Lost in doubts - Larissa Harold - E-Book

Lost in doubts E-Book

Larissa Harold

0,0

Beschreibung

Die schwer verletzte Marissa wacht ohne jegliche Erinnerungen an die vergangenen Monate im Krankenhaus auf. Ihr Leben an Brians Seite entwickelt sich zu ihrem schlimmsten Albtraum. Komplett auf sich allein gestellt, muss Marissa nicht nur die Böswilligkeiten ihres Mannes über sich ergehen lassen, sondern auch herausfinden, was es mit diesem James auf sich hat. Da er ihr immer wieder Briefe aus dem Gefängnis zukommen lässt, bezweifelt sie schnell, dass er etwas mit ihrem Unfall zu tun hatte. Während Marissa mit ihrem Schicksal hadert, überschlagen sich die Ereignisse plötzlich, als der mysteriöse Jackson auftaucht. Unverhofft findet sich Marissa in einem Überlebenskampf wieder, der nicht nur ihr eigenes Leben auf eine harte Probe stellt. Denn der wahre Albtraum beginnt erst, als sie sich gegen Brian zur Wehr setzt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 268

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Prolog

Ich war dem Tod schon oft näher, als ich es mir eingestehen würde. Zu groß war die Versuchung, einfach loszulassen. Aber diesmal war es ganz anders als sonst. Ich wollte nicht sterben, doch mein Leben war das Einzige, was ich ihm geben konnte. Um ihn in Sicherheit zu wissen, war Loslassen die einzige Option, die mir richtig erschien.

Kapitel 1

Marissa...Kannst du mich hören?...Helft ihr doch...

Hastige Schritte... lautes Gemurmel... Dunkelheit.

Mühsam öffne ich meine Augen. Das grelle Krankenhauslicht blendet mich so stark, dass ich nur blinzeln kann. Als ich versuche mich aufzusetzen, durchfährt mich ein ziehender Schmerz. Schockiert stelle ich fest, dass mein Bein eingegipst ist und ich einen Verband um meinem Kopf habe. Verwirrt sehe ich mich hektisch blinzelnd um. »Schwester, sie ist aufgewacht.« Brian setzt sich mit einem erleichterten Blick auf den Rand meines Bettes und drückt zaghaft meine Hand. »Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, murmelt er und legt die Stirn in Falten. Ich höre, wie sich Schritte meinem Zimmer nähern, kann meinen Kopf aber nicht drehen, da jede kleinste Bewegung mit einem bohrenden Schmerz bestraft wird. »Was...was ist passiert?«, flüstere ich. Ich habe Mühe, überhaupt einen Laut herauszubringen, da sich mein Mund staubtrocken anfühlt. »Mrs. Harper, ich bin Dr. Dearborn. Ich möchte Sie gern untersuchen«, sagt die junge Ärztin freundlich und leuchtet mir mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen. Sie bittet Brian höflich, einen Augenblick das Zimmer zu verlassen, checkt meine Vitalwerte und begutachtet meine Kopfverletzung. Als sie damit fertig ist, lächelt sie zufrieden. »Sie hatten ganz schönes Glück. Wenn Sie sich weiterhin so schnell erholen, dürfen Sie in den nächsten Tagen nach Hause.« Sie öffnet die Tür und bittet Brian wieder herein. »Ihrer Frau wird es bald besser gehen«, sagt sie zuversichtlich und tätschelt beruhigend seinen Arm. Dann ist sie verschwunden. »Hast du gehört mein Schatz? Bald bist du wieder auf den Beinen.« Brian strahlt. »Was ist passiert?«, frage ich erneut. Brian rutscht unruhig auf dem Bett herum und sieht mich mit ernster Miene an. »Die Ärzte erwähnten bereits, dass du dich möglicherweise nicht mehr an alles erinnern kannst. Was ist das Letzte, das du noch weißt?« Er hebt argwöhnisch eine Augenbraue. Angestrengt denke ich einen Augenblick nach. »Wir hatten uns gestritten, dann habe ich das Apartment verlassen...« Ich versuche mich zu erinnern, wie dieser Tag weiterging, doch ich kann diese Erinnerung nicht abrufen. »Ich weiß es nicht mehr«, sage ich frustriert und sehe ihn verzweifelt an. »Marissa, das ist schon Monate her«, ruft er ungläubig aus. Ich meine, über seinem Gesicht ein Lächeln huschen zu sehen, aber das ergibt keinen Sinn. Wahrscheinlich bin ich nur groggy von den ganzen Schmerzmitteln. »Du erinnerst dich also nicht mehr an James?«, fragt er prüfend. »Wer ist James?« Umständlich versuche ich mich aufzusetzen, doch es gelingt mir nicht. »Das ist so ein irrer Typ, der dir das angetan hat Marissa. Er hat dich monatelang belästigt und als du ihm klarmachen wolltest, dass er uns endlich in Ruhe lassen soll, hat er dich angegriffen. Er hat dich in den Schacht auf dem Firmengelände geschubst und du hast nur um Haaresbreite überlebt.« Etwas verwirrt versuche ich angestrengt, mir diesen James in Erinnerung zu rufen, doch ich erinnere mich nicht, jemanden mit diesem Namen je gekannt zu haben. »Wieso hatte es dieser James denn auf mich abgesehen?«, frage ich, noch immer steht mir ein Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. »Damit solltest du dich jetzt nicht belasten«, wiegelt Brian ab. »Schlaf noch ein wenig Marissa. In Kürze werden wir wieder unser gewohntes Leben genießen können.« Er sieht mich einen Augenblick an und verlässt mit dem Anflug eines Grinsens das Zimmer. Widerstrebend schließe ich die Augen und versuche mich mit vollster Konzentration an den Unfall zu erinnern. Wieso sollte mich ein wildfremder Mann belästigen und sogar umbringen wollen? Und was mich noch viel mehr beschäftigt, wo haben wir uns kennengelernt? Ich verlasse aufgrund meiner Angststörung doch ohnehin kaum das Apartment. Wieso hat Brian mich nicht geschützt, wenn es so ein Wahnsinniger auf mich abgesehen hatte? Diese Überlegungen ergeben für mich einfach keinen Sinn. Die ganze Art, wie Brian besorgt an meinem Bett saß und wie er mich angesehen hat, verschafft mir ein mulmiges Bauchgefühl.

