Louise, Hofnärrin zu Weimar - Elke Orlac - E-Book

Louise, Hofnärrin zu Weimar E-Book

Elke Orlac

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Beschreibung

Weimar 1775. Ein Brand hat ein Jahr zuvor das Schloss und sein Theater zerstört. Die Stadt scheint wie erstarrt. Louise von Göchhausen, die neue Hofdame Herzogin Anna Amalias, sehnt sich nach Befreiung und sucht mit dem jungen Goethe im Schutt der Ruine nach einem Theaterstück. Er sieht sie auf einem Bücherstoß stehen und stolz Aristophanes Komödie Die Vögel schwenken. Sie erfindet eine Szene daraus und spielt sie so gekonnt, als sei sie ein Teil dieses Werkes. Goethe sieht eine Kraft in der kleinen Person, aus deren verwachsenem Körper die Sehnsucht nach Schönheit, Erotik, Spiel und Verwandlung spricht. Mit ihrem Enthusiasmus gelingt Louise von Göchhausen schließlich ein Aufbruch, der das kulturelle Leben in Weimar bis heute bestimmt. Es ist die Kraft der Phantasie.

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Weimar 1775. Ein Brand hat ein Jahr zuvor das Schloss und sein Theater zerstört. Die Stadt scheint wie erstarrt. Louise von Göchhausen, die neue Hofdame Herzogin Anna Amalias, sehnt sich nach Befreiung und sucht mit dem jungen Goethe im Schutt der Ruine nach einem Theaterstück. Er sieht sie auf einem Bücherstoß stehen und stolz Aristophanes‘ Komödie „Die Vögel“ schwenken. Sie erfindet eine Szene daraus und spielt sie so gekonnt, als sei sie ein Teil dieses Werkes. Goethe sieht eine Kraft in der kleinen Person, aus deren verwachsenem Körper die Sehnsucht nach Schönheit, Erotik, Spiel und Verwandlung spricht. Mit ihrem Enthusiasmus gelingt Louise von Göchhausen schließlich ein Aufbruch, der das kulturelle Leben in Weimar bis heute bestimmt. Es ist die Kraft der Phantasie.

Elke Orlac, in München geboren, war als Elke Arendt Schauspielerin an der Freien Volksbühne in Berlin, am Staatstheater in Kassel und in Darmstadt, im Schauspielhaus Bochum und am Residenztheater in München. Es folgten Gastspiele und Tourneen, später eigene Produktionen wie „Undine geht“ von Ingeborg Bachmann oder „Die gelbe Tapete“ von Charlotte Perkins Gilman. Neben Erzählungen und Theaterstücken skizzierte sie in der Biografie „Der blonde Fetzen“ das Leben der Schauspielerin und Dichterin Emmy Hennings. Das Stück erschien im Desch Verlag und wurde unter eigener Regie am Stadttheater Ingolstadt aufgeführt. Unter dem Namen Elke Orlac verfasste sie das Hörbild „Der Club der weißen Bademäntel und die Schönheitskönigin“ für den Südwestfunk Baden-Baden.

„Was für ein Kobold stand da vor ihr, der sogar ihre Hofnärrin sein wollte! Herzogin Anne Amalia seufzte. Dieses schiefe und interessante Gewächs vor ihr kam aus einer Ritze ihres glattpolierten Bodens und brachte sie in eine Unruhe, in einen Wirbel, dem sie sich im Augenblick nicht gewachsen fühlte.“

Elke Orlac lockt uns in ein imaginäres Theater und zeigt uns die höfische Gesellschaft Weimars gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Autorin versteht es meisterhaft, uns einen tiefen Einblick in die Intrigen und Auseinandersetzungen, aber auch in die Gedanken und Gefühle der Figuren zu geben.

Erschienen im Scholastika Verlag UG (haftungsbeschränkt) Rühlestraße 2 70374 Stuttgart Tel.: 0711 / 520 800 60

www.scholastika-verlag.com E-Mail: [email protected]

Zu beziehen in allen Buchhandlungen, im Scholastika Verlag und im Internet

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage © 2019 Scholastika Verlag UG, 70374 Stuttgart ISBN 978-3-947233-16-8 Titelbild: Inka Heerde

„Was ich am meisten fürchte, ist der Tod der Phantasie“

Sylvia Plath

Wo war das närrische Wesen, in der Dunkelheit war es nicht zu finden, schwer zu greifen der quirlige Geist, Geduld. Ein leises Knacken war zu hören, hastige Atemzüge und ein Rauschen, als würde schwerer Stoff über den Boden gezogen. Mondlicht drang durch die Lamellen der Fensterläden, silbrige Zeigefinger, in denen der Staub tanzte.

Eine Bewegung war zu spüren und in einem Luftzug wischte ein Schatten vorbei. Er roch nach Puder und nach altem Samt. Eine Kerze flammte auf, ihr Licht bewegte sich im Kreis, beleuchtete das rötliche Holz einer Vitrine, erhellte ihre Glasfläche und zeigte die Sprünge darin. Es leuchtete ins Innere, fiel auf den hellen Boden der Vitrine, auf Käfer, von Glasscherben umgeben, und auf Obst aus Wachs, das an den Rändern zerflossen war. Das Kerzenlicht wanderte weiter, fuhr nach oben hinweg über Regale, über Bücher in matten Farben, von Ruß geschwärzt, schwenkte nach unten und fiel auf die Fingerspitzen einer Hand. Sie glitten den Rand einer Tischplatte entlang, als prüften sie das Holz und hinterließen Spuren im Staub. Jetzt flackerte die Kerze, eine Staubwolke wirbelte nach oben, flimmerte im Licht, umgab ein Gesicht, das kurz aufleuchtete und wie ein Fleck in der Dämmerung schwebte und wieder verschwand, als sei es der Fetzen eines Traums.

Das Geräusch einer Bewegung, ein Zischen und dann eine Insel aus Licht. In ihr zeigte sich eine zierliche Gestalt in einem zeisiggrünen Kleid. Sie stand mit einem Bein auf einem Stoß Bücher, hatte den Fuß auf die äußerste Spitze gereckt, das andere Bein unter ihrem Reifrock zur Seite gespreizt und balancierte darauf mit Hilfe eines aufgespannten dottergelben Sonnenschirms in der Hand. Den anderen Arm hatte sie weit nach oben gereckt, die Finger nach einem Buch gestreckt, sie griff danach und zog es energisch heraus. Der Ruck warf sie nach hinten, sie schien das Gleichgewicht zu verlieren, hielt mit ihrem Schirm dagegen, beugte sich vor, flatterte mit den Armen, ruderte zurück, kam in eine Drehung, kurz war ihr verkrümmter Rücken zu sehen, bog sich vor, reckte sich auf und balancierte sich, graziös wie eine Seiltänzerin, in geradezu artistischer Haltung wieder aus. Mit einer Hand hielt sie das Buch an sich gedrückt, die andere hielt den aufgespannten dottergelben Seidenschirm gegen den Schutt und Ruß, die von der Decke rieselten. Sie blinzelte kurz unter dem Rand ihres Schirms nach oben in den bizarren Regen, hob dann das Buch vor ihr Gesicht und schüttelte es kräftig. Sie nieste, kam erneut ins Schwanken, fing sich, hob ihren Schirm noch etwas höher und drehte den Kopf ins Licht.

Ihr Gesicht war wach, neugierig, nicht eben schön, war großflächig mit herben Zügen, darin kluge Augen, blitzend vor Lebendigkeit. Der Mund war groß, war ausdrucksvoll, mit schwerer Unterlippe. Ihre Stirn war hoch und kräftig mit zwei Falten zwischen den Brauen, darüber aufgebauschtes Haar, bestäubt mit weißem Puder.

Sie reckte das Kinn. Ihre raue Stimme spottete: „Sapristi. Alles ruinös hier.“

Lauter rief sie: „Hepp“, und mit einem federnden Sprung, den Schirm wie ein Segel über sich, kam sie zu Boden. Sie sah hoch, blinzelte in das Flimmern der herabschwebenden Flocken, trat an einen Tisch, drehte sich um und wischte mit ihrem Rocksaum den Staub von einem Stuhl. Sie blickte wieder nach oben, schüttelte die tanzende Asche von ihrem Schirm, schloss ihn und lehnte ihn gegen den Tisch. Danach setzte sie sich, zog ein Tuch aus ihrem Ärmel, säuberte damit den Tisch, schlug das Buch auf und rückte den Kerzenleuchter in die Nähe ihrer Lektüre. Sie las, keuchte vor Überraschung, beugte sich tiefer, las weiter, blätterte und mit einem Male lachte sie hellauf.

„Die Komödien des Aristophanes. Ja. Ja. Sie sind es tatsächlich. Ha, ich habe sie gefunden. Sie sind gerettet ...“

Eine Männergestalt stürzte aus dem Dunkel hin zu ihrem Tisch, griff nach dem Buch, sie zog es weg. Hastig bat er:

„Zeigen Sie. Ich bitte Sie, geben Sie es mir.“

Sie hielt es fest. „Nein, meines.“

Sie sprang auf, lachte, rief wieder: „Meines“, und floh mit dem Buch.

„Na, warten Sie“, rief der junge Mann und rannte hinter ihr her. Blitzschnell fegte sie davon. Er stolperte, raffte sich, stürzte dann taumelnd vorwärts, beinahe hätte er sie gehabt, sie entwischte seinen Händen, schrie und lachte. Sie liefen und keuchten wie in einem Tanz um die Vitrinen. Sie drehten sich, sprangen hin und her im Täuschen des anderen, jagten sich weiter. Ein Stuhl fiel um. Ein quietschendes

„Au!“. Die kleine Person hüpfte auf einem Bein.

