Love & Imagination - Lin Rina - E-Book

Love & Imagination E-Book

Lin Rina

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Beschreibung

Kaliips Höschen hat sich im Metakosmos aufgelöst. Mal wieder. Das eigene Höschen auf magische Weise verschwinden zu lassen, ist schon peinlich genug. Noch schlimmer ist jedoch, dass die Ursache die Tätowiererin Sidra ist, die durch ihre seherischen Fähigkeiten jede magische Regung sofort mitbekommt.  Schade nur, dass sie Kaliip hasst und die beiden zu allem Überfluss auch noch eine gemeinsame Zeitreise antreten müssen.  Als Geschichtsdozentin erhofft sich Kaliip, dadurch ihre Karriere voranzutreiben. Doch die unvermeidbare Nähe zu Sidra und ihre eigene unberechenbare Magie verursachen Kaliip Bauchschmerzen und lassen sie von vornherein an dem ganzen Unterfangen zweifeln. Als Kaliip dann auch noch von einem monströsen Wesen angegriffen wird, scheinen ihre Ängste Realität zu werden.  Love & Imagination Reihe: Band 1: Love & Imagination Band 2: folgt

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Love & Imagination

LIN RINA

Copyright © 2025 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Maya Shepherd

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: shutterstock.com

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-69130-094-9

Alle Rechte vorbehalten

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.

Inhalt

Prolog

1. Kaliip

2. Kaliip

3. Sidra

4. Vereen

5. Kaliip

6. Kaliip

7. Sidra

8. Kaliip

9. Kaliip

10. Sidra

11. Kaliip

12. Sidra

13. Vereen

14. Kaliip

15. Kaliip

16. Sidra

17. Kaliip

18. Kaliip

19. Kaliip

20. Sidra

21. Kaliip

22. Kaliip

Wikimagia

Drachenpost

Liebe Franziska*

Verlier’ dein Höschen nicht.

Prolog

Zur dunkelsten Stunde der Nacht erhob sich die Finsternis als fauliger Dunst und stieg zur Zimmerdecke auf. Der schmale Sichelmond versteckte sich hinter Wolken und ließ zu, dass die Schatten hervorkrochen.

Das letzte Geflüster war vor mehr als einer Stunde verstummt.

Nun lagen Körper, nah an nah, auf Matratzen im geräumigen Wohnzimmer, atmeten gleichmäßig im Schlaf, träumten von den Alltäglichkeiten ihres jungen Lebens. Von Schulbällen und gewonnenen Sportveranstaltungen, von Familienverantwortung und Streit mit den Eltern, von ersehnten Küssen und dem surrealen Moment, in dem man plötzlich ohne Hose im Klassenraum stand. Lachen hing noch in der stickigen Luft und wurde schleichend verdrängt vom Gestank der Angst. Er stieg vom Bettenlager auf, entlassen aus einem Traum, der grausamer war als die anderen. Krallen schlugen aus ihm hervor, rissen den Spalt zwischen Denken und Wirklichkeit auf und krochen auf vielen Beinen in den Raum. Vorstellungskraft und Magie formten Schuppen und Augen und Zähne und Hunger. So großen Hunger.

Schwarz wie die Schatten selbst materialisierte sich das Wesen zwischen den Armen des Kronleuchters.

Mit vielen Augen blickte es auf die Schlafenden hinab, hörte das Klopfen ihrer kleinen Herzen in ihren kleinen verletzlichen Körpern. Das feuchte Rauschen ihres Blutes, so warm und köstlich.

Eine Bewegung auf dem Sofa zog die Aufmerksamkeit aller Augen auf sich. Weißes Fleisch erhob sich aus den Kissen, kam so geräuschlos wie möglich auf die Füße und stakste zur Tür. Die Schritte klangen laut in den vielen Ohren, ließen tastende Härchen erzittern.

Schmale Finger auf der Türklinke, die die Augen trotz Dunkelheit deutlich ausmachen konnten. Denn es war ein Teil der Nacht, geschaffen, um zu fressen, geschaffen, um zu jagen.

Lautlos glitten die Beine an der Decke entlang auf die Tür zu, durch den Spalt, den das Menschlein geöffnet hatte, als es aus dem Zimmer geschlüpft war.

Die Zähne wollten fressen, doch die Augen wollten es rennen sehen, ehe sie sich in das weiche Fleisch trieben, um es sich Stück für Stück einzuverleiben.

Das Menschlein schob sich die hellen Haare über die Schulter, rieb sich mit seiner Faust die Augen, trat ins Treppenhaus, weit weg von den anderen. Weit weg von denen, die das Wesen aufhalten könnten. Es kannte den Weg, war hier zuhause, wusste wie man sich die Treppen nach unten bewegte, ohne Licht zu machen.

Klaue schlug an Klaue, ein winziges Geräusch und das helle Haar wirbelte durch die Luft, als das Menschlein den Kopf herumriss.

Auch diese Angst stieg auf, nährte die Schuppen, die Augen, die Zähne, die sich auf langen Beinen auf das zubewegten, das den Hunger stillen würde.

Und wenn nicht, dann gab es dort, wo dieses hergekommen war, noch mehr.

»Ist da jemand?«, flüsterte die hohe Stimme des Menschleins. »Alberto? Gilbert? Das ist nicht witzig. Ich muss nur aufs Klo.«

Wieder klackten Klauen gegen Klauen, erfüllten mit ihrem Laut das Treppenhaus und die vielen Beine trugen den Hunger ihrer Beute hinterher, die die Treppenstufen nach unten rannte und den Lichtschalter drückte.

Gelb und grell flammte das Licht in den Wandleuchten auf, vertrieb die Schatten aus den Ecken, flutete das Treppenhaus. Doch Licht konnte dem Wesen nichts anhaben, nicht den Schuppen, nicht den Augen, nicht den Zähnen, nicht dem Hunger.

Das Wesen sprang, die Klauen auf die Beute gerichtet, dazu erschaffen, zu zerfetzen, auszuweiden, zu fressen. Und das Menschlein schrie.

1

Kaliip

Viertes Zeitalter, Jahr 224, Sommeranfang

Gegenwart

Es war gerade 13:20 Uhr, mein Magen knurrte wie ein bissiger Wolpertinger und ich trank den letzten Schluck meines Kaffees, als sich ein Origamikranich unter meiner Bürotür hindurchzwängte und sich laut raschelnd auf meinen alten Eichenschreibtisch niederließ.

»Öffnen«, sagte ich zu ihm und zwang mich, den Blick von dem alt-elfischen Dolch zu heben und dem Origamigeschöpf dabei zuzusehen, wie es sich entfaltete.

Das Papier schimmerte leicht silbrig, wie es üblich war bei Illusionsmagie, und glättete sich auf der Tischplatte.

Besprechung, 14 Uhr. Wichtig!!! -FF, stand dort in Dr. Felix Finells krakeliger Handschrift und ich verdrehte die Augen über die kindische Zettelchenmethode.

Mein Handy lag aus Mangel an Platz in den Armen einer abstrakten Koboldskulptur aus dem späten Ersten Zeitalter. Schnell checkte ich meinen Kalender.

Bis auf eine Besprechung mit Killian um 16:30 Uhr hatte ich heute keine auswärtigen Termine. Moment, das mit Killian war heute? Hatte ich seinen Bericht überhaupt schon gelesen?

Ich suchte mehrere Stapel mit Papieren ab, wühlte mich durch viele kleine handschriftliche Notizen mit begonnenen Übersetzungen der Inschriften auf dem Dolch und setzte dabei geistesabwesend meine Kaffeetasse an die Lippen. Sie war immer noch leer.

Laut seufzend erinnerte ich mich selbst daran, mich nur auf eine Sache gleichzeitig zu konzentrieren.

»Ich habe die Nachricht erhalten«, entließ ich als Erstes den Illusionszauber und der silberne Zettel faltete sich wieder zusammen, nur um anschließend einen taumelnden Tanz zu vollführen, der wirkte, als würde das kleine Ding eines dramatischen Todes sterben, um sich dann im Nichts aufzulösen.

Ich grinste über die Albernheit und widmete mich dem zweitwichtigsten Punkt: Kaffee.

Und wenn ich diesen Tag heil überstehen wollte, dann musste er verdammt gut werden. Denn egal, was Felix von mir wollte, ich würde nicht begeistert sein. Sonst hätte er sich nicht die Mühe gemacht, einen Illusionszauber zu schicken, anstatt das Handy zu benutzen.

