Lorén - Charlotte Uceda Camacho - E-Book

Lorén E-Book

Charlotte Uceda Camacho

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Beschreibung

Lorén, so heißt die wunderbare und sehr beliebte junge Frau, die völlig sinnlos und brutal im Jahr 2013 von ihrem Ex-Freund umgebracht wurde. Diese Tat hat das Leben der Familie Uceda Camacho für immer verändert. Es ist ein sehr schlimmes Ereignis, was sich niemals rückgängig machen lässt und tief in die Lebensbahnen der Hinterbliebenen, ganz besonders natürlich von Mutter, Vater und Schwester, eingegriffen hat. Die Mutter von Lorén, Charlotte, hat die Ereignisse nun mit großer Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und auch einer Art von höchster Genauigkeit geschildert: Zorn, Verzweiflung, Wut, Verlassenheit, Aufbäumen – so dass jeder, der das Buch liest, von dem so offenen Bericht erschüttert und im Innersten berührt ist. Zugleich wird in diesem Buch auf vielen Seiten mit Liebe an die Tochter Lorén erinnert. Auf diese Weise können wir das Wesen der Tochter erfahren, etwas zumindest auch mitempfinden, selbst wenn wir sie vielleicht bis jetzt noch gar nicht kannten. Es wird Tag für Tag geschildert, wie die Angehörigen sich in diese Fassungslosigkeit eines Verbrechens begeben, das heißt: begeben müssen, wie sie traumatisiert und in Trance die Ereignisse danach erfahren, all der Tage, Wochen, Monate ... bis hin zum Strafprozess gegen den Mörder und dessen Verurteilung. Selten findet man das alles auf Papier so wahrhaftig aufgeschrieben, was jährlich Tausende von Opferfamilien von schlimmsten Gewaltverbrechen durchmachen müssen. Dieses Buch will aber auch dazu beitragen, dass wir alle Lorén mit ihrer so positiven Ausstrahlung niemals vergessen werden.

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EPUB

Seitenzahl: 332

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INFO | TITEL

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Charlotte Uceda Camacho

LORÉN

Bericht einer Mutter über das Leben, die Liebe und die sinnlose Ermordung ihrer Tochter

INHALT

Lorén, so heißt die wunderbare und sehr beliebte junge Frau, die völlig sinnlos und brutal im Jahr 2013 von ihrem Ex-Freund umgebracht wurde. Diese Tat hat das Leben der Familie Uceda Camacho für immer verändert. Es ist ein sehr schlimmes Ereignis, was sich niemals rückgängig machen lässt und tief in die Lebensbahnen der Hinterbliebenen, ganz besonders natürlich von Mutter, Vater und Schwester, eingegriffen hat.

Die Mutter von Lorén, Charlotte, hat die Ereignisse nun mit großer Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und auch einer Art von höchster Genauigkeit geschildert: Zorn, Verzweiflung, Wut, Verlassenheit, Aufbäumen – so dass jeder, der das Buch liest, von dem so offenen Bericht erschüttert und im Innersten berührt ist.

Zugleich wird in diesem Buch auf vielen Seiten mit Liebe an die Tochter Lorén erinnert. Auf diese Weise können wir das Wesen der Tochter erfahren, etwas zumindest auch mitempfinden, selbst wenn wir sie vielleicht bis jetzt noch gar nicht kannten.

Es wird Tag für Tag geschildert, wie die Angehörigen sich in diese Fassungslosigkeit eines Verbrechens begeben, das heißt: begeben müssen, wie sie traumatisiert und in Trance die Ereignisse danach erfahren, all der Tage, Wochen, Monate ... bis hin zum Strafprozess gegen den Mörder und dessen Verurteilung. Selten findet man das alles auf Papier so wahrhaftig aufgeschrieben, was jährlich Tausende von Opferfamilien von schlimmsten Gewaltverbrechen durchmachen müssen.

Dieses Buch will aber auch dazu beitragen, dass wir alle Lorén mit ihrer so positiven Ausstrahlung niemals vergessen werden.

DIE AUTORIN

Charlotte Uceda Camacho

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek erfasst diesen Buchtitel in der Deutschen Nationalbibliografie. Die bibliografischen Daten können im Internet unter http://dnb.dnb.de abgerufen werden.

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Medien – auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere neuartige Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

HINWEIS: Deutsch ist überaus vielschichtig und komplex. Der Verlag versucht, nach bestem Wissen und Gewissen alle Bücher zu lektorieren und zu korrigieren. Oft gibt es allerdings mehrere erlaubte Schreibweisen parallel. Da will entschieden werden. Zudem ergeben sich immer wieder Zweifelsfälle, wozu es oft auch keine eindeutigen Antworten gibt. Schlussendlich haben auch die Autorinnen und Autoren ureigene Sprachpräferenzen, die sich dann bis in die Kommasetzung, Wortwahl und manche Schreibung wiederfinden lassen können.

Cover © Charlotte Uceda Camacho und Natalja Werner | Coverfotos © Charlotte Uceda Camacho und Maria del las Nieves Uceda Camacho | Lektorat: KUUUK | Ein Fotonachweis für den Innenteil befindet sich hinten im E-Book |

E-BOOK-ISBN 978-3-96290-014-4

Erste Auflage E-BOOK Januar 2019

HINWEIS: Es gibt auch ein Papierbuch.