„Bei Gott! Haben Sie sich verletzt?“

„Nein“, lachte sie, wischte an ihm vorbei und mit einem Sprung war sie wieder auf dem Bücherstoß.

„Alors“, rief sie, warf die Arme hoch, als sei der Bücherstoß ihr eine Bühne und der Raum ihr ein Theater. Sie hob das Kinn, hielt das Buch hoch, klopfte auf den Buchdeckel und legte es an ihr Ohr. Aufmerksam horchte sie hinein, hielt es wieder vor sich, runzelte die Stirn, schüttelte es, wartete auf eine Reaktion und öffnete das Buch. Mit schräg gelegtem Kopf sah sie hinein. Steckte die Nase tief zwischen die Seiten, berührte das Papier, schnüffelte daran, hob den Kopf weit in den Nacken und sah wie ein Vogel aus, der eben getrunken hatte. Rasch beugte sie sich wieder vor, presste den Mund zwischen die Seiten, schloss die Augen, sog die Luft durch die Nase, fuhr dann überrascht hoch und drehte sich mit hochgezogenen Brauen um. Sie sah ihn an und rief empört und mit lachenden Augen:

„Kein Leben ist im Papier. Aber auch gar nichts. Nichts zu schmecken. Nichts zu riechen. Nichts als Staub und trockene Blätter. Bitte sehr. Sehen Sie! Da. Ha. Bitte. Oje.“

Sie zeigte ihm ihre kleine geschwärzte Hand.

„Ruß, als Druckerschwärze.“

Sie wandte sich wieder dem Buch zu. Mit spitzen Fingern nahm sie eine Buchseite, sah frech über ihre Schulter zu dem jungen Mann hinunter, tat, als würde sie einen schmalen Streifen Papier abreißen und ihn sich in den Mund stecken. Sie blies die Wangen auf, mahlte mit den Kiefern und brabbelte wie mit vollem Mund:

„Trocken. Ich sag es ja. Kratzt im Hals. Und wie!“

Sie hustete, räusperte sich kräftig und brachte heraus:

„Ohne jedes Leben ist das Papier. Ach, die armen Vögel. Mon dieu! Das hat der verehrte Aristophanes nun wahrlich nicht verdient.“

Gelächter kam aus der Dunkelheit und das Schaben eines zurechtgerückten Stuhls.

Spöttisch schürzte sie die Lippen, als würde sie den nächsten Satz abschmecken.

„Sein geniales Werk. Sie haben es vergessen. Wie konnten sie dieses Heiligtum hier im Raum lassen? Einfach stehen gelassen im Regal. Jetzt haben wir das Malheur. Nutzlos fühlt es sich. Glaubt sich schmählich verlassen. So allein ist es vor Langeweile eingeschlafen. Sehen Sie, wie es sich biegt, als wäre es verstrickt in Albträume? Was für eine Nachlässigkeit. Unverzeihlich. Ha! Aufwachen!“

Sie schüttelte das Buch. „Auf ins Leben. Jetzt. Ich werde in die Sätze blasen, dass die Buchstaben wirbeln. Ich werde sie aufscheuchen, bis ihr Geist erwacht. Ich werde sie aus dem Staub ins Leben holen, sie in die Körper bringen, sie Fleisch werden lassen. Sie sollen die Bühne erobern, die Zuschauer beglücken. Ich will ... Ich will es ... Ach, wie sehr ich das will ... so sehr ... sehr ...“

Ihre Stimme versickerte. Blinzelnd sah sie in den düsteren Raum. Heftiges Klatschen und ein „Bravo!“ kamen aus dem Dunkel.

„Ich bin bei Ihnen. Worauf warten wir? Also an die Arbeit.“

Die zierliche Person auf dem Bücherstoß kicherte, blinzelte, bog sich in die Richtung der Stimme und presste das Buch an ihre Brust.

„Wie denn, bitte, ohne Idee? Immer ist es das Gleiche.

Mein Mund ist voll davon, läuft mir voraus, ich könnte mich auf die Zunge beißen, die Worte an meinen Gaumen pressen, sie würden mir doch aus allen Öffnungen fahren.“

Sie sprang vom Bücherstoß, schnappte sich ihren Schirm am Tisch und tänzelte durch den Raum. Das Buch hielt sie mit einem Arm steil in die Luft.

„Meines“, rief sie, lachte und pustete die Kerze aus.

Der junge Mann versuchte ihr im Dunklen hinterher zu stürzen, hätte sie fast gegriffen, doch konnte sie ihm wiederum entwischen und als Erste die Tür erreichen. Nun hatte er sie eingeholt, und gemeinsam stolperten sie hinaus in den Schlosshof.

Erhitzt standen sie jetzt voreinander, suchten Halt, schnappten nach Luft, lachten wieder, schüttelten den Kopf vor Vergnügen und sahen nicht ihre Umgebung, sahen nicht die Traurigkeit des Orts, die sie umgab, mit der vom Brand geschwärzten Ruine.

Nach einer Weile drehte sich Luise von Göchhausen um.

„Ach, sehen Sie“, stieß sie keuchend hervor. „Was für ein Anblick! Einen Augenblick lang hatte ich das vergessen. Immer und immer wieder aufs Neue bin ich fassungslos. Das Schloss, unser Schloss in Weimar, eine Ruine.“

„Ja, wie recht Sie haben, es ist ein erschreckender Anblick.“

Sie griff nach seinem Arm. „Verstehen Sie? Ich musste zurück. Musste es tun. Egal, was aus mir würde. Als ich in Karlsruhe von dem Unglück erfahren hatte, konnte ich nicht anders, als die Markgräfin von Baden zu bitten, mich aus dem Dienst zu entlassen. Ich musste doch hier sein, um begreifen zu können, was mir erzählt worden war. Kannte ich doch das Schloss seit meiner Kindheit. Da hilft keine Vorstellungskraft. Also musste ich nach Weimar kommen, um helfen zu können, um den Unglücklichen zur Seite zu stehen. Meine liebe Markgräfin von Baden hatte Verständnis und ließ mich gehen. Herzogin Anna Amalia nahm mich in ihren Dienst. Jetzt bin ich wieder hier, in der Nähe meiner Familie.“

„Hatten Sie denn, als Sie wieder hier waren, erfahren, wie das Unglück geschah?“

„Ja. Der Brand kam wohl durch einen schadhaften Rauchfang im Küchentrakt zustande. Es war ein Feuersturm ungeahnten Ausmaßes, sagte man mir. Es gingen Säle, gingen Wohnungen, die Kanzleien, die Sammlungen und auch der Ballsaal, das Operntheater, all die Kunstkabinette und die Kirche in Flammen auf. Rettung war unmöglich. Obwohl unser junger Herzog Carl August Unglaubliches geleistet hatte, die Übersicht behielt, nicht aufgeben wollte – das Schloss war binnen eines Tages abgebrannt. Nur ein paar Reste hatten schwer beschädigt das Feuer überstanden und, wie Sie eben gesehen haben, wurden sie nur notdürftig gegen die Witterung geschützt. So auch der Raum, in dem wir eben den Aristophanes gefunden hatten.“

„Wie traurig“, murmelte er, „ich kannte das Schloss nur aus Erzählungen. Nunmehr wird es für mich eine Erzählung bleiben.“

Sie fuhr sich über die Stirn, sah dann rasch zu ihm hin.

„Pardon, was hatten Sie eben gesagt?“

„Ach, Gedanken. Aber jetzt, woher wussten Sie überhaupt, dass wir die Komödien des Aristophanes hier in den Schlossruinen finden würden?“

„Der liebe Hofrat Wieland vermutete es. So habe ich den Versuch gewagt.“

„So, so, der liebe Wieland.“

Überrascht sah sie ihn an. Hatte sie da eben Spott herausgehört?

Er lächelte etwas verlegen, hob sein Kinn und sah sie an.

„Danke für ihre Mühe. Bitte geben Sie mir jetzt das Buch.“

„Nein, meines“, lachte sie und amüsierte sich über sein enttäuschtes Gesicht. Sie lächelte.

„Also gut, Sie bekommen es von mir. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, morgen am späteren Nachmittag bei mir vorbeizukommen. Wir wollen arbeiten. In alten Sprachen bin ich noch frisch. Die Herzogin hat mir um diese Zeit frei gegeben. Bitte, wir könnten gemeinsam das Stück übersetzen. Ich würde es so gerne tun, es wäre eine prächtige Übung für mich. Ja? Also nur dann.“

Seine Augen blitzten herausfordernd. Er verbeugte sich übertrieben tief. Sie lachte über ihn und neckte ihn mit einem ebenso übertriebenen Knicks, überreichte ihm sogleich das Buch.

Er geleitete sie zur Sänfte, zog ihren Umhang aus den Polstern und legte in ihr um die Schultern. Sie zog die Kapuze über ihre Locken, nahm dankend seinen Arm, um in die Sänfte zu steigen. Als sie saß, zog sie beide Vorhänge zu, durch die Lücke winkte sie zum Abschied, klopfte dann mit ihrem dottergelben Schirm an die Holzwand.

„Zurück zum Wittumspalais“, hörte er sie rufen.

Er wartete, sah die Sänfte mit den beiden Trägern immer kleiner werden, drehte sich um und schlenderte die Ilm entlang.

Sie saß in der Sänfte, ergab sich dem Schaukeln der Träger.