Für einen Moment völliger Konzentration schloss ich die Augen und widmete mich meinem Heißgetränk. Ich stellte mir die cremefarbene Tasse mit der rauen Textur von gebranntem Ton, dem weich gebogenen Griff und dem leichten Schimmer des lasierten Randes vor. Dann widmete ich mich dem Kaffee selbst. So heiß, dass man sich beinahe die Zunge verbrannte. Der Grad der Dunkelheit der Flüssigkeit ohne Milch und dann mit. Wie cremig er sich auf meiner Zunge anfühlen würde und wie bitter das Aroma sein musste. Ein Hauch von Zimt, eine winzige Süße und der Geruch, der einem in die Nase zog und das Gehirn dazu brachte, Unmengen an Endorphinen auszuschütten. Kleine Anpassungen an physikalische Gesetze machten meine Fantasie mittlerweile zum Glück automatisch und dann tippte ich innerlich die Magiequelle in meinem Unterleib an.

Imagination verließ meinen Körper, formte sich nach meinen Wünschen und ich öffnete die Augen.

Vor mir auf dem Schreibtisch stand eine Tasse mit Kaffee, ganz genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich nahm sie zur Hand, pustete in die heiße Flüssigkeit und nippte daran.

Bei den alten Göttinnen, er war so gut!

Selbst wenn ich als Imaginatorin immer eine fürchterliche Enttäuschung für meinen Vater bleiben würde, konnte ich zumindest von mir behaupten, den perfekten Kaffee imaginieren zu können.

Ich hörte sofort seine Stimme in meinem Hinterkopf, die mir vorwarf, meine Talente zu verschwenden, und ich verscheuchte sie mit einem weiteren Schluck Kaffee. Doch meine Bewegung war wohl etwas zu energisch ausgeführt, denn ich kleckerte mir auf die rote Bluse.

Scheiße!

Im Affekt imaginierte ich mir ein Taschentuch in die Hand, um den Fleck abzutupfen. Meine Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn sie mich gesehen hätte. Doch ich war erwachsen und sie nicht hier und ich konnte so unpraktisch gegen meine Flecken vorgehen, wie ich wollte.

Verdammt, ich war so hungrig.

Ich fragte mich, ob ich es noch in die Cafeteria schaffen würde, und entschied mich dagegen. Die Schlange vor der Kasse war um diese Uhrzeit unendlich, ich musste Killians Bericht über die Heron-Schatulle wiederfinden und ich hatte nicht mal ansatzweise herausgefunden, was der Text auf dem Dolch bedeutete, für den die Kuratorin des Staatsmuseums nächste Woche die Vitrine bestellen wollte. Was ohne mein abschließendes Urteil nicht möglich war.

Nicht, dass sich in dem Ding versteckte Zauber befanden, die unerwartet ausbrechen könnten und die von den magischen Schutzsiegeln im Glas nicht abgedeckt werden würden. Das würde nur wieder ein schreckliches Desaster mit der Versicherung nach sich ziehen.

Nicht, dass mir so was schon passiert wäre. Dafür war ich viel zu gut.

Ich imaginierte mir also auf die Schnelle ein Sandwich mit Avocado, wie ich es letzte Woche an einem Stand in der Innenstadt gegessen hatte, und ärgerte mich darüber, dass ich nicht genügend Zeit in die Textur des Brötchens investiert hatte, während ich Killians Bericht unter dem Stapel Bücher über den Kristallkrieg entdeckte.

Die Schinken hätte ich längst wieder zurückbringen müssen. Gut, dass dieser junge neue Bibliothekar ein absoluter Fanboy meiner Bücher über die Magiekriege war, da kam ich sicher mit einem Augenzwinkern und einem Autogramm durch.

Was man eben so tat, um keine Überziehungsgebühren zu zahlen.

Pünktlich um kurz vor zwei verließ ich mein Büro, um mich vom Fachbereich Geschichte rüber ins Verwaltungsgebäude zu begeben.

Es war ein windiger Tag mitten im Semester und der Unicampus war voller Studierender, die sich in ihrer Mittagspause die Sonne ins Gesicht scheinen ließen.

Ich dachte gerade noch daran, die Kaffeeflecken aus meiner Bluse zu imaginieren, ehe ich nach draußen trat. Meine braunen Lederstiefelchen klackerten auf den Steinplatten, die sich wie ein Labyrinth durch den Park zogen.

Die Vögel zwitscherten disharmonisch, Menschen saßen in kleinen Gruppen auf den Bänken oder mit Decken überall auf den Grünflächen, quatschten, lachten, lernten oder schliefen ihren Rausch von der letzten Studentenverbindungsparty aus.

Die alten, ehrwürdigen Bäume wiegten sich im Wind, Blätter segelten elegant durch die Luft und es roch schwer nach dem nahenden Sommer. Und auch ein bisschen nach Dreamy, das wohl irgendwer rauchte.

Das ganze Szenario wirkte wie aus einem schlechten Teeniefilm.

Ich rümpfte die Nase, schob meine runde Brille zurecht und trank demonstrativ einen Schluck Kaffee, um so zu tun, als hätte ich Henrietta aus meinem Geschichtskurs »Magiekriege des Dritten Zeitalters 2« nicht gesehen, die mir aufgeregt zuwinkte. Das Mädchen war ’ne Landplage.

Beinahe wurde ich von einem Ball getroffen und ignorierte etwa ein Dutzend Blicke von hormongebeutelten Jungs Anfang zwanzig, die mir auf den Hintern stierten, ehe ich weitestgehend unbeschadet die automatische Glastür des Verwaltungsgebäudes erreichte und ins klimatisierte Innere schlüpfte.

Der Aufzug brachte mich ins dritte Stockwerk und ich ging den Marmorgang entlang, auf dem meine Absätze noch lauter zu hören waren.

Cinzia sprang von ihrem Stuhl auf, als sie mich kommen hörte, und sank dann erleichtert auf die Sitzfläche zurück, als sie mich erkannte. Sie hatte wohl mit jemand anderem gerechnet.

»Oh, Dr. Pettra-Shevaani. Schön, Sie zu sehen«, begrüßte sie mich freundlich und strich sich ihr geglättetes Haar hinter die leicht spitzen Ohren. Goldene Kreolen kamen zum Vorschein, welche die Länge ihres schönen Halses betonten.

»Wenn, dann bitte nur Dr. Shevaani. Aber Sie dürfen mich auch gern beim Vornamen nennen«, bot ich Dr. Finells wirklich überaus hübscher Sekretärin an und sie lächelte verlegen. Ich fühlte mich auf interessante Weise geschmeichelt, dass sie jedes Mal, wenn ich hier auftauchte, nervös zu werden schien.

»Natürlich, Entschuldigung«, sagte sie schnell und stand nun doch auf. Ihre große schlanke Figur zusammen mit ihren Ohren legte nahe, dass eine gute Portion Elfe in ihren Genen mitschwang.

Ich fragte mich, wo ihre Magiebegabung lag. Möglicherweise eine Seherin. Die wurden für gewöhnlich ganz gerne als Empfangspersonal angestellt, da sie einen anderen Blick auf Menschen hatten. Schon praktisch, wenn man jede Art von Magie sehen konnte.

Das bedeutete aber auch, dass sie auf einen Blick wusste, dass meine Magiebegabung die Imagination war. (»Begabung« in Anführungszeichen. Denn begabt war ich ganz sicher nicht.)

»Dekan Finell ist noch nicht wieder zurück, aber Sie können gerne so lange in seinem Büro warten, Kaliip«, informierte sie mich und schenkte mir einen lieblichen Augenaufschlag ihrer langen, falschen Wimpern.

»Vielen Dank, Cinzia«, antwortete ich und ihr Lächeln wurde noch breiter. Wahrscheinlich, weil ich mir ihren Namen gemerkt hatte.

Und da konnte sie sich tatsächlich geschmeichelt fühlen. Ich war richtig schlecht, was Namen anging. Von meinen Studierenden kannte ich nicht einmal ein Viertel mit Namen, geschweige denn, dass ich alle Gesichter wiedererkannt hätte.

»Kann ich Ihnen irgendwas bringen?«, fragte sie mich noch, als ich auf die große Tür zuging, und ich hielt demonstrativ meine Kaffeetasse in die Luft.

»Ich habe schon, danke.«

Lieb, dass sie fragte, obwohl sie wissen musste, dass ich Imaginatorin war. Denn selbst, wenn sie keine Seherin war, wäre es spätestens bei meinem Nachnamen offensichtlich gewesen. Es war unmöglich, dass sie den Namen Pettra noch nie gehört hatte.

Ein Grund mehr, wieso ich ihn nicht benutzte und all meine Studierenden mich nur als Dr. Shevaani kannten.

Es war gerade geschafft, dass die Welt weitestgehend vergessen hatte, dass ich Ruben Pettras Tochter war, kein Fernsehsender mehr nach mir krähte und auch kein Klatschblatt mehr über meine Figur herzog. Und so sollte es ruhig bleiben.