KUUUK Verlag und Medien Klaus Jans

Königswinter bei Bonn

K|U|U|U|K – Der Verlag mit 3 U

www.kuuuk.com

Alle Rechte [Copyright] © KUUUK Verlag | [email protected] und © Charlotte Uceda Camacho

INHALTSVERZEICHNIS

Hier unten jeweils klicken und so zum Kapitel im E-Book springen

1. Lorén – Als noch alles gut war

2. Im Trancezustand, vielleicht für immer

3. Mutterliebe, Vaterliebe

4. Familiengründung, Janas und Loréns Eltern

5. Der Tag, an dem unser Leben zerbrach

6. Jana

7. Die nächsten Tage

8. Freigabe des Leichnams Lorén

9. Besuch aus Spanien

10. Beerdigung

11. Loréns Leben ausgebreitet auf dem Küchentisch

12. Abreise der spanischen Verwandten

13. Schock-Trauma und Anforderungen bewältigen

14. Polizeibesuch

15. Nachbarn

16. Der Weiße Ring

17. Opferschutzbeauftragte der Polizei und die Traumatherapeuten

18. Dem Teufel auf der Spur

19. Der Mörder und das Sinnen auf Rache

20. Provokation

21. Sachverständiger

22. Janas Bauchgefühl

23. Loréns Zimmer

24. Renovierung

25. Der Steinmetz

26. Vorbereitung auf den Termin beim Nebenklageanwalt Udo Schmack

27. Gesprächstermin bei Nebenklageanwalt Schmack

28. Die Akte

29. 3. Termin bei Anwalt Schmack

30. Zeitung lesen

31. Der Landrat

32. Überredungskünste und die Aufforderung, zurück ins normale Leben zu kehren

33. Aufregung bei der Prozessvorbereitung

34. Überredungskünste und die Aufforderung, zurück ins normale Leben zu kehren, Teil II

35. 4. September

36. Drohung

37. Brief an die Zeitung

38. Ladung

39. Gerichtsauftakt, 22.10.2013, 10:00 Uhr

40. 2. Verhandlungstag, 28.10.2013, 9:00 Uhr

41. 3. Verhandlungstag, 30.10.2013, 9:00 Uhr

42. 20 Tage Auszeit

43. 4. Verhandlungstag, 19.11.2013, 9:00 Uhr

44. 5. Verhandlungstag, 21.11.2013, 14:00 Uhr

45. Totensonntag, 24. November 2013

46. Schlaflos durch die Nacht

47. Lichter in der Dunkelheit

48. Unbeantwortete Fragen

49. Zeitungsartikel

50. Opferrechte wahrnehmen

51. Mai

52. Juni

53. Juli / August – Die Asservate

54. September

55. Oktober

56. November / Dezember

57. Siegener Gericht in den Schlagzeilen

58. Vorbereitung Zivilklage

59. Anruf beim ehemaligen Staatsanwalt Kämpfer

60. Das Fernsehen

61. Wut, die Versuchung und Gott

62. Der Mörder und die narzisstische Persönlichkeitsstörung

63. Richter Wolfram Müller

64. Rechtsanwalt Udo Schmack

65. Ladung / Prozess

66. Theorie von Wissenschaftlern

67. Lorén

68. Brief an Lorén

69. Fotos von Lorén

70. Worte der Autorin an die Leser

71. Nachbemerkung

72. Liste der veränderten Personennamen

73. Editorische Notiz

1.

Als noch alles gut war

2.

Im Trancezustand, vielleicht für immer

Wie in Trance realisiere ich, dass es sich bei dem unermesslichen Grauen, das Lorén widerfahren ist, nicht um einen Albtraum handelt, sondern um bittere Realität, unsere Realität, nicht auslöschbar. Das schnürt meinen Brustkorb zu, mit der Folge, dass ich nur ganz flach atmen kann, weil ein tiefer Atemzug der inneren Spannung nicht standhält. Manchmal glaube ich zu ersticken. Dann habe ich das Gefühl von unstillbarer Wut gegen all das Böse und die unglaubliche Ungerechtigkeit.

3.

Mutterliebe, Vaterliebe

JANA wurde zuerst geboren. Das war 1986. Wir haben Jana unbeschreiblich lieb. Eben, weil sie so ist, wie sie ist. Wir lieben ihren Blick, ihre Stimme, ihr Lachen, jedes Wort, das sie spricht. Wir lieben sie sogar, wenn wir streiten, wenn sie sauer auf mich oder José ist und wild herumwettert. Wir kennen sie nur zu gut und wir lieben die zarten Regungen ihres Herzens, ihre Freundlichkeit und ihre Verletzlichkeit. Wenn Jana unterwegs ist, denken wir jedoch nur gelegentlich an sie. Zuweilen ist sie uns ganz aus dem Sinn. Sozusagen nimmt sie unsere Gedanken an sie mit sich fort, zusammen mit ihrem eigenen Körper.

LORÉN ist tot. Als ich Lorén am 4. September 1988 zur Welt brachte, wurde mir klar, dass es wahr ist, dass auch beim zweiten Mal nichts von dem Zauber eines solchen Wunders, der Geburt eines winzigen Menschen, verloren geht. Lorén ist unsere tiefgründigste, innigste Liebe, die durch ihre Geburt lebendig wurde und sich zu dem bewundernswertesten, wundervollsten und atemberaubendsten Individuum entwickelt hatte, das wir drei je kennen lernen durften.

4.

Familiengründung, Janas und Loréns Eltern

José wurde 1958 in Madrid geboren. Er wuchs in einem Ort zirka 120 Kilometer südwestlich der spanischen Hauptstadt auf. Er lebte in einem Haus zusammen mit seinen Eltern Josefa und Angel und seinen Geschwistern. Als junger Mann zog es ihn auf die Baleareninsel Formentera, wo er als Kellner arbeitete. Ich hingegen habe meinen Geburtsort Siegen in Nordrhein-Westfalen nicht verlassen. Meine Eltern Toni und Kurt bauten ein Haus in Siegen-Geisweid, in dem ich 1961 geboren wurde und zusammen mit meinen Geschwistern aufwuchs.