Eilig trabten diese vorwärts. Das Herz klopfte ihr in der Korsage. Ihre Wangen brannten. Ihre Kehle war trocken.

Sie war voll Staub, voll Ruß. Sie würde sich umziehen müssen. So konnte sie auf keinen Fall im Wittumspalais erscheinen.

Was für eine Situation aber auch!

Sie, Luise von Göchhausen, eine Hofdame Herzogin Anna Amalias, hatte sich um ein Buch gebalgt, war mit dem Dichter, der in aller Munde war, seit er ‚Die Leiden des jungen Werthers‘ geschrieben hatte, um die Wette gerannt.

Sie, an die er sich vertrauensvoll gewandt hatte, damit sie ihm helfe, sein Temperament zu zügeln, die Hürden der Etikette bei Hof zu nehmen. Sie tat das Gegenteil … und genoss es - und wie sie es genoss-, mit ihm die höfischen Spielregeln zu brechen.

Beide waren sie gleich jung, beide zu gleicher Zeit nach Weimar gekommen. Goethe wohl nur auf Durchreise hier.

Sie aber wollte bleiben. Nach sieben Jahren Abwesenheit.

Sie drückte sich tiefer in die Kissen.

Noch war sie nicht wirklich angekommen. Musste sich erst einfügen. Es war ein anderes Weimar geworden. Nicht zu übersehen, wie der Schlossbrand das Hofleben verändert hatte. Die höfischen Spielregeln waren außer Kraft. Vieles musste improvisiert werden. Es fehlten Räume, um Distanz zu schaffen. Die gewohnten Rituale waren gestört.

Repräsentation war nicht mehr möglich. Eine ungewohnte Privatheit machte sich breit. Bei den älteren Hofleuten schuf dies Verunsicherung, die Starrheit bewirkte und ein Beharren auf den alten Regeln, die sich aber zur Erleichterung der Jüngeren begannen aufzulösen.

Doch der Begegnungsort aller, das Theater, hatte seine Bühne verloren. Die Seylersche Truppe war nach dem Brand und dem Verlust des Theaters nach Gotha weitergezogen. Doch Herzogin Anna Amalia, das wusste sie, konnte nicht ohne ihr Theater leben. Leidenschaftlich liebte sie das Schauspiel, die Oper. So hatte sie als erste Souveränin das Theater in deutscher Sprache entdeckt. Sie hatte Gottscheds berühmte Komödiensammlung gekauft, beinahe zweitausend deutsche Stücke, und so die deutsche Sprache hoffähig gemacht. Was für eine Tat, ihr Engagement. Das durfte nicht vorbei sein. Niemals. Es musste etwas geschehen. Dazu war sie entschlossen. Mit dem Aristophanes könnte ein Anfang gemacht werden. Stücke deutscher Autoren würden folgen. Warum nicht?

Wie an den Fäden ihrer Gedanken hochgezogen, saß sie aufrecht in der Sänfte. Sie wurde hier gebraucht. Dessen war sie sich sicher. Sie würde es wagen. Jetzt war ja auch Goethe da. Sie könnte Wieland begeistern. Hier gab es viele Liebhaber des Theaters. Zwar keine Schauspieler, aber es waren genug Amateure bei Hofe, und ihre Lust am Spiel könnte ein Ensemble ersetzen.

Sie rückte sich energisch zurecht. Auf ihre Überredungskünste, das wusste sie, konnte sie sich verlassen. Ach, wie sehr lockte sie der Neubeginn! „Nichts geschieht hier, wenn wir es nicht selbst tun“, so hatte es ihr die Herzogin bei ihrem ersten langen Gespräch gesagt. Also auf. Ihre Phantasie war gefordert. Ihr Geist. Ihre Spiellust. Frohgemut rückte sie erneut ihren verwachsenen Körper zurecht, um die Stöße in der Sänfte, hervorgerufen durch die harten Tritte der Träger, abzufedern.

Mit raschen Schritten wurde sie weiter durch die Nacht getragen. Sie lugte durch den Vorhang in die Dunkelheit und horchte auf das Gebell der streunenden Hunde. So allein in der Nacht war ihr bang. Die wenigen Laternen der Stadt schickten ein trübes und nach Fischöl stinkendes Licht über die Gassen.

Endlich kamen sie durch die neu angelegte Esplanade und näherten sich unter den Alleebäumen dem Wittumspalais im Westen der Stadt, dem improvisierten Domizil der Herzogin Anna Amalia. Das Palais hatte ihr Geheimrat Fritsch überlassen. Dies war spontan und aus Not geschehen – wie vieles andere auch.

Doch von Not war nichts mehr zu spüren. Das Palais war von weiblicher Behaglichkeit gewärmt und – trotz der Pflicht zur Repräsentation – angenehm schlicht gehalten.

Sie spürte es. Ein Ort der Kunst würde hier entstehen, ein Ort des Geistes, der Phantasie, der Wissenschaft und Forschung. Hier wuchs womöglich der erste Salon heran, in dem Adelige und Bürgerliche, Gelehrte und Künstler, gleichberechtigt zusammenkämen.

Sie sah es vor sich, das Palais ihrer Phantasie, und brach in Gelächter aus. Ach, ihre Phantasie. Vor ihr ein goldener Bienenkorb, ihre Herzogin mit ihrem lebhaften Geist, die Bienenkönigin. Schwirren und Summen hörte sie. Bienen flogen um das Palais, flogen ein und aus, waren die Boten, sammelten Geistesnahrung. Ihren Stachel hatten sie zum Zierdegen gezähmt, denn anzustacheln galt es den Disput.

Sie, ja auch sie, war ein Teil des emsigen Schwarmes, um die Perücken zu bestäuben und vor allem das Denken in den Köpfen. Sie, ja sie, war ausgeflogen, den Aristophanes zu finden.

Unsanft wurde Luise aus ihren Träumen gerissen, als die Männer die Sänfte hart absetzten. Sie biss die Zähne zusammen, streckte ihren Rücken, dann duckte sie sich, schob ihren Reifrock zur Seite, kroch heraus, trat auf einen rasch ausgebreiteten Lappen unter ihren Füßen. Jetzt lief sie hinein in ihren goldenen Bienenkorb, hinein in die Wärme, in den Geist, den sie dort vermutete, in die Kunst. Hier war ihr Platz, ihn würde sie sich erobern. Sie hielt sich für mutig. Sie wollte den Ruß nicht sehen hinter dem Licht. Sie wollte ihre schiefe Gestalt vergessen. Den hämischen Blick der Gesellschaft nicht wahrnehmen, obwohl sie es wusste.

Sie war verdreht von Geburt an. War geformt als Fragezeichen. Der Welt wurde sie als Witz präsentiert. Sie war der Spott der Natur gegen das Ideal.

Mit all ihrem Mut ging sie weiter auf das Palais zu.

Sie hob die Röcke, um den Saum über den Schmutz zu halten. Sah jetzt die Wirklichkeit. Was Gold, was Honig, was Bienenkorb. Lärm war hier. Enge. Düsternis. Dagegen kamen die Fackeln nicht an. Rußig schwelten sie aus dem Pech der Holzprügel, leckten die Wände hoch, warfen bizarre Muster auf die Fassaden, zischten in den Halterungen.

Im Vorbeigehen hörte sie das Knacken der Glut.

Sie kam kaum weiter. Dicht gedrängt standen Kutschen im Hof. Sie musste sich durchdrängen. Neben ihr das Klirren der Ketten, das Stampfen der Pferde. Das Schnauben dicht an ihrem Ohr. Der Dampf der Tiere berührte ihren Hals.

Pferdehaare streiften sie. Die Tiere schüttelten ihre Mähne, bewegten unruhig ihre Ohren und drehten ihren Kopf zu den Kutschern hin, die sich in der Dunkelheit mit brummigem Gefasel die Langeweile vertrieben und auf dem Pflaster sich die Schwere aus den Füßen stapften.

Metallisches Scheppern kam aus den geöffneten Fenstern der Küche. Es hallte durch den Hof. Befehle fuhren in den Lärm. Antworten schnappten. Ein frecher Disput machte sich breit, drang durch das Klirren der Bestecke, das Klappern der Deckel. Was für ein Lärm! Wie betäubt war Luise.

Nur weiter durch den Eingang der Dienerschaft ins Haus, die Treppe hoch in ihre Mansarde, hinein in die Ruhe.

Sie war nicht für große höfische Gesellschaften geschaffen, für Redouten, für Bälle, das ganze Zeremoniell. Sie liebte die Stille. Das Bei-sich-sein-Dürfen. Ein seltenes Glück in ihrer Anstellung.

Hofdame war sie in der Tradition ihrer Familie. Auch ihre Mutter, ihre Tante waren Hofdamen gewesen. Stets lag der Druck der Erwartung auf ihr. Die Positionen waren rar. Die Konkurrenz war groß. Sie musste Erfolg haben. Nur auf Probe war sie hier. Sie, das verwachsene Geschöpf. Ein Entgegenkommen der Herzogin.

Sie sah jetzt nach oben zu den Gesellschaftsräumen. Licht drang durch die Vorhänge. Immer noch waren Gäste im Palais.

Sie musste sich beeilen. Das Souper schien, dem Lärm aus der Küche nach zu schließen, schon beendet zu sein. Sicher würde sie am Spieltisch verlangt oder als Vorleserin im Salon erwartet werden. Jetzt rasch vorbei an dem Geschwätz aus der Küche. Rote Gesichter tauchten zwischen den geöffneten Fenstern auf. Entdeckten sie, drehten sich abrupt um, wischten sich den Schweiß und duckten sich lästernd zusammen. Die Wärme der glühenden Herde trug das Gewirr der Stimmen aus der Küche zu ihr in den Hof.