Felix Finells Büro war der Traum eines jeden Bücherwurms. An drei von vier Wänden standen dunkle Regale voller Bücher und deren obere Reihen ließen sich nur mit einer schmiedeeisernen Leiter erreichen, die an einer Schiene hin und her bewegt werden konnte.

(Waren wir ehrlich, jeder wollte so eine Leiter haben.)

Das versöhnte mich beinahe mit dem Rest des Zimmers, der unsympathisch modern gehalten war. Grauer Teppich, eine abstrakte Skulptur aus Chrom, die meine Mutter scheußlich finden würde, und die Wahl des Schreibtisches würde ich nie verstehen. Er war schmal und aus Glas und der einzige Gegenstand darauf war ein weißer Laptop.

Leder knarzte, als ich mich in der Sitzecke in einen der beiden kastenförmigen Sessel sinken ließ, der gerade breit genug war, um meinem ausladenden Hintern Platz zu bieten.

Es war nicht das erste Mal, dass ich auf Felix wartete. Also strich ich meinen braunen Faltenrock zurecht und stellte mich darauf ein, die nächsten zehn Minuten in Ruhe meinen Kaffee genießen zu können. Es würde höchstwahrscheinlich die einzige Pause sein, die ich am heutigen Arbeitstag bekam.

Die Uhr an der Wand tickte, ich hatte mir einen zweiten Kaffee imaginiert und der alte Papagei war immer noch nicht aufgetaucht. Vor dem bodentiefen Fenster bewegten sich die Bäume im Wind, das Holz knarrte und ich seufzte in mich hinein.

Ich wippte nervös mit dem Bein, dachte an Killians Bericht, den Dolch, den morgigen Unterricht, den ich noch vorzubereiten hatte, und den Stapel an Klausuren, der bis Ende der Woche korrigiert werden wollte. Ich hatte keine Zeit, den halben Tag damit zu verbringen, hier zu sitzen und die Uhr anzustarren.

Zur Ablenkung stellte ich mir die Bücher in den Regalen nach Autor und dann nach Titel alphabetisch sortiert vor, nur um kurze Zeit später vergessen zu haben, wie sie ursprünglich gestanden hatten.

Tja, dann würde Felix seine Bücher eben suchen müssen. Wer mich so lange warten ließ, musste mit allem rechnen.

Ein Geräusch holte mich aus meinen Gedanken und ich drehte aufmerksam den Kopf zu der schweren Tür, die mit einem Ruck geöffnet wurde.

Doch es war nicht Felix Finell und mein Herz setzte einen Schlag aus. Denn herein kam der Herzenswunsch meiner Teeniezeit, die Göttin der Finsternis, der Traum meiner schlaflosen Nächte.

Sidra Windgold.

Verflucht, was tat sie hier?

Sie trug ihr rabenschwarzes Haar kurz, ein dunkles Hemd, das ihren kantigen Schultern schmeichelte, und schwarze Jeans. Die stahlkappenbesetzten Springerstiefel erzeugten dumpfe Geräusche auf dem antiken Holzboden. Der Blick ihrer schmalen Augen landete sofort auf mir und ein düsterer Hauch von Gereiztheit erblühte auf ihren Lippen. Süße Dunkelheit rieselte mir durch den ganzen Körper, zog in meine Mitte, so dass es mir Mühe bereitete weiterzuatmen.

Mit dieser Begegnung hatte ich heute nicht gerechnet und es blieb auch keine Zeit, mich irgendwie vor den Gefühlen zu retten, die mich überkamen wie ein Frühjahrsschauer.

Waren meine Locken zerzaust? Hatte ich den Fleck aus meiner Bluse entfernt? Ich konnte mich nicht erinnern.

»Kaliip«, sagte sie meinen Namen zur Begrüßung und ihre Stimme war tief und rauchig und glühte in meiner Seele auf wie Sternschnuppen.

Imagination zog ohne mein Zutun aus der Magiequelle in meinem Bauch und ließ meine Unterhose verschwinden.

Nein! NEIN, NEIN, NEIN!!!

»Ist gerade dein Höschen verschwunden?«, fragte Sidra mich irritiert und ich schob das eine Bein über das andere, peinlichst darauf bedacht, dass mein Faltenrock an Ort und Stelle blieb.

»Ja«, antworte ich so sachlich wie möglich. Es zu leugnen, hätte keinen Zweck gehabt. Sidra konnte mit ihren Onyxaugen jede Regung von Magie sofort ausmachen.

»Hat es Schiss, dass du dich vor Angst nass machst, wenn ich den Raum betrete?«, erkundigte sie sich herausfordernd und zog grimmig eine gepiercte Augenbraue hoch.

Ich kniff die Lippen zusammen und verbiss mir den gewagten Kommentar, dass es nicht nass, sondern nur feucht geworden wäre.

Sidra wartete auf eine Reaktion von mir, doch ich richtete den Blick ganz bewusst auf die Fenster, als gäbe es dort draußen etwas Interessantes zu entdecken.

Wie konnte man nur so sexy und gleichzeitig so ahnungslos sein?

»Wartest du schon lange?« Lässig ließ sie sich in den Sessel neben mir fallen. Breitbeinig.

Bei den alten Göttinnen!

»Eine Weile«, antwortete ich unbestimmt, trank gespielt desinteressiert einen Schluck Kaffee und versuchte unauffällig, meine Unterhose zurückzuimaginieren. Doch meine gesamte Konzentration ging leider dafür drauf, nicht vollkommen auszuflippen, weil Sidra Belle Windgold neben mir saß.

Das Mädchen, in das ich in der Schule verknallt gewesen war. Die Frau, die ganz schlimme Wünsche in mir weckte, seit sie vor zwei Monaten in die heiligen Hallen dieser Universität geschlendert war.

Dabei hatte ich sie fast vergessen gehabt.

Da war sie nun wieder, musterte mich unverhohlen und nahm mir jede Chance, meine Unterwäsche zurückzubekommen. Denn sie war elfenstämmig, ihres Zeichens die beste Seherin, der ich jemals begegnet war, und sie würde sofort mitkriegen, wenn ich auch nur einen Funken Magie bewegte.

»Der Doc sagt, er kommt gleich. Muss im Wald noch gegen ein paar Harpyien kämpfen«, meinte sie und ich blinzelte verunsichert. Ihr Tonfall was so ernst, dass ich mir sofort Sorgen machte.

»Wirklich?«, fragte ich aufgeschreckt und ein so verboten böses Grinsen erschien auf ihren schmalen Lippen, dass mein Herz erneut einen Schlag aussetzte.

Na toll, sie hatte mich verarscht und ich war ihr voll in die Falle gegangen.

»Nein. Wann hat es bitte das letzte Mal Harpyien in den Wäldern von Diesseits gegeben?«, schnaubte sie viel zu belustigt und ich kämpfte dagegen an, beleidigt die Arme vor der Brust zu verschränken.

»April 43, Viertes Zeitalter«, erwiderte ich so gelassen wie nur irgend möglich und sie lachte auf. Ein Klang wie die pure Verführung.

Die Schwertohrringe an ihrem ausgeprägt spitzen Ohr klimperten gegeneinander.

»Du Freak«, sagte sie und lehnte sich zurück.

Ich klammerte mich an meine Kaffeetasse und hoffte still, dass Dr. Finell uns nicht mehr allzu lange warten ließ. Denn ich hatte keine Ahnung, wie ich mich in Gegenwart von Sidra verhalten sollte.

Auch wenn ich sie kaum kannte, wusste ich eins doch ganz genau: In dem Maße, in dem ich in sie verschossen war, konnte sie mich nicht ausstehen.

Unsere erste Begegnung war ein Unfall gewesen. Klassisch wie in einem Liebesroman war ich im Flur unserer Oberschule in sie hineingerannt. Ihr war ein Karton aus den Händen gerutscht und mir meine Bücher, alles hatte sich auf dem Boden verteilt und wir waren mit den Köpfen zusammengestoßen, als wir versucht hatten, alles wieder einzusammeln. Ich hatte mir erschrocken die Brille gerichtet, zu dem Mädchen aufgesehen, das mich vollkommen entgeistert angesehen hatte, und mein Herz verloren.

Sie war damals auf eine andere Art düster gewesen. Das Haar lang und dunkellila gefärbt, der Lippenstift so schwarz und matt wie Asche. Ihre Haut hatte blass im Vormittagslicht geschimmert und ihre Wangenknochen waren so schön gewesen, dass ich sie hatte berühren wollen.

Ihr Blick hatte jedoch nur Millisekunden gebraucht, um von vollkommen überrascht, zu schockiert und dann zu abgrundtief angepisst zu wechseln. Ich war innerlich tausend Tode gestorben.

In der Schachtel waren die Kristalle für ihre Abschlussprüfung in Astroenergetik gewesen und meine Bücher hatten sie zu Mehl verwandelt.