1983, während einer Reise nach Spanien auf die Insel Formentera, lernte ich José kennen, der damals für das Hostal Ca-Marí arbeitete, in dem meine Freundin Karin und ich die Ferien verbrachten. Ich beherrschte die spanische Sprache damals schon recht gut, so dass dem näheren Kennenlernen nichts im Wege stand. Wir verstanden uns auf Anhieb und plauderten miteinander, wenn immer Zeit dafür war. Wir hielten Briefkontakt nach meiner Rückreise nach Hause. Damals kannten wir weder E-Mail noch Textnachrichten mit dem Handy und die Briefe, die wir uns schrieben, waren lange unterwegs, bis dass wir sie in den Händen hielten. Wir besuchten uns zu Weihnachten und zu Ostern.

José verließ sein Heimatland Anfang 1985 und kam nach Deutschland. Wir zogen zusammen. José bekam eine Arbeitsstelle im Unternehmen meines Vaters und im Mai 1985 heirateten wir standesamtlich. Jana kam im folgenden April zur Welt und im Mai 1986 fand die kirchliche Trauung statt, zeitgleich mit Janas Taufe. Von Beginn an wollten wir nicht nur 1 Kind haben und wir überlegten, den Abstand zu einem Geschwisterkind nicht allzu groß zu halten, so dass die Geschwister gemeinsam aufwachsen könnten.

5.

Der Tag, an dem unser Leben zerbrach

„Für dich werde ich 100 Jahre alt“, versichere ich Jana, während ich sie in meine Arme nehme. Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen dieses Versprechen für mich haben wird. Ich weiß in diesem Moment nur eines: Ich liebe mein Kind, und das mehr als mich selbst. Was es auch koste, ich werde mein Versprechen halten. Ich werde immer für sie da sein. Ich bin eben ihre Mutter.

Wir befinden uns auf dem Polizeirevier, als Jana, die vor ein paar Wochen ihren 27. Geburtstag gefeiert hatte, in kindlicher Verzweiflung lauthals nach ihrer Schwester ruft und schluchzt: „Jetzt habe ich keine Schwester mehr – jetzt bin ich ganz alleine. Mama und Papa, ihr seid bald alt und sterbt und ich bin dann ganz alleine.“ Das zerreißt gerade mein Herz, ein zweites Mal, innerhalb von nur wenigen Stunden.

Ich weiß nicht was, aber irgendetwas stimmt nicht mit mir.

Meine Sinneswahrnehmung ist so präzise wie noch nie zuvor. Ich sehe das Entsetzen in den Gesichtern der Polizisten, die um uns herumstehen. Fast scheu, die Luft anhaltend, voller Mitgefühl reichen sie uns die Hand und stellen sich vor. Dann bemerke ich, dass ich mir ihre Namen nicht behalten kann. Sobald jemand seinen Namen gesagt hat, weiß ich ihn schon nicht mehr. Die Namen fliegen durch mein Gehirn und ich kann sie nicht festhalten. Aber ich höre jedes Geräusch: Schritte auf dem Korridor, den Lärm der Autos von der Hauptstraße, jedes Papierrascheln ist unsagbar laut. Draußen zwitschern Vögel. Soll ich das „zwitschern“ nennen? Es hat nichts mit Waldfrieden, Ruhe oder Natur zu tun. Ich möchte mir die Ohren zuhalten – es ist wie lautes Gekreische. Hitchcock, Die Vögel, das trifft es. Ich will, dass sie still sind! Genau jetzt ist Weltuntergang, aber die Leute machen einfach weiter, als sei nichts geschehen. Merken sie es denn gar nicht?

Mein Innerstes schreit: „Bitte, hört auf Krach zu machen, bleibt doch stehen, hört auf euch zu bewegen!!!!“

Es fällt mir schwer, die Welt um mich herum zu ertragen. Nichts ist mehr normal. Wir folgen den Anweisungen der Polizisten und gehen getrennt, jeder einzeln mit einem Beamten mit, in unterschiedliche Räume des Polizeipräsidiums. Wir, das sind José, Jana und ihr Freund Chris, und ich.

Der Polizeibeamte setzt sich vor seinen Computer. Er fragt mich, was ich als Letztes mit Lorén erlebt habe. Mein Gott! Als Letztes! Ich begreife, dass dieses Endgültigkeit bedeutet. Lorén ist erst 24! Muss ich jetzt sagen „war“ 24? Ich kann das alles nicht realisieren. Ich bin ganz starr. Eben noch konnte ich mir keinen der Namen der Polizisten merken, aber jetzt kann ich jedes kleine Missverständnis des Protokollführers detailgenau korrigieren. Jede Einzelheit des letzten Tages habe ich klar und deutlich vor Augen. Ich konzentriere mich nur auf meine Aufgabe. Ich erlebe alles noch einmal:

Es ist Christi Himmelfahrt, Donnerstag, der 9. Mai 2013. Lorén hat die Nacht bei Alexander verbracht. Das ist ihr neuer Freund.

Nun, Lorén kommt erst am Nachmittag nach Hause. Wie immer spaziert sie über die Treppe hinterm Haus durch die Glastür ins Wohnzimmer.

„Hallo Mama, da bin ich wieder“, ruft sie freudig. Ich grüße sie: „Hallo, Lorénchen, hab dich schon vermisst. Hab dir Essen verwahrt, wenn du Hunger hast.“

Trotz des Feiertages verbringe ich den Tag damit, die Wohnung abzustauben und diverse Haushaltsarbeiten zu verrichten. Es sollte alles sauber sein, bevor wir in zwei Tagen nach Spanien reisen würden. Beruflich hatte ich die letzte Zeit ziemlich gut zu tun und deshalb wenig Zeit für die Hausarbeiten gehabt. Nun musste ich mich also ranhalten.

Lorén hatte am Tag zuvor schon damit angefangen, ihren kleinen Koffer zu packen. Ich muss daran denken, mit wie viel Freude und Sehnsucht ich mich am Mittwoch für zwei Wochen von einem meiner Englischkurse verabschiedet hatte. Ich erzählte, dass wir es endlich noch einmal organisieren konnten, als komplette Familie, also zu viert, zu verreisen. Wir freuten uns riesig darauf, mit den spanischen Verwandten Samuels Kommunion zu feiern. Samuel, das ist unser jüngster Neffe, Loréns Patenkind.

