Loretta trinkt Bier - Rolf Peter Dix - E-Book

Loretta trinkt Bier E-Book

Rolf Peter Dix

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Beschreibung

Kriminalgeschichten aus dem Landkreis Northeim.

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Seitenzahl: 286

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Danksagung

Dank allen, die mir bei diesem Projekt geholfen haben.

Hervorheben möchte ich meinen Sohn für die professionelle Mithilfe bei der Fertigstellung des Buches. Und ganz besonders meine liebe Schwägerin Ute Möller die ein waches Auge auf meine saumäßige Interpunktion hatte.

Alle Personen und Namen der nachfolgenden Geschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und deren Namen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Loretta trinkt Bier

Loretta und der Praktikant

Doppelmord im Pferdestall

Loretta und der Gärtner

Loretta trinkt Bier

Loretta setzte die Bierflasche an und nahm einen tiefen Zug. Schmeckte mal wieder verteufelt gut, das Zeug. Und niemand da, der sie anmachte oder ihr ein Gespräch aufdrängen wollte. Nicht dass Loretta kontaktscheu gewesen wäre, im Gegenteil, aber nach Feierabend brauchte sie ihre Ruhe. Und die fand sie an den meisten Abenden hier in diesem kleinen, schummrigen Schnellimbiss. Wobei die Bezeichnung Schnellimbiss in der Vergangenheit noch gegolten haben mochte, heute war das eher eine Bierhalle mit der Möglichkeit, auch einmal eine Currywurst oder ein zugegebenermaßen trockenes und zähes Schnitzel zwischen die Zähne zu schieben. Der Imbiss, wie die Stammkundschaft dieses höhlenartige, in eine Baulücke zwischen zwei Wohnhäuser hinein gequetschte Etablissement nannte, wurde seit fast 25 Jahren von einem Griechen bewirtschaftet. Schon beim Betreten hatte man das Gefühl, in eine Welt außerhalb der normalen Zeitläufte zu gelangen. „Strom ist teuer“, war die Devise des Wirtes, und diesem Kernsatz griechischer Sparsamkeit folgte er konsequent. Nur wenige Energiesparlampen kämpften mit ihrem unterwattigen Licht gegen die ewige Dämmerung, deren Ursache die auch am Tage zugezogenen vergilbten Vorhänge waren.

Loretta hob die Hand, zeigte auf ihre leere Bierflasche und sah den Griechen, der gerade mit zwei Stammgästen eine Runde ausknobelte, fragend an. Ein kurzes Nicken aus der schummrigen Knobelecke und Loretta ging hinter den Tresen, stellte ihre leere Flasche in den Bierkasten und entnahm eine volle. Tasso, so der Name des Wirtes, würde sich merken, wie viel sie trank. Er machte seine komplette tägliche „Buchführung“ im Kopf. Auf die Bierdeckel wurde nichts notiert, man konnte sie so einige Male benutzen.

Mit der Flasche in der Hand ging Loretta zu ihrem Platz zurück, setzte sich und strich, den italienischen Vorfahren sei Dank, ihr schwarzes Haar aus der Stirn und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. So langsam kam sie zur Ruhe. Nicht dass sie heute einen besonders hektischen Tag gehabt hätte, aber der tägliche Kleinkram ging einem auch ganz schön auf den Geist. Zufrieden sah sie sich in diesem kleinen Bierparadies um. Sie kannte fast alle der Stammgäste, duzte sich mit den meisten und kam hier eigentlich ganz gut klar. Auf jeden Fall war sie froh, eisern über ihren Beruf geschwiegen zu haben. Man hatte so mehr Ruhe und wurde nicht wegen jedem kleinen Einbruch vollgelabert. Demnächst würde sie durchsickern lassen, dass sie bei wechselnden Supermärkten als Aushilfe tätig sei. Dann dürften wohl auch die neugierigsten der Stammgäste ihre Fragerei einstellen. Den Leuten zu erzählen, dass sie Hauptkommissarin im Fachkommissariat 1 der Northeimer Kriminalpolizei war, würde ihr nie im Traum einfallen. Noch nicht mal im Suff. Insofern war es von Vorteil, außerhalb ihres Dienstortes zu wohnen. Hier auf dem Dorf war die Wahrscheinlichkeit, dienstlich mit den Einwohnern in Kontakt zu kommen, eher gering.

Aber im Moment gab es andere Probleme. Seit zwei Tagen arbeitete sie an einem Fall, ohne den geringsten Fortschritt zu erzielen. Mit gerunzelter Stirn dachte Loretta an das Opfer. Italiener, aus Verona, Geschichtsprofessor. Äußerst hässliche Verletzungen, wirklich unschön anzusehen, mit einem Spaten erschlagen. Nicht mit dem flachen Blatt, sondern mir der scharfen Kante. Der Schädel war förmlich gespalten worden. Der Hieb musste von einer kräftigen Person, die etwas oberhalb des Opfers stand, ausgeführt worden sein. Die Gerichtsmedizin war sich sicher, dass ein Klappspaten der Bundeswehr die Tatwaffe sein musste. Ein Raubmord schien nicht vorzuliegen. Geldbörse, Papiere und Fahrzeugschlüssel waren in der Innentasche der Tarnjacke des Toten. Der Alfa Romeo mit italienischem Kennzeichen stand unversehrt neben der Zufahrtstraße zum Harzhorn.

