herbst«, bestätigte sie lächelnd.

Ein Wiehern riss sie beide aus ihrer Nachdenklichkeit.

Der Hengst stand mit erhobenem Kopf, gespitzten Ohren und bebenden Nüstern am Zaun und blickte zu ihnen herüber. Er schien unruhig, sein ganzer Körper war angespannt.

»Er vermisst das Laufen«, stellte der Fremde fest, überrascht darüber, sofort zu wissen, was dem Schimmel fehlte.

»Das mag sein. So klein wie das Gatter ist, kann er nur ein paar Schritte traben«, bestätigte Ianthe. Ihr Blick ruhte auf dem Hengst, und sie bemerkte nicht, wie der Fremde sie prüfend musterte. »Im letzten Jahr hatten wir Schafe. Für ein paar Wochen, bis die Wölfe kamen. Für sie hat Jonas die Umzäunung gebaut. Ich wundere mich, dass Euer Pferd nicht einfach herausspringt …«

»Kannst du reiten?«

Ianthe runzelte die Stirn.

»Kannst du reiten?«, wiederholte der Fremde seine Frage. »Er würde sich bestimmt freuen, wenn er etwas Bewegung bekäme.«

Sie senkte den Kopf. Grübelte, ob sie es wagen sollte.

»Ja?«

Ianthe rang sich zu einem leichten Nicken durch. »Ich konnte reiten, aber nur ein wenig und es ist lange her, dass ich das letzte Mal Gelegenheit dazu hatte. Meine Eltern besaßen Pferde. Zwei, um genau zu sein. Doch keine so edlen wie Eures.«

»Eures.« Der weiße Hengst schien das einzige Wesen zu sein, welches den Fremden mit seiner Vergangenheit verband. Ein vertrautes Gefühl durchströmte ihn jedes Mal, wenn er den Schimmel zu Gesicht bekam. Es blieb ein Rätsel, wie lange er dieses Pferd schon besaß, und er wusste auch nicht, was sie zusammen erlebt hatten. Er konnte Ianthe nicht einmal garantieren, dass der Hengst gutmütig war. Da war nur dieses diffuse Gefühl, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.

»So viel anders als eure Pferde sollte er eigentlich nicht zu reiten sein«, glaubte er.

Bald stand Ianthe neben dem Gatter. Sie hatte den jungen Mann unter die alte Linde gebracht und ihn als zusätzlichen Schutz vor dem Regen mit der Decke zugedeckt. Jetzt saß er dort und beobachtete, wie sie mit dem Zaumzeug in der Hand zögernd am Reisigzaun stand, nur zwei Schritte von dem weißen Hengst entfernt, und sich nicht recht an ihn herantraute. Es war Unsinn, das war ihr bewusst, und doch zögerte sie.

Der Hengst rührte sich nicht, als sie zu ihm trat. Er wandte den Kopf zu ihr und ließ sich aufzäumen, öffnete sogar bereitwillig das Maul, ließ den Kopf gesenkt und wartete geduldig, bis sie seine Ohren unter dem Genickstück des Zaums hervorgezogen hatte. Er war vorbildlich erzogen. Das Satteln klappte nicht minder gut. Und ehe sie sich versah, stand Ianthe vor dem fertigen Schimmel, der nur noch darauf zu warten schien, dass sie endlich aufstieg.

Sie griff nach dem Steigbügel, setzte ihren Fuß hinein, wagte es und saß auf. So als wisse er um ihre Unsicherheit, blieb er regungslos stehen. Nur seine Ohren bewegten sich, mal zu ihr, mal in Richtung des Waldes. Ein jedes von ihnen schien sein Eigenleben zu führen. Sie musste schmunzeln und nahm die Zügel vorsichtig auf.

Einige Schrittrunden innerhalb der Umzäunung später bemerkte Ianthe, dass sie das Tor hätte öffnen sollen, bevor sie in den Sattel stieg. Denn die Fläche der kleinen Weide war für jegliche Vorhaben jenseits der winzigen Zirkel zu gering. Sie ritt den Schimmel zum Ausgang, wo sie das Gatter würde öffnen können, wenn sie sich ein Stück weit aus dem Sattel lehnte. Nur hatte sie das noch nie getan und sie wusste auch nicht, ob es dem Hengst gefallen würde. Da der Fremde aber wirkte, als sei alles in bester Ordnung, wagte sie es, löste den Stab, der die zwei Reisigelemente miteinander verband, ließ ihn fallen und schob das Tor auf. Und außer, dass der Hengst sich kurz mit einem schrägen Ohr über den dumpfen Aufprall des Holzes wunderte, geschah rein gar nichts.

Ich hätte es ahnen können, dachte Ianthe erleichtert.