»Wie ich sehe, freuen Sie sich auf Ihre Entlassung«, stellt Dr. Dearborn fest und lächelt mir freundlich zu. Mit einem Bein angewinkelt, das andere gestreckt wegen dem Gips, sitze ich auf dem Krankenhausbett vor meinen gepackten Sachen und warte auf Brian, der mich schon vor zwanzig Minuten abholen wollte. Gedankenverloren streiche ich über den harten Gips, der mein rechtes Bein bis zum Oberschenkel bedeckt. »Ja, eine Woche auf der Krankenstation reicht mir wirklich«, antworte ich und lächle entschuldigen. »Ich habe Schwester Margret Bescheid gegeben. Sie hat noch eine Box mit Ihren persönlichen Sachen. Ich wünsche Ihnen alles Gute«, verabschiedetet sie sich und verlässt den Raum. Wie aufs Stichwort betritt Schwester Margret, eine ältere, stämmige Frau mittleren Alters, mit vollständig ergrautem Haar das Zimmer und lächelt mich wie gewohnt herzlich an. »Wir werden Sie vermissen Mrs. Harper. Sie haben wirklich eine angenehme Persönlichkeit«, sagt sie und tätschelt mir mütterlich den Kopf. Etwas verlegen grinse ich sie an. »Das ist lieb, ich habe mich hier auch wirklich gut aufgehoben gefühlt, aber zuhause ist es doch am Schönsten«, entgegne ich schüchtern. »Hier sind Ihre Sachen, die wir Ihnen nach dem Unfall abgenommen haben. Sie können die Box einfach auf dem Bett stehen lassen. Machen Sie es gut.« Sie streckt mir höflich ihre Hand entgegen, die ich nur vorsichtig, da mir noch immer jeder Knochen in meinem Körper weh tut, ergreife. Als ich alleine bin, schaue ich gespannt in die kleine, weiße Box. Dort liegen nur ein paar zerknitterte 5 Dollar Scheine, mein total beschädigtes Handy, ein Schlüsselbund und eine Kette mit einem herzförmigen Stein. Behutsam nehme ich den Stein zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachte ihn mit vollster Aufmerksamkeit. Try it harder, Marissa. Diese vier Wörter sind dort in winzig kleiner Schrift eingraviert. Mit gerunzelter Stirn betrachte ich die Kette eindringlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich so ein Schmuckstück je besessen habe. Plötzlich höre ich, wie sich die Zimmertür öffnet und verstaue die Kette geistesgegenwärtig in meiner Jackentasche. »Du bist ja schon fertig«, ruft Brian überrascht aus. Als ich mich zu ihm herumdrehe huscht wieder dieser merkwürdige Ausdruck über sein Gesicht. »Ja, ich habe dich auch bereits vor dreißig Minuten erwartet«, erkläre ich. Brian stöhnt kurz auf und sieht mich genervt an, doch dann kontrolliert er seine Mimik wieder und setzt ein freundliches Lächeln auf. »Ich hatte noch einiges in der Firma zu tun, es ging nicht schneller. Und jetzt komm, bringen wir dich endlich wieder nach Hause.« Etwas umständlich hieve ich mich in den Rollstuhl, der vor meinem Bett steht, damit Brian mich bis zum Parkplatz schieben kann. Dort angekommen wirft er schwungvoll meine Krankenhaustasche in den Kofferraum und öffnet die Beifahrertür. Etwas unsanft greift er nach meinem Arm und hilft mir, im Porsche Platz zu nehmen. Als er um den Wagen herumgeht, sehe ich im Rückspiegel, wie er verärgert den Kopf schüttelt. Wie es aussieht, hat sich zwischen uns nichts verändert. Er ist mir gegenüber sogar noch übellauniger als zuvor. Intuitiv greife ich an meine Jackentasche und ertaste dabei den Stein an meiner Kette. Woher habe ich diese Kette? Und wer hat sie mir geschenkt? Mein Bauchgefühl rät mir, Brian nicht darauf anzusprechen. Ich muss dringend mit Ava sprechen, vielleicht kann sie Licht ins Dunkel bringen.