Was hatte ein italienischer Geschichtsprofessor in einem entlegenen Waldstück im Kreis Northeim zu suchen? Im Tarnanzug, mit durch den Spatenhieb verrutschter Stirnleuchte. Auf einem römisch-germanischen Schlachtfeld aus dem

3. Jahrhundert? Grabungsspuren an dem Steilhang deuteten darauf hin, dass das Opfer oder eine weitere Person verbotenerweise auf dem Gelände auf der Suche nach Resten der Schlacht gewesen sein musste. Hatte der Professor den Täter bei seiner illegalen Tätigkeit überrascht, wurde er vielleicht von einer weiteren anwesenden Person niedergeschlagen? Die Spurensuche hatte sich als äußerst unergiebig erwiesen. Der Tote musste bis zu seiner Entdeckung zwei Tage in diesem abgelegenen Waldstück gelegen haben. Zwei Tage mit starkem Regen, der auf dem Waldboden alle Spuren vernichtet, andernorts sogar zu Überschwemmungen geführt hatte.

Die Tatwaffe war bislang unauffindbar. Hatte der Professor gar selbst gegraben und war dabei vom Täter überrascht und erschlagen worden? Ein Raubmord schien unwahrscheinlich; Geld, Papiere, Auto, alles vorhanden. Etwas musste fehlen, aber was? Loretta setzte die Bierflasche an den Mund und genehmigte sich einen weiteren Schluck Gerstensaft.

Konnte es eine Beziehungstat gewesen sein? In den meisten Mordfällen waren Opfer und Täter in einer mehr oder weniger engen Beziehung zu sehen. Dagegen jedoch sprach die räumliche Entfernung zum Wohnort des Getöteten.

Die Kollegen in Verona würden hoffentlich bald die Ergebnisse der Wohnungsdurchsuchung übermitteln. Es wäre hilfreich zu wissen, auf welchem Gebiet der Professor gelehrt hatte, seine Lebensumstände, Hobbys, Neigungen, die finanziellen Verhältnisse und überhaupt das ganze private Umfeld galt es jetzt unter die Lupe zu nehmen. War vielleicht die Mafia im Spiel? Ging es um großangelegte Schatzräuberei, ausgeführt von „Fachpersonal“?

Die Suche nach einem Motiv beziehungsweise einem Nutznießer dieses Verbrechens stand noch bei Null. Null Ergebnis! Der Chef scharrte schon mit den Hufen. „Nu hab’m wir mal ’nen Mord und nüscht tut sich!“ Originalton Amtsleiter Wiefelspütz. Aus dem Rheinland importierte Frohnatur ohne Humor.

Nach einem letzten Schluck ging Loretta zum Bierkasten, stellte die leere Flasche ab und legte die Zeche auf den Tresen, verabschiedete sich von Tasso und dessen Gästen und machte sich auf den Heimweg.

Der nächste Morgen brachte zunächst einen kleinen Lichtblick. Die Kollegen aus Verona hatten sich gemeldet. Ein mehrere Seiten umfassendes Fax. In Italienisch! Loretta setzte sich in ihrem kleinen Büro, mit Blick auf die Teichstraße und den Adolf-Hueg-Wall, hinter ihren Schreibtisch und blickte genervt auf das Fax. Konnten die Herren Carabinieri kein Englisch? Wer sollte hier im tiefsten Niedersachsen einen mehrseitigen italienischen Text übersetzen? Loretta selbst, obwohl väterlicherseits italienisch, konnte sich in der Sprache nur radebrechend unterhalten. Da half nur ein „Maxi, Kaffee!“, rief Loretta in Richtung offener Tür, die zum Vorzimmer und hiermit zum Arbeitsplatz von Maximilie Wanders führte. „Kommt gleich“, antwortete die fesche Endfünfzigerin aus dem Vorzimmer.

Maxi Wanders war für Loretta und zwei weitere Kommissariatsleiter Schreibkraft, Bürobote, Kaffeekocher, bei Gelegenheit auch Seelentröster, große Schwester, aber auch unerbittlicher Antreiber, wenn der Laden nicht so lief, wie sie es sich vorstellte. Nach einer Brustkrebsoperation mit anschließender Chemotherapie waren ihr sämtliche Kopfhaare ausgefallen. Dies kaschierte sie mit einer fesch frisierten Perücke. Mit ihrer stets modischen Kleidung und dem sportlich durchtrainierten Körper sah sie aus wie ein Model für Damenoberbekleidung der Zielgruppe ab 50.

„Hier ist dein Kaffee“. Elegant platzierte Maxi die Tasse rechts von Loretta auf dem Schreibtisch. „Was guckst du denn so, als ob dir jemand dein Spielzeug weggenommen hätte?“ Kommentarlos schob Loretta ihr das Fax zu.

„Die Signori könne aber gut Italienisch“, feixte Maxi. „Soll ich es dir übersetzen?“

Überrascht und hoffnungsfroh sah die Kriminalistin auf.“ Du kannst das?“

„Ne, aber wir haben hier in Northeim ein Übersetzungsbüro. Das kannst du nicht wissen, bist ja erst seit drei Monaten hier. Ich rufe da mal an.“

„Dann rufe doch bitte auch Bernd an. Ich brauche ihn. Wir sollten uns den Tatort noch einmal ansehen. In einer halben Stunde will ich los.“

Loretta nahm ihre Tasse und trank sie fast in einem Zug aus. In Gedanken war sie bereits am Harzhorn. Der Leichnam hatte irgendwie in sich verdreht an dem Steilhang gelegen. Er war allem Anschein nach ein ganzes Stück den Hang herabgerutscht und dann von zwei Fichten gestoppt worden. Das Gelände, auf dem cirka 235 n. Chr. eine blutige Schlacht zwischen Germanen und Römern getobt hatte, fiel ungefähr 30 Meter steil ab.