Anfang der Woche kaufte Lorén noch Quark und Joghurts ein und ein wenig zurechtweisend gab ich ihr zu verstehen, dass sie jetzt doch nichts mehr kaufen sollte, denn es sei zu schade, wenn die Sachen vor unserem Urlaub nicht mehr aufgebraucht werden könnten. „Mach dir keine Sorgen, es wird schon nichts umkommen! Ich verbrauche das schon alles noch rechtzeitig“, entgegnete sie, definitiv genervt von mir.

Am Nachmittag des 9. Mai geht Lorén zu ihrem Papa in den Garten und lässt sich von ihm einen Karton Hühnereier geben, frisch von unseren Hühnern, kommt zurück in die Küche, holt Schüssel und Mixer hervor. Sie backt einen Käsekuchen und danach noch kleine Quark-Fladenbrote. Die mag sie sehr, ein Rezept von früher, aus ihrer Grundschulzeit.

Als Lorén fertig ist, packt sie einen Teil davon ein, für Alexander, zu dem sie noch einmal aufbricht. Gerade bin ich im Begriff, Lorén zu sagen, dass ich ihr hier im Erdgeschoss ein Bett herrichte und sie nicht noch so spät im Dunklen durch den Garten hinterm Haus in ihr Zimmer im Untergeschoss gehen soll. Unglücklicherweise gibt es keine Treppe innerhalb des Hauses, die das Untergeschoss mit dem Erdgeschoss verbindet. „Ich bleibe nicht lange weg, Mama. Ich habe morgen keinen Brückentag. Ich gehe zur Arbeit und mein Wecker klingelt schon früh“, kommt sie mir zuvor. So glaube ich, sie später noch zu sehen, um sie zu bitten, hier oben zu übernachten. Sie sagt: „Tschüss, Mama“, geht durch die Terrassentür im Wohnzimmer nach draußen. Die Treppe hinunterhopsend, winkt sie Papa zu, der draußen auf der Gartenbank sitzt, steigt in ihren dunkelblauen Opel Corsa und fährt davon.

Das war das letzte Mal, dass wir sie lebend sahen.

Ich beantworte dem Polizisten noch weitere Fragen und unterzeichne anschließend die korrigierte Fassung des Protokolls. Wir gehen hinaus auf den Flur, um zu warten, bis auch die anderen wieder erscheinen. Im selben Augenblick werde ich zurück in den Raum gerufen. „Setzen Sie sich“, sagt der Polizeibeamte, „wir haben den Mörder. Er hat die Tat soeben gestanden.“ Ach, daran habe ich gar nicht gedacht, dass der Mörder gestehen muss. Es hat also nicht gereicht, dass wir wussten, wer uns das angetan hat, geht es mir durch den Kopf. Ich stelle fest, dass ich nicht über den augenblicklichen Moment hinausdenken kann. Ich weiß auch nicht, was ich jetzt tun soll oder tun muss, oder was jetzt passiert.

„Haben Sie Angehörige, die in der Nähe wohnen?“, höre ich die Beamtin fragen, die zuvor auch bei den Ermittlungen anwesend war. „Rufen Sie diese bitte an und informieren Sie sie über das Geschehnis“, sagt sie.

Ich bin wie gelähmt und das, was die Polizistin gerade von mir verlangt, kommt einer Folter gleich. Mein Kopf wird ganz schwer. Dann reicht mir jemand ein Telefon. Ich weiß nicht, wie ich anrufen soll. Alle Telefonnummern scheinen aus meinem Gehirn gelöscht zu sein. Ich denke an meine Schwester. Sie rufe ich am häufigsten an. Ohne mich an die Telefonnummer erinnern zu können, verlasse ich mich auf den Automatismus meiner Finger. Als ich eine Zahlenfolge eingetippt habe, erklingt zumindest ein Rufton, aber niemand hebt ab. Ich warte eine Weile, doch es scheint niemand da zu sein.

Die Nummer von Papa würde ich vielleicht hinkriegen. Aber nein, Papa werde ich nicht anrufen, das kann ich nicht. Papa ist 86 Jahre alt, wie soll er das verkraften?

Dietmar kommt mir in den Sinn. Ich rufe meinen Bruder fast nie an, er uns jedoch öfters mal und fragt, ob José mit ihm zum Fußballspielen geht. Jedes Mal, wenn ich den Hörer abhebe, erscheint seine Nummer auf dem Display. Ich versuche mir das Bild des Displays ins Gedächtnis zu rufen. Die hinteren Ziffern sind „5“ und „0“. Ohne mir absolut sicher zu sein, wähle ich eine Zahlenkombination und warte ab, was passiert.

„Beier“ ertönt es laut am anderen Ende der Leitung. Offensichtlich hat es funktioniert. Gequält, mit einem Zerren an meinem Herzen fange ich zu sprechen an: „Hallo Dietmar, hier ist die Charli. Es ist etwas ganz, ganz Schlimmes passiert. Lorén ist tot! Der Dario hat die Lorén umgebracht! Ich kann jetzt überhaupt nicht gut sprechen. Kannst du bitte alle anderen informieren? Ich lege jetzt wieder auf.“

Ich weiß nicht, ob Dietmar irgendwas gesagt hat, zumindest habe ich das nicht mitbekommen, weil ich prompt auf die Taste mit dem roten Hörer gedrückt habe.

Zwischenzeitlich sind auch die anderen wieder hier. Es dauert nicht lange und Janas Handy klingelt. Ich höre wie Jana sagt: „Ja, das stimmt. Du hast das richtig verstanden. Du hast dich nicht verhört.“ Stille.