Im Apartment angekommen fühle ich mich unverzüglich fremd, fast beengt, als gäbe es hier nicht genug Sauerstoff. Brian reicht mir meine Krücken und lässt meine große Krankenhaustasche mitten im Eingang stehen. »Im Kühlschrank ist etwas Wasser und Joghurt«, sagt er und öffnet als Beweis die Kühlschranktür. »Brauchst du sonst noch etwas? Ich muss bis heute Abend noch einige Dinge in der Firma erledigen.« Stirnrunzelnd schüttle ich den Kopf und nehme umständlich am Küchentisch Platz. »Würdest du mich schnell von deinem Handy telefonieren lassen? Du weißt doch, dass meins kaputt ist und ich würde Ava gern Bescheid geben, dass ich wieder zuhause bin.« Wieso hat sie mich im Krankenhaus eigentlich nicht besucht? Brian wirft mir einen kritischen Blick zu und schüttelt entschieden den Kopf. »Ich habe ihre Nummer doch gar nicht. Oder kennst du die etwa auswendig?« Er sieht mich prüfend an. »Ehrlich gesagt nicht«, gebe ich enttäuscht zu. »Würdest du mich später, wenn du wieder da bist, an ihrer Wohnung absetzen? Ich würde wirklich gern mit ihr reden«, beharre ich. »Heute wird es sicher spät Marissa und du sollst dich ausruhen. Auf dem Rückweg klingle ich bei ihr an und hole sie ab, wenn sie zu Hause ist, okay?«, schlägt er vor und lächelt, doch das Lächeln erreicht seine Augen nicht. »Das ist nett, ich danke dir«, entgegne ich dankbar, doch ich kann mir aus seinem Verhalten keinen Reim machen. Er beugt sich zu mir rüber, drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verlässt zügig das Apartment.

Die letzten sieben Wochen sind immer dem gleichen Ablauf gefolgt. Ich stehe auf und mache Brian sein Frühstück, er geht in die Firma, ich sitze den ganzen Tag wie eine Gefangene in dem Apartment und mache brav auf Krücken alles sauber. Irgendwann am späten Abend kommt Brian wieder und schenkt mir, wie so oft in der Vergangenheit, keine Beachtung. Jeden Tag der letzten neunundvierzig Tage habe ich nach Ava gefragt, doch angeblich konnte er sie nie erreichen. Er weigert sich stur, mich an ihrer Wohnung abzusetzen, daher beschleicht mich allmählich der Verdacht, dass er den Kontakt zu ihr unbedingt verhindern will. Seit drei Tagen bin ich endlich meinen Gips los und ich habe keine Gelegenheit ausgelassen, mich unten vor die Tür zu setzen, sobald Brian außer Haus war. Es ist früher Nachmittag und ich stehe frisch geduscht und bekleidet mit meinem Schlüssel in der Hand an der Apartmenttür. Langsam zähle ich gedanklich bis fünf und verlasse mit vertraut mulmigen Gefühl das Apartment. Heute habe ich mir vorgenommen, ein wenig spazieren zu gehen. Seit meinem Krankenhausaufenthalt sind meine Ängste längst nicht mehr so ausgeprägt, wie noch vor ein paar Wochen. Immer wieder habe ich versucht, mir in der Zwischenzeit meine Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, doch nach wie vor sind die letzten Monate vor dem Unfall wie ausgelöscht. Als ich unten im Hausflur angekommen bin, sehe ich, dass ein kleiner, weißer Umschlag aus dem Briefkastenschlitz lugt. Neugierig öffne ich den Briefkasten und stelle verwundert fest, dass der Brief an mich adressiert ist. Absender: James Evans, Halefordcity Staatsgefängnis. James? Der Mann, der für meinen Unfall verantwortlich sein soll? Mit zittrigen Fingern öffne ich den Umschlag und setze mich auf die Treppe.