Vom dem am Fuße des Höhenzuges gelegenen Forstweg aus hatten Waldarbeiter die Leiche des Veronesen entdeckt, waren den Hang hinaufgeklettert und hatten Spuren, die den Regen eventuell überstanden hatten, total zerstört. Nachdem sie den Tod des Mannes festgestellt hatten, riefen sie über Handy die Polizeistation Bad Gandersheim an. Von dort aus war der Polizeieinsatz eingeleitet worden. Nur 50 Meter weiter nach Norden, und die Kollegen aus Seesen und Goslar wären mit den Ermittlungen betraut gewesen. „So ist es halt mit den Kreisgrenzen“, dachte Loretta, schaute auf ihre Armbanduhr und wollte sich gerade an Maxi wenden, um zu fragen, wodurch Bernd verhindert sein könnte. In diesem Moment stürmte der junge Kollege ins Vorzimmer. Knapp 1,75 Meter hoch, blond, blauäugig, breitschultrig, ein strahlendes Filmstarlächeln im Gesicht, Rollkragenpullover, Jeans, maßgefertigte Schuhe und schwul.

Schade, dachte Loretta, und schwul.

Bernd Eilsen, 28 Jahre alt, Kriminalkommissar, gut beurteilt und ein Typ, mit dem man die sprichwörtlichen Pferde stehlen konnte.

„War noch kurz im City-Center“, sprudelte er los, „die haben da eine tolle Werbeaktion laufen. Der Laden ist gerammelt voll. Ich sollte für Wispütz nach Taschendieben Ausschau halten. War’n ödes Ding. Danke für die Anforderung.“

„Wie kommt der Chef dazu, dich für solchen Schwachsinn einzuteilen, ist doch gar nicht unser Job.“

Loretta nahm sich vor, den Wispütz, wie alle im Amt den Chef Wiefelspütz heimlich nannten, über abzusprechende Personaleinsätze aufzuklären. Der konnte ihr doch nicht einfach ihre Leute, auch wenn es nur einer war, wegdelegieren.

„Wir wollen uns den Tatort noch einmal in Ruhe ansehen. Irgendwie fehlt mir ein Detail, ich komme nur nicht darauf, was mich stört. Maxi, hast du die Sache mit dem Übersetzer klar gemacht? Es wäre hilfreich.“

Mit stoischer Ruhe antwortete Maxi: „Ich habe Kopien gemacht und von Henner hinbringen lassen.“ Henner Breit, dienstbarer Geist und Hausmeister der Polizeistation. Kurz vor der Rente und immer froh, wenn er für Besorgungen in seine schöne Heimatstadt geschickt wurde.

„Danke, Maxi. Wir fahren jetzt zum Harzhorn. Zwei Stunden wird es wohl dauern“, sagte Loretta im Hinausgehen, Bernd schlenderte hinter ihr her.

Die Fahrt im Dienstwagen durch die Stadt fand Loretta wegen der vielen alten Fachwerkhäuser immer wieder schön. Wer aus einer im Krieg zerbombten Großstadt kommt, weiß ein wenig Mittelalterromantik zu schätzen. Auch die Strecke über Imbshausen und Echte, Lorettas Wohnort, bis zum Vogelberg, dessen östlichster Ausläufer das Harzhorn ist, war landschaftlich reizvoll. Nicht zu vergleichen mit einer Fahrt durch Hannovers Nachkriegsbetonwüste.

Bernd blinkte links und bog von der B 248 auf den Feldweg ein, der zum Fundort der Leiche führte. Nach knapp 200 Metern hatte die Fahrt ihr jähes Ende. Die Schranke, die die Zufahrt in den Wald für Unbefugte versperrte, war geschlossen. Bei ihren vorherigen Tatortbesichtigungen hatte es keine Hindernisse gegeben. Loretta war noch nicht einmal die damals immer geöffnete Sperre aufgefallen.

„Mist! Das heißt mindestens einen Kilometer durch Matsch latschen.“ Bernd Eilsen nahm das Hindernis unwillig zur Kenntnis, stieg aus und öffnete den Kofferraum des Wagens. „Gummistiefel Fehlanzeige! Wo sind die Dinger denn? Die müssten hier doch irgendwo sein.“

In Loretta stieg ein sanftes Unbehagen auf. Sollte sie die Stiefel bei sich zu Hause vergessen haben? Sie hatte sie nach einem Einsatz mitgenommen und reinigen wollen. Na gut, im Schuppen wurden sie wenigstens nicht wieder schmutzig.

„Gehen wir halt zu Fuß. Ich rufe Maxi an, dass es später als gedacht wird. Und nun Bewegung! Ach, fahr den Wagen besser an den Wegrand. Vielleicht kommt ja noch ein Holzlaster durch.“

Der Weg den Berg hinauf war schlammig und von Pfützen durchsetzt. War eine Pfütze umgangen, landete der Fuß unweigerlich im Schlamm. Ein Ausweichen auf den Waldboden war wegen des dichten Bewuchses des Waldrandes nicht möglich.

Nachdem Lorettas und Bernds Schuhe vollends schmutzig geworden waren, gingen sie unbeschwerter voran. Dreckiger als dreckig konnten die Schuhe nun auch nicht mehr werden. Kurz vor dem höchsten Punkt der Anhöhe kamen ihnen drei ältere Männer in zünftiger Wanderkleidung entgegen. Nach einer kurzen, eher flüchtigen Begrüßung kamen sie ins Gespräch. Harzhorn, Römerschlacht und die Wetteraussichten für die kommenden Tage wurden angesprochen. Einer der Männer erwähnte einen rostigen Klappspaten, den sie in einiger Entfernung am Rand einer Schonung gesehen hatten. Loretta und Bernd warfen sich einen Blick zu. Sollte das die Tatwaffe sein? Eher unwahrscheinlich, denn die Spurensicherung hatte das Gelände weiträumig abgesucht. Und auf die Jungs war Verlass. Aber trotzdem wollten sich die beiden Kripobeamten das Gerät einmal ansehen. Sie ließen sich den Fundort genau beschreiben, verabschiedeten sich und gingen in die angegebene Richtung. Vorbei an der Mordstelle, die immer noch mit rot-weißen Flatterbändern abgesperrt war, entlang an einigen Waldstücken, in denen teilweise noch die Spuren der Grabungen der Archäologen zu sehen waren, bis zu der beschriebenen Schonung. Im halbhohen nassen Gras waren die Spuren der drei Wanderer zu sehen, von Ferne war auch schon die Stelle zu erkennen, an der sie stehengeblieben waren. Das Gras war dort niedergetreten. „Und wieder sind Spuren verwischt“, sagte Bernd. Loretta nickte und ging mit ihm in den Trittspuren der Männer bis zu diesem Fleck und sah sich um. In etwa zwei Metern Entfernung lag, halb unter einer jungen Fichte verborgen, ein olivgrüner Klappspaten.