Da, ein Satz. „Des bucklicht Weibla da, von da Frau Herzogin sei neies Freeleen da, de is ja, ein greislich ...“

Schrill war die Stimme. Hämisch war der Ton. Sie fuhr zusammen. Sie war gemeint. Sie, die Bucklige. Es traf sie und traf sie, wie so oft, vollkommen ungeschützt. Was für eine Dummheit. Wie boshaft sie waren. Sie taten ja, als trüge sie die Schuld an ihrer verwachsenen Gestalt, die sie, taktlos zudem, ganz öffentlich zu zeigen wagte. Sie, die Bucklige. Wie sie sich schämte für den Anblick, den sie ihnen bot.

Die Glieder schmerzten. Zu viel. Sie kam nicht weiter.

Hielt sich an der Wand fest. Ihre Knie zitterten.

In der Küche, die Menschen, wie grausam sie waren in ihrem ungerechten Vorwurf. Und doch, es war seltsam, sie war es, die sich schuldig fühlte. Denn etwas wie sie hätte nicht geboren werden dürfen. Eine Zumutung wie sie dürfte es gar nicht geben.

Sie presste sich an die Wand. Weg aus dem Licht. Eine Qual, das auszuhalten. Ihre Scham. Sie spürte die Wand, presste sich dagegen, versuchte sich zu strecken. Die Kapuze ihres Umhangs rutschte von ihren Haaren auf die Schultern. Sie tastete wie im Zwang über ihr Gesicht, wollte etwas Reizvolles an sich entdecken, betastete ihre, wie es hieß, aparten Züge, legte dann die Hände auf die brennenden Wangen. Zugleich schämte sie sich über ihre Hilflosigkeit. Wie sich trösten, wie weitermachen. Eine Weile stand sie so.

Langsam wurde sie ruhiger, gefasster auch. Ach, sie musste ja weiter. Von oben aus den Gesellschaftsräumen kamen Stimmen aus den geöffneten Fenstern. Heiter erschienen sie ihr. Gläserklirren. Rufe. Ein Prosit wohl. Wie heiß ihr war.

Ein Prosit, um sie zu verhöhnen. Monster. Ja, so wurde sie hinter ihrem Rücken genannt.

Sie stand an der Wand. Die enge Korsage tat ihr weh. Das Herz darin. Sie bog sich zusammen. Wie das aushalten? Die knöcherne Last auf ihrem Rücken. Sie duckte sich. Unsichtbar sein. Ach, wenn das möglich wäre! Ihr Makel war ja nicht abzulegen, war nur mit Mühe zu verstecken. Sie sah zur Seite, wischte sich über die Augen. Manchmal war es zu viel. Als hätte die Stadt all ihre Bösartigkeit und Gehässigkeit in das enge Geviert des Hofes geschaufelt.

Sie summte. Wiegte sich. Ruhig werden. „Mut, ma petite.

Alors. Bist du das nicht gewohnt?“ Sie hörte ihre Stimme.

Trost lag darin. Etwas sprach zu ihr. Sie war nicht allein.

Tapfer hob sie den Kopf, reckte sich, nahm ihre Robe ab und schüttelte sie aus.

Entschlossen trat sie in den schwach erhellten Eingang, lief die Treppe nach oben und blieb im Foyer vor den Salons im ersten Stock stehen. Das Herz klopfte ihr in der Kehle.

Mutig sein. Sie wusste doch um ihre Position. Ihr Leben stand auf schwankendem Boden. Streng musste sie zu sich sein. Ihr weiches und empfindsames Herz in einen Harnisch aus Spott pressen. Mit dem Spott bei Hofe spielen, so, als hätte sie Vergnügen daran. Darin hatte sie Übung. Ja. Also weiter.

Sie nahm eine Kerze von der Konsole. Die Flamme zuckte im Luftzug und ihr Lichtschein traf auf einen Leib, der aus der Schwärze auftauchte. Die Flamme schuf die Illusion einer Bewegung. Eine weiße Schulter glitt ins Licht, ein runder Arm, ein weißer Bauch, weich gepolstert mit einem tiefen Nabel. Sie hob das Licht höher und sah in das Gesicht einer Statue.

In weiße und unter schweren Lidern geöffnete Augen, die sie versonnen ansahen. Ah, da war sie.

Wie eine Erscheinung. Vor ihr war Schönheit. Schönheit in Person. Sie vergaß, dass sie es eilig hatte, sah nur die weiche Haut des Steins. Durchlässig erschien sie ihr, als sei Leben darin. Wie geschmeidig die Glieder der Statue waren, wie selbstbewusst in der Bewegung, als ob sie tanzen wollten. Als sei die Statue beseelt von einem Geist. Als wolle der Künstler die Schönheit feiern. Wie sehr sie selbst darum wusste, sie den Schöpfer darum beneidete.

Ganz in den Anblick versunken, entstand in ihr der Gedanke, dass sie selbst ein Teil der Schönheit war, dass diese ohne sie nicht existieren konnte, denn Schönheit braucht den Betrachter, um zu sein. Was wäre diese ohne den Blick auf sie? Wozu also den Schöpfer beneiden? War das Erkennen von Schönheit nicht auch Kunst?

Neu belebt trat sie einen Schritt zurück. Umfasste die Statue mit den Augen. Nein, nein, das genügte ihr nicht. Sie musste sich ihr nähern, begreifen wollte sie. Rasch trat sie an die Skulptur heran, reckte sich auf die Zehenspitzen, fuhr mit dem Finger über deren geschwungene Brauen, die nachdenklich zusammengezogen waren. Die Schönheit spüren. Auf seltsame Weise aufgewühlt, trat sie wieder zurück. Der Gedanke war zu faszinierend. Sie war es. Sie schuf das Geschöpf, machte es schön. Ohne ihren Blick wäre die Statue ein Nichts. Die Skulptur und sie bedingten einander. Sie selbst war Teil von dieser Schönheit. Das war Glück.

Alle Spannung fiel von ihr ab. Ihre Scham, ihr Kummer verflogen. Ihre Spiellust packte sie. Sie reckte sich, näherte sich dem Ohr der Statue und flüsterte mit belegter Stimme:

„Meine Schöne. So allein? Oje, Sie also auch? Und so still? Schämen Sie sich etwa? Jaja, ich verstehe. Was für ein Affront aber auch. Man hat Sie aus ihrem Zusammenhang gerissen. Hat Sie von Ihrer Herkunft getrennt. Sie hier abgestellt. Wie grausam aber auch. Nein, nein bitte keine Tränen. Beruhigen Sie sich. Sie sind in bester Gesellschaft. Die Schönheit und die Künste, wir verehren sie. Musen sind unsere liebsten Gäste. Wir heißen sie willkommen. Auch Sie, meine Schöne.“

Sie beugte sich und legte ihr Gesicht an den kühlen Schenkel der Figur, fühlte die Hitze ihrer Wangen. Schloss die Augen.

Der Stein war Haut für sie. Ihre Lippen berührten den Marmor, glitten über den kühlen Stein nach oben, ertasteten die Mulden, die Rundungen. Sie sah hoch.

„Wirklich. Sie dürfen mir glauben. Ihre Schönheit ist uns willkommen. Aber mehr noch Ihr Schweigen. Sie staunen? Verstehen Sie nicht? Ihre Schweigsamkeit schafft Raum für die Rede. Hier bei Hofe wird nämlich geschwatzt, dass die Ohren klingeln. Ach, der Hof!“

Erschrocken drehte sie sich um. „Ich habe ihn beinah vergessen ... Wie leichtfertig von mir.“

Sie eilte zur Tür des Salons. Horchte. Dann kam sie beruhigt zurück, stand wieder vor der Statue und konnte von ihrer Bewunderung nicht lassen. Sie fuhr mit dem Finger über die kleine Brust, über jede einzelne Fingerspitze der schönen Hand, die sich, fein wie eine Spindel gedreht, über ihre andere Brust legte.

Sie sah hoch. Sah in das Gesicht der Schönheit. Sah die Statue aufmerksam an. Lächelte. Ihre Augen blitzten.

„Mon dieu, wie kreidebleich Sie sind. Geht es Ihnen nicht gut? Nein? Verständlich. Miserable, Ihr Schicksal. Ach, Sie Ärmste. Sie sind in Privatbesitz. Sind geraubt … O ja, ich bin gebildet. Sogar in Latein. Leider ist dies mein einziger Verdienst, denn ich kann mich nicht wie Sie auf meine Schönheit verlassen. Ich weiß also, dass „privare“ „rauben“ heißt … Nun ja, ein Mundraub, das sind Sie vermutlich. Denn wer könnte, wenn er Sie einmal gesehen hat, leben ohne Sie? Wie gut ich die Räuber verstehe. Sie prachtvolle Beute! Was für eine Freude, Sie zu besitzen. Aber Schönheit macht stumm, wie Sie sicher bemerkt haben. Nein, nein, das sollten Sie nicht zulassen. Schämen Sie sich. Wehren Sie sich. Begreifen Sie das nicht? Sie sind hier zum Gartenzwerg verkommen. Zum Dekor gegen die Langeweile. Wie meinen? Ah, Sie bleiben immer noch stumm? Sehe ich da einen Vorwurf in Ihrem schönen Gesicht? Ich verstehe. Mich meinen Sie. Mich, den Gnom in den höfischen Gärten. Sammlerstück im Raritätenkabinett. Ausgestellt als Grille der Natur. Ja, schauen Sie nur. Ich bin Blicke gewohnt. Mein Glück. Raritäten sind bei Hofe beliebt.“

Aufgeschreckt eilte sie an die Tür. Drängte sich ans Holz.