»Das läuft doch gut, oder?«, kam es von der Linde her. »Er mag dich.«

Sie grinste glücklich. »Ich glaube, ja«, meinte sie und wagte drei weitere Runden um die Lichtung. Trabte schließlich an, und als sie sich kurz darauf auch einen Galopp getraut hatte, spürte Ianthe ein Glücksgefühl, wie sie es sehr lange nicht mehr empfunden hatte. Alle Anspannung war gewichen und gab einem wohligen Seufzer Raum.

Während sie so ritt, riss die dichte Wolkendecke auf. Die daraus hervorblickende Sonne brachte nicht nur die Wassertropfen auf den Grashalmen zum Glitzern und Verdampfen, für den Fremden wirkte es gar, als trüge der Schimmel seine Reiterin durch einen kristallinen Nebel, der sie beide zu Gespenstern werden ließ.

Als Jonas am Abend zurückkehrte, waren seine Hände leer. Weder Vögel noch Hasen waren ihm in die Finger geraten, und so freute sich Ianthe, dass sie noch einen Rest Rebhuhnbrühe vom Vortag übrig hatten. Jonas aß wie ein Mensch, für den es kein feineres Festmahl geben konnte. Er strich auch den letzten Rest Suppe mit dem Finger aus der Schale, und wäre er noch kleiner gewesen, dachte Ianthe, dann hätte er die Holzschale sicherlich auch ausgeleckt.

Müde warf er sich auf seinen Strohsack und schnarchte bald. Dadurch ergab sich für Ianthe die Gelegenheit, sich mit einer großen Schüssel Suppe unbemerkt aus der Hütte zu stehlen. Ihr Bruder musste nicht mitbekommen, wie viel sie von der feinen Köstlichkeit für den Fremden zurückgehalten hatte.

Der schien sie erwartet zu haben. Wie am Morgen ruhte sein Kopf an der Reisigwand, sodass er ihr entgegensehen konnte.

»Euer Essen«, sagte sie schlicht.»Ihr braucht einen sehr gesunden Hunger, wenn Ihr das verputzen wollt.« Sie hockte sich mit der Schüssel auf die Erde.

»Den habe ich.« Der Fremde warf einen interessierten Blick auf das Fleisch. »Ich hatte zumindest große Beschwerden damit, meinen Magen in den letzten Stunden so ruhig zu halten, dass er mit seinem Gebrummel nicht einen Bären anlockt.«

Ianthe musste lachen. »Ich glaube, ich kann Euch beruhigen. Es gibt in diesem Landstrich schon seit Längerem keine Bären mehr. Euer Magen hätte also ruhig noch weitergrummeln können.« Sie beobachtete ihn neugierig. »Geht es Euch besser?«

»Ich meine, ja«, kam die leise, fast kleinlaute Antwort auf ihre Frage. »Um ehrlich zu sein, kreist meine Welt immer noch bei jeder stärkeren Bewegung um sich selbst. Aber zumindest bin ich fast schmerzfrei, wenn ich mich vollkommen reglos verhalte. Und nicht rede.«

»Oh.« Ianthe machte ein derart verstörtes Gesicht, dass es den Fremden zum Lachen brachte. Und ihn kurz darauf die Lippen aufeinanderpressen ließ, bis das berstende Stechen verebbte.

»Um Himmels willen, sprecht nicht mehr. Ich werde Euch wieder füttern und dann müsst Ihr schlafen. Vorher werde ich nur noch einmal nach der Wunde sehen, aber es scheint, als hätte sie sich geschlossen. Der Verband ist nicht durchgeblutet.«

Mit ihrer Hilfe schaffte es der Fremde, die gesamte Schale zu leeren. Den winzigen Rest, der noch übrig blieb, ließ sich Ianthe vor Betreten der Hütte noch schnell in den Mund laufen. Jonas blickte ihr aufmerksam entgegen, sein kurzes Nickerchen schien ihm gut getan zu haben. Trotz allem bemerkte sie die kritische Falte auf seiner Stirn und ahnte, was kommen würde.

»Wie geht es ihm?«, bestätigte er ihre Befürchtungen.

»Nicht allzu gut.«

»Tatsächlich? Als ich vorhin von der Jagd kam, schaute er sehr aufmerksam aus der Wäsche.«

Sie schüttelte den Kopf, wollte antworten, bemerkte aber mit einem Mal die Pistole, die vor ihrem Bruder auf dem Tisch lag. »Wo … wo hast du die her?«

»Aus dem Hulfter an seinem Sattel. Es sind insgesamt zwei. Dazu hatte er noch Kugeln bei sich. Und Schießpulver. Wenn ich begreife, wie man die Pistolen lädt, können wir einige Wochen jagen. So es eine gute Idee ist, damit herumzuschießen, aber ich würde es wenigstens versuchen wollen.«

»Das heißt also, du duldest ihn vorerst auf deinem Grund und Boden, Bruder?«, stichelte sie. »Frag ihn doch einfach, ich denke, er zeigt dir, wie man damit umgeht.« Doch Jonas’ Widerwillen war nicht zu übersehen.