Long Story Short: Sie war durchgefallen. Ich war schuld gewesen.

Definitiv nicht der Anfang einer Lovestory!

Sie hatte mich die letzten paar Wochen ihrer Schulzeit aktiv ignoriert, was nicht hieß, dass ich nicht noch Jahre später von ihr geträumt hatte.

Irgendwann war auch ich erwachsen geworden, hatte meine aussichtslose Verliebtheit aufgegeben und mein Leben gelebt.

Doch da saß sie nun, meine erste große Verliebtheit, noch anziehender als vor zwanzig Jahren, und brachte meinen Körper dazu, wie die hormongesteuerte Sechzehnjährige zu reagieren, die ich damals gewesen war.

Sidra sagte nichts mehr, hatte es wohl aufgegeben, mich weiter zu triezen, und spielte an den unzähligen Ringen, die sie an ihren Fingern trug. Ihre Hände waren groß für eine Frau, die Nägel schwarz lackiert und Mittel- und Ringfinger zeigten feine Tätowierungen.

Ich wünschte, ich hätte sie näher begutachten dürfen.

Die Tür knarrte laut und ich zuckte aus meiner Betrachtung von Sidra Windgolds Fingern, als hätte ich etwas absolut Verbotenes getan.

Dr. Felix Finell kam ins Zimmer gerauscht, wie immer gekleidet wie aus einer anderen Zeit. Sein Gehrock war aus dunkelgrünem Samt und an seinem Hut steckte eine gigantische Pfauenfeder. Ein Hauch von silbernem Glitzer hing in der Luft, als er zielstrebig auf uns zuschritt.

»Ich bin untröstlich Sie warten gelassen zu haben, meine Damen«, grüßte er uns, schlug den Schoß seines Gehrocks nach hinten und ließ sich aufs klobige Sofa sinken, das in seiner Geradlinigkeit im Kontrast zu Felix‘ Aufzug stand. Den Hut zog er vom Kopf, legte ihn neben sich ab und strich sich durch das längst ergrauende Haar.

»Was wird das, wenn‘s fertig ist?«, fragte Sidra spitz und ließ ihren skeptischen Blick einmal über den Dekan wandern.

Ich hätte zu gern gewusst, was sie sah. Denn Felix Finell gehörte zu den Illusionisten. Für mich wirkte sein ganzer Aufzug wie die Realität, doch er hätte genauso gut nackt sein können, ich hätte es nicht gewusst.

Doch bei Sidra war das anders, sie konnte hinter den Zauber blicken.

»Zu viel Glitzer?«, fragte Felix in gespieltem Ernst und ich trank den letzten Schluck meines zweiten Kaffees, um die Unbeteiligte zu mimen.

»Sie schrieben, es sei wichtig. Ich musste Termine verschieben um herzukommen. Ihr Glitzer ist mir egal.« Genervt verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Mir wäre es lieber, wenn Sie nicht erst zwei Minuten vorher eine Nachricht schicken, dass Sie zu spät sind.«

Ich wollte gerade fragen, wieso ich keine Nachricht bekommen hatte, als mir auffiel, dass mein Handy wohl immer noch in den Armen der Koboldskulptur lag.

»Ich entschuldige mich und gelobe Besserung«, behauptete Felix und ich wusste genau, dass es nur leere Worte waren. Dieser Mann würde niemals pünktlich irgendwo sein. Darauf hätte ich mein Höschen verwettet … wenn es nicht schon fort gewesen wäre.

Ich traute mich kaum, mich zu bewegen, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Kaum schaffte ich es, mich darauf zu fokussieren, erschien auch schon ein Stück Stoff um meinen Unterleib. Keine Ahnung, welche Farbe es hatte, aber es war alles besser, als mich mit nacktem Hintern in unmittelbarer Nähe von Sidra zu befinden.

All die Meditationskurse, zu denen meine Eltern mich geschleppt hatten, mussten ja schließlich zu irgendetwas gut sein. Und eine Unterhose war nun nicht die schwerste Übung.

Ich öffnete die Augen wieder und tat so, als bemerkte ich Sidras Blick nicht, die mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. In der Linken war ein schmaler Streifen ausrasiert und an der Seite zierten sie zwei silberne Ringe. Es sah so verflucht cool aus!

»Sie haben uns gemeinsam herbestellt. Ich nehme also an, Sie haben ein Artefakt für uns«, versuchte ich das Gespräch in eine zielführende Richtung zu lenken, damit ich nicht länger über Sidra nachdachte, und richtete mich in meinem Sessel ein Stück auf. Das Leder knarzte wieder unter mir.

»In der Tat, Dr. Shevaani«, bestätigte Felix formell. »Allerdings nicht zur Ansicht, sondern als Anreiz. Wir haben Nachricht von Professor Dolonias Karim. Er ist gut bei unserer neusten Entdeckung angekommen, sendet Grüße und hat etwas für Sie beide herschicken lassen.« Er vollführte eine ausladende Geste mit den Händen und es erschien eine handtellergroße Steinscherbe auf dem kleinen Tischchen zwischen uns.

Also nicht wirklich. Sie war natürlich schon die ganze Zeit dort gewesen und Felix hatte sie nur mit seiner Illusionsmagie vor uns verborgen. Oder zumindest vor mir.

Ich blinzelte überrascht und Sidra seufzte laut.

»Ja, ich weiß, derlei Illusionen sind nur halb so lustig, wenn man mit der sehenden Gabe gesegnet ist«, meinte der Dekan und Sidra zuckte nicht mal mit der Wimper.

»Es ist eigentlich gar nicht lustig«, antwortete sie stumpf.

»Und? Was sehen Sie, Ms Windgold?« Felix lächelte, ohne weiter auf ihre Aussage einzugehen und Sidra verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nicht besonders viel, weil jetzt überall Illusionsmagie klebt.« Ihre Ausdruckslosigkeit sprach Bände.

»Naja, ich habe Sie auch nicht deswegen eingeladen. Ich möchte mit Ihnen und Dr. Shevaani etwas Wichtiges besprechen.«

»Und das wäre nicht in einer E-Mail möglich gewesen?«, erkundigte Sidra sich und ich hielt mich mit dem Schlagabtausch der beiden nicht weiter auf. Es war allgemein bekannt, dass das Sehen und das Illusionieren gegensätzliche Gaben waren, die von Natur aus zu Streit führten.

Da Felix es gewagt hatte, Magie auf diese Scherbe auszuüben, konnte ich davon ausgehen, dass sie für meine Finger ungefährlich ausfallen sollte. Also griff ich danach und war kurz überrascht, wie schwer sie in meiner Hand wog. Es handelte sich demnach nicht um bloßes Gestein oder Keramik.

Sie hatte die angedeutete Form einer dreieckigen Kachel, was auf frühes Zweites oder spätes Erstes Zeitalter hindeutete, und bei genauerem Hinsehen entdeckte ich feine Inschriften in den Rändern.

Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig und ich richtete meine Brille, um ganz genau hinzusehen. Doch ich hatte mich nicht verguckt.

»Das ist Symm!«, rief ich und eine Welle an Ehrfurcht bewegte mein Herz. Ganz vorsichtig legte ich die Kachel zurück auf den Tisch und ärgerte mich, dass ich keine Schutzhandschuhe bei mir hatte. Aber wer hätte denn ahnen können, dass der alte Papagei mir so etwas vorlegen würde.

»Was ist Symm?«, fragte Sidra verwirrt und ich wagte es, wieder zu atmen.

»Die Sprache der Kobolde«, erklärte ich schnell und sah zu Felix. »Ist das aus dem Tempel? Bedeutet das, dass der Tempel im Ersten Zeitalter errichtet wurde?« Mir wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken, was das für die Geschichtsforschung bedeuten würde, ein intaktes Bauwerk der Koboldkultur untersuchen zu können.

»Zumindest teilweise«, bestätigte Felix und ich glaubte, jeden Augenblick zu hyperventilieren.

»Hat Professor Karim Fotos geschickt?«, wollte ich sofort wissen und schaffte es nicht, meine Begeisterung unter dem Mantel aus Reserviertheit zu verstecken, wie ich es sonst tat. Diese Entdeckung war so revolutionär, ich wollte am liebsten laut schreien und mit den Füßen wild auf den Boden stampfen, um meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen.

»Leider nicht. Es scheint ein Zauber in der Luft zu liegen, der Fotografien verhindert. Einer, den selbst sein Seher bisher nicht ausmachen konnte«, erzählte Felix und meine Freude bekam einen Dämpfer. »Außerdem hat er nicht damit gerechnet Koboldkultur zu finden. Symm ist nicht sein Fachgebiet und er baut diesbezüglich auf Ihre Unterstützung, Dr. Shevaani.«

»Wie soll ich das ohne Fotos bewerkstelligen?«, fragte ich irritiert und in diesem Moment ging es mir selbst auf. Dafür musste ich nicht einmal den auffordernden Blick des Dekans sehen.