Horchte. Kehrte zurück. Lästerte sogleich weiter:

„Sehen Sie. Wir stehen hier beide auf unserem Podest. Sie stehen erhöht als Ausstellungsstück und ich erhöht auf meiner wackeligen Position.“

Wieder nahm sie ein Geräusch wahr, eilte zur Tür und horchte. Rasch wandte sie sich um zur Statue. Zog die Augenbrauen hoch.

„Sehen Sie mich doch bitte nicht so strafend an. Wie meinen? Lassen Sie gefälligst diesen strengen Blick. Ach so. Sie meinen, das gehört sich nicht? Wie recht Sie haben, meine Schöne. Aber ich werde trotz Ihres kalten Blickes weiter lauschen an der Tür.“

Sie seufzte. Die Kunst des Horchens, ihr übles Talent.

Schon früh hatte sie üben müssen, um sich gegen all die Bosheiten ihr gegenüber abzuhärten.

Das Ohr an die Tür gedrückt, horchte sie mit geschlossenen Augen. Sie brauchte Informationen. Noch war ihre Position in keiner Weise gesichert. Sie war noch nicht einmal fest engagiert, bekam noch keine Besoldung für ihre Arbeit und musste ihren Platz erst erobern.

Im Salon der Herzogin wurde lebhaft Konversation betrieben. Aus einem angeregten Gespräch erhob sich eine dozierende Stimme. Das Geplauder stockte, zerfiel in einzelne Worte, war am Verstummen. ‚Physiognomik‘, meinte sie zu hören. ‚Lavater‘, hörte sie. Die Sätze überschlugen sich.

‚Genie‘. Die Stimme, in tiefster Tonlage, war mit Inbrunst gefüllt, steigerte sich zu einem ‚Originalgenie‘. Worte, Sätze fielen über den Redner her.

Stuhlrücken. Gerade noch rechtzeitig entfernte sie sich von der Tür und versteckte sich rasch hinter der Marmorstatue.

Denn ein Page kam herausgeschlüpft, um wieder im Foyer die ihm bestimmte Position neben dem Portal einzunehmen. Sie presste sich an die Statue und flüsterte:

„Haben Sie es gehört? Genie. Aha, bei diesem Thema sind sie also.“ Wie als Antwort tönte es aus dem Salon:

„Genie ist Erscheinung! Das Ungelernte, das Eigentümliche, das Göttliche ist Genie.“

Den Kopf in eine Mulde der Statue geschmiegt, kicherte sie:

„Das Ungelernte. Eigentümliche. Da sind wir doch zu Hause, nicht wahr? Ach, könnt ich nur bei meinen erstaunlichen Gaben die Bilder aus der Seele raus malen, aber so geht mir's fatal mit vielen Sachen: Genie die Fülle, kann aber nichts machen.“

Jetzt hob sie den Kopf. Die Stimme ihrer Herzogin war zu hören. In ihrem bekannt raschen und fast atemlosen Tonfall sprach sie in die für sie nun eingetretene Stille:

„Lavaters Liebe und Güte wirken wohl stark auf die Menschen. Besonders, sagt man“, und jetzt war ihr Lachen zu hören, „besonders auf die Weiber. Ah, wenn ich eine große Monarchin wäre, müsste Lavater mein Premierminister sein, denn ich bin überzeugt, dass er eine solche Stelle ebenso gut bekleiden würde als jetzt die von einem Premierminister Christi.“

Die Stimme ihrer Herzogin faszinierte sie, und sie hatte längst vergessen, dass sie sich umziehen müsste. Da wurde sie fest an der Schulter berührt, und erschrocken fuhr sie herum. Ihre Kammerfrau stand hinter ihr und raunzte sie beleidigt und in tiefstem thüringischen Dialekt an:

„Kemse dan endlich haime? S`nich me zum Ushalen, wos ich wart hab.“

„Dörle. Mon dieu. Was hast du mich aber auch erschreckt. Du kannst mich doch nicht so überfallen. Aber du hast recht. Vite, vite. Lauf rasch hoch und leg das flohfarbene Seidene heraus.“ Sie scheuchte sie die schmale Holztreppe in ihre Mansarde hinauf.

„Poltere nicht so. Also wirklich, kannst du nicht leise sein? Vergiss nicht den Puderumhang, eine Schale Wasser, die Kämme, die Bürsten. Beeil dich. Und frische Strümpfe. Bitte.“

 

Nach geraumer Zeit raschelte sie leichtfüßig in einem seidenen Rock die Treppe wieder hinunter in den Vorraum des Salons. Sie besah sich noch einmal im Spiegel. Ihre Haare fielen in langen Locken über ihren Rücken. Auf dem Kopf saß ein gedrehtes Nest aus Flor, aus dem sich ein Schleifenband schlang. Um die Schultern trug sie Rüschen aus Batist. Beides verbarg geschickt ihren schiefen Rücken.

Sie hob jetzt artig den Kopf und mit einem Band von Diderot in ihren Händen, falls sie gebeten würde vorzulesen, ließ sie sich von dem Pagen die Tür öffnen, sprach sich Mut zu und betrat den Roten Salon, in einer Haltung, als beträte sie eine Bühne.

Vorlesen war ihre liebste Pflicht. Vorlesen war bereits Theater für sie. Im Lesen wurde sie zur Darstellerin. Sie wuchs in die Charaktere hinein und bedachte zugleich die Persönlichkeit des Autors, suchte seinen Ton zu finden, gab ihm ihre Stimme, tat dies mit Sorgfalt.

Sie war bereit. Atmete durch.

Kerzenschein, Wolken aus Tabak und Parfum kamen ihr entgegen.

Der Salon, in seinen mit roter Seide ausgeschlagenen Wänden, wirkte warm und behaglich. Vor einem großen und goldgerahmten Spiegel an der linken Seite des Salons sah sie ihre Herzogin an der Kopfseite eines Tisches sitzen. Sie war von Kavalieren umringt, die sich vorbeugten, etwas auf dem Tisch betrachteten, das sie von ihrer Position aus nicht erkennen konnte. Sie sah nur die Rücken der Kavaliere, sah ihre gepuderten Perücken, deren Haarbeutel in schwarze Seidenbänder gewickelt waren.

Die Herzogin hob ihren Kopf und zwischen den Schultern der eleganten Herren hindurch warf sie ihr einen Blick zu, nickte leicht, lächelte flüchtig.

Luise betrachtete das heitere Gesicht ihrer Herzogin. Ihr Herz tat einen Sprung. Sie war bei ihr. Mit allen Fasern war es ihr bewusst, dass sie nur wenige Schritte von ihrer Herzogin entfernt war. Wieder kam es ihr unwirklich vor. Wieder dachte sie, ihre Einbildung spiele ihr einen Streich und es sei nur eines ihrer Gaukelbilder, das an ihr vorbei schwebte, so sehr hatte sie sich bereits als Kind gewünscht, in der Nähe ihrer Herzogin zu leben. Solange sie denken konnte, war sie ihr Inbegriff von Schönheit, Eleganz und heiterer Würde gewesen.

Als Kind hatte sie Sonntag für Sonntag Herzogin Amalia im Park von Weimar inmitten ihres Hofstaates gesehen.

Fest hatten sich in ihr die Sonntage in der Esplanade eingeprägt. Der Oberhofmarschall ging voran, ein Page trug die Schleppe der Herzogin, die Dienerschaft folgte mit einem Laufer, mit Heiducken und mit einem Zwerg. Dem bösen Zwerg. Ein heißer Schreck durchfuhr sie als Kind, gefolgt von einem unbestimmten Gefühl der Scham. Ja. Das Böse stand da. Sie konnte es nicht anders benennen. Das Unverständliche. Bedrohliche. Ein Zwerg. Vor ihm hatte sie sich gefürchtet. Er war von einem versteckten Gelächter umgeben, das sie nicht verstand. Ein Gelächter, das auch sie zu spüren bekam, wenn Menschen an ihr vorübergingen. Der Zwerg machte augenblicklich ein grimmiges Gesicht, wenn er sie sah. Ängstlich versteckte sie sich hinter dem Rock der Gouvernante und wagte sich erst langsam wieder hervor, wenn die Herzogin kam. Gar zu neugierig war sie. Sie wollte nichts von dem höfischen Schauspiel versäumen, das sich ihr bot. Die Herzogin blieb bei einem Bassin mit Goldfischen stehen, die von ihr mit weißem Brot gefüttert wurden. Manchmal ging sie auch zu einer Grotte im Park, in der ein Einsiedler mit einem lebensecht aus Wachs geformten Gesicht in grauer Kutte saß und in einem Buch las.

Dort, neben der mönchischen Puppe, ließ sie sich an manchen Sonntagen auch ihren Tee servieren. Zu gern hätte sie als Kind gewusst, ob die Herzogin im Geheimen in der Grotte mit dem Mönch sprach. Ob er in ihrer Gegenwart lebendig werden würde und ihr Geheimnisse aus seinem Buch vorlas. Sie hatte sich als Kind fest vorgenommen, dass sie, wenn sie erst einmal groß sein würde, die Herzogin dann fragen wolle, ob er vielleicht mit ihr gesprochen habe.