Liebe Marissa,

ich hoffe, dieser Brief erreicht Dich überhaupt. Es ist nicht der erste Brief, den ich Dir schicke. Ich habe von meinem Anwalt erfahren, dass Du keine Aussage gegen mich machen wirst, da Du Dich an die letzten Monate nicht erinnern kannst. Ist das wirklich wahr? Ich habe Dich nicht in den Schacht gestoßen, ich hätte Dir niemals weh getan. Vor einigen Monaten haben wir uns vor dem örtlichen Café kennengelernt. Du hattest einen Streit mit Brian und warst völlig verzweifelt. Ich habe Dich getröstet und Dich nach Deiner Handynummer gefragt und einige Tage später sind wir zusammengekommen. Du hast Dich von Brian getrennt, Marissa! Er ist für Deinen Unfall verantwortlich. Ich weiß, dass es Dir bestimmt unglaublich erscheint, aber bitte gib mir eine Chance, Dir alles zu erklären. Du stehst auf meiner Besucherliste! Ich weiß, dass Du es schaffen kannst, wenn Du es wirklich willst.

Ich liebe Dich! James

Seit zwanzig Minuten sitze ich wie angewurzelt auf der kühlen Steintreppe im Hausflur und lese James' Brief, immer und immer wieder. Er liebt mich? Was ist das für ein krankes Spiel? Und woher kennt er mich? Nachdenklich falte ich den Zettel und stecke ihn in die Hintertasche meiner Jeans. Niedergeschlagen reibe ich mir die Augen und habe das dringende Bedürfnis, mich einfach hier auf die Treppe zu legen und auf der Stelle einzuschlafen. Wieso kann ich mich nicht einfach wieder erinnern? Ein Teil von mir spielt ernsthaft mit dem Gedanken, diesen James mal einen Besuch abzustatten. Eine Mischung aus Neugier und Entsetzen drängt mich, diesen Typ mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Aber bin ich wirklich bereit dazu, ihn kennenzulernen? Skeptisch schüttle ich den Kopf. Der Weg ins Staatsgefängnis ist auch nicht mal eben um die Ecke, ich wäre auf jeden Fall auf den Bus angewiesen. Und da ich schon seit Jahren nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren bin, verursacht schon allein der Gedanke daran eine bleierne Übelkeit. »Ich weiß, dass du es schaffen kannst, wenn du es wirklich willst.« Dieser Satz hat meine Aufmerksamkeit ganz besonders erregt. Weiß er von meiner Angststörung? Mir fällt keine andere Möglichkeit ein, wie er diesen Satz sonst hätte meinen können. Und wenn er darüber Bescheid weiß, muss ich ihn gekannt und ihm vertraut haben. Gefrustet umschlinge ich meine Knie, lege meinen Kopf darauf und bete innerlich, dass ich meine Erinnerungen so schnell wie möglich wiederbekomme.