»Nein!«, rief ich sofort und lehnte mich in meinem Sessel zurück, um Abstand zu dem zu bekommen, was Felix Finell hier gerade suggerierte. »Nein!«

Mein Puls begann zu rasen, mein Magen krampfte sich zusammen und allein die Vorstellung … Nein!

»Professor Karim möchte Sie vor Ort haben«, sprach er aus, was ich befürchtet hatte, und ich kniff die Lippen zu einem harten Strich zusammen. »Sie beide!«

»Nein!«, sagte ich noch einmal, bestimmter und unterdrückte das Bedürfnis aufzustehen und angespannt hin und herzulaufen.

»Ihnen muss doch bewusst sein, wie bedeutend dieser Fund ist. Welch ein Abenteuer! Wenn Sie vor Ort wären und Sie …«, begann er auf mich einzureden und ich schnitt ihm sofort das Wort ab.

»Nein! Ich werde nicht dort hinreisen. Ich bin keine Archäologin und ich hasse Abenteuer!«, machte ich klar und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Wir kannten uns doch nicht erst seit gestern; er wusste, wie ich zu solchen Aktivitäten stand. Wie konnte er so was überhaupt vorschlagen?

»Du bist die führende Expertin für Symm, Kaliip!«, wechselte er auf den persönlichen Ton, den wir sonst nur im privaten Umfeld benutzten, und ich bedachte ihn mit einem scharfen Blick, der meinen Standpunkt klarmachen sollte.

»Ich habe mit Absicht einen Schreibtisch in einem schicken Büro, Felix. Das weißt du ganz genau! Ich bin für solche Aufregung nicht gemacht! Wenn ich das Abenteuer gesucht hätte, wäre ich Imaginatorin geworden!«, schimpfte ich ungehalten und spürte, wie meine Magie unruhig zu zittern begann. Mein Ärger würde sich gleich zu unschönen Splittern manifestiert im Zimmer verteilen, wenn ich meine Gefühle nicht in den Griff bekam.

»Dieses Projekt wird dir vor dem Universitätsrat deine Professur ermöglichen!«, brachte Felix Finell das Totschlagargument. Das, worauf ich schon seit Jahren hinarbeitete. Das, von dem er wusste, dass ich so gut wie alles dafür tun würde.

Ich knurrte frustriert, konnte mich nicht mehr halten und stand nun doch auf, um umherzulaufen. Ich war kurz davor, mir einen Kaffee mit Schuss zu imaginieren. Doch um mir das zu erlauben, hatte ich heute noch zu viel zu tun.

»Okay, Leute. Ich weiß, ihr seid voll die Pros in diesem Geschichtsding. Aber ich habe absolut keine Ahnung, worum es gerade geht«, unterbrach Sidra unsere Diskussion und ich konnte nicht glauben, dass gerade eben mein größtes Problem im Leben eine fehlende Unterhose gewesen war.

»Willst du oder soll ich?«, fragte mich der Dekan und ich nahm meine Brille ab, um mir die schmerzende Nasenwurzel zu reiben.

Ohne Brille sah ich etwa so viel wie durch eine beschlagene Scheibe und blinzelte in die Richtung, in der ich Sidra als dunklen Schemen ausmachen konnte.

»Mach du. Ich muss mich erst wieder beruhigen«, murmelte ich und verwandte all meine Konzentration darauf, nichts Unangenehmes von der Decke regnen zu lassen, nur weil meine überreizten Nerven sich das wünschten.

»In Ordnung«, meinte Felix und das Sofa knarzte unter ihm. »Im Dritten Zeitalter im August 83 ist im Weranischen Meer durch das Einwirken eines magischen Sturms der Vulkan Krakatau ausgebrochen«, begann er ganz am Anfang und ich schüttelte den Kopf.

»Er ist explodiert!«, korrigierte ich energisch, damit Sidra sich darunter nichts Kleines, Belangloses vorstellte. »Er hat seine gesamte Insel weggesprengt, der Knall ist beinahe um die ganze Welt zu hören gewesen und die Druckwelle sieben Mal um den Planeten gegangen.«

»Danke, Dr. Shevaani«, sagte Felix trocken und ich verstand den Wink. Er wollte nicht von mir unterbrochen werden.

Schweigend setzte ich mir die Brille wieder auf und kam zu den anderen in die Sitzecke zurück.

Mein Puls dröhnte mir immer noch in den Ohren, doch wenigstens hatte meine Magie aufgehört, wie ein Sturm gegen meine Bauchdecke zu schwappen. Ich stützte mich mit den Händen an der Sessellehne ab.

Felix hatte lässig ein Bein übergeschlagen, ganz in seinem Element als der Lehrer, der er einst gewesen war. »Bei diesem Teil der Welt handelte es sich damals um geschlossenes Elfengebiet. Eine der letzten Zufluchten, bevor die Magiekriege alles vereinnahmt haben«, erzählte er gelassen, wie er jede andere Information auch erzählte, und mir rieselte ein kalter Schauder den Rücken nach unten.

Das war nämlich eine sehr nette Umschreibung dafür, dass damals alle Elfen unter der Herrschaft von Imaginator:innen versklavt worden waren. Doch ich verkniff mir einen Kommentar. Schon allein wegen der Tatsache, dass Sidra elfenstämmig war und sich sicher oft genug damit hatte auseinandersetzen müssen, dass ihresgleichen auch heutzutage immer noch unter Diskriminierung durch die Gesellschaft litten.

»Schätzungsweise 36.000 Elfen sind durch die Explosion und die daraus resultierenden Tsunamis umgekommen. Eine Naturkatastrophe von gigantischem Ausmaß«, beschrieb Felix und ich achtete ganz genau auf Sidras Ausdruck. Doch ich konnte nicht sagen, ob es sie berührte. Schließlich waren in der Geschichte schlimmere Dinge passiert als das. Vielleicht empfand sie die Vergangenheit aber auch nicht als so prägend wie ich oder sie identifizierte sich selbst überhaupt nicht als Elfe, obwohl ein Teil ihrer Gene von ihnen stammte. Aber dafür kannte ich sie zu wenig.

»Unter der Lava kam jedoch ein Gebäude zum Vorschein. Ein Tempel stand plötzlich mitten im Meer«, erzählte Felix ungerührt weiter und Sidra zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.

»Wie hat er die Explosion überstanden?«, wollte sie wissen und in meinem Herzen sprang ein Funke.

»Genau, das ist die Frage. Wie Dr. Shevaani schon vermutet hat, handelt es sich bei dem Gebäude höchstwahrscheinlich um Kulturgut der Kobolde.« Felix zeigte auf den Stein in der Mitte des Tisches. Sidras Blick folgte seiner Bewegung und sie betrachtete den Stein ein paar Momente, als wollte sie ihn mit ihrem Blick durchbohren.

»Die aber Ende des Ersten Zeitalters ausgestorben sind«, fügte sie nüchtern hinzu und ich sah sie überrascht an. Näheres Wissen über Kobolde gehörte nicht unbedingt zur Allgemeinbildung und ich fragte mich, was sie wohl noch so alles wusste.

Wieso wurde sie mit jedem Satz, den sie sagte, immer anziehender für mich?

»Korrekt«, bestätigte Felix.

Sidra beugte sich zu der Kachel vor und streckte zögerlich die Finger danach aus.

»Und wieso hat man den Tempel erst jetzt entdeckt? Der steht doch seit über einem Zeitalter im Meer rum oder nicht?«, fragte sie und tippte in die Mitte der Kachel, die dadurch in Bewegung geriet. Sidra konnte sicher mehr daran erkennen als wir, blickte mit ihrer Gabe auf die Zauber, die sich möglicherweise darum spannen, betrachtete die magischen Energien einer untergegangenen Zivilisation.

Was hätte ich dafür gegeben, mit ihr zu tauschen. Meine Imagination gegen ihre Augen. Die Macht, alles zu erschaffen, gegen einen Blick auf die Strukturen der Magie.

Etwas, das ich niemals laut aussprechen durfte. Nicht bei all den Nachteilen, die Seher in dieser Welt hatten. Sie waren unter allen Menschen die einzigen ohne Magiequelle. Personen, die keine Magie wirken konnten, in einer Welt voller Magie. Einer Welt, in der Imaginator:innen wie ich alles hatten und sie nichts.

Laut auszusprechen, meine gesellschaftliche Position gegen die von Sidra eintauschen zu wollen, nur um einen Blick auf die Magie werfen zu können, wäre mehr als unsensibel von mir gewesen.