Klar, dass Dietmar sich vergewissert. Wer kann denn so etwas schon glauben? Wie soll man so etwas Entsetzliches und Furchtbares je fassen können? Gerade hörte ich mich selbst laut am Telefon sprechen. Es war, als würde ich meine eigene Person darüber in Kenntnis setzen, welches Grauen unserem Lorénchen zugestoßen ist.

„So“, sagt jemand der Beamten, „wir sind hier fertig. Ich denke, Sie können jetzt wieder nach Hause.“ Reglos sitzen wir da. Dann unterbricht ein anderer Polizist die Stille und fügt hinzu: „Wir haben uns überlegt, Sie mit unseren Einsatzwagen zu fahren.“ Die Art, wie der Beamte das verkündet, macht mir bewusst, dass dies eine äußerst großzügige Geste ist, und ich schäme mich dafür, dass ich noch vor einer Minute der Überzeugung war, dass das Zurückfahren mit im polizeilichen Leistungspaket enthalten sei. Immerhin brachte man uns, heute am Freitag, frühmorgens hierher.

Wir mussten in aller Herrgottsfrühe fluchtartig das Haus verlassen. Entgegen der Anweisungen grabschte ich mir noch die Flickenjeans, die ich „Putzhose“ nenne und die ich vor dem Zubettgehen, gestern Abend, auf den Stuhl gelegt hatte. Den „Putzpulli“ hatte ich am Vortag in den Wäschebehälter befördert. So blieb mir nichts anderes übrig, als das Oberteil des Schlafanzugs anzubehalten. Wenigstens ist es unifarben und hat keine Blockstreifen, so wie die dazugehörige Hose. Es sieht also nicht ganz so aus, als sei es Teil eines Schlafanzugs. An den Füßen trage ich Birkenstocks, weil ich heute in der Frühe zu aufgeregt war, und fand deshalb keine Schuhe.

José sieht am ordentlichsten aus. Aus dem Bett steigend, hatte er gleich nach seiner Hose gegriffen, die er auf dem Nachttisch neben sich drapiert hatte. Später bekam er noch von unserem Nachbarn ein Hemd zum Überziehen.

Jana und Chris waren der Eilanweisung, das Haus sofort zu verlassen, unverzüglich nachgekommen, als sich Schreckliches in und um unser Haus herum ereignete. Sie fanden in kompletter Schlafanzugmontur den Weg nach draußen. Niemand von uns ist gewaschen oder gekämmt oder hat sich die Zähne geputzt.

Ich stelle mir vor, wir müssten mit dem Bus nach Hause fahren. Uns bliebe nur „schwarzfahren“ übrig, denn Geld haben wir keins dabei. Vielleicht könnten wir ein Taxi rufen und die Rechnung bei unserer Ankunft bezahlen. Doch ich bin mir sicher, dass der Fahrer bei unserem Anblick voll aufs Gaspedal treten würde und sich schleunigst aus dem Staub machen würde, um vermeintlichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, so schrecklich sehen wir aus. Wenn wir uns zu Fuß auf den Weg machten, würden wir ganz sicher zum Publikumsmagneten, was uns aber in Anbetracht unserer Situation völlig egal wäre.

Jeder Moment fühlt sich an, als stünde die Zeit komplett still. Jegliches Gefühl hierfür existiert nicht mehr. Wir haben keine Vorstellung davon, wie weit der Tag inzwischen fortgeschritten ist. Wir befinden uns in einem stetigen Hier-und-Jetzt-Zustand.

Die Beamten führen uns durch den Korridor zum Lift. Wir gleiten nach unten, gehen auf den Hof zu den Polizeiwagen, steigen ein, fahren los.

Wir biegen an der Ausfahrt des Geländes unmittelbar rechts ab, Richtung Norden. Vorbei geht es an Geschäften und Büros, welche die Straße rechts und links säumen. Etwa alle 200 Meter regelt eine Ampelanlage den Verkehr an den Kreuzungen und Abbiegungen. Ein paar Mal müssen wir anhalten, weil die Ampel auf Rot steht. Wir fahren ein paar Kilometer die Straße entlang, eine Straße mit zwei Spuren für jede Richtung. Während der Fahrt erzählt die Polizistin, sie habe zwei erwachsene Söhne, etwa im gleichen Alter wie unsere Töchter. In ihrer Stimme klingt Stolz mit. Der ganz natürliche Stolz einer Mutter, die zwei Jungen großgezogen hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ähnlich stolz geklungen habe, wenn mich jemand nach meinen Kindern gefragt hatte. Und jetzt?, so kommt es mir in den Sinn, muss ich von nun an sagen, ich habe EINE Tochter, so als hätte es Lorén nie gegeben?

Im Siegener Stadtteil Geisweid biegen wir nach links ab, Richtung Freibad. Es geht um ein paar Kurven herum auf der nunmehr einspurigen Fahrbahn. Im Nu sind wir an den hiesigen Läden vorbei und nun gibt es auch keine Ampeln mehr. Die Straße schlängelt sich entlang von schmucken Einfamilienhäusern links und rechts der Straße. Viele der Häuser stammen aus den 50er und 60er Jahren und sind modernisiert worden. Sobald wir den Stadtteil Sohlbach erreichen, säumen Laubbäume in noch zartem Grün beide Ränder der Fahrbahn. Wir erklären der Polizistin, wo sie abbiegen muss.

Noch 50 Meter Fahrweg, dann sind wir zu Hause. Sobald wir um die Ecke biegen, bemerken wir den regen Betrieb, der um unser Haus herum herrscht. So, wie wir heute Morgen das Haus verließen, steht das Wohnzimmerfenster noch immer weit offen. Die Gardine flattert draußen im Wind. Leute von der Presse befinden sich in unmittelbarer Nähe. Sie haben Mikrofone und Kameras dabei. Sie gehen auf die Leute zu, die herumstehen, um sie zu befragen. Die geparkten Autos haben Werbeaufschriften. Die Beamten raten uns, nicht mit den Journalisten zu reden, so schnell wie möglich ins Haus zu gehen und am besten das Haus an diesem Tag nicht mehr zu verlassen.