Kapitel 2

Das schrille Klingeln meines Weckers reißt mich aus einem aufwühlenden Traum. Schläfrig betätige ich den Ausschalter und setze mich stirnrunzelnd im Bett auf. Obwohl ich mich nicht detailliert an meinen Traum erinnern kann, hat er trotzdem einen faden Beigeschmack hinterlassen. Stutzig bemerke ich, dass die Betthälfte neben mir unbenutzt ist. Nachdem ich gestern diesen mysteriösen Brief erhalten habe, bin ich völlig erledigt ins Bett gesunken und habe scheinbar fünfzehn Stunden am Stück geschlafen. Wieso hat Brian mich nicht geweckt als er nach Hause gekommen ist? Aus dem Bad nehme ich gedämpfte Geräusche wahr, anscheinend macht sich Brian gerade für seinen Arbeitstag zurecht. Da mein Bein noch immer nicht so funktionsfähig wie vor dem Unfall ist, verlasse ich mit höchster Vorsicht das Schlafzimmer, um mir in der Küche einen Tee und Brian sein Frühstück zu machen. Als ich gerade dabei bin, Kaffeepulver in die Maschine zu löffeln, betritt Brian die Küche. »Guten Morgen«, hauche ich und wende mich ihm zu. Anstatt etwas zu entgegnen, blickt er mich nur eisig an. Sofort bekomme ich ein flaues Gefühl in der Magengegend und frage mich, wieso er offensichtlich so schlecht gelaunt ist. »Was ist das?«, fragt er gereizt und legt vor mir die Kreditkartenabrechnung auf die Anrichte. Beklommen schaue ich mir das Schriftstück an und zucke unsicher mit den Schultern, da ich nichts Merkwürdiges entdecken kann. »Lieferservice«, schreit er mich an und deutet mit dem Zeigefinger auf das Papier. »Ich habe mir nur ein paar Lebensmittel bestellt, da du zu beschäftigt warst, um einkaufen zu gehen. Mit meinem Bein kann ich so weite Strecken nicht laufen«, erkläre ich kleinlaut und fühle mich schlagartig unheimlich schuldig. Erbost rückt er mit seinem Gesicht ganz dicht an meines. »Schiebe es nicht auf dein Bein, Marissa! Gib doch einfach zu, dass du wieder unfähig warst in den Supermarkt zu gehen.« In seiner Stimme schwingt etwas Bedrohliches mit. Verletzt und beschämt zugleich trete ich einen Schritt zurück und wende meinen Blick von ihm ab. Wieso wirft er mir meine Angststörung plötzlich wieder vor? Herrisch hebt er mein Kinn etwas an und blickt mir eisig in die Augen. »Das hört jetzt auf, Marissa. Ich gehe nicht den ganzen Tag arbeiten, damit du mein Geld aus dem Fenster wirfst.« »Es waren doch nur 20 Dollar«, versuche ich mich zu verteidigen. »Wenn du selber arbeiten gehen würdest, wüsstest du den Wert des Geldes vielleicht auch zu schätzen. Damit ist jetzt Schluss!« Die ganze Zeit über blickt er mich kaltschnäuzig an, während bei dem letzten Satz ein Macht demonstrierendes Lächeln über sein Gesicht huscht. Verunsichert erwidere ich seinen Blick und weiß nicht genau, was er mir damit sagen will. »Es tut mir leid, dass ich dich verärgert habe«, entschuldige ich mich mit einsichtiger Stimme, doch ich merke, dass ich es in Wahrheit nicht so meine. Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er jetzt völlig durchdreht. Seitdem wir zusammen sind, haben wir unser Einkommen zusammengelegt und als ich aufgrund meiner Angststörung nicht mehr arbeiten gehen konnte, hatte er nie ein Problem damit, wenn ich Geld für den Haushalt verwendet habe. Seine Launen sind so wechselhaft und undurchschaubar, dass ich nicht weiß, wie es mit uns weitergehen soll. Schlagartig bemerke ich, dass ich gar kein Interesse mehr habe, hier länger bei ihm zu sein. Allerdings hat er in einem Punkt Recht, ich besitze kein eigenes Geld. Also, wo soll ich hin? Ich wünschte wirklich, dass ich mich mit Ava austauschen könnte. Sie wüsste ganz sicher, was zu tun ist. Grimmig greift Brian nach der Kaffeekanne und stellt sie geräuschvoll auf den Tisch. Dann holt er wortlos eine Tasse aus dem Schrank und setzt sich an den Küchentisch. Gedankenverloren reibt er sich übers Kinn und lässt seinen Blick träge durch den Raum schweifen. Mit einem Mal erscheint ein boshafter Ausdruck in seinen Augen, doch dann lächelt er kaum merklich, so als ob ihm eine brillante Idee gekommen wäre. Da er weiterhin kein Wort sagt und mich auch keines Blickes würdigt, gehe ich langsam Richtung Wohnzimmer. Gerade als ich mitten im Türrahmen stehe, räuspert sich Brian lautstark. Verunsichert drehe ich mich herum und sehe, dass er mich mit skeptischer Miene beäugt. Es ist eine ganze Weile unangenehm still im Raum, während wir uns wortlos einander ansehen. »Ich erwarte, dass du hier bist, wenn ich nach Hause komme«, sagt er schließlich bestimmend, steht auf, schiebt mich ein wenig zur Seite und verlässt rasch das Apartment. Ein wenig verwirrt stehe ich nach wie vor im Türrahmen und frage mich, was diese Aussage zu bedeuten hat. War ich jemals nicht hier, wenn er nach Hause gekommen ist? Ich muss dringend mit Ava sprechen, denn seitdem ich das Krankenhaus verlassen habe, habe ich mit niemandem außer Brian geredet und er rückt einfach nicht mit der Sprache raus. Außerdem finde ich es seltsam, dass sich Ava bis jetzt nicht bei mir gemeldet hat, das ist gar nicht ihre Art. Kurzentschlossen schnappe ich mir meine Handtasche, schlüpfe in meinen schwarzen Strickmantel und fasse den Entschluss, mich auf den Weg zu ihr zu machen.

Den ganzen Weg über sehe ich mich aufmerksam um und konzentriere mich angestrengt auf meine Atmung. Es macht mich ein wenig nervös, dass ich kein Handy mehr habe und niemanden anrufen könnte, wenn es mir unterwegs zu viel wird. Andererseits, wen sollte ich schon anrufen? Brian? Mit einem bitteren Lächeln schüttle ich den Kopf. Als ich in die „Pearlstreet“ einbiege, sehe ich zu meiner Erleichterung schon Avas Haus. Automatisch gehe ich einen Schritt schneller und klingle hektisch, als ich die Haustür erreicht habe. Gespannt warte ich vor geschlossener Tür, doch als sie auch nach geschlagenen zehn Minuten und wiederholtem Klingeln nicht öffnet, gebe ich niedergeschlagen auf. Frustriert lehne ich meinen Kopf an die kühle Glastür und schließe einen kurzen Augenblick die Augen. »Danke für die Begleitung«, ertönt meine eigene Stimme ohrenbetäubend laut in meinem Kopf. Entgeistert reiße ich meine Lider auf und blicke mich erschrocken um. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie ich genau hier mit einem unglaublich attraktiven Mann stehe und ihn verliebt anlächle. Durcheinander kneife ich meine Augen zu und setze mich auf den Boden. Mit ein wenig Nachdruck presse ich meine Hände gegen die Schläfen und atme konzentriert fünf Sekunden tief ein und acht Sekunden wieder aus. Als sich mein Herzschlag allmählich wieder beruhigt, öffne ich meine Augen und stehe, noch immer verstört, langsam wieder auf. Was war das? War das ein Traum? Unmöglich, schließlich bin ich hellwach. Wer ist dieser Mann? Und sind es tatsächlich meine Erinnerungen oder fange ich gerade zu fantasieren an? Frustriert mache ich mich mit zittrigen Beinen auf den Weg zurück in mein Apartment