»Er wird’s nicht merken, wenn ich sie mal verwende«, glaubte er. »Was das Dulden betrifft, wage ich zu bezweifeln, dass er noch lange hierbleibt. Hast du daran mal gedacht? Wohin er verschwindet, wenn er wieder reiten kann? Wer er überhaupt ist?«

»Er weiß doch selbst nicht, wer er ist«, brachte Ianthe trotzig hervor. Sie bemerkte, dass sie den Moment, in dem der Fremde seinen Namen und seine Erinnerung wiederfand, fürchtete. Wahrscheinlich würde er so schnell es ging in seine alte Heimat zurückkehren, denn wo auch immer er herkam, es war ihm dort nicht schlecht ergangen. Warum um alles in der Welt sollte er also bei ihnen im Wald in dieser ärmlichen Hütte ohne jegliche Behaglichkeit bleiben und sich im Winter Frostbeulen holen?

Jonas schien ihre Gedanken zu erraten. »Er muss sehr reich sein«, meinte er nachdenklich. »Nicht nur sein Pferd ist mit dem edelsten Sattelzeug ausgestattet, er trägt Kleider, wie ich sie noch nie von Nahem gesehen habe.«

Sie nickte und weigerte sich, darüber auch nur nachzudenken.

Jonas grübelte. Er blickte starr in das warme Licht eines Kienspans, der die abendliche Hütte mäßig erhellte. Er wünschte sich für einen Moment, auch nur halb so gut zu leben, wie es dieser Fremde getan haben musste. So es denn der Wahrheit entsprach. Denn jenseits des Waldes suchte niemand nach einem jungen Mann. Keine Soldaten, die Häuser durchkämmten, Menschen befragten, nichts. Es schien, als wäre er vom Himmel auf die Erde gefallen, ohne Herkunft. Auf die gleiche Art, wie es in seinem Kopf keine Vergangenheit gab, existierte sie auch in der Welt selbst nicht. Wie konnte das sein?

Während er noch vor sich hin grübelte, schnappte sich Ianthe einen trockenen Zweig, hielt ihn ins Feuer, bis er brannte, und nahm ihn mit sich, um eine weitere Nacht im Freien zu verbringen.

»Magst du nicht wieder in der Hütte schlafen? Es wird ihm schon nichts passieren.« Jonas’ Blick war getränkt von Mitleid und Frustration.

Sie schüttelte den Kopf. »Ob du es glaubst oder nicht, ich fühle mich draußen wohl.« Vorsichtig trat sie mit ihrer Fackel in die finstere Nacht hinaus. Sie musste einen Anflug von Furcht unterdrücken. Jonas sollte nicht sehen, dass sie sich sehr wohl vor der Dunkelheit ängstigte. Welche zehn Pferde brachten sie dazu, alleine vor die Tür zu gehen? Tatsächlich war es nur ein Pferd, das sie dazu bewegte, und das sie als einzigen hellen Punkt in der dunklen Masse um sie herum wahrnahm, ein Pferd und dessen Herr.

»Schlaft Ihr schon?«, fragte sie vorsichtig, als sie den Unterstand erreicht hatte.

»Nein«, antwortete der Fremde und kniff die Augen zusammen. Ianthes Licht blendete ihn.

»Könntet Ihr das kurz halten? Ich mache uns eine Feuerstelle hier draußen, damit wir schlafen können.«

Der Fremde streckte die Hand aus und hielt die kleine, lodernde Fackel misstrauisch vor sich. »Beeil dich, bevor ich geröstet werde«, amüsierte er sich.

»Einen Moment, einen Moment«, erwiderte Ianthe und hastete davon, um ein paar Steine zu besorgen, sie vor dem Unterstand in einem Kreis aufzuschichten und Holz und Reisig von ihrem Vorrat hineinzustapeln. Der Fremde warf seinen Zweig dazu, sobald sie fertig war. Während zuerst das Reisig Feuer fing und bald darauf die dünnen, gefolgt von den dickeren Ästen, wurde die Unterkunft von warmem Licht erfüllt. Zu ihrem Glück hatte sich der Regen für diese Nacht endgültig verzogen, so würde das Feuer lange Zeit brennen.