Wir sind für all die Unterstützung sehr dankbar. Irgendwie komme ich mir vor wie ein kleines Kind, das sich sicherer fühlt, wenn es an die Hand genommen wird, von jemand Erwachsenen, dem es vertraut. Wir befinden uns in einem Zustand völliger Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit, sind völlig verwirrt. Ich stelle mir vor, dass es sich genauso anfühlen muss, wenn man von einer Dampfwalze überrollt wird. Man weiß danach nicht mehr, wer man ist oder wo man sich befindet. Aus dem Grund bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns darauf zu verlassen, was man uns sagt, und zu hoffen, dass wir das Richtige tun.

Der Polizeiwagen hält an. Wir steigen aus und kehren zurück an den Ort, an dem heute Nacht unser Kind gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde und nach unserem Erwachen in der Frühe unser Leben zerstört war. Frohsinn und Vertrauen gehören nun für immer der Vergangenheit an. Als wir das Haus betreten, reflektiere ich, was sich am Morgen zugetragen hat.

Es ist kurz vor vier Uhr, als ich aufwache, weil ich zur Toilette muss. Es ist noch stockduster, doch ich knipse kein Licht an. Das mache ich nie, damit sich meine Augen nicht an das Licht gewöhnen und ich leichter wieder in den Schlaf finden kann. Den Weg finde ich blind. Ich steige aus dem Bett, gehe einige Schritte. Da ist die Tür. Ich trete hinaus auf den Fliesenboden und durchquere den Raum. Dann kommen die drei Stufen, die ins Wohnzimmer führen.

Drei Stufen gibt es, weil das Haus nicht komplett unterkellert ist. So befinden sich die Räume im Erdgeschoss auf zwei Ebenen.

Ich gehe zuerst geradeaus, dann nach links durch die Tür hinaus auf den Flur. Der ist winzig klein und ich erreiche nach nur wenigen Schritten das kleine Bad.

Gerade als ich dieses wieder verlassen will, rieche ich Rauch und verbranntes Plastik. Ich taste nach dem Lichtschalter und knipse das Licht schließlich an. Um mich herum ist Qualm. Ich versuche herauszufinden, woher der kommt. Ziehe vorsichtshalber den Stecker der kleinen Elektroheizung im Bad heraus. Ich trete hinaus auf den Flur. Auch hier ist Rauch. Ich ziehe in Betracht, dass es sich um verschmorte Kabel handelt, denn vor kurzem erst hatten wir Elektroinstallationen vornehmen lassen.

Ich ziehe die Tür auf, hinter der sich der Hauptsicherungskasten befindet. Hier ist der Rauch genauso stark wie im Bad. Kurz entschlossen laufe ich zurück zum Schlafzimmer, wecke José: „Por favor, levantate! (Steh bitte auf!) Da oben ist überall Rauch und ich kann nicht herausfinden, woher der kommt. Ich rufe jetzt die Feuerwehr an!“

Ich gehe zum Telefon ins Nebenzimmer und wähle eins-eins-zwei. „Entschuldigung, dass ich Sie mitten in der Nacht störe“, sage ich, „aber ich habe in unserem Bad und im Flur Rauch festgestellt und ich kann die Ursache nicht ausfindig machen.“ Der Bedienstete am anderen Ende der Leitung ist sehr nett. „Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen“, sagt er, „dafür sind wir ja da. Ich schicke Ihnen sofort einen Wagen raus. Geben Sie mir bitte Ihre Adresse.“

Wir müssen nicht sonderlich lange warten, bis der Feuerwehrwagen mit Blaulicht hier eintrifft, vielleicht fünfzehn Minuten. Einige Feuerwehrmänner eilen ins Haus und machen sich zielstrebig auf die Suche nach der Ursache der Rauchentwicklung. Jemand weist mich an, das Wohnzimmerfenster weit zu öffnen, was ich unmittelbar befolge. Es dauert eine Weile, bis wir wahrnehmen, dass Marco unter den Feuerwehrleuten ist. Er ist nur wenig älter als Jana und ist in dieser Straße aufgewachsen. Daniel, der zukünftige Schwiegersohn von Josés Arbeitskollegen Herbert, ist auch im Einsatz. Ein weiterer Feuerwehrmann ist Thomas, der Nachbar meines Bruders Dietmar. Einer der Männer fühlt die Wände nach heißen Stellen ab. „Ist sonst noch jemand im Haus?“, ruft jemand von der Einsatztruppe. Erst jetzt wird mir klar, dass die Ursache womöglich im Obergeschoss liegt, wo kürzlich erst die komplette Neuverlegung von Elektrokabeln und Anschüssen durchgeführt wurde.

„Unsere Tochter Jana und ihr Freund schlafen oben“, rufe ich, als die Männer sich bereits oben auf dem Treppenabsatz befinden und wild an die Tür klopfen. Erst als einer der Feuerwehrmänner brüllt, dass er jetzt die Tür aufbricht, öffnet Chris ganz schlaftrunken. Alles geht sehr schnell. Sie gehen hinein und kommen im Handumdrehen wieder heraus.

Jana ist zwischenzeitlich erschienen und ruft die Treppe hinunter: „Lorén, meine Schwester ist noch da. Ihr Zimmer befindet sich ganz unten, im Kellergeschoss!“ Im Galopp bewegt sich einer nach dem anderen nach unten. José führt sie an. Alle folgen ihm nach draußen. Wir rennen hinters Haus. José hat den Schlüssel der Hintertür in seiner Hosentasche. Er zieht ihn heraus, steckt ihn ins Schloss. Ich stehe dicht an ihn gedrängt. Er fuchtelt herum.