Mittlerweile ist es später Nachmittag und ich frage mich, wo Brian steckt. Wie er es von mir erwartet, habe ich sein Essen inzwischen fertig angerichtet und das Apartment nach seinen Wünschen aufgeräumt. Auch wenn er mir immer wieder sagt, dass ihm Ordnung nicht wichtig ist, möchte ich ihm keinen weiteren Grund geben, eine Angriffsfläche zu finden. Ich fühle mich eingesperrt und habe das dringende Bedürfnis, nach draußen zu gehen. Woher kommt neuerdings dieser Freiheitsdrang? Erschöpft setze ich mich an den Küchentisch und lege meinen Kopf deprimiert auf die kühle Tischplatte. In dem Moment, als ich die Augen schließe, erscheint ein großer, blonder, gut gebauter Mann vor meinem geistigen Auge, der mich arrogant anlächelt. Verwirrt setze ich mich kerzengerade hin und sauge angespannt Luft durch den Mund ein. Freiheitsdrang, Geistesblitze und eine tiefe Frustration bestimmen seit Tagen mein Leben und nur eins der drei Dinge kommt mir vertraut vor: die Frustration. Was ist nur in diesen letzten Wochen, die wie ausgelöscht sind, geschehen?

Ausgelaugt lege ich mich ins Bett und ziehe mir die Bettdecke bis zum Kinn. Ich bin völlig übermüdet, aber mein Kopf dröhnt so stark, dass an Schlaf kaum zu denken ist. Verzweifelt drehe ich mich vom Rücken auf die Seite, dann wieder von der Seite zurück auf den Rücken. Meine Augen füllen sich mit Tränen, doch nicht, weil ich wie so oft das Bedürfnis habe zu weinen, sondern weil mich ein immer wiederkehrender, stechender Schmerz in der Schläfe durchzuckt. Schmerzerfüllt presse ich die Lippen aufeinander und versuche ganz entspannt durch die Nase tief einzuatmen, so als ob der Schmerz mir nichts anhaben könnte. Während ich gezielt in meinen Bauch atme, merke ich, wie meine Lider immer schwerer werden und ich langsam aber sicher ins Traumland gesogen werde. Jetzt nehme ich den Schmerz nur noch sehr dumpf wahr, so als wäre er nur eine entfernte Erinnerung. Erleichtert gebe ich mich diesem Gefühl hin und ziehe meine Decke noch ein Stück weiter nach oben, bis sie meine Nasenspitze erreicht. Als ich beinahe weggetreten bin, dringen plötzlich laute Stimmen und Musik in meine Ohren, die mich sofort vollständig erwachen lassen. Gereizt öffne ich die Augen, schließe sie aber sofort wieder, als mich dieser bohrende Schmerz durchzuckt. Die Geräusche scheinen aus Brians Arbeitszimmer zu kommen. Entkräftet setze ich mich im Bett auf und zwinge meine Augen sich zu öffnen, um einen Blick auf den Wecker zu werfen. Es ist 02:15 Uhr. Was macht er so spät noch am PC und wieso tut er es bei so einer Lautstärke? Als ich versuche aufzustehen, wird mir so übel, dass ich mich direkt wieder hinlegen muss. »Brian, Schatz? Würdest du den Lautstärkeregler bitte etwas runterdrehen? Ich habe furchtbare Migräne«, rufe ich angestrengt zu ihm herüber. Einige Augenblicke später betritt er das Schlafzimmer. »Was ist dein Problem?«, brüllt er mich an und haut geräuschvoll auf den Lichtschalter. Als das Zimmer vom Licht erhellt wird, halte ich mir reflexartig die Hände vors Gesicht. »Mir geht es wirklich nicht gut, ich möchte gern schlafen. Ich habe dich doch nur gefragt, ob du deinen Ton am PC etwas mäßigen kannst«, sage ich im sanften Tonfall und bete innerlich, dass er es einfach gut sein lässt. »Pass mal auf du Fotze, du hast über mich nicht zu bestimmen, damit das mal klar ist! Wenn ich am PC etwas hören will, dann mache ich das auch!«, fährt er mich eisig an. Fassungslos blinzle ich ihn an und versuche zu begreifen, wieso er schon wieder so abwertend und boshaft zu mir ist. Obwohl ich das dringende Verlangen habe mich ENDLICH gegen ihn zur Wehr zu setzen, bleibe ich ganz sachlich, denn noch mehr Stress erträgt mein Gemüt einfach nicht. »Bitte sei doch nicht gleich wieder so sauer. Ich wollte doch nur versuchen zu schlafen und der Lärm hat mich gestört«, erkläre ich träge. »Der Lärm??«, schreit er so laut, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. »Keine Ahnung, was in deinem kranken Kopf vor sich geht, aber hier war kein Lärm. Deine Spinnereien gehen mir so dermaßen auf den Sack, manchmal ziehe ich echt in Erwägung, dass du bei deinem Sturz einen schwerwiegenden Hirnschaden erlitten hast.« Nun zwinge ich mich erneut, meine Augen zu öffnen, um Brian anzusehen. Was hat er da gerade zu mir gesagt? Ist das sein Ernst? Er funkelt mich zornig an und verlässt, noch ehe ich etwas sagen kann, den Raum. Erneut füllen sich meine Augen mit Tränen, doch diesmal nicht wegen dem körperlichen Schmerz. Konzentriert versuche ich meine Fassung wiederzuerlangen und ignoriere das hämmernde Gefühl in meinem Kopf, als ich schleichend das Arbeitszimmer betrete. Sofort als Brian mich bemerkt, macht er eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe keinen Bock auf Diskussionen Marissa. Verpiss dich!«, zischt Brian. Obwohl mir bewusst ist, dass es besser wäre, wenn ich gehe, kann ich es nicht akzeptieren, seine Gemeinheiten so auf mir sitzen zu lassen. Er soll endlich aufhören, mich so zu behandeln und ein vernünftiges Gespräch mit mir führen. Das ist doch nicht zu viel verlangt. »Brian, was ist mit dir los? Wieso bist du so zu mir?«, frage ich zögerlich. Wutentbrannt dreht er sich zu mir und sieht mich so hasserfüllt an, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme. » Wieso hörst du nicht auf mich? Ich habe dir gesagt, dass du dich verpissen sollst, ich habe so die Schnauze voll von dir!« Zornig betätigt er den Ausschalter am PC und stapft ins Schlafzimmer. Völlig verdutzt gehe ich ihm wortlos hinterher. Dann drückt er mir eilig Decke und Kissen in die Hand und schlägt mir die Tür vor der Nase zu. »Wage es ja nicht, mich noch einmal anzusprechen«, ruft er durch die geschlossene Tür. Wie in Trance gehe ich ins Wohnzimmer und setze mich auf die Couch. Da mein Kopf noch immer so dröhnt, als wäre ein Zug drübergefahren, denke ich angestrengt nach, ob das gerade wirklich passiert ist und womit ich es verdammt nochmal verdient habe, so behandelt zu werden.

Kapitel 3

Wie jeden Morgen in den letzten zwei Wochen verlasse ich das Apartment, sobald Brian in der Firma ist. Im Treppenhaus angekommen, springt mir erneut ein Briefumschlag ins Auge, der ungefähr zwei Zentimeter aus dem Briefkasten ragt. Gespannt öffne ich den Umschlag und setze mich mit einem flauen Gefühl im Bauch auf die kühle Steintreppe im Treppenhaus.

Liebe Marissa,

bitte melde Dich bei mir. Ich kann verstehen, dass es Dir merkwürdig vorkommt, von einem völlig Fremden Briefe zu erhalten, aber ich verspreche Dir, ich kann das alles aufklären. Ich vermisse Dich schrecklich! Falls Du es noch nicht getan hast, wovon ich wegen Deiner Abwesenheit ausgehe, sprich mit Ava. Sie kann Dir alles erklären. Ich liebe Dich Marissa und ich brauche Dich!

Dein James

Ava? Er weiß von Ava? Okay, entweder ist er wirklich ein verrückter, penetranter Stalker oder Brian hat mich belogen. Verzweifelt schließe ich die Augen und und drücke den Brief reflexartig gegen meinen Brustkorb. Obwohl ich James noch nie gesehen habe, oder mich zumindest nicht an ihn erinnern kann, kommt mir jedes Wort von ihm aufrichtig vor. Gibt es tatsächlich einen Menschen, der mich liebt und vermisst? Und dann vergesse ich ihn einfach? Ja, das passt zu mir. Resigniert schlage ich mir die Hände vors Gesicht, doch dann fasse ich einen Entschluss. Entschieden haste ich die Stufen hoch, krame ein wenig Kleingeld aus der Haushaltsbox und beschließe mit raschem Herzschlag, spontan ins Halefordcity Staatsgefängnis zu fahren.

Die Busfahrt war der reinste Horror. Ich musste zwei Mal aussteigen, da ich das Gefühl hatte, zwischen den ganzen Menschen zu ersticken. Dennoch bin ich am Ziel angekommen und stehe nun völlig planlos vor dem großen Gefängnisgebäude. Zögernd gehe ich zu dem großen, metallischen Tor und drücke zaghaft auf den roten, ausgeschilderten Knopf. „Besucher bitte hier klingeln.“ Einige Augenblicke später surrt es kurz und die Metalltüren öffnen sich. Mit zittrigen Beinen laufe ich zügig einen schmalen Gang entlang, bis ich vor einem kleinen Eingang stehen bleiben muss. Ab hier geht es nicht weiter. Was mache ich hier überhaupt? Abrupt öffnet sich die kleine, sichtlich schwere Glastür und ein Mann in Uniform empfängt mich sachlich. »Was kann ich für Sie tun?«, fragt er gelangweilt. »Hi. Äh, ich würde gern einen James Evans besuchen«, stammle ich. »Haben Sie einen Besucherausweis?«, fragt er und beäugt mich skeptisch. »Einen was? Äh... nein, habe ich nicht«, stottere ich mit zittriger Stimme. Genervt stöhnt der Mann auf und verdreht kaum merklich die Augen. »Dann kann ich Sie auch nicht reinlassen«, erklärt er prompt. Augenblicklich fängt mein gesamter Körper zu zittern an, das darf doch nicht wahr sein. Der ganze Weg, all die Qualen, für nichts und wieder nichts? Reiß dich zusammen Marissa! »Sir, bitte. Mr. Evans hatte mir geschrieben, dass ich auf seiner Besucherliste vermerkt bin. Würden Sie freundlicherweise einmal für mich nachsehen? Mein Name ist Marissa Harper.« Ich versuche, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen und lächle ihn, so liebreizend ich nur kann, an. »Einen Moment bitte«, sagt er stöhnend und verschwindet im Gebäude. Ungefähr fünf Minuten später, die mir wie Stunden vorkommen, erscheint er mit einer kleinen Karte und einem Papierstück wieder am Eingang und drückt mir beides in die Hand. »Sie müssen hier unterschreiben und den hier immer bei sich tragen«, erklärt er und reicht mir einen Stift und den Besucherausweis. Ohne das Schriftstück zu lesen, unterschreibe ich es und bemühe mich, das Zittern meiner Hände zu ignorieren. »Die Besuchszeit beginnt in zehn Minuten. Bitte nehmen Sie dort Platz und warten Sie, bis Sie aufgerufen werden«, erklärt er monoton und deutet auf ein paar rostige Metallstühle mitten im Eingang. »Haben Sie eine Toilette?«, frage ich mit angehaltenem Atem. Er nickt kurz zu den Besuchertoiletten rüber, die unverkennbar ausgeschildert sind und verschwindet aus meinem Blickfeld. Eilig betrete ich den Vorraum der leicht ungepflegten Besuchertoilette und stütze mich am Waschbeckenrand ab. Dort verweile ich so lange, bis die zehn Minuten um sind und bemühe mich, meinen rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Aufgelöst gehe ich zurück in den Besucherraum, wo ich schon von einer uniformierten Frau erwartet werde. »Mrs. Harper?«, fragt sie, als auf sie zugehe. »Ja, das bin ich.«, sage ich kurz angebunden und halte zum Beweis meinen Besucherausweis so, dass sie ihn sehen kann. »Folgen Sie mir bitte.« Mit wackeligen Beinen gehe ich ihr hinterher und atme so konzentriert es geht in meinen Bauch hinein. Ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden! Unauffällig reibe ich mir mit meinen verschwitzen Handflächen über die Hosenbeine. Überraschend bleibt sie stehen und beginnt mich abzutasten, woraufhin ich sie verwirrt ansehe. »Standardprozedur«, erklärt sie wortkarg. Danach führt sie mich in einen Raum, wo zirka fünfzehn Männer in einer hellblauen Gefängnisgarderobe an vereinzelten Tischen sitzen und sich dort mit vermutlich Angehörigen unterhalten. Nur ein Mann sitzt alleine dort, er sticht sofort aus der Masse heraus. Er hat knapp schulterlange, blonde Haare und sieht mich mit seinen blauen Augen durchdringend an. Seine Mundwinkel umspielen ein erleichtertes Lächeln. Das ist der Mann aus meinen Erinnerungen! Sofort beginnt mein Herz erneut wie wild zu hämmern. Verunsichert, aber entschlossen zugleich, nehme ich gegenüber von ihm Platz und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Die Justizvollzugsbeamtin setzt sich auf einen Stuhl neben der Tür, von wo aus sie den gesamten Raum überblicken kann und beginnt gelangweilt auf ihrem Handy herumzutippen. »Hi«, sagt James und sieht mich liebevoll an. Ich schenke ihm ein kurzes, zurückhaltendes Lächeln und versuche angestrengt, ihn mir in Erinnerung zu rufen, doch da ist nichts. Vorsichtig greift er über den Tisch nach meiner Hand. Obwohl ich ihm in der ersten Sekunde reflexartig meine Hand entziehen möchte, tue ich es nicht. Es fühlt sich augenblicklich vertraut an. WIESO FÜHLT SICH DAS VERDAMMT NOCHMAL VERTRAUT AN?