Sie lächelte jetzt über ihren kindlichen Märchenglauben, sah die Herzogin am Tisch sitzen. Ach, sie konnte sich gar nicht satt sehen an ihr. Sah jetzt in ihre stark hervortretenden und beeindruckend blauen Augen, denn die Herzogin blickte sie mit hochgezogenen Brauen an, ehe sie sich wieder mit ihren Gästen in großer Aufmerksamkeit über den Tisch beugte, um etwas zu betrachten, was Luise nicht erkennen konnte.

Das Hündchen ihrer Herzogin kam herbei getippelt, freudig schnupperte es an ihren Schuhen, da diese noch nach seiner Herrin rochen. Herzogin Anna Amalia wechselte täglich ihre kostbaren kleinen Seidenschuhe an ihren berühmten kleinen Füßen und verschenkte sie großzügig an ihre Hofdamen.

Lächelnd beugte sich Luise von Göchhausen zu dem kleinen Hund hinunter, begrüßte ihn und dachte, wie praktisch, ich habe ebenso kleine Füße wie meine Herzogin und kann also mein Geschenk bequem tragen.

Errötend über ihren Mut, hob sie ihren silberfarbenen Seidenschuh mit dem roten Absatz hoch und wendete ihn lächelnd hin und her.

Die Herzogin bemerkte es und lachte. Erleichtert, sie amüsiert zu haben, ging sie weiter und hob ihr Buch in die Höhe. Die Herzogin nickte.

Ach, was freute sich Luise, hier akzeptiert zu sein. Die Vorfreude prickelte ihr bis in die Zehenspitzen. Beschwingt wollte sie sich unter die Gäste mischen und merkte jetzt erst, dass diese sich bereits verabschiedeten. Erschrocken sah sie wieder hin zur Herzogin, die entspannt in einem mit üppigem Brokat bezogenen Stuhl saß und sich in diesem Augenblick eine Prise aus einer mit glitzernden Steinen besetzten Schnupftabaksdose genehmigte. Dann gab sie Lottinchen von Stein ein Zeichen. Die junge Hofdame verstand und versuchte, Oberhofmeisterin von Nostitz zum Aufstehen zu bewegen. Vor sich hindösend, hatte diese ihren fülligen Leib bequem in ein Sofa gesenkt. Sie zu lüpfen war nicht einfach. Luise von Göchhausen bemühte sich hinzuzueilen, um zu helfen, kam aber doch zu spät, und der nun wieder frisch erwachte Blick der Oberhofmeisterin von Nostitz, ihrer Tante, traf sie gereizt. Betroffen wandte sie sich um und trat zur Seite. Herzogin Amalia schien aber noch bleiben zu wollen und winkte sie mit einem nachdenklichen Blick zu sich, ließ sich ein Glas Wein einschenken und griff nach einem Blatt Papier.

Bang und in dem Gefühl, nun doch zu spät gekommen zu sein, trat sie an den Tisch der Herzogin und sah jetzt, was sie zuvor nicht hatte erkennen können: Auf dem Tisch waren mehrere Scherenschnitte ausgebreitet. Herzogin Anna Amalia hielt ein Blatt mit einer Silhouette hoch und einem plötzlichen Impuls folgend, forderte sie Luise auf, es sich genauer anzusehen.

„Goethe?“, sagte diese, das Bild studierend, vorsichtig.

„Ja, Goethe.” Die Herzogin sprach, wie es ihre Art war, sehr rasch und geradezu atemlos.

„Ich hielt es für den besten seiner Scherenschnitte, ehe ich wusste, dass es der beste ist, wegen des Adlerblicks, der edlen und feinen Nase“, und jetzt lächelte sie, „wegen der Unzuverlässigkeit der Grundsätze und wegen seines ironischen, wollüstigen Mundes. Glauben sie mir, in Lavaters ,Physiognomischen Skizzen‘ zu lesen und sich daran zu machen, sie zu deuten, das ist eine äußerst interessante Wissenschaft. Auch Goethe, wie ich mir habe sagen lassen, hat sich damit beschäftigt.“

Aufmerksam betrachtete Luise zusammen mit der Herzogin Goethes Silhouette. Dann sagte die Herzogin:

„Sie waren zu spät.“

„Vielmals Pardon. Ich dachte, Eure Hoheit hätten es nicht bemerkt.“

„Mir entgeht nichts. Wie Sie vielleicht wissen“, und jetzt lächelte sie spöttisch, „gibt es das Bonmot über mich, ich sähe nicht nur alles, was vor mir ist, sondern ich sähe ebenso auch alles, was sich zur gleichen Zeit hinter meinem Rücken abspielte.“ Nach einem kurzen Schweigen fuhr die Herzogin fort: „Setzen Sie sich. Nun?“

Luise von Göchhausen nahm Platz und drehte verlegen das Buch in ihrer Hand.

„Ich bin zu spät, weil ich eine Überraschung ausgeheckt habe. Ich wollte sie aber noch verbergen.“

„Eine Überraschung? Wie schön. Jetzt können Sie nicht mehr zurück. Heraus damit.“ Die Herzogin lächelte.

„Lassen Sie hören.“

„Es geht um unser Theater.“

„Bitte?“ Die Herzogin zuckte zurück und drehte gereizt den Kopf zur Seite. „Nein, nein, lassen wir das. Wie können Sie mich daran erinnern? Das Thema ist zu traurig für mich. Wie lästig von Ihnen. Ich will heute Abend nicht traurig sein.“

„Nein, mon dieu, ich will Sie nicht traurig machen, ganz im Gegenteil. Das heißt, nein, ich meine, ja, ich will ... Pardon, ich bin etwas aufgeregt, ich will Ihnen ... Also ich weiß ja, wie sehr Eure Hoheit unser Theater vermissen, und da kreisten und sprangen mir die letzten Tage allerlei Gedanken durch den Kopf. Und weil wir doch nun den Herrn Doktor Goethen bei uns in Weimar zu Gast haben, da habe ich meine Gedanken zu einem kleinen Gesteck gebündelt, das ich Ihnen jetzt, wenn Sie es erlauben, überreichen werde. Eine Überraschung mit Goethe.“

„So, so. Aha. Unser Originalgenie wollen Sie also für uns trächtig machen. Wo steckt er überhaupt. Ich habe ihn schon vermisst. Er war hier den ganzen Abend in aller Munde.“

Die kleine Hofdame versuchte ernst zu bleiben, dann aber kicherte sie los und ihre Augen funkelten spöttisch. „Was Goethe anbetrifft“, entfuhr es ihr, „so ist der hier Gegenstand der Unterhaltung, wie damals die Hyäne von Frankreich bei unserm deutschen Landvolke es war. Sie wissen nicht, was sie aus dem Ding machen sollen, und grade weil sie es nicht wissen, machen sie sich ein Ideal von dem Ding, das genauso passt als eine Faust in Venus' Auge.“

Die Herzogin lachte schallend und sah äußerst erheitert ihre neue Hofdame Luise von Göchhausen an.

 

Die Nacht war weit vorangeschritten.

Ein hagerer junger Mann stolperte durch die Dunkelheit der Windischen Gasse. Im kalten Mondschein, der die Gasse erhellte, ragte seine lange Nase wie ein scharfer Schattenriss aus seinem schmalen Kopf. Auch das faulig riechende und trübe Straßenlicht aus einer an einem Strick über die Gasse gespannten Laterne gab seinem Gesicht ein gelbliches und ungesundes Aussehen, ließ seine hohen Backenknochen über den eingefallenen Wangen hervortreten und betonte mit seinen Schatten die kräftigen Brauen. Seine dunklen Augen, weit geöffnet, leuchteten fiebrig aus den fahlen Gesichtszügen. Der schön geformte Mund war in Missmut und Verachtung ungut verzogen.

Er blieb stehen. Brabbelte vor sich hin. Nickte. Sah hoch zum Mond, als wolle er auf der Mondoberfläche etwas Ungeklärtes entziffern. Ließ dann wieder den Kopf nach vorn sinken, schwankte nicht ganz sicher auf den Beinen und stützte sich an eine Hauswand. Murmelte etwas wie „Ratte“ oder „Kladde“, es war nicht recht zu verstehen, verbiss sich dann in dieses Wort mit einem dickköpfigen und ständigen Wiederholen, während er mit der freien Hand schlenkernde Kreise durch die Luft zog, seinen imaginären Kreisen tiefsinnig nachblickte und ihnen, heftig nickend, eine nur ihm bekannte Bedeutung gab. Dann aber, mit einem Schwung, der ihn fast das Gleichgewicht kostete, klatschte er auch die zweite Hand gegen die Wand und blieb dort eine Weile mit finsterem Blick und leise schwankend stehen. Mit plötzlichem Entschluss neigte er sich dann nach vorn, stemmte die Stirn an die Mauer, wohl, um sich abzustützen, während er mit beiden Händen unter seinem blau schimmernden Rock an der Hose herum tastete, sein Wasser abschlug und sogleich zufrieden schnaubte. Er schüttelte sich und wollte eben seine Kleidung richten, da rutschte der Aristophanes aus seiner Jackentasche und fiel neben seinem Stiefel in den Dreck.

Kräftig fluchend bückte er sich. Mit einer wedelnden Bewegung und sich immer wieder an der Wand abstützend, zog er das Buch mit spitzen Fingern aus dem stinkenden Brei, wischte es an seiner Hose ab und steckte es mit starr auf die Wand gerichteten Blick in die Jackentasche zurück.

Dann stand er, lang und hoch aufgerichtet, mit gerunzelten Brauen und mit sturem, nach vorn gerichtetem Blick da.