Später wird er gefragt, ob er die Tür aufgeschlossen hat oder ob diese unverschlossen war. Diese Frage wird er nicht beantworten können. Auch ich werde nicht wissen, was dazu geführt hat, dass sich die Tür hat aufdrücken lassen.

Sekundenlang stehen wir wie angewurzelt in der Tür. Der ganze Raum ist in pechschwarze Rauchwolken gehüllt. Die Schwaden schlagen uns ins Gesicht. Nichts ist zu erkennen. Die Augen brennen. José läuft los, auf Loréns Zimmer zu. Er ist in den Rauchschwaden verschwunden. Ich taste mich ein Stück nach vorne, muss stehenbleiben. Meine Sinne spielen verrückt. Hier kann keiner überleben!, überkommt es mich urplötzlich. Ich gehe in mich und bete: Lieber Gott, bitte mach, dass Lorén diese Nacht nicht zu Hause verbringt!

Ich habe ein wenig Hoffnung, denn ich kann Lorén nicht spüren. Es ist anders als sonst, wenn ich samstags morgens durch den Raum an ihrem Zimmer vorbeigehe und die Waschmaschine anstelle. Dann spüre ich, dass sie nebenan friedlich in ihrem Bett schlummert. Jetzt kann ich sie nicht spüren.

Ich stehe nur wenig entfernt von dem in den Innenraum ragenden Türblatt der Außentür. Lorén schließt die Außentüre stets ab, wenn sie in ihr Zimmer geht. Ihren Schlüssel lässt sie dabei innen im Schloss stecken. Ich taste im nebelverschleierten Raum nach dem Türflügel. Meine Hand gleitet über die innere Klinke nach unten. Ich berühre den Schlüsselbund. IHR SCHLÜSSEL STECKT IM SCHLOSS! Das ist der Moment, in dem ich spüre, dass sich eine Wand in meinem Inneren errichtet.

Ich höre José rufen: „Lorén – Lorén – Lorén!“ Ich versuche, mich zu ihm hinzubewegen, komme langsam voran. „Raus hier, schnell!“, lautet plötzlich eine Aufforderung an uns. Dann fasst mich jemand an die Schulter und schiebt mich nach draußen. Auch José taucht in Begleitung eines Feuerwehrmanns wieder neben mir auf. Sein Unterarm ist ganz schwarz. „Ich habe nach ihr getastet. Ich habe sie berührt“, sagt er, „und ich habe in ein tiefes Loch im Bett gegriffen. Eine große Flamme loderte plötzlich auf“, schluchzt mein Mann.

Unser Aufenthalt im Rauminneren hat nicht länger gedauert, als wie die Feuerwehrmänner benötigt hatten, um ihre Schutzausrüstung und Gasmasken überzuziehen. Jetzt stehe ich draußen, zwei, drei Meter von der Tür entfernt. Überall auf dem Grundstück sind Menschen verteilt. Ich stehe einfach nur da, allein, kann mich nicht bewegen. Es ist, als sei ich angeklebt.

Dann tragen zwei Feuerwehrmänner Lorén aus dem Haus. Einer hat sie an den Fußfesseln gefasst, der andere hat sie an den Oberarmen gegriffen. Sie legen sie unweit der Tür ab. Warum hat sie denn überhaupt nichts an?, geht es mir durch den Kopf. Ich schaue einfach nur auf ihren Körper, ich schreie nicht, ich renne nicht hin, nehme sie nicht in den Arm, ich bin einfach nur starr. Ihre langen, dauergewellten Haare sind ganz zerzaust. Ich begreife nicht, warum du da liegst, Lorén, und doch nicht da bist. Du bist nicht da, wo du liegst. Ich schreie ganz laut: Wo bist du denn, Lorén? Wo bist du denn hingegangen? Aber der Schrei dringt nicht nach außen. Es ist ein innerer Schrei. Jemand hockt sich über sie. Herzmassage. Ihr Körper, ihre Gliedmaßen bewegen sich mit, im Takt. Ich schaue zu, wie sie an ihr arbeiten, auf ihren Brustkorb drücken, ganz feste und dann wieder loslassen. Ich höre, wie jemand sagt, dass kein Rauch in ihren Lungen ist. Sie hat keinen Rauch eingeatmet. Ich denke, das ist gut, wenn sie keinen Rauch eingeatmet hat. Doch dann bemerke ich, dass die Überlegung nicht stimmen kann und sie bereits gar nicht mehr geatmet hat, als das Feuer ausbrach!

Ein Feuerwehrmann zieht mich von der Stelle weg. Jana und José sind auch neben mir. Wir gehen um die Hausecke. Hier sind überall noch mehr Leute. Ein Feuerwehrkollege ruft seinen Kameraden, den Mann, der bei uns ist, von der Straße aus einem Auto heraus. Deshalb weist unser Begleiter uns an, uns links auf die Mauer zu setzen und zu warten, während er sich zum Auto seines Kollegen begibt. Hier sind noch andere Leute. Ich werde ganz unruhig und will dort nicht sitzen.

Antonio, ein Nachbar, bemerkt wohl meine Unruhe und sagt zu mir: „Du willst wissen, was dort vor sich geht, komm, ich gehe mit dir dorthin. Ich begleite dich.“ Ich bin wie gelähmt und lasse es geschehen, dass er mich mit sich zerrt. Er erschrickt und ruft so etwas wie „Mein Gott!!!“ Er wusste offensichtlich nicht, was sich hier gerade zuträgt.

Als ich mein Kind wieder dort liegen sehe, wird mir ganz schwarz vor Augen, mir wird schwindelig. Im Inneren rufe ich meinem Kind zu: Verzeih mir, dass ich dir nicht helfe. Was hast du nur für eine Mutter? Ich bin nicht bei dir. Es tut mir so leid. Warum bin ich nur nicht bei dir?

Ich merke, wie mich jetzt jemand stützt. Es ist Marco. Dieses Mal ist er es, der mich mit um die Ecke nimmt. Er greift mir um die Schultern und sagt: „Wir gehen jetzt zu den Nachbarn.“ Es ist doch noch dunkel, denke ich, warum sollen wir denn mitten in der Nacht zu den Nachbarn gehen?

Als wir uns wieder in der Einfahrt neben der Mauer befinden, fordert Marco Jana, Chris und José auf, uns zu begleiten. Wir erreichen schließlich das Nachbarhaus und Marco klingelt ein paar Mal an der Tür. Dann macht jemand auf. Marco spricht einige Sätze mit dem Ehepaar und fragt, ob wir uns irgendwo ein Weilchen hinsetzen dürfen. Regina und Reinhard lassen uns prompt in ihr Wohnzimmer, reagieren spontan. Sie fragen immer wieder, ob wir etwas benötigen und bewirten uns mit Wasser und Kaffee.

Ein Seelsorger taucht auf. Ich weiß nicht, wer ihn gerufen hat und warum er hier ist. Er setzt sich zu uns und erklärt, dass die Rettungsmaßnahmen noch im Gange sind und er uns unterrichtet, sobald es eine Nachricht gibt. Ich will nicht aufhören zu hoffen und bete zu Gott, dass er Lorén bitte lebendig macht. Wir sitzen einfach nur da und warten. Seit ein paar Stunden erlebe ich nunmehr nur den Augenblick, so als gäbe es weder Vergangenheit noch eine Zukunft. Das Weggehen des Seelsorgers habe ich nicht bemerkt, aber er kommt gerade erneut ins Zimmer hinein. Er sagt, Lorén sei immer noch in dem Raum, alles sei unverändert. Ich frage: „In welchen Raum haben sie sie denn gebracht? Sie war doch die ganze Zeit draußen vor der Tür?“ Der Seelsorger zuckt zusammen. Da weiß ich, dass er lügt.

Plötzlich wird mir eisigkalt, so kalt, als wäre die Temperatur auf -20°C gefallen. Ich halte die Kälte kaum aus. Ich bitte Jana um die Jacke, die Regina ihr zur Verfügung gestellt hat. Damit breche ich ein Tabu. Denn niemals zuvor bat ich meine Kinder darum, mir etwas von ihren Sachen zu geben. In Extremsituation harre ich lieber aus, bevor ich meinen Kindern etwas wegnehme. Aber jetzt kann ich diese eisige Kälte gar nicht aushalten. Liebevoll reicht Jana mir die Jacke und schwört, dass sie nicht friert.

Schon bald treten Polizisten in den Raum ein. Sie sagen, sie seien von der Kriminalpolizei. Sie hätten auch die Kollegen aus Hagen hinzugezogen. „Hauptkommissar Hanke, Mordkommission Hagen“, stellt sich einer der Leute vor. Die Beamten berichten uns, dass die Feuerwehr sie alarmiert hat, nachdem das Einsatzkommando das Feuer gelöscht und den Rauch aus dem Zimmer vertrieben hatte und sah, dass hier etwas ganz Schlimmes passiert war, bevor das Feuer entstand. Sie fragen uns, ob Lorén Feinde hätte.

In dem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen und mir ist klar, dass ihr Ex-Freund ihr das angetan hat. Ich berichte der Polizei, dass dieser des Öfteren nachts um unser Haus schlich. Wir stellten ihn mehrere Male. Er fuhr Lorén nach, lauerte ihr auf, beobachtete sie, drohte ihr schließlich.

Ich berichte, dass sich Lorén immer wieder von dem krankhaft eifersüchtigen Dario Vargas Gutierrez trennte und er sie (bis vor einem halben Jahr, danach blieb Lorén konsequent auf Distanz) immer wieder dazu brachte, zu ihm zurückzukehren.

Die Polizisten schauen sich vielsagend an, nach meinem Bericht. Ich sehe ihnen an, dass ihnen klar ist, dass er es ist, nach dem sie suchen mussten. Ich nenne der Kripo seinen Namen, Geburtsdatum, Adresse, die Adresse der Eltern, bei denen er noch bis vor kurzem wohnte. Berichte, dass seine Tante im gleichen Mietshaus wohnt wie er selbst, gebe Namen und Adressen von Bekannten weiter, nenne seine Arbeitsstätte.

Es ist nun reger Betrieb in dem Raum. Informationsaustausch, ein Kommen und Gehen. Die Kriminalbeamten machen sich auf den Weg nach draußen, fahnden nach dem Täter. Irgendwann nehme ich wie durch einen Schleier ein Gespräch mit den Hauseigentümern wahr: „Ja, natürlich“, höre ich Regina sagen, „gehen wir nach hier drüben, ins Esszimmer. Da ist genügend Platz für alle.“ Ich verstehe nicht, was dort gerade vor sich geht.

Dann werden wir aufgefordert, an dem großen Tisch im Esszimmer Platz zu nehmen. Nur wenige Augenblicke später haben alle einen Platz am Tisch eingenommen. Einen Moment lang ist es ganz still. Der Mann, der mir gegenübersitzt, schaut mich minutenlang schweigend an. Dann seufzt er tief und beginnt zu reden: „Wir müssen Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass Ihre Tochter verstorben ist. Wir haben alles getan, aber konnten sie nicht retten.“

Ich bin teilnahmslos. Ich schaue dem Mann ins Gesicht, bin erstarrt. Ich befinde mich wie in Trance und weiß gerade nicht, was mit mir geschieht. Ich reagiere überhaupt nicht und ich weiß nicht, ob ich das verstehe, was man uns gerade gesagt hat. Es ist, als beträfe dies alles jemand anderen, aber nicht mich. Sie sagen, dass wir jetzt alle nach draußen gehen und uns den Ort anschauen wollen und uns vergewissern wollen, was dort passiert.

Ganz plötzlich und unbemerkt finden wir uns im Freien wieder.