»Nein, leider nicht«, antwortete Felix auf Sidras Frage und holte mich aus meinen Gedanken, die mal wieder abgedriftet waren. »Nur Monate später war der Tempel bereits wieder von Lava bedeckt«, erzählte er und da waren wir auch schon an der entscheidenden Stelle seiner Erzählung angekommen. Der Teil, der mir so viel Angst machte, dass mir allein beim Gedanken der kalte Schweiß ausbrach und ich mein Sandwich wieder hochwürgen wollte.

»Dann habe ich Sie falsch verstanden und ihr Kollege ist nicht gerade vor Ort?«, hakte Sidra nach und ich spürte, wie ein Kopfschmerz sich hinter meinen Schläfen einnistete.

»Doch, Sie haben mich richtig verstanden. Er ist vor Ort und er hätte gerne Sie und Dr. Shevaani bei sich. Er braucht Dr. Shevaanis Fachwissen und ihre Augen, Ms Windgold«, erläuterte Felix und Sidra sah nun vollends verwirrt aus.

»Tut mir leid. Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte sie und ich konnte nicht mehr an mich halten. Dies alles zerrte zu sehr an meinen Nerven, um es nicht laut auszusprechen.

»Er ist durch die Zeit gereist! Er ist im frühen Dritten Zeitalter, im Jahr 83. Und Dr. Finell möchte, dass wir ebenfalls dort hinreisen«, platzte es aus mir heraus und Sidra riss die Augen so weit auf, dass ich fürchtete, dass ihre Piercings verrutschen könnten.

»Ihr verarscht mich doch?!«, rief sie entsetzt und ich hätte es nicht besser ausdrücken können.

»Nein.«

Dass der Dekan immer noch so ruhig blieb, machte mir wirklich Sorgen. Denn das bedeutete, dass er bereits ein Ass im Ärmel hatte und sich sicher war, dass wir nachgeben würden.

»Sie wissen schon, dass ich nur die Vertretung für Sören Sinnermann bin, oder? Ich habe ein Geschäft zu führen. Ich habe keine Zeit durch die Zeit zu reisen«, redete sich Sidra in Rage und ich sah ihr an, dass auch sie Mühe hatte, sitzen zu bleiben. Ihre Hände krallten sich um die Armlehnen des Sessels und sie drückte beide Füße fest auf den Boden. Die Muskeln an ihren Beinen spannten sich an und waren deutlich durch die enge Hose zu sehen.

Wäre nicht sowieso schon alles in mir in Aufruhr, hätte mich das ganz sicher wieder meine Beherrschung gekostet. Doch mein Kopf war gerade anderweitig beschäftigt.

»Mr Sinnermann würde aufgrund seiner Rückenprobleme gar keine Genehmigung für eine Zeitreise bekommen. Das haben wir schon durch. Und ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, Ihre Augen sind bei Weitem besser als seine. Sie sind brillant, Ms Windgold! Und das Fantastische an Zeitreisen ist, dass Sie wochenlang unterwegs sein können und trotzdem an dem gleichen Tag wieder zurückkommen, an dem Sie aufgebrochen sind«, erklärte Felix so freudig, als hätte er bereits alles bedacht, was mein Misstrauen nur noch mehr anstachelte. Was hatte der alte Papagei da ausgeheckt?

»Ist es gefährlich?«, fragte Sidra und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gefährlich für sie ein Argument wäre, zuzusagen. Ich wollte mich dagegen lieber schreiend unter einer flauschigen Decke verkriechen.

»Für gewöhnlich nicht«, tat der Dekan es geradezu beiläufig ab.

Ich schnaubte laut. Was gab es bitte Gefährlicheres, als in die Zeit der Magiekriege zu reisen?! Selbst, wenn Zeitreisen an sich mittlerweile ein recht zuverlässiges Unterfangen darstellten, konnte hier von nicht gefährlich keine Rede sein.

Felix verdrehte die Augen.

Sidra musterte ihn intensiv. »Was hätte ich davon?«, erkundigte sie sich herausfordernd und schürzte die schmalen Lippen, als wüsste sie, dass man nichts gegen sie in der Hand haben konnte.

Doch da kannte sie Felix Finell nicht.

»So eine Expedition schöpft aus Forschungsgeldern des Staats. Wie hoch sind Ihre Schulden bei der Bank, Ms Windgold? Der Kredit für das Studio, das Sie mit Ihrem Bruder haben? 15.000 Zechinen? Wir zahlen Ihnen zwanzig und Sie wären Ihre Schulden auf einen Schlag los«, eröffnete er ihr und faltete seine Hände auf dem Tisch wie der Bösewicht aus einem alten Mafiastreifen.

Ich stöhnte innerlich. Er war zwar ein Akademiker, der Leiter einer ganzen Fakultät, aber dennoch steckte ein Illusionist in ihm. Und die liebten bekanntlich ihre großen Auftritte.

»Woher wissen Sie das?«, flüsterte Sidra entsetzt und ich hätte Felix am liebsten einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst – für die Frechheit, in den Finanzen anderer herumzuwühlen.

Nicht, dass ich es nicht auch getan hätte, aber er war dabei einfach so überdramatisch.

»Sie sind nicht die Einzige, die andere durchschauen kann«, behauptete er.

»Du benimmst dich wie ein zwielichtiger Drogenbaron«, warf ich ihm vor und er verzog seinen Mund zu einer Schnute.

»Und du, als wüsstest du nicht, wie wichtig das hier ist. Du bist die einzig Richtige für diese Aufgabe. Kobolde und das Dritte Zeitalter. Ich präsentiere dir deine zwei Lieblingsthemen auf einem Silbertablett.«

Ich verzog unwillig das Gesicht, denn selbst, wenn er recht hatte, brodelte es dabei ganz gewaltig in meinem Bauch.

»Willst du die Professur oder willst du sie nicht? Denn dies hier ist vielleicht die einzige Chance, die der Universitätsrat dir geben wird«, hielt er dagegen und ich wollte mir selbst in den Hintern beißen. Er wusste ganz genau, wie sehr ich diese Stelle ersehnte.

»Ich will sie«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und er nickte wissend.

»Sehr gut. Diese Expedition ist von großem Wert für das Ansehen der Universität. Ich will, dass das die Besten machen. Und Sie beide sind die Besten!«, sagte er und ich schloss für einen Moment verzweifelt die Augen, während in mir immer noch ein Sturm tobte, den ich auf keinen Fall rauslassen durfte.

»Ich muss darüber nachdenken«, sagte ich zerknirscht und er nickte wieder.

Sidra blickte ihn immer noch entsetzt an und es war ihr an der hübschen Nasenspitze anzusehen, wie es in ihr arbeitete. Und wie direkt Felix Finell ihren wunden Punkt getroffen hatte. Dieser verfluchte Papagei!

Mit einem selbstzufriedenen Seufzen lehnte er sich zurück, wechselte das übergeschlagene Bein und faltete gelassen die Hände über dem Bauch.

Denn er wusste, dass er gewonnen hatte.

2

Kaliip

Ich schrieb Killian, dass wir den Termin von heute auf morgen verschieben müssten, und nahm mir den Rest des Tages frei. Ich war so außer mir, dass es für niemanden gut gewesen wäre, mich weiter der Öffentlichkeit auszusetzen. Wenn meine Gefühle mit mir durchgingen, war ich besser nicht unter Menschen. Das hatte mich das Leben schmerzhaft gelehrt.

Also verdrängte ich den lähmenden Gedanken, mit der Arbeit niemals fertig zu werden, schloss den Dolch in den Safe ein, packte Killians Bericht über die Heron-Schatulle in meine Umhängetasche und steckte ein Schild an meine Tür, dass ich für heute weg war und man mir in Notfällen eine Mail schreiben sollte.

Ich wusste jetzt schon, dass ich mindestens eine von Henrietta bekommen würde, die Angst hatte, ihre absolut perfekten Hausübungen doch nicht perfekt gemacht zu haben. Einen winzigen Moment war ich versucht, das Schild wieder abzuhängen.

Die Straßenbahn war um diese Uhrzeit zum Glück nicht so brechend voll wie zu Feierabendzeiten und ich holte mir bei der Feinkostbäckerei vor meinem Wohnblock eine Schachtel mit Keksen. Sie waren so frisch, dass ich die Ofenhitze noch durch den Karton spüren konnte, und sie gaben mir das Gefühl, dass das Leben nicht vollkommen aus den Fugen geraten würde.

Denn selbst wenn die Welt untergehen sollte, ich hatte zumindest Kekse.

Ich erklomm das dunkle Treppenhaus, fuhr mit den Fingerspitzen über den abblätternden Lack auf dem Metallgeländer und kramte in meiner Tasche nach meinen Schlüsseln.

In der Wohnung nebenan lief laut der Fernseher und irgendwo weiter unten weinte das Neugeborene der jungen Frau, die immer meine Pakete annahm. Die Schlüssel klimperten im Schloss und ich schlurfte in die absolute Ruhe meiner Wohnung. Sobald die Tür hinter mir zufiel, wurden alle Geräusche ausgesperrt.

Ruhe. Endlich.

Die kleinen flirrenden Lichter im Flur glommen auf und zogen in glitzernden Schwärmen durchs Halbdunkel. Ich legte die Kekse und meine Schlüssel auf den gemauerten Vorsprung an der Wand und imaginierte mir die Schuhe von den Füßen, um die Schnürung nicht öffnen zu müssen. Dafür hatte ich gerade keine Nerven.

Stöhnend schlurfte ich ins Bad, um mir den Großstadtdreck von den Händen zu waschen, und ließ kurzerhand auch all meine Klamotten im Metakosmos verschwinden, um mich unter die Dusche zu stellen.

Die Laternen entzündeten sich von allein und wurden sanft von den dunkelblauen Kristallfliesen zurückgeworfen, die dadurch den Eindruck erweckten, als wäre der winzige Raum eine unterirdische Kristallhöhle.

Die Raunenranke, die mein Bad bewohnte und sich an die Fugen zwischen den Fliesen klammerte, streckte sich dem heißen Wasserstrahl entgegen und ich musste sie beiseiteschieben, um mir das Shampoo aus den kurzen Locken zu waschen.

Eine der besten Entscheidungen meines Lebens war es gewesen, mir die Haare radikal abzuschneiden. Erstens vergeudete ich so viel weniger Zeit damit, da die ausladende Lockenmähne sehr viel Pflege benötigt hatte. Zweitens hatte ich seitdem kein einziges Bild mehr von mir in der Presse gefunden. Mein Umstyling von der kleinen Prinzessin der Pettra-Dynastie zur schrulligen Universitätsdozentin war also erfolgreich gewesen. Und ich liebte meinen neuen Look, der nur noch von meiner Stimmung bestimmt wurde und kein bisschen mehr von irgendwelchen Modegurus, die mir einreden wollten, dass mein runder Bauch von schicken Korsetts in Form gehalten werden musste.

Die hatten auch immer versucht, mir die Brille auszureden, und mir geraten, die Augen endlich von einer des Heilens mächtigen Person richten zu lassen.

Ich wickelte mich in ein flauschiges Handtuch, das so grün war wie eine Moosdecke, schaltete die Lüftung ein und schnappte mir meine Brille und das große Töpfchen mit Feuchtigkeitscreme. Auf dem Weg ins Wohnzimmer nahm ich meine Umhängetasche und die Kekse mit und imaginierte mir eine heiße Schokolade in einer bauchigen Tasse, inklusive Milchschaum und kleinen Marshmallows in Pastellfarben.

Das Nachmittagslicht schien nur dürftig durch das große Fenster, da die Häuser zu nah beieinanderstanden, und ich zupfte an der karamellfarbenen Leinengardine, um meinem Nachbarn von gegenüber gleich nicht meinen nackten Hintern zu präsentieren. Er stand gerade an seinem geöffneten Fenster, rauchte eine Selbstgedrehte und hob die Hand zum Gruß, als er mich flüchtig zu sehen bekam.

Ich grüßte pflichtschuldig zurück und schloss die Gardine.

Mein Handy versteckte sich so tief in dem Chaos meiner Tasche, dass ich für einen Moment Angst hatte, es in der Uni vergessen zu haben. Doch zum Glück hielt es nur ein Pläuschchen mit einer Serviette aus einem Café, in dem ich letzte Woche ein mittelschlechtes Soufflé gegessen hatte, und dem Handdesinfektionsmittel.

Ich nahm den ersten Schluck Kakao, der süß und dickflüssig über meine Zunge glitt wie ein Kuss, und ließ mich mit einem erlösten Seufzen auf die dunkelgrüne Samtcouch sinken.

Dann wählte ich Maylas Nummer.

Es klingelte dreimal, ehe sie abnahm, und ich stellte sie auf Lautsprecher, um nebenher die Creme aufzuschrauben und mir einen großen Klecks auf die Beine zu geben.

»Kaliip! Du rufst mich an! Mitten am Tag?! Geht die Welt unter?«, erklang Maylas melodische Stimme aus dem Handy und das erste Mal, seit Felix Finell mir eröffnet hatte, dass er mich durch die Zeit schicken wollte, erschien ein Lächeln auf meinen Lippen.

»Noch nicht, aber wir sind nah dran«, antwortete ich ihr und sie gab ein fröhliches Glucksen von sich. »Wo bist du grade? Hast du Zeit?«, wollte ich wissen und verteilte die Creme auf meinen Waden. Ich liebte dieses ölige Gefühl auf der Haut. Es beruhigte mich ebenfalls.

»Perfekter Zeitpunkt. Ich sitze noch locker vier Stunden mutterseelenallein in einem riesigen Privatjet auf dem Weg nach Kaisabo«, erzählte sie mir und ich schüttelte den Kopf. Der Gedanke, dass ihr Jet doppelt so groß war wie meine gesamte Wohnung, hatte etwas Skurriles an sich.

»Was machst du in Kaisabo?«, erkundigte ich mich skeptisch und versuchte, mich daran zu erinnern, was Mayla mir gestern in der fünfundzwanzig Minuten langen Sprachnachricht alles erzählt hatte. Ein Fotoshooting, eine Penthouse-Besichtigung, ein Vertrag für einen Werbespot. Doch ich konnte mich nicht erinnern, dass sie erwähnt hatte, ans andere Ende der Welt zu reisen.

»Ich wurde eingeladen und hab meine Pläne über den Haufen geworfen. Erinnerst du dich an diesen Ölprinzen auf der Gala in Floran?«, fragte sie mich und ich verzog angewidert das Gesicht, denn ich erinnerte mich viel zu genau.

Er war groß gewesen und schleimig und hatte sich ganz schön was auf sein zurecht modelliertes Gesicht eingebildet. Seine Züge waren so gruselig ebenmäßig gewesen wie bei einer Porzellanpuppe. Welche Heilperson da auch immer ihre Finger dran gehabt hatte, war nicht darauf aus gewesen, es natürlich wirken zu lassen.

»Der schleimige Typ, der dir die tausend Rosen geschickt hat und sie, ganz übergriffig, in deinem Zimmer hat aufstellen lassen?«, wollte ich wissen und dachte an das riesige Hotel, in dem das Event stattgefunden hatte. Ich war nur dort gewesen, weil für den Erhalt des Venelanischen Nationalparks gespendet worden war und mein Vater die Eröffnungsrede gehalten hatte.

Und um Mayla zu sehen, natürlich. Das kam sowieso viel zu selten vor.

»Genau der«, bestätigte meine beste Freundin und ich machte ein Würggeräusch, damit sie wusste, was ich von ihm hielt.

»Bitte sagt mir, dass du nicht wegen ihm dort hinfliegst.«

»Ich bitte dich. Ich bin doch nicht geschmacksverirrt«, sagte sie schockiert und ich enthielt mich eines Kommentars. Ich würde diese Aussage nicht für alle von Maylas Eroberungen unterschreiben.

»Und was gibt es da, dass es wert ist, all deine Pläne zu canceln?«, erkundigte ich mich, während ich meine ausladenden Oberschenkel mit Creme einrieb und dabei kontrollierte, ob einer meiner unzähligen Leberflecke größer geworden war.

»Erinnerst du dich an seine Tante?«

»Vage.«

»Klein, zierlich, exzentrischer Hut …« Sie machte eine dramatische Pause. »Witwe«, sagte sie dann und ich riss den Kopf so abrupt hoch, dass meine Kopfschmerzen schlagartig wieder einsetzten.

»Bei den alten Göttinnen, MAYLA!«, rief ich und sie kicherte, als hätte sie heimlich Kuchenteig genascht.

»Alte Göttin triffts gut«, erwiderte sie und ich sollte nicht darüber überrascht sein, was sie mir hier gerade suggerierte – es war schließlich Mayla – aber ich war es.

»Das ist nicht dein Ernst! Auf der Gala? Danach? Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«, bohrte ich nach und sie seufzte viel zu verzückt.

»Es ist nichts passiert, das ich hätte erzählen können. Ich schwöre. Wir hatten nur so … Vibes«, behauptete sie und ich wusste genau, wie ihre »Vibes« für gewöhnlich aussahen. Meistens war dabei ihre Zunge im Mund einer Frau im Spiel.

»Du fliegst für Vibes um die halbe Welt.« Ich blieb skeptisch.

»Es waren eindeutige Vibes.« Ich hörte das Grinsen in Maylas Stimme und konnte geradezu vor mir sehen, wie sie sich den perfekt geföhnten, blonden Pony aus dem Gesicht strich und verschmitzt ihrer eigenen Spiegelung im Flugzeugfenster zuzwinkerte.