***

Obwohl Ianthe gut und schnell einschlief, wurde sie mitten in der Nacht von zwei Käuzchen geweckt, die sich im Wald lautstark um ihre Reviere stritten. Während sie ihnen lauschte, geriet sie ins Grübeln. Sie legte Holz nach, genoss die auflodernde Wärme, beobachtete den Fremden oder sein schemenhaftes Pferd. Anders als Jonas glauben mochte, war ihr längst bewusst, wie arg das Leben durcheinandergeraten war. Nur dass sie diese Änderung weniger fürchtete und schon gar nicht fortjagen wollte. Sie wünschte sich, sie bliebe für immer. Bloß, ob sie diesem Verlangen trauen konnte, das wusste sie nicht.

Zur Dämmerung zog auf der Lichtung Nebel auf, kaum konnte man die Bäume am anderen Ende erkennen, nur ihre verwaschenen Silhouetten schimmerten bläulich durch die mausgrauen Nebelschwaden. Der schwere Geruch von feuchter Erde lag in der Luft und mischte sich mit dem rauchigen Duft des Feuers.

Während der Fremde tief und fest bis in den späten Vormittag hinein schlief, blieb Jonas auf der Lichtung. Er hatte es sich zur Tagesaufgabe erkoren, neues Brennholz zu schlagen, und mühte sich damit ab, einen kleinen Baum zu fällen. Er wollte ihn spalten, mit einer Axt, die über die Jahre stumpf geworden war.

Auch so eine Sache, dachte Ianthe, die längst hätte erledigt werden müssen. Allerdings stand der nächste Schleifstein mehrere Meilen entfernt bei dem Bauern, mit dem sie sich nicht gut verstanden, und Jonas’ Versuche, die Axt mit Steinen zu schärfen waren bisher wenig erfolgsversprechend gewesen.

Aus der Hütte heraus beobachtete Ianthe, wie er sich fluchend abmühte. Sie schüttelte ratlos den Kopf und begann, das prächtige Sattelzeug des Hengstes zu betrachten.

Dass Jonas sich, ohne zu fragen, eine der Pistolen gegriffen hatte, missfiel ihr. Trotzdem spürte sie eine ähnliche Neugier, was die Taschen betraf. Vielleicht gäbe der Inhalt Aufschluss darüber, wer sich auf ihre Lichtung verirrt hatte? Ohne weiteres Zögern begann sie zu forschen.

Jonas hatte die zweite Pistole am Vorabend an ihren angestammten Platz zurückgesteckt, sie fand somit beide Waffen wie erwartet vor. Eine nach der anderen holte sie sie heraus und drehte sie in ihren Händen, um sich die feinen Verzierungen aus Silber anzusehen, die sich wie Schlingpflanzen im Holz umherwanden. Sie waren derart groß und schwer, dass sie beide Hände benötigte, um eine von ihnen zu halten.

Sie stieß auf eine schmale Tasche am hinteren Ende des Sattels, die so geschickt verarbeitet war, dass man sie erst auf den zweiten Blick als solche wahrnahm. So stellte sie ein wunderbares Versteck dar. Und so enthielt sie denn auch einen plattgedrückten ledernen Beutel, dessen Inhalt dem Geräusch nach Münzen sein mussten. Sie zog ihn vorsichtig heraus und bemerkte sein beachtliches Gewicht. Vielleicht gab es hier einen Hinweis auf den Fremden.

Zwei Sekunden später bereute sie ihre Entscheidung. In ihrem ganzen Leben hatte sie keine Dukaten zu Gesicht bekommen. Es würden ganze dreißig sein, begleitet von mindestens fünfzehn Talern. So ein Reichtum! Sie griff einige der Münzen, ließ sie mit rasendem Herzen nacheinander zurück in den Beutel fallen …

Und bemerkte, dass sie beobachtet wurde. Vor Schreck rutschte ihr der Beutel aus der Hand und verteilte seinen Inhalt über den Fußboden. Während das Klimpern langsam abebbte und schließlich auch der letzte Taler aufhörte, sich zu drehen, und mit einem leisen PLING zur Ruhe kam, warf sie dem Fremden einen Blick zu, als habe sich dieser in einen fünfköpfigen Drachen verwandelt.

Er sah sie nicht minder überrascht an. Weniger allerdings, weil sie sich an seinem Besitz zu schaffen machte, als ob ihrer panischen Reaktion auf sein Erscheinen.

»T...tut mir leid«, stammelte Ianthe und machte sich daran, die Taler wieder aufzusammeln. Sie war so nervös, dass ihre Hände wie Espenlaub zitterten und die Finger immer wieder fahrig an den Dukaten vorbeigriffen. Beschämt lächelte sie zu ihm auf.