„Da muss die Spurensicherung noch einmal her. Ich glaube, an der linken Seite hängt ein Haarbüschel. Und Rost ist das auch nicht“, sagte Loretta, während sie ihr Handy zückte und Maxi anwählte. „Hallo, meine Liebe. Zwei dringende Sachen. Erstens müssen unsere Spürhunde hier wieder aktiv werden und zweitens ist da irgendwo jemand, der den Wald abgeschlossen hat. Hier gibt es so eine dämliche Schranke, die die Zufahrt in den Wald sperrt. Bernd und ich haben uns unsere Schuhe ruiniert. Nasse Füße habe ich auch schon. Sieh bitte zu, dass du den Schlüssel für das Ding bekommst. Aber pronto!“

„Hetzen kann ich mich selbst, meine Liebe. Und was den Schlüssel angeht, der liegt hier bei mir auf dem Schreibtisch, ich gebe ihn der Spurensicherung mit. So ein kleiner Waldspaziergang schadet euch Frischluftmuffeln bestimmt nicht. Sieh zu, dass du trockene Füße kriegst. Ich möchte heute Abend nicht neben einer schniefenden Tropfnase im Theater der Nacht sitzen! Bis dann.“

Maxi trennte die Verbindung und organisierte den erneuten Einsatz der Spurensicherung am Harzhorn.

„Hier hätten wir mit einer Hundertschaft suchen können und den Spaten doch nur per Zufall gefunden. Das Gelände ist einfach zu weitläufig. Gehen wir zurück und sehen uns den Abhang nochmals an.“ Bernds Feststellung war nichts hinzuzusetzen, und so gingen sie wieder zurück zum Waldweg. Die Schuhe sahen nun halbwegs sauber aus, aber das sollte sich schnell wieder ändern.

„Stell dich bitte mal in das Loch“, sagte Loretta als der Tatort erreicht war, „wir wollen den Tathergang nachspielen.“

Bernd stieg in die Vertiefung am Hang und stand im Nu bis zu den Knöcheln im Matsch. „Danke für deine guten Einfälle“, knurrte er, sich unsicher an einem Baumstamm abstützend. „Was soll nun werden?“

Loretta ging nachdenklich einige Schritte zurück und besah sich die Szenerie.

„Der kann nicht in dem Loch gestanden haben. In dem hat er ja etwas gesucht. Also ober- oder unterhalb. Und so wie er den Schlag erhalten hat, muss seine Stellung eher gebückt gewesen sein. So, als ob er etwas aus der Erde gezogen hätte. Damit ist ein großer Täter nicht ausgeschlossen, es könnte aber auch eine kleinere Person von hier oben zugeschlagen haben“, spekulierte Loretta.

Es fehlte ihr immer noch ein Teil des Puzzles. Etwas war nicht da, aber was? Sie rekapitulierte, was sie über das Schlachtfeld und seine Entdeckung wusste. Maximinus Thrax, Soldatenkaiser, anno 235 n. Chr. auf Feldzug gegen die Germanen, auf dem Rückmarsch nach Mainz, von Norden kommend, Sperrung des Passes durch die Germanen, Gemetzel. Das waren die geschichtlichen Fakten. Entdeckt wurde dieser Platz von zwei Sondengängern. Sonden, Metalldetektoren? Wo war das Suchgerät des Professors? Kaum anzunehmen, dass er hier auf gut Glück im Erdboden herumgestochert hatte. Benutzte er ein eigenes Gerät oder lieh er es sich von … Ja, von wem?

In diesem Moment klingelte Lorettas Handy. „Du, ganz kurz. Wir hatten vorhin einen Anruf vom Hotel Sonne. Die vermissen seit zwei Tagen einen Gast. Die Beschreibung passt auf unser Opfer. Laut Anmeldung Italiener aus Verona. Sein Gepäck ist noch auf dem Zimmer, deshalb haben sie sich nicht früher gemeldet. Hätte ja auch sein können, dass er sich eine lustige Nacht in Göttingen oder sonst wo gegönnt hatte. Ach ja, die Übersetzung des Schreibens haben wir auch schon. War ein interessanter Knabe, dieser Professor. Macht es hübsch ihr beiden.“ Ohne dass Loretta antworten konnte, hatte Maxi das Gespräch beendet.

„Wir weisen noch die Spurensicherung ein und fahren dann nach Northeim. Unser Kunde hat in der Sonne logiert.“ Der Zimmerschlüssel! Loretta überlegte, ob unter den Hinterlassenschaften des Italieners auch ein Schlüssel des Hotels Sonne gewesen war. Allem Anschein nach nicht. Nun waren es schon zwei Gegenstände, die in diesem Fall fehlten. Ein, zugegeben hypothetisches, Metallsuchgerät und ein Zimmerschlüssel. Wobei wenigstens die Tatwaffe möglicherweise aufgetaucht war. Loretta und Bernd warteten auf die Kollegen und gaben sich wortkarg der Pflege ihres Schuhzeuges hin. Nach einiger Zeit hörten sie den Geländewagen für Spezialeinsätze den Waldweg emporkommen. Nach kurzer Begrüßung quetschten sie sich auf die vollgepackte Rückbank des Fahrzeuges und wiesen den Kollegen den Weg. Vom Rand der Forststraße aus zeigten sie ihnen den Fundplatz und bestanden dann darauf, zu ihrem Wagen gefahren zu werden. „Ein bisschen Bewegung täte euch aber auch gut“, sagte grinsend der Fahrer und sah dabei auf ihr derangiertes Schuhwerk.

Auf der Rückfahrt nach Northeim hielten sie in Echte vor Lorettas kleinem Fachwerkhaus. Sie brauchte unbedingt trockene Schuhe und Strümpfe, ein Abend mit tropfender Nase musste nicht sein. Auch für Bernd fand sich ein Paar trockener Wollsocken.

„Hast du auch Hunger? Ich könnte eine Currywurst mit Pommes vertragen.“ Ihr Partner nickte, und so machten sie sich auf den kurzen Weg in den wenige Häuser entfernten Imbiss. Tasso saß allein in seinem Etablissement und vertrieb sich die Zeit mit einer Patience. Die Currywürste mit Fritten waren schnell zubereitet und fast ebenso schnell verspeist. Ob Tasso seinen Stammgästen von ihrem Begleiter erzählen würde? Loretta nahm sich vor, Bernd als festen Freund zu etablieren. Das hielt vielleicht andere ab, Interesse an ihr zu bekunden.

Der Aufenthalt hatte nur kurz gedauert, und eine Stunde nachdem sie das Harzhorn verlassen hatten, parkte Bernd den Wagen vor dem Hotel Sonne. An der Rezeption saß ein Mann mit markanten Gesichtszügen, sonnengebräunt und sehr modisch gekleidet. Bernd steuerte auf ihn zu, umarmte ihn und verteilte Wangenküsschen. „Alf, das ist meine Chefin, Hauptkommissarin Bertolucci, wir kommen wegen des Italieners. Loretta, das ist Alf.“ Das also war Alf, von dem ihr Bernd in stiller Stunde vorgeschwärmt hatte. Geschmack konnte den beiden nicht abgesprochen werden. Aber sie wollte jetzt keine Schönlinge bestaunen, sie war hier, um einen Fall zu lösen.

„Können wir den Schlüssel zu dem Zimmer Ihres Gastes haben? Aber zunächst sind da noch einige Fragen.“ Loretta wollte fortfahren, wurde aber von Alfs Entsetzensruf unterbrochen.

„Bernd, deine teuren Schuhe, was hast du getan? Und Wollsocken, wieso Wollsocken? Die passen doch gar nicht!“

Entschuldigend sah Bernd Loretta an und zuckte die Achseln. „So ist er nun mal.“ Dann, zu Alf gewandt, „Das klären wir heute Abend. Wir sind hier bei der Arbeit und nicht auf dem Laufsteg.“ Nach den letzten Worten drehte er sich wieder zu Loretta und nickte. Die nahm die Aufforderung, endlich ihre Fragen zu stellen, dankend an und betete Alf den üblichen Fragenkatalog vor. Wann angekommen, bedrückt, heiter oder was sonst, Besucher empfangen, Telefonate, Briefe, Nachrichten erhalten, für wie lange eingemietet? Gab es jemanden vom Personal, der Kontakt zu dem Italiener hatte? Unergiebiger konnten Antworten nicht ausfallen. Zu dem Gast gab es, außer dass er ausgeblieben war, keine auffälligen Beobachtungen. Eingemietet hatte er sich für eine Woche und hatte bereits bezahlt. Nach Erhalt des Generalschlüssels gingen die beiden Kriminalisten in den ersten Stock und öffneten die Zimmertür. Der unerwartete Anblick des total verwüsteten Raumes ließ sie im Eingang verharren. Die Bettwäsche lag abgezogen auf dem Fußboden, gleich neben der aufgeschlitzten Matratze. Sämtliche Gepäckstücke waren ausgeleert und deren Inhalt ebenfalls auf dem Fußboden, aber auch auf Tisch und Stühlen verteilt. Die Futter der Koffer aufgeschnitten und herausgerissen. Im Bad lag der Inhalt der Kulturtasche verstreut herum. Eine Zahnpastatube zertreten, der Inhalt seitlich herausgequollen.

Hier hatte kein Zimmermädchen aufgeräumt, also musste dieses Durcheinander nach dem morgendlichen Raumservice angerichtet worden sein. Die Spurensicherung würde Überstunden machen müssen. „Rufe bitte die Jungs am Harzhorn an. Wenn sie da fertig sind, können sie gleich im Hotelzimmer unseres Professors weitermachen. Sieht übel aus hier.“ Loretta konnte sich darauf verlassen, dass Maxi den Auftrag prompt ausführte. „Und hole bitte das Kleid aus meinem Wagen. Hier dauert es noch eine Weile. Ich ziehe mich im Büro um. Wir wollen doch heute Abend nicht die Regentrude verpassen. Tschüs.“

Nun galt es erst einmal herauszufinden, wann der ungebetene Besucher das Zimmer verwüstet haben konnte, ob etwas fehlte und vor allem, wer sich hier Zugang verschafft hatte. Loretta versiegelte den Raum und ging zurück an die Rezeption. Bernd machte sich, nachdem er die Autoschlüssel abgegeben hatte, auf den Weg ins Büro. Er wollte die Hinterlassenschaften des Italieners, Bekleidung, Tascheninhalte und das Innere des Alfa, der in einer verschlossenen Garage auf dem Polizeigelände stand, noch einmal gründlich durchsehen. Auch das übersetzte Fax sollte nun endlich gelesen werden. Vom Hotel bis zum Amt war es ein kurzer Spaziergang von gut zehn Minuten. Durch die schöne, von Fachwerkhäusern gesäumte Breite Straße, vorbei an einem Fachwerkgebäude, dessen größten Teil das Museum mit seinem berühmten Höckelheimer Münzschatz einnahm. Die erste Erwähnung dieses Hauses erfolgte in einer Urkunde von 1478 als Hospital St. Spiritus. Dann weiter am alten Friedhof und Relikten der Stadtmauer entlang. Nach Überquerung der Bahnhofstraße, unter Umgehung des Katasteramtes, befand Bernd sich bereits auf dem Polizeigelände. Er ließ sich die Plastikbeutel mit dem Tascheninhalt des Tarnanzuges aushändigen, quittierte die Übernahme und ging in Lorettas Büro, um die Sachen durchzusehen.

„Kaffee?“, fragte Maxi, nachdem er die Tür zum Flur geschlossen hatte. Bernd nickte und setzte sich hinter den Schreibtisch. Der Inhalt der Asservatenbeutel entsprach dem, was Männer normalerweise in ihren Taschen beherbergen. Portemonnaie, Kamm, loses Kleingeld, Taschentuch (aus Tuch, keine Papiertücher!), Notizbuch, Kugelschreiber, Schlüsselbund. In Gedanken versunken hielt Bernd das Büchlein in der Hand. Alles hatten sie bereits untersucht, jede Seite des Notizbuches angesehen und keinen Hinweis auf Kontakte in Northeim und Umgebung gefunden. Einige Verweise auf in Italienisch erschienene Bücher, von denen sich zwei im Kofferraum des Wagens befunden hatten. Zunächst eine Biographie des Kaisers Maximinus Thrax und die zerlesene Paperbackausgabe der Texte des Geschichtsschreibers Herodian. In diesem Buch waren einige Zeilen mit Leuchtstift gekennzeichnet. Leider für niemanden im Kommissariat zu verstehen, da auf Italienisch. Türkisch wäre kein Problem gewesen, Kroatisch auch nicht, ebenso wenig wie Griechisch. Italienisch war ein weißer Fleck auf der Landkarte der Sprachen in der Polizeiinspektion.

Während Bernd sich Gedanken über mangelnde Fremdsprachenkenntnisse machte, kam Loretta im Hotel der Andeutung einer Spur näher. Die Befragung Alfs ergab den Zeitrahmen, in dem der Zimmerservice die Räume herrichtete. Die Befragung des Personals brachte sie auch nicht weiter. Aber es fehlte ein Mann, der als Mädchen für alles im Hause tätig war, kleinere Reparaturen ausführte, Einkäufe und Besorgungen für die Gäste machte, zur Not auch die Wagen wusch oder die Blumenrabatten vor dem Gebäude in Ordnung hielt. Karsten Seuler, so sein Name, gerade 25 Jahre alt geworden, seit gut zwei Jahren für das Hotel beschäftigt. So wie Alf ihn beschrieb, war er ein fröhlicher, meist ausgeglichener Typ. Nicht allzu kontaktfreudig, aber doch für Späße zu haben. Er hatte sich im Hotel selbst nichts zuschulden kommen lassen und galt als zuverlässig. Hatte allerdings schon eine mehrmonatige Gefängnisstrafe für eine Einbruchsserie abgesessen. Dies allein wäre natürlich kein Grund gewesen, ihn mit dem Fall in Verbindung zu bringen, aber sein Verschwinden lenkte den Verdacht doch in diese Richtung. Zumal er sich im Haus hatte frei bewegen können, Zugang zu allen Schlüsseln hatte und genau wusste, wann das Reinigungspersonal die Zimmer herrichtete.

Während Loretta ihre nächsten Schritte, die Fahndung nach Seuler, Durchsuchung seiner Wohnung, Ermittlungen im Umfeld, durchdachte, meldete sich Bernd auf ihrem Handy. „Du, ich habe hier eine Bezugsperson in Northeim, Karsten Seuler, der hat regen Email-Verkehr mit unserem Professor gehabt.“

„Und ist abgehauen!“, unterbrach Loretta seinen Redefluss. „Ich komme ins Büro.

Du kannst schon einmal mit dem, was du hast, die Fahndung einleiten.“

Auf der Dienststelle angekommen, blickte Loretta verwundert auf Maxis aufgeräumten Schreibtisch mit dem ausgeschalteten Computer. „Ist was mit ihr?“, fragte sie Bernd. Der sah sie verwundert an und zeigte auf seine Armbanduhr. „Die ist seit einer Stunde weg. Normale Menschen kennen das Wort Feierabend, ganz im Gegensatz zu uns.“

„Hast du die Fahndung herausgegeben? Mein Gott, ich muss noch Haare waschen, mich umziehen und zurechtmachen. Schaffe ich das noch? Ein Durchsuchungsbefehl für die Wohnung von Seuler wäre auch nicht schlecht. Das machen wir morgen. Wo ist meine Handtasche? Wie viel Zeit habe ich noch?“

„Fahndung ist raus, ich konnte sogar ein halbwegs klares Foto mitgeben. Ich hatte per Zufall ein Bild von Alf und dem Hotelpersonal dabei, da ist der Seuler mit abgebildet. Das schaffst du noch. Den Durchsuchungsbefehl habe ich schon angefordert, wo deine Tasche ist, weiß ich nicht, die Zeit reicht noch. Sind deine Fragen hiermit ausreichend beantwortet? Ich gehe jetzt nach Hause. Macht euch einen schönen Abend im Theater. Tschüs.“