Wieder schwankte er leicht hin und her, als würde er einem seiner Gedanken nachschaukeln und schrie dann plötzlich:

„Ratte“!

Er nickte tiefsinnig mit dem Kopf. „Ratte. Ich und das Dreckloch hier. Da wollte jemand mein Buch stehlen. Hat es dann aber fallen lassen. Das Schwein.“

Nicht zu greifende Beschimpfungen geisterten ihm trübe durch den Kopf.

Nichts ist sicher hier in diesem … und jetzt schrie er es laut heraus: „Rattenloch!“

Plötzlich stolperte er mit seinem doch noch vorhandenen Instinkt einen Schritt nach vorn. Hinter ihm und mit einem gewohnheitsmäßigen Ruf wurde der Inhalt eines Nachtgeschirrs aus dem Fenster geschüttet und platschte dicht an seinen Stulpenstiefeln vorbei auf die Gasse. Erschrocken taumelte er ein paar Schritte vorwärts.

Den Blick wieder zum Mond gerichtet, blieb er stehen.

Suchte in sich. Endlich fiel ihm wieder der Satz ein, den er im „Schwan“ formuliert und auf einen Zettel gekritzelt hatte und der ihm seinen Zustand hier beschrieb, ehe er sich in der Nacht auf den Weg gemacht hatte. Er wühlte ihn aus seiner Tasche, entzifferte die Zeilen und konnte den Satz auch nur wieder zu sich heranholen, weil er ihn in plötzlicher Klarheit, wie vor seine Augen geschrieben, im Kopf vorfand.

„Mir war es alledem wie einer Ratte, die Gift gefressen hat, sie läuft in alle Löcher, schlürft alle Feuchtigkeit, verschlingt alles Essbare, das ihr in den Weg kommt, und ihr Inneres glüht von unauslöschlich verderblichem Feuer.“

Auf der Suche nach Branntwein hatte es ihn aus den Auen an der Ilm zurückgetrieben in die Stadt.

Stadt nannten sie das Nest hier. Bauernkaten waren es, die sie hier so unverschämt Häuser nannten. Ein Haufen, ohne jede bauliche Ordnung. Behausungen, ohne jeden ästhetischen Geist zusammengewürfelt, wo Rinder-, Schaf- und Schweineherden ungehindert durch die Straßen promenierten.

Erst war er noch um die halbe Stadtmauer gelaufen, was nicht lang gedauert hatte, dann suchte er Einlass am Erfurter Tor, und als er sich dort beim diensthabenden Torschreiben ausweisen musste, um in die Stadt zu kommen, legte sich ihm wieder die Enge dieses verdammten Nestes auf die Brust.

Missmutig trabte er mit langen Schritten dahin und musste dabei auf die üble Gasse schauen, um möglichst die Trittsteine zu treffen und nicht in die Gülle und den Schlamm zu treten.

So ging er über das Eisfeld und durch die Behrendgasse zum Töpfenmarkt, kreuzte den Hof der St. Peter und Paul-Stadtkirche und kam vor dem stattlichen Giebelhaus des Kammerpräsidenten, seiner Exzellenz von Kalb, zu stehen, in dem er als Besucher derzeit nächtigte, derweil der Hausherr sich für seine Gastfreundschaft einiges vom jungen Herzog versprach.

Als ihm dies kürzlich bewusst wurde, dass er für die Familie Kalb nur Mittel zum Zweck war, trieb es ihn seitdem in stiller Wut herum.

Leise schwankend grübelte er darüber nach, warum er denn damals auf die fatale Kutsche gewartet hatte, die ihn auf Einladung des Herzogs Carl August nach Weimar bringen sollte, und als sie dann nicht kam, musste er sich auch noch von seinem grämlichen und fürstenfeindlichen Vater zurufen lassen: „Nah bei Hof, nah bei der Höll!“

Es hing wahrlich an einem Faden, dass er nun hier war.

In seinem Zorn hatte er sich auf die Suche nach einer Kaschemme gemacht, in der Hoffnung auf mögliche Trinkkumpane und war dann im alten „Schwan“ hängen geblieben.

Nein, er wollte auch jetzt noch nicht in sein Quartier beim Kammerpräsidenten von Kalb zurück.

Die Unruhe trieb ihn weiter. Was wollte er hier in diesem armseligen Nest? Wo er doch in Frankfurt oder Leipzig hätte leben können?

Lady Montagu fiel ihm ein. Überrascht blieb er stehen und wunderte sich.

Seltsam, was da in seinem Kopf war ... gerade jetzt ... Ja ...

Ja ... Sie hatte recht ... Jaaaaa, recht hatte sie ... Ja, ja ...

Er nickte heftig und stolperte seinem Nicken hinterher, den Kopf nach vorn geschoben, als suche er in der Gasse seine vor sich hin trabenden Gedanken.

Auf ihrer Reise durch Deutschland ... damals. Gut hat sie es gesagt. Ja, jetzt weiß ich es. Da ist es wieder. Das mit den Reichs- und Residenzstädten und mit dem Unterschied. Ja, ja, ich weiß es wieder. Bei den Reichsstädten gibt es Handel und Besitz und gute Straßen, die Bürger tragen gutes Tuch, die Läden sind mit Waren voll, so ist es ... Ja, ...

Sauber alles ...

„Ha“, lachte er, nickte heftig, da sind die Leute guter Laune, die Bürger in den Reichsstädten ... ja, ja. Die Reichsstadt, hat die Montagu gesagt, ist eine saubere Bürgersfrau ... sauber ... sauber ...

Er stierte in die Gasse. War keine Reichsstadt hier. Hier in der Residenz ...

Ha. Residenz nennt sich das, dass ich nicht lache ... Verfluchter Mist, was ist das?

Er zog angeekelt den Fuß aus dem Brei einer Pfütze. Die Montagu hat gesagt, hat ... Er runzelte die Brauen. … hat gesagt, die Residenzstadt sei eine Mischung aus Laster und Armut. Schäbige Eleganz. Schmutzige und aufgeputzte Leute von Stand. Da muss ich mich nur umschauen hier.

Enge, hässliche Straßen, nichts instand gehalten. Die Hälfte des Volkes muss betteln gehen, hat sie gesagt, so ist es hier.

Er nickte befriedigt und drehte es in seinem benebelten Kopf herum, um seine Abscheu anzufeuern.

Die Residenzstadt, sagt die Montagu, ist eine Halbweltdame mit einem zerlumpten Unterrock. Da bin ich jetzt ...

ja ... ja ... da bin ich jetzt darunter ... da stecke ich unter einem verkommenen Residenzfräulein, krieche da herum ...

Fui Deifel ... komm nicht raus.

„Raus aus den Röcken!“

Unvermittelt schrie er es in die dunkle Gasse, horchte dem Laut nach, der von den Wänden widerhallte, dann brabbelte er grimmig vor sich hin:

„Trübselig hier. Nicht ... Oh, Pardon ...“

Er schluckte runter, was da hochgekommen war.

„Nicht zum Aushalten.“

Er war in der Stimmung, die Stadt in Grund und Boden zu saufen.

Da war doch ... Ja, es trieb ihn zum Fürstenhaus hin, zu seinem neuen Freund, Herzog Carl August, der ebenfalls die von Branntwein getränkten Nächte liebte.

Schon an der Biegung zum Platz empfing ihn fröhlicher Gesang. Vor ihm, aus einem Fenster des Fürstenhauses, flogen Gläser auf die Straße. Zwei Köpfe hingen zwischen den ins Freie wehenden Vorhängen aus der Fensteröffnung heraus, die zu Böttigers Stube im Fürstenhaus gehörte und unter der er jetzt zu stehen kam. Dort oben konnte er ohne Zweifel die Brüder und Reichsgrafen von Stolberg ausmachen, die jetzt ein großes tönernes Gefäß hochhoben. Als sie ihn, just in dem Augenblick, als er von einer Laterne beschienen war, erkannten, prosteten sie ihm mit einem laut gejubelten „Goethe Vivat!“ zu.

Ha, wer hätte das gedacht, sie so zu sehen, die guten Schüler und Lieblinge Klopstocks, des all verehrten frommen Sängers, die kurz nach ihm, auf seinen Spuren sozusagen, hierhergekommen waren – ihm fuhr jetzt ein böses Lachen über das Gesicht – und sich nun hier in Weimar gebärdeten, als wären sie schon in der Wiege kleine Herkulesse gewesen.

Ein schmutziger Topf war das, was sie da über ihm in den Händen hielten, und von dem er den Verdacht hatte, dass es sich um eine Urne aus dem aufgelassenen, in der Nähe liegenden Friedhof handelte. Wie um seinen Zweifel sofort zu beheben, rief Fritz von Stolberg laut über den Platz hinweg ein Lob auf den guten, redlichen Deutschen aus, der einstmals darin geruht hatte, und sogleich brachten sie noch ein Prosit auf Thuiskons Gesundheit aus, einen germanischen Gott, den sie bereits bedichtet hatten.

Seit einiger Zeit hatten sie beide das Deutschtum für sich entdeckt und sogleich die gesamte germanische Vergangenheit für sich rekrutiert. Mit dumpf tönendem Gesang in den alten Topf hinein, soffen sie jetzt die alte schmutzige Scherbe restlos aus.

Da brach, mit dem Getöse von acht Hufen, vier Rädern und dem Gebell und Jaulen einer Meute großer Hunde, eine offene Kutsche von den Auen her heran, kurvte scharf am grünen Schloss vorbei und zielte auf die Mitte des Platzes.

Carl August, mit seinen achtzehn Jahren eben frisch regierender Herzog, stand tief in die Knie gebeugt und wie zum Sprung den Kopf nach vorn gereckt, seine Pferde anfeuernd, die Zügel fest in der Hand, in seinem Phaeton, umringt von seinen Hunden.

Er schrie zum Fenster hoch: „Los, Brüder, kommt!“ Und weich dann rief er: „Du!“

Er ergriff Goethes Hand und zog ihn mit zu sich auf die Kutsche.

Sie umarmten sich heftig, küssten sich, klopften sich auf die Schultern und brachen in ein wildes, glückliches Gelächter aus.

Den Kopf nach hinten geworfen, lachte Carl August in überbordender Freude. Erst vor kurzem aus strengster Schulzeit entlassen, preschte er hinein in die Freiheit seiner Macht, riss sich das Leben wie Fetzen aus einem blutigen Tier, sog sich voll damit, der junge Souverän, wühlte sich in das Abenteuer der Freiheit, zerkaute, verschlang es.

Mühsam hielt er die Pferde im Zaum. Schon stolperten die Brüder von Stolberg vom Portal die Treppe herunter. Sie sprangen auf die Kutschpferde, und mit Gejohle ging es weiter.

Die Hunde jagten voraus. Ihr Gebell mischte sich in das schmerzliche Aufjaulen der frei umher streunenden Hunde.

Aus den dunklen Gassen und Höfen Weimars heulten sie in einem misstönenden Chor den Mond an. Der Nachtwächter, der ihnen entgegenkam, warf sich in letzter Sekunde rücklings an eine Wand, und ein Ferkel, das ausgekommen die Straße querte, sauste quietschend durch die Hufe der Pferde. Diese preschten, durch die knallende Peitsche angefeuert, die Esplanade entlang.

Aufgescheucht erst, duckten sich dann die Bewohner der Stadt und hielten den Atem an. Nach verblüffter Starre holten sie Luft und reckten sich. Die Köpfe aneinandergelehnt, begannen sie zu tuscheln, zu wispern, vor sich hin zu räsonieren. Durch den nächtlichen Lärm fanden sich Bürger und Höflinge in ungewohnter, aber lüsterner Frische bereit für den Skandal. Er kreiste in ihren Köpfen und verbreitete sich. Wie Flöhe sprangen die getuschelten Anschuldigungen von Haus zu Haus, von Bett zu Bett, vom wärmenden Pfühl in die klumpigen Nachtpolster, wurden gelüftet und mit Geschichten und pikanten Anekdoten gefüllt. Behaglich dämpften sie in den Betten vor sich hin, empörten sich mit Hingabe. Im Schweiß der Nacht dämpfte auch die böse Phantasie vor sich hin.

„Dieser Goethe soll mit den Bauernmädeln ... im Nebel ... Was? Aber ja. Nicht vorzustellen, was ... Unser junger Herzog auch? Ja. Nein! Doch! … Und sein Goethen, ohne den er ja nicht sein kann, haben sie in Stützerbach, bei den Glasbläsern ... Was für eine Schande ...“

So erzählten sie es sich mit lustvoll aufgerissenen Augen.

„Sie teilen sich die Mädels da. Haben die Mädels in der Nacht im Dorf zusammengetrieben und ihnen die Röcke über ihren Köpfen zusammengebunden. Nein! Doch! Die Schreienden dort stehen lassen. Also, das ist ... Ja, er hat es mir selbst gesagt, der Herr von Treba, ich hab es von ihm. Und hast du gehört? Schindluder haben sie mit dem Glasmacher getrieben. Am Fuße der Sturmheide zu Ilmenau. Wedel hat es meiner Cousine in allen Einzelheiten ... Einsiedel, der Gottlose, hat das Tischtuch mit den gastlich aufgetischten Abendspeisen mit einem Ruck weggezogen. Ja, alles am Boden. Geflohen sind sie, die Feiglinge. Dem Krämer haben sie die Kästen und Tonnen mit Pfeffer und Ingwer, Zucker und Kaffee den Berg hinunterkollern lassen. Nein! Doch! Und der Bauersfrau ihre Katze ins Butterfass gestopft. Unglaublich! Und heute auf dem Marktplatz, unser Herzog und Goethe in Genietracht ... Genie? Aber ja! Blaue Röcke, gelbe Hosen, gelbe Stiefel, graue Hüte, so knallten sie mit den Peitschen um die Wette. Unfassbar, ein Regent in aller Öffentlichkeit, und dazu der Branntwein, ich habe es aus sicherer Quelle, er müsse so viel Branntwein trinken, um seine Gesundheit zu stärken, dabei ist doch sein Vater schon daran gestorben. Was? Das wusste ich ja gar nicht! Ich dachte an der Auszehrung. Stimmt nicht. Nein? Also, das ist ja ..."

Was für ein Fest der üblen Nachrede gönnten sich Bürger und Adel zu nächtlicher Zeit in ihren Betten. Die Lust an Skandalösem wanderte von Kammer zu Kammer, verstieg sich in die oberen Schlafgemächer, schlüpfte in die Falten der Himmelbetten, kroch in die dampfenden Leiber und schmiegte sich in einen heimeligen Alkoven, in dem eine junge Ehefrau ihrem Mann eben ins Ohr flüsterte, Goethe sei doch der schönste, der lebhafteste, ursprünglichste, stürmischste, sanfteste, verführerischste und für ein Frauenherz gefährlichste Mann der Welt, und er würde doch tatsächlich nackt mit Herzog Carl August in der Ilm baden, gesehen wurden sie dabei, und auch würden sie „Du“ zueinander sagen, ja, es ist wahr, und auch „Mein Lieber“ sagen sie zu sich. Ach du, ich bin ja so aufgewühlt, weil es doch eine solche Schande ist für unsere Stadt, findest du nicht auch? Sie drückte sich eng an ihn, drückte sich fest und fester in die Hitze lustvoller Empörung.

Indessen war Carl August mit herrischen Zurufen und Peitschenknallen mit der Kutsche durch das eiligst aufgerissene Stadttor geprescht. Es war, als wolle er im Rasen seine Pflichten vergessen, als könne er sie hinter sich lassen – und entkam ihnen doch nicht. Denn er war von einem starken Gefühl der Verantwortung geprägt, die er durch seine strenge Erziehung erworben hatte.

Nein, er kam sich nicht aus …

So fühlte er sich gezügelt und gebremst. Aus der Enge seiner Pflichten musste er immer wieder in die Freiheiten seiner Jagden ausbrechen.

So stürmte er wieder einmal hinein in die Natur, als könne er nur so seine Regentschaft begreifen, nur so, die Zügel seiner Pferde in der Hand, sein kleines Land ermessen, um daraus die Kraft zu schöpfen, es zu regieren.

Weiter und weiter war er aus der Stadt hinausgejagt, über Auen hinweg, hinein in die freie Natur, von den Dichtern seiner Zeit, die ihm im Kopf waren, als hohes Gut besungen und in leidenschaftlichen Tönen gefeiert. Das war auch sein Ideal, ohne im Geringsten daran zu denken, dass die Natur beileibe nicht frei sei, sondern, so wie das ganze Land, einzig seiner Obhut unterlag.

Vor sich sah Carl August die Brüder Stolberg auf seinen Kutschpferden reiten. Ihre Haare waren vom Zopfband befreit und flatterten über den Mähnen der Pferde.

Fritz von Stolberg schrie etwas, doch seine Worte wurden ihm von der Luft zerfetzt, wurden fortgerissen.

Jetzt wandte er halb den Kopf zurück zum Herzog, versuchte zu Atem zu kommen und rief: „Die Natur nicht schön zu finden, ist unmöglich. Das Herz kränkelt in der Stadt. Hier und nur hier sollen wir sein. Was, Brüder?“

Die Pferde dampften, und in Stößen kamen seine Sätze hervorgekeucht:

„In der Natur freue ich mich meiner jährlichen Genesung.“

Er beugte sich vor und mit einem „He, he, he!“ trieb er sein Pferd an.

Dann riss er wieder den Kopf zu Carl August und Goethe zurück.

„Sie drängt sich durch den Taumel der Welt zu mir und stärkt mich. Wie auf Adlerflügeln erhebt sich da der Geist.“

Die Haare flogen ihm, er schlug mit der Hand auf sein Pferd und rief über die Häupter der Pferde hinweg in die dunkle Nacht hinein:

„In solchen Augenblicken füllt sich wieder mit all ihren Kräften die ganze Seele in das wahre, bessre Ich.“

Er drückte die Schenkel in die Flanken, und fliegend und atemlos im wilden Vorwärts warf er den Kopf in seinen Nacken und lachte.

„Wolf, ich weiß, du verstehst mich ... Ach, mein Lieber“, keuchend schnappte er nach Luft.

„Denn die Larven …“, und mit im Wind flatternden Haaren im Gesicht riss er den Kopf herum und seine Stimme kämpfte sich über das Rumpeln der Räder, über das Knirschen der Hufe auf den Steinen des holprigen Weges hinweg, „die Larven, die man mit sich herumschleppt im Taumel der Welt, umtönt von den Schellen der Torheit, gähnend und angegähnt, wem ist sie nicht bis zum Anspeien verhasst?“

Ein Schrei jetzt.

„Verflucht, eine Wurzel, haltet Euch fest. Ha, hier ist das Leben!“

Er lachte. Herzog Carl August lachte, griff aber jetzt fest in die Zügel und zog sie an. Die Pferde schnaubten kurz auf und trabten nun etwas verhaltener durch den dunklen Wald.