»Und hast du das auch deinen drei Millionen Follower:innen auf RealTalk erzählt?«, zog ich sie auf und genoss es, wie unbeschwert dieses Gespräch vor sich hinfloss und wie sehr es mich beruhigte, von Mayla zu hören. Das verringerte das Risiko, dass ich aus Versehen etwas Dummes tat, um ein Vielfaches.

»Das ich vorhabe, eine einsame Frau, süß wie teurer Wein, zu verführen? Sicher nicht! Viele von meinen Follower:innen sind minderjährig«, ging sie darauf ein, auch wenn wir beide wussten, dass ich es nicht ernst gemeint hatte. Wahrscheinlich hatte sie nur die Sache mit dem Wein erwähnen wollen.

Ich schlürfte einen Schluck heiße Schokolade und leckte mir den Milchschaum von der Oberlippe. Meine Hände waren so rutschig, dass mir der Henkel beinahe aus den Fingern glitt.

»Wie rücksichtsvoll von dir«, tönte ich ins Handy und hörte Mayla kichern.

»Ja total. Ich bin ja professionell. Aber meine Follower:innen lieben es, wenn ich sie auf Liveevents mitnehme. Der Ölprinz hat mich fürs Wochenende nämlich auf die Eröffnungsparty seines Fußballstadions eingeladen.«

»Er besitzt ein Fußballstadion?«, fragte ich mit Abscheu in der Stimme. Das wurde ja immer schlimmer.

»Ja, unter anderem. Er hat auch einen Privatjet, den er mir bis nach San Isabela geschickt hat, damit er mich abholt«, erzählte sie mir und ich hielt inne darin, mir den Bauch einzucremen.

»Wie bitte? Er hat dir ein Flugzeug um die halbe Welt geschickt, damit es dich um die halbe Welt zurückfliegt, obwohl du dein eigenes Flugzeug hast?«, präzisierte ich und gestikulierte mit den Händen in der Luft, obwohl Mayla mich gar nicht sehen konnte. Wie überzeugt von sich konnte ein Mann sein?

»Ja«, meinte Mayla lediglich und dieses Wort sagte alles, was sie und auch ich darüber dachten.

Seit sie vom Supermodel zum It-Girl aufgestiegen war, passierten ein Haufen schräger Dinge. Zeitweise sogar zu schräg für uns beide, obwohl wir in fancy Stadthäusern mit Park und riesigen Villen auf dem Land aufgewachsen und allein durch unsere Familiennamen quasi adlig waren.

Imaginator:innen waren die Spitze unserer Gesellschaft. Die Royals, die Stars, die Politiker:innen, die Katastrophenverhinderer:innen. Die, die kamen, wenn die Kacke am Dampfen war, wenn ein Gebäude einstürzte, wenn eine magische Sturmfront einen ganzen Landstrich überflutete, wenn neue Flussläufe für den Erhalt von Eisvögeln geschaffen werden mussten …

Für mich als Historikerin hatte dies immer einen mehr als ironischen Beigeschmack, wenn man bedachte, was unsereins nur ein Zeitalter zuvor so getrieben hatte.

Ich hätte am liebsten vergessen, wie prominent unsere Familien waren. Mayla ging damit hausieren. Jeder hatte seine eigenen Methoden, mit der Öffentlichkeitswirkung unserer imaginatorischen Eltern zu verfahren.

Obwohl Mayla es nicht viel leichter hatte als ich. Sie war als einzige Illusionistin aus einer Dynastie von Imaginator:innen entsprungen. Quasi der Schandfleck ihrer Familie.

So wie ich. Die Tochter des mächtigsten Imaginators seiner Zeit, mit dem magischen Potenzial, die Welt zu verändern, die es nicht schaffte, die Konzentration aufzubringen, um einen einfachen Holzstuhl zu imaginieren, ohne direkt einen ganzen Wald heraufzubeschwören.

»Du weißt schon, dass dieser Knilch was von dir will und ihm das nicht schmecken wird, wenn du ihm die kalte Schulter zeigst und stattdessen seiner Tante schöne Augen machst«, merkte ich vorsichtig an und schmierte mir die weichen Arme ein.

»Kaliip«, sagte Mayla in diesem Tonfall, der meinte, dass sie nicht dumm war und schon wusste, worauf sie sich da einließ.

»Ich will nur, dass du auf dich aufpasst.«

»Mach ich.«

»Ich mein, er hat dir ein ganzes Flugzeug geschickt. Das ist selbst in unseren Kreisen dekadent«, schob ich hinterher und Mayla schnaubte.

»Als wir Teenager waren vielleicht. Jetzt ist das eigentlich keine große Sache mehr.« Mayla gab ein unterdrücktes Lachen von sich. »Es kann ja nicht jeder in einer Pappschachtel hausen«, neckte sie mich und dann hörte ich sie entzückt quietschen. »Oh, Wow! Die Aussicht ist der Wahnsinn. Ich schick dir Fotos!«

»Meine Wohnung ist keine Pappschachtel«, verteidigte ich mich und öffnete ChatFox mit dem Knöchel meines kleinen Fingers, um keine Cremetapser auf dem Bildschirm zu hinterlassen. Die Fotos trudelten gerade ein. Keine Ahnung, wo Mayla sich befand, aber der Sonnenuntergang war spektakulär.

»Dein Leben ist eine Pappschachtel«, machte sie klar und ich hatte schon den Mund geöffnet, um zu widersprechen, doch was hätte ich sagen sollen? Sie hatte recht.

Mein Leben war überschaubar geworden in den letzten fünf bis zehn Jahren. Kleine Wohnung, sicherer Job. Ein nettes Büro und ein unterbezahlter Assistent, ein geregelter Lehrplan und ab und an, wenn ich so richtig wilde Momente hatte, ein Kinobesuch. Ich lebte in der winzigen, unaufgeregten Welt, die ich mir so lange gewünscht hatte.

Und Felix Finell war dabei, mir all das zunichtezumachen. Ich spürte die Enge in meiner Lunge, den Stressknoten unter meinem Brustbein.

»Apropos Schachtel«, sagte ich, um mich selbst abzulenken und es noch ein bisschen hinauszuschieben, Mayla von all dem zu erzählen, was heute geschehen war. Von all dem, was mein kleines, feines Pappschachtelleben gefährden würde.

Ich griff nach den Keksen, die ich vorhin gekauft hatte, öffnete den Deckel und bewunderte das perfekte Arrangement aus hellem Teig, gerösteten Nüssen und cremefarbenen Seidenpapier. Leider waren die Kekse bereits kalt, doch ich holte trotzdem einen mit Macadamia und kleinen weißen Schokoladentropfen heraus und biss genüsslich hinein.

Zucker zerging mir auf der Zunge, feuerte das Belohnungszentrum in meinem Gehirn an und ich seufzte leise.

»Geht der Satz auch weiter?«, wollte Mayla wissen und ich krümelte auf meinen frisch eingecremten Bauch. Bäh!

»Nein.«

»Hast du dir etwa meine Lieblingskekse gekauft?«, japste sie so empört, dass ich lachen musste. Noch mehr Krümel auf meinem Bauch.

Ich sollte mir dringend etwas anziehen.

Doch statt mir Klamotten auszudenken, die ich mir imaginieren konnte, schnappte ich mir eine von meinen weichen, dicken Wolldecken, die in einer Weinkiste neben der Couch lagerten, und wickelte mich darin ein, sodass ich aussah wie eine flauschige, cremefarbene Kugel.

»Du bist ja nicht hier. Du musst zu einer wichtigen Fußballstadioneröffnung.« Der Sarkasmus tropfte mir geradezu aus der Stimme und ich ließ mich tiefer in die Polster meiner Couch sinken.

»Siehe, wie ich dir die Zunge rausstrecke. Das wird voll das krasse Event, klar?! Ich habe ein Kleid von Viviana Northwood. Und ich werde auf einer Ehrentribüne der entzückenden Lady Dalia so tief in die Augen blicken, bis wir den Verstand verlieren, während unter uns vierundzwanzig Spieler schwitzend einem Stück mit Luft gefülltem Leder hinterher hechten.«

»Zweiundzwanzig«, korrigierte ich und stellte mir nicht vor, wie meine beste Freundin die Tante eines Ölprinzen vernaschte.

»Was auch immer«, tat sie meinen Kommentar ab und Glas klirrte leise. »Sag mal, wie schnell wird Alkohol vom Körper abgebaut?«

»Müsste ich recherchieren«, gab ich zurück und ein lautes Geräusch ließ die Verbindung rauschen. Ich nahm stark an, dass es sich um den Korken einer Champagnerflasche handelte.