Ohne weitere Antworten oder Fragen abzuwarten, ging Bernd durch das Vorzimmer und machte sich auf den Heimweg. Loretta blickte auf ihre Uhr, seufzte und holte Haarwaschmittel und Föhn aus einer Schreibtischschublade. Nun aber schnell in den Waschraum und sich für den Abend schick gemacht! Seit Wochen schon hatte sie sich darauf gefreut, dieses ungewöhnliche Gebäude mit seinem wie eine Mütze schief aufgesetzten Turm und den an den Außenwänden angebrachten Nasen und Ohren auch einmal von innen zu sehen. Und auch die Vorstellungen mit ein oder zwei Akteuren und den großen Holzfiguren fanden augenscheinlich beim Publikum Anklang. Das Haus war auf Wochen hinaus ausverkauft. Maxi hatte sich so sehr um Karten bemüht, Loretta würde sie nicht enttäuschen und außerdem – irgendwann musste Feierabend sein. Den Bluthund aus Film und Fernsehen, der nicht ruhte, bis der Täter ins Netz ging, gab Loretta nicht. Einsatz, natürlich, viel Einsatz, selbstverständlich! Viel mehr Stunden als im Dienstplan vorgegeben, kein Thema. Aber es galt eine Grenze zu ziehen, zu viel Arbeit und zu wenig Ruhe waren auf Dauer nicht gesund. Wie hatte ihr Ausbilder immer gesagt? „Lass ruhig angehen. Ganz ruhig.“

Ruhe konnte aber jetzt nicht einkehren. Das gewaschene Haar wollte getrocknet werden, und in ihr Abendkleid musste sie sich auch noch hineinzwängen. Während sie das Haar föhnte, machte Loretta sich Gedanken zum weiteren Vorgehen in dem Mordfall. Zunächst wollte sie das Schreiben der italienischen Kollegen durcharbeiten. Dann würde morgen der Bericht der Spurensicherung zu Klappspaten und verwüstetem Hotelzimmer vorliegen. Das Fax kann ich mir auch zu Hause durchlesen, so spät wird es heute nicht, dachte sie, während sie sich in ihr Kleid hineinwand. Mehr Sport oder weniger Pommes?, fragte sie sich, als das Kleid nach größten Anstrengungen endlich angezogen und zurechtgezupft war. Sie musste unbedingt einige Kilo abspecken. Aber wie und wann? Das Make-up war schnell aufgetragen, und sogar das Handtäschchen fand sich in der untersten Schreibtischschublade an.

Loretta stopfte die ausgezogenen Kleidungsstücke in eine Plastiktragetasche, nahm die Übersetzung aus der Aktenmappe und legte sie auf die Bekleidung, löschte das Licht und verließ das Büro. Sie würde die kurze Strecke von der Teichstraße bis zum Theater der Nacht mit ihrem Auto zurücklegen und zu Maxis Freude endlich einmal pünktlich sein. Gerade als ihre Hand im Flur zum Lichtschalter ging, flammte die Beleuchtung auf. Schritte hallten durch den Gang und unvermittelt stand Dr. Wiefelspütz vor ihr. Loretta verabschiedete sich innerlich bereits vom gemütlichen Theaterabend und wappnete sich, um den zu erwartenden Fragen des Chefs begegnen zu können. „Abend, Frau Bertolucci. Fein, fein. Ihr macht Fortschritte. Fahndung, Tatwerkzeug. Es geht voran. Weiter so! Hätte mich gerne mit Ihnen über den Fall unterhalten, leider keine Zeit. Verpflichtungen, Sie verstehen? Einen schönen Abend noch.“ Er reichte seiner Untergebenen die Hand und war, bevor das Licht im Flur wieder ausging, verschwunden.

Lob vom Chef. Wofür? Loretta schaute verwundert in die Richtung, in die Wispütz verschwunden war. Bernd musste ihm einen mündlichen Bericht erstattet haben und hatte kein Wort davon erwähnt. Nicht gerade kollegial. Das kläre ich morgen, dachte sie und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen. Am Theater der Nacht angekommen, beanspruchte sie zunächst das leidige Thema der Parkplatzsuche. Vor dem Gebäude waren alle Plätze besetzt. Loretta umrundete die St. Sixti Kirche und parkte auf dem Platz vor dem Gotteshaus.

Maxi erwartete sie am Theatereingang, umarmte sie und zischelte ihr dabei ins Ohr: „Gerade noch geschafft, der Einlass hat schon begonnen. Knapper geht es nun wirklich nicht!“ Sie betraten das Foyer, und Loretta konnte nun endlich den interessant dekorierten Vorraum bestaunen. Im ganzen Raum standen, hingen, schlängelten die Wände hinunter, kauerten sich die absonderlichsten, fantasievoll gestalteten Figuren.

Alles Darsteller vergangener Aufführungen. Meist kunstvoll aus Holz geschnitzt, teilweise aber auch aus Styropor oder Pappmaché gefertigt. Dazwischen, locker verteilt, einige Sitzgruppen. Eine Kaffeetheke gab es auch. Rechts davon der Eingang zum Theaterraum. Nachdem Loretta und Maxi Platz genommen hatten, erlosch auch schon das Licht, und die Vorstellung begann. Loretta versenkte sich in das Geschehen auf der Bühne und genoss die Aufführung. Der Harzhornfall trat in den Hintergrund. Viel zu schnell kam die Pause. Die beiden Frauen genehmigten sich im überfüllten Foyer ein Gläschen Sekt. „Aber nur eines. Ich muss noch nach Echte fahren“, musste Loretta Maxi bremsen, die scheinbar in Spendierlaune war. „Ich nehme aber noch ’nen Schluck“; sagte die Sekretärin und bestellte sich ein weiteres Glas. Dabei plapperte sie fröhlich über das Stück, Mode, das Wetter und die anderen Theaterbesucher. Über den Mordfall fiel kein Wort. Loretta war dankbar dafür. Abstand gewinnen, nicht immer die Nase auf der Fährte haben; auch so ein Spruch aus ihrer Ausbildung.

Nach der Vorstellung hatten die beiden noch Hunger und gingen die wenigen Meter in die Stadt. Auch beim Essen wurde nichts Dienstliches besprochen. Loretta fühlte sich herrlich entspannt. Nach einer gemütlichen Plauderstunde verabschiedeten sich die Frauen, und die Hauptkommissarin fuhr nach Hause. Auf der Fahrt schon stieg der Fall in ihren Gedanken wieder auf. Sie würde sich die Übersetzung noch heute Abend durchlesen. Es könnte sein, dass der Inhalt ihre morgigen Entscheidungen beeinflusste. An ihrem Haus angekommen, nahm sie den Plastikbeutel vom Rücksitz, schloss den Wagen ab und die Haustür auf. Eigentlich hatte sie noch Appetit auf ein Bier. Unentschlossen stand sie im Hausflur. Abnehmen kann ich auch ab morgen; sagte sie zu sich, entnahm Fax und Alltagskleidung der Tragetasche und zog sich nochmals um. Das Schreiben in der Hand, machte sie sich auf den Weg in den Imbiss.

„Komm ich gleich!“, rief Tasso in seinem gebrochenen Deutsch, als Loretta sich an einen freien Tisch setzte. Er bediente am Tresen zwei weitere Gäste. Und ging dann nach hinten, um einen neuen Bierkasten zu holen. Viel los war nicht an diesem Abend. Ein Mann stand am Spielautomaten, und vier, fünf andere verteilten sich an den übrigen Tischen. Tasso brachte ihr eine Flasche Bier und ging zurück an den Tresen. Loretta trank und genoss den kühlen Gerstensaft. Dann begann sie mit der Lektüre.

Die Übersetzung war vier Seiten lang und begann mit den Worten „Professor Giuliano Gemma war an einer privaten Hochschule Dozent für römische Geschichte. Er erfreute sich …“ Aus dem Text ging hervor, dass der Professor ein angesehenes Mitglied der Veroneser Gesellschaft gewesen war, er sich speziell auf die Erforschung der Geschichte der Soldatenkaiser Roms konzentriert hatte, selbst Ausgrabungen finanzierte und anscheinend ein besonderes Faible für den ersten Soldatenkaiser, Maximinus Thrax, entwickelt hatte. Ledig, lebte in geordneten finanziellen Verhältnissen und hatte keine bekannt gewordenen sexuellen Auffälligkeiten. Seine nächste Verwandte war eine in Turin lebende, mit einem Fabrikbesitzer verheiratete Schwester. Diese würde, da wohl kein anders lautendes Testament vorlag, die Alleinerbin sein. Ein Mord, der in der Familie begründet war, schien hiermit ausgeschlossen. Auf der Festplatte des Computers im Arbeitszimmer des Ermordeten gab es eine Datei, in der Berichte über die Schlacht am Harzhorn gesammelt waren. Ein Unterordner enthielt die E-mail- Korrespondenz des Professors mit Karsten Seuler. Einige E-Mails waren wörtlich wiedergegeben. Der Professor beherrschte offensichtlich die deutsche Sprache. Er hatte sich genau über die Gegebenheiten am Harzhorn informiert. Die Internetanschriften von Sondengängerseiten wurden ausgetauscht und die Vorzüge und Nachteile einzelner Metalldetektoren diskutiert. Es schien, als habe der Veroneser Anschluss an die hiesige Sondengängerszene gesucht. In einem der letzten Schreiben erwähnte Seuler einen Bekannten, der Fundstücke vom Schlachtfeld besaß. Dass diese Stücke nur illegal beschafft sein konnten, musste dem Historiker klar gewesen sein. Auch in Italien darf nicht einfach auf einem Bodendenkmal gesucht und vor allen Dingen kein Gegenstand entfernt werden. Loretta nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Ganz so ehrbar ging es also auch bei dem Herrn Professor nicht ab. Als Wissenschaftler an solchen Machenschaften teilzuhaben hätte, im Entdeckungsfalle, ein jähes Ende seiner Karriere bedeuten können. Aber vielleicht sah man das in Italien nicht so. Loretta dachte in diesem Zusammenhang an den derzeitigen italienischen Staatspräsidenten und seine Sexaffären.

Das Handy läutete, ein Blick auf das Display ließ sie erkennen, dass der Anruf von Bernd kam. „Na, Kleine, hast du einen schönen Abend gehabt? Ich kann dir hier etwas Schönes bieten. Eine frische Leiche, noch warm. Rate, wer es ist.“

„Seuler“, sagte sie „der Einzige, der Kontakt zu Gemma hatte. Oder wer sonst?“

„Hättest Hellseherin werden sollen“, antwortete Bernd, „und nun rate bitte noch einmal, wo er gefunden wurde.“

„Harzhorn?“, kam die unsichere Aussage.

„Daneben! Wird wohl doch nichts mit der Karriere als Hellseherin. Im Gebüsch hinter dem Theater der Nacht. Ein Pärchen wollte es sich dort gemütlich machen und stolperte über den Toten. Sehen wir uns gleich?“

„Bin schon unterwegs“; sagte Loretta, stand auf, winkte Tasso kurz zu und verließ, ohne zu bezahlen den Imbiss und ging zu ihrem Wagen. Der bisher so schöne Abend war ihr gründlich verdorben.

Die Strecke nach Northeim war in zehn Minuten bewältigt, die Fahrt durch die nächtliche Stadt bei ausgeschalteten Ampeln und geringem Verkehrsaufkommen schnell abgetan. Und knapp 15 Minuten nach dem Anruf parkte Loretta neben einem Polizeifahrzeug. Erhellt wurde die Szenerie durch aufgestellte Tiefstrahler. Hinter der Polizeiabsperrung standen, trotz der späten Stunde, etliche Schaulustige, die auch einmal „Polizeiruf 110“ live miterleben wollten. Loretta ging an den Leuten vorbei, bückte sich unter dem Flatterband der Absperrung hindurch und trat