Love & Lebkuchen - Karin König - E-Book
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Love & Lebkuchen E-Book

Karin König

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Beschreibung

Wenn Liebe nach Lebkuchen schmeckt

Konditorin Kathi und ihre Schwester wollen wie jedes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt ihre traditionellen Lebkuchen verkaufen. Die Einnahmen benötigen sie dringend, denn ihre verstorbene Mutter hat ihnen neben ihrem Café auch einen Berg Schulden hinterlassen. Doch plötzlich taucht ein Konkurrent auf: Simon ist der Erbe einer Bäckereikette, der mit seinen kreativen Rezepten und veganen Lebkuchen schnell viele Fans findet. Und er ist ausgerechnet der gut aussehende Typ, der Kathi auf einer Party einfach sitzen gelassen hat. Beim großen Lebkuchenwettbewerb will sie ihn schlagen und mit dem Preisgeld ihr Café retten. Doch je näher das Finale rückt, desto besser lernt sie Simon kennen und spürt, dass er ihr ähnlicher ist, als sie dachte.

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Seitenzahl: 362

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DASBUCH

»Ich rieche den Stand, bevor ich ihn sehe. Ein süßer Duft nach braunem Zucker, Zimt, Vanille. Hinter der nächsten Ecke taucht er schließlich vor mir auf: Zwischen zwei kleinen Holzhütten, an denen Holzfiguren und Bücher verkauft werden, thront ein Verkaufswagen, der unseren wie eine alte Rostlaube aussehen lässt. Die Holzfassade ist in einem eleganten Dunkelblau gestrichen, die rote Markise mit prunkvollen Lichterketten beleuchtet, die Dekoration minimalistisch, aber stilvoll. Und die Schlange vor dem Tresen lang. An der Außenfassade hängt eine Kreidetafel mit den Angeboten des Tages:

Pumpkin-Spice-Lebkuchen, vegane Zimtsterne, Chai-Taler (vegan)

Dann höre ich eine Männerstimme. Das klingt fast wie … Nein. Das ist völlig unmöglich. Diese Stimme. Dieses Lächeln. Das Grübchen in seiner linken Wange. Auf einmal fallen die Puzzleteile an ihren Platz. ›Simon Bergmüller?‹ Er ist es wirklich. Der Typ aus dem Club.«

DIEAUTORIN

Karin König hat Journalistik studiert, für mehrere Lokalzeitungen geschrieben und ein Volontariat beim WDR absolviert. Aktuell arbeitet sie als Journalistin für den WDR. Wenn sie mal nicht hinter ihrem Laptop sitzt, hat sie meistens ein Buch vor der Nase. Zu ihren liebsten Weihnachtsbackwaren zählen Spekulatius, Vanillekipferl und das Spritzgebäck ihrer Oma. Mehr über Karin König unter www.karin-koenig.com.

KARIN KÖNIG

Love & Lebkuchen

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Michelle Stöger

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

unter Verwendung von © FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-29351-2V001

www.heyne.de

Für Oma Zissi, die das allerbeste Spritzgebäck backt

Kapitel 1

Noch ein paar Zentimeter nach hinten. Da ist noch Platz.«

»Bist du dir ganz sicher?« Meine Schwester Theresa lehnt sich aus dem Fenster des VW-Polos, der vor dem riesigen hölzernen Anhänger wie ein Spielzeugauto wirkt. »Es sieht ziemlich knapp aus.«

Anstelle einer Antwort hebe ich die Augenbrauen und winke energisch.

»Na gut, auf deine Verantwortung.« Ihr Kopf verschwindet wieder im Inneren des Fahrzeugs. Wenige Sekunden später bewegt sich der Anhänger in Zeitlupe weiter auf mich zu.

»Noch ein Stückchen … und Stopp!« Der hintere Reifen kommt genau innerhalb des weißen Streifens zum Stehen, der die Grenze unseres Marktstands markiert.

Eine Autotür schlägt zu, und wenige Sekunden später steht Theresa neben mir, betrachtet ihr Werk mit gerunzelter Stirn. »Muss ich nicht noch ein Stück weiter nach vorne?«

»Du stehst super«, sage ich. »Das hätte ich nicht besser hingekriegt.«

Ihre Mundwinkel zucken. »Hast du nicht erst letzte Woche einen Strafzettel fürs Falschparken bekommen?«

»Möglich. Aber das ändert nichts an meiner Aussage.«

Theresa atmet hörbar aus. »Keine Ahnung, wie Mama das immer geschafft hat. Bei ihr sah es so einfach aus.«

»Stimmt.«

Wir schauen einen Moment schweigend auf unseren Verkaufswagen, der in seinem jetzigen Zustand aussieht wie ein großer Lastencontainer aus dunklem Holz.

»Also dann.« Theresa zieht den Reißverschluss ihres Daunenmantels zu. »Lass uns anfangen.«

Ich reiße meinen Blick los und folge ihr zum Kofferraum des VW-Polos. Um uns herum sind die Aufbauarbeiten schon in vollem Gange. Der Falkenhainer Weihnachtsmarkt ist schließlich das Ereignis des Jahres für unser Dorf, das außer malerischer Wanderrouten in die Voralpen und postkartenkitschiger Straßenzüge nicht viel für Touristen zu bieten hat. Am Freitag vor der offiziellen Eröffnung steht die Zufahrtsstraße zum Marktplatz voller Autos, viele davon mit auswärtigen Kennzeichen. Mitarbeiter der Stadt schmücken die große Tanne in der Mitte des Platzes mit Strohsternen und roten Kugeln und befestigen die letzten Lichterketten an der Rathausfassade. Rechts neben uns bringen unsere Nachbarn gerade die ersten Angebotsschilder an ihren Verkaufsständen an.

Ein Anblick, der mir so vertraut ist wie der Geruch von Zimt und Vanillezucker in unserer Backstube. Alles geht seinen gewohnten Gang, so wie jedes Jahr. Als wäre überhaupt nichts passiert.

Wut steigt in mir hoch wie überkochende Milch.

»Was für ein Chaos«, murmele ich. »Bilde ich mir das ein, oder wird es jedes Jahr schlimmer?«

»Sieht für mich aus wie immer«, antwortet Theresa, während sie an der Anhängerkupplung zieht. Mein Blick schweift immer wieder über das geschäftige Treiben um uns herum. Trotz der Hektik wirken die Standbetreiber gelöst, voller Vorfreude auf die Weihnachtssaison. Die Bewohner der alten Fachwerkhäuser rund um den Marktplatz haben bereits Tannenzweige und Lichtersterne in die Fenster gehängt. Über den Dächern der Häuser erheben sich in der Ferne die mächtigen schneebedeckten Bergkuppen der Alpen. Es sieht so verdammt malerisch aus, dass es beinahe schmerzt.

»Erde an Kathi. Willst du dich auch nützlich machen oder nur rumstehen?«

»Was?«

Meine Schwester deutet auf die Anhängerkupplung. »Der Anhänger. Allein kriege ich das Ding nicht abgekoppelt.«

»Oh, sorry.«

Mit vereinten Kräften trennen wir Auto und Anhänger, dann wirft Theresa mir ihren Autoschlüssel zu. »Ich habe für heute genug hinterm Steuer gesessen. Du parkst um.«

»Jawohl, Sir.« Ich salutiere zackig.

Bevor ich allerdings die Fahrertür öffnen kann, kommt ein Jeep mit Münchener Kennzeichen neben uns zum Stehen: »Theresa! Kathi! Wie schön, euch wiederzusehen!« Eine rundliche Frau mit grau melierten Locken zieht die Handbremse an und hüpft aus dem Wagen.

»Hey, Greta!« Theresa geht ihr entgegen und lässt sich umarmen.

Dann kommen die beiden auf mich zu, und Greta breitet die Arme aus. »Komm her, Liebes.«

Für einen Moment möchte ich nichts lieber, als mich in Gretas geöffnete Arme hineinsinken lassen. Mich wieder fühlen wie das kleine Mädchen, das allein über den Weihnachtsmarkt wanderte und bei der netten Dame mit dem Apfelpunsch Zuflucht fand.

Sie war Mamas engste Freundin. Würde sie mich noch umarmen, wenn sie von unserem Streit wüsste?

»Schön, dich zu sehen.« Ich trete einen Schritt zurück und verschränke die Arme vor der Brust. »Wie war die Fahrt?«

Sie lässt die Hände sinken und mustert mich über den dunkelblauen Rand ihrer Brille hinweg. »Du weißt ja, wie das ist. Der Stau aus München raus ist immer ein Albtraum.«

Ich betrachte die Spitzen meiner braunen Winterstiefel und brumme zustimmend.

Als die Stille zu lang wird, antwortet meine Schwester: »Aber jetzt bist du ja hier.«

Gretas Lächeln kehrt zurück. »Genau. Hier und bereit, diese Stadt vier Wochen lang mit erlesenem Alkohol zu versorgen.«

Greta Siebert ist Anfang sechzig und betreibt eine erfolgreiche Weinhandlung am Rand von München in dritter Generation. Aber im Dezember übergibt sie die Ladenleitung an ihren Sohn und verkauft Punsch und Glühwein auf dem Falkenhainer Weihnachtsmarkt, so wie schon ihre Großeltern, die von hier kamen. Mama hat immer gesagt, ohne Greta, die oft auf uns aufgepasst und ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat, hätte sie es vor zwanzig Jahren niemals geschafft, unseren Stand zu eröffnen, frisch geschieden und mit zwei kleinen Kindern.

Als wüsste sie, woran ich gerade denke, verdunkelt sich Gretas Gesicht. »Es tut mir so leid, Kinder. Eure Mutter … Ein Herzinfarkt, einfach so. Ich … ich kann das noch immer nicht wirklich glauben.« Sie greift nach unseren Händen und drückt sie.

Es schnürt mir die Luft ab. »Danke«, würge ich hervor und ziehe die Hand zurück. »Wir auch nicht.«

»Es kam völlig unerwartet. Als ich es vom alten Benno gehört habe, dachte ich erst, jetzt ist er völlig verrückt geworden.« Greta schüttelt den Kopf.

»Wir hätten dir Bescheid sagen sollen«, sagt Theresa. »Aber es gab so viel zu erledigen mit dem Café. Und das Pfarramt konnte uns nur ein sehr enges Zeitfenster für die Beisetzung anbieten.«

Es ist dieselbe Geschichte, die sie seit Wochen erzählt, unseren Nachbarn, den Stammkunden, Mamas Freunden aus dem Ort. Dabei ist es nicht mal die halbe Wahrheit.

Tatsächlich kann ich mich kaum an die Tage direkt nach ihrem Tod im September erinnern. Formulare mussten ausgefüllt, Anrufe bei Ämtern getätigt, ein Sarg bestellt, ein Pfarrer informiert werden. Dazwischen sind große schwarze Lücken in meiner Erinnerung. Tage, an denen ich einfach wie ein Roboter funktioniert habe. Theresas Version klingt besser, einfacher. Deshalb mache ich mir nie die Mühe, sie zu korrigieren.

»Das verstehe ich.« Greta presst die Lippen zusammen. »Macht euch um mich keine Gedanken, Kinder.« Die Anteilnahme in ihrem Blick kriecht mir durch den Mantel direkt unter die Haut. »Wenn ihr irgendetwas braucht, dann meldet euch einfach, ja? Es muss schwer sein heute, so ohne sie.«

Ich wende mich ab. »Entschuldige, aber ich muss noch das Auto umparken.«

»Tut mir leid«, murmelt Theresa hinter mir. »Sie ist gerade einfach …«

Ich höre nicht weiter zu, reiße die Tür auf und starte den Wagen. Von einer schnellen Flucht kann allerdings keine Rede sein, denn der gesamte Marktplatz steht voller Autos. Es dauert eine Weile, bis ich mich durchgeschlängelt habe und einen Parkplatz in einer kleinen Seitengasse finde. Dort stelle ich den Motor ab und lasse mich langsam zurück in den Sitz sinken.

Ich weiß, ich hätte die beiden nicht einfach stehen lassen sollen. Greta will nur nett sein, und Theresa … Für sie ist es genauso schwer wie für mich.

Aber jedes Mal, wenn uns jemand sein Beileid ausspricht, fühle ich mich wie eine Heuchlerin. Niemand weiß, wie Mama und ich auseinandergegangen sind. Nicht mal meine Schwester.

Die Turmuhr des Rathauses schlägt dreimal. In knapp zwei Stunden ist es dunkel. Es ist an der Zeit, mich zusammenzureißen. Ich atme tief durch, setze ein Lächeln auf und steige aus dem Auto.

Als ich wieder an unserem Verkaufswagen ankomme, ist Greta bereits weg. Ich spüre einen Hauch von Erleichterung, dicht gefolgt von einem schlechten Gewissen.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt Theresa in diesem bewusst neutralen Tonfall, den ich bis vor ein paar Wochen nicht kannte. Als wäre ich eine zerbrechliche Vase, die bei der kleinsten Erschütterung in tausend Teile zerspringt.

»Klar.« Ich nicke. »Alles super. Wollen wir jetzt endlich anfangen?«

Ein Grinsen huscht über ihr Gesicht. »Wir fangen an.«

Zuerst öffnen wir die große Holzklappe an der Frontseite des Wagens und befreien sie von Spinnweben, dann bringen wir den holzverkleideten Innenraum des Wagens auf Vordermann. Neben dem kleinen Ofen an der Rückwand, mit dem wir frisch auf dem Markt backen können, befinden sich Regale und Schränke für unsere Backzutaten, auf denen sich seit dem letzten Weihnachtsmarkt der Staub gesammelt hat. Der Innenraum ist gerade groß genug, dass sich zwei Erwachsene darin bewegen können, aber Theresa und ich kennen den Reinigungsablauf so genau, dass wir ihn auch blind durchführen könnten, ohne zusammenzustoßen. Sie beginnt von oben, ich von unten, und gemeinsam arbeiten wir uns mit bunten Putzlappen bewaffnet systematisch von beiden Enden des Wagens aufeinander zu. Als Nächstes polieren wir die Glasscheiben der Auslage, bis wir uns darin spiegeln können. Dass wir Schwestern sind, würde man auf den ersten Blick nicht vermuten. Alles an Theresa – ihre schulterlangen blonden Haare, die hohe Stirn, die grünen Augen – erinnert an Mama. Sie hat ihre Grübchen an der rechten Wange, ihre kleine Statur. Ich dagegen komme eher nach unserem Vater mit meinen braunen Locken, Sommersprossen, der etwas zu großen Nase und meinen fast 1,80 m Körpergröße. Zumindest suggerieren das die wenigen Fotos, die Mama von ihm aufgehoben hat, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Ich war gerade mal ein Jahr alt, also erinnere ich mich nicht an ihn. Aber das hat uns nie wirklich interessiert. Er wollte uns nicht, also wollten wir ihn auch nicht, und meine Kindheit in unserer Dreier-WG habe ich in guter Erinnerung. Der einzige Mann in unserem Leben war Mamas Vater, Opa Albert, bis er vor sieben Jahren gestorben ist. Seitdem sind es nur Mama, Theresa und ich.

Oder zumindest waren wir das bis vor Kurzem.

Nachdem die Glasscheiben blitzblank sind, wenden wir uns dem Staub auf der Arbeitsfläche am Kopfende des Wagens zu.

»Das sollten wir wirklich öfter machen«, murmelt Theresa zwischen zwei Niesanfällen. »Anstatt den Wagen den ganzen Sommer einfach in der Scheune von Bauer Nolte stehen zu lassen.«

»Keine schlechte Idee«, antworte ich. »Das alte Schätzchen kann definitiv etwas mehr Liebe vertragen.« Mit seiner Fassade aus dunklem Eichenholz und den von Mama selbst gefertigten kunstvollen Schnitzverzierungen an den Seiten des Verkaufsfensters ist unser Wagen definitiv ein Unikat auf dem Markt. Ich klopfe auf das Holz und wirbele dabei kleine Staubwolken auf.

Theresa niest noch mal. »Vielleicht ist es auch langsam Zeit, dass wir auf eine dieser kleinen Holzbuden umsteigen.«

»Wie bitte?« Ich lasse meinen Lappen sinken.

Meine Schwester zuckt mit den Schultern und wendet sich der nächsten Oberfläche zu. »Na ja, die Stadt vermietet sie günstig, sie sind leicht aufzubauen, praktisch …«

»Seelenlos meinst du wohl. Unser Wagen hat Tradition!«

»Schon. Aber nach fast dreißig Jahren …«

»… ist er immer noch unser Markenzeichen.« Mamas Markenzeichen, will ich eigentlich sagen. Alles an diesem Wagen, von dem dunklen Holz, das sie über die Jahre so gut gepflegt hat, dass es immer noch wie neu aussieht, über die von ihr selbst gebauten Regalbretter bis zu den Holzverzierungen erinnert an sie.

Theresas Schultern versteifen sich. »Ja, natürlich.« Sie legt den Staublappen beiseite und wechselt das Thema. »Gibst du mir bitte das Stromkabel? Ich suche schon mal nach dem richtigen Anschluss.«

»Klar, kein Problem.«

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, atme ich langsam aus. Eigentlich sollte mich ihr Vorschlag nicht überraschen. Schließlich habe ich Mama genau dieselben Argumente vorgelegt.

Hat Theresa uns etwa doch gehört?

Dieser Gedanke verfolgt mich seit Wochen. Dabei ist das ausgeschlossen, sonst hätte sie längst etwas gesagt.

Oder?

Bei der Vorstellung steigt Übelkeit in mir hoch.

Nein. Unmöglich. Sie hatte einfach zufällig dieselbe naheliegende Idee. Die wir sofort wieder verworfen haben.

Nach ein paar tiefen Atemzügen wende ich mich der Kiste mit den Backzutaten zu. Den Großteil des Gebäcks, die Zimtsterne, Vanillekipferl, Kokosmakronen und Nussecken, bereiten wir am Vorabend in der Backstube unseres Cafés zu, aber unsere Lebkuchen backen wir jeden Tag frisch auf dem Weihnachtsmarkt. Darauf war Mama immer besonders stolz. So stolz, dass sie sich jedes Jahr mit dem Ordnungsamt angelegt hat, das in unserem kleinen Ofen eine Brandgefahr sah. Dieses Jahr hat Theresa sich um die Genehmigung gekümmert.

Neben Mehl, Backpulver und Zucker wandern Dosen mit Zimt, Kardamom, Anis und Vanille in die Regale. Ein süßer, weihnachtlicher Duft breitet sich im Inneren des Wagens aus, und ich fühle mich gleich besser.

Draußen testet jemand die Lautsprecheranlage. Nach ein paar Sekunden statischen Rauschens ertönen die ersten Takte von »Last Christmas«.

Mit neuem Elan und einem frischen Lappen nehme ich mir den Schmutz im Backofen vor und summe Whams’ Klassiker mit.

Last Christmas, I gave you my heart. But the very next day, you gave it away.

Genau deshalb sollte man sein Herz am besten behalten. Sonst verliert irgendein Idiot es auf der Bahnstrecke zwischen Falkenhain und München, weil ihm eine Stunde Fahrzeit »zu lang« ist.

Ich schrubbe heftiger. Noch bevor der Song endet, glänzt der Ofen beinahe wie neu. Dann drehe ich testweise den Schalter um. Nichts passiert.

»Mmh. Seltsam.«

Ich versuche es noch mal, aber der Ofen bleibt aus. Hat Theresa den Anschluss immer noch nicht gefunden?

Ich stütze die Unterarme auf die Verkaufstheke und lehne mich nach draußen. Mittlerweile hat die Dämmerung eingesetzt, und die Straßenlaternen werfen ihr warmes Licht auf den Marktplatz. Menschen eilen mit Kisten bepackt umher, verteilen dekorative Tannenzweige und Lichterketten, stolpern über Stromkabel und räumen Waren ein.

»Die Marktleute sind wie eine große Familie«, hat Mama immer gesagt, wenn sie das bunte Treiben beobachtete. Ohne sie fühlt es sich seltsam farblos an.

Ich recke den Hals und entdecke meine Schwester, die auf dem Weg zum Stromverteiler Josef und Susanne getroffen hat. Die beiden Standbesitzer kommen aus Bayreuth und verkaufen hier seit über zwanzig Jahren handgefertigte Krippenfiguren. Dieses Gespräch kann noch dauern.

Also fange ich schon mal mit der Dekoration an. Über hundert Kugeln und zwanzig Meter Lichterkette warten darauf, in und an unserem Wagen angebracht zu werden. Früher war das der schönste Teil der Vorbereitungen, denn es war die erste Aufgabe, die ich ganz allein übernehmen durfte. Während Theresa, knapp vier Jahre älter als ich, schon beim Putzen und Sortieren helfen musste, übertrug Mama mir die Verantwortung für die Deko.

»Es darf ruhig bunt und verrückt aussehen«, hat sie gesagt, bevor sie mir mit sieben Jahren zum ersten Mal die Kiste mit den Kugeln überreichte. »Am wichtigsten ist, dass es den Leuten Freude macht. Sie sollen unseren Wagen sehen und daran erinnert werden, dass bald Weihnachten ist.«

Fotos aus den ersten Jahren lassen mich zweifeln, ob ich in der Grundschule wirklich schon einen Blick für stimmige Farbkonzepte hatte. Aber egal, wie abenteuerlich meine Kreationen wurden, Mama veränderte nie etwas daran.

Ich öffne die erste Kiste. Die Deko dieses Jahr muss perfekt werden. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.

Ganz oben liegen Schachteln mit handgeblasenen Weihnachtskugeln in Rot und Gold. Ich platziere die Kugeln vor mir auf der Arbeitsfläche und überlege, wo sie am besten zur Geltung kommen würden. Erfolglos. Dasselbe gilt für die silbernen Sterne und die kleinen Strohkränze in der nächsten Schachtel. Mama hat oft gesagt, ich wäre das kreative Talent der Familie. Ob es um die Tischdeko im Café oder die Entwicklung eines neuen Kuchenrezepts geht, ich liebe den Prozess des Ausprobierens. Diesen Moment, wenn nach zehn Fehlversuchen auf einmal alles an den richtigen Platz fällt. Meistens sehe ich mein Ziel schon bei der ersten Zutat, dem ersten Handgriff vor meinem inneren Auge. Aber heute ist mein Kopf wie leer gefegt.

Ich verteile ein paar rote Kugeln in der Auslage, dann sammle ich sie wieder ein. Als Nächstes binde ich Tannenzweige mit dicken Samtschleifen zu einer Girlande und befestige sie unter der Decke. Betrachte das Ergebnis. Nehme sie wieder ab.

Mit jedem missglückten Handgriff steigt meine Anspannung. Die Musik hat mittlerweile zu einer Popversion von »Santa Baby« gewechselt, und die hohe Stimme der Sängerin zerrt an meinen Nerven.

Natürlich könnte ich einfach das Design vom letzten Jahr wiederholen. Aber das hat es noch nie gegeben, also werde ich jetzt bestimmt nicht damit anfangen.

Vielleicht hätte ich Melanie nicht absagen sollen. Jetzt könnte ich ihren kreativen Kopf und scharfen Blick gebrauchen. Aber als sie mir am Mittwochabend in der Weinstube ihre Hilfe angeboten hat, kam mir das falsch vor.

Ich muss das dieses Jahr allein machen.

Als Theresa eine halbe Stunde später zurückkommt, kämpfe ich immer noch mit der zweiten Lichterkette.

»Brauchst du noch lange? Wir sind noch auf einen Punsch bei Greta eingeladen, zum Start der Saison.«

»Ich hab’s gleich«, murmele ich, eine Rolle Klebeband zwischen den Zähnen, während ich die Lichterkette an der Decke fixiere. Der Hocker unter mir wackelt gefährlich.

»Komm, ich helfe dir.« Meine Schwester greift nach der Kiste mit den Strohsternen und hebt den Deckel hoch.

»Nein!«

Überrascht hält sie inne. »Wieso nicht?«

»Deko ist meine Aufgabe, okay? Ich kriege das schon hin.«

»Okay, okay, schon gut.« Sie lässt den Deckel sinken.

»Ich meine ja nur …«, setze ich an, breche wieder ab. »Ich meine ja nur, dass du ruhig schon vorgehen kannst. Sag Greta, ich komme gleich nach.«

Theresa schüttelt den Kopf. »Kein Problem, sie ist selbst noch nicht ganz fertig. Dann fange ich schon mal mit der Bilanz der letzten Woche an.« Sie zieht ihr grünes Notizbuch aus der Tasche und zückt einen Kugelschreiber. Trotzdem kann ich das Gefühl nicht abschütteln, dass sie mich immer wieder aus den Augenwinkeln beobachtet.

Ich drehe ihr den Rücken zu und greife nach der nächsten Lichterkette.

»Wenn das nicht meine Lieblingslebkuchenbäckerinnen sind!«

Theresa und ich wirbeln herum. Ich verliere beinahe das Gleichgewicht und kann mich erst in letzter Sekunde an der Wand abstützen.

»Claudia! Willst du mich umbringen?«

Die Angesprochene stützt sich mit dem Ellenbogen auf die Verkaufstheke. »Wo sollte ich denn dann meine Lebkuchen herbekommen? Glaubst du, ich bin für die charmante Gesellschaft hier?« Claudia Grautstück ist mit ihren einundfünfzig Jahren fast doppelt so alt wie ich, aber das sieht man ihr mit ihren dunkelroten Haaren und bunten Outfits nicht an. Sie führt eine kleine Nähstube zwei Dörfer weiter und beharrt darauf, dass sie den Weihnachtsmarkt hasst: zu viele Menschen, zu viel Glühwein, zu laute Musik. Trotzdem ist sie jedes Jahr wieder hier und versorgt die Besucher ein paar Stände weiter mit kunstvoll bestickten Kleidungsstücken. Und uns mit dem neuesten Tratsch.

»Aber mal im Ernst: Wie geht es euch, Kinder?«

Sie war einer der wenigen Menschen aus der Umgebung, die irgendwie von Mamas Tod erfahren haben. Manchmal glaube ich, zwischen hier und München passiert nichts, was sie nicht weiß. Sie hat uns Blumen und eine Karte geschickt. Wir haben nicht geantwortet.

»Du weißt schon. Muss ja.« Ich presse die Lippen zusammen, bete für einen Themenwechsel. Sie schaut zwischen uns hin und her, dann räuspert sie sich. »Habt ihr eigentlich schon das Neueste gehört? Sie haben mich dieses Jahr ausgerechnet gegenüber von Jacques platziert.«

»Das gibt’s doch nicht.« Ich fasse mir mit der Hand an die Brust. »Der gut aussehende Goldschmied, auf den du schon seit Jahren ein Auge wirfst?«

Sie funkelt mich an. »Der albern grinsende Exilfranzose, der sich für sehr charmant hält und nie die Klappe halten kann. Der wird mir all meine Kunden mit seinem Gerede vergraulen!«

Theresa und ich tauschen einen wissenden Blick. Claudia zieht einen Flyer aus der Tasche und knallt ihn auf den Tresen. »Ein Auge geworfen, pff! Wie dem auch sei. Das hier sind viel interessantere Neuigkeiten. Das Falkenhainer Tourismusbüro hat einen großen Fisch an Land gezogen. Wäre das nicht was für euch?«

Theresa zieht den Flyer zu sich heran und liest die Überschrift vor:

Auf der Suche nach den besten Lebkuchen Bayerns. Ein Wettbewerb der Konditoren-Innung Bayern.

Ich werde hellhörig. »Die besten Lebkuchen Bayerns? Die haben wir, keine Frage. Was muss man da machen?« Meine Schwester schlägt den Flyer auf, liest schweigend weiter.

»Und?« Ich versuche, ihr von meiner Position auf dem Hocker über die Schulter zu schauen. »Was steht da?«

»Viele schöne Worte und ein großer Haken.« Sie reicht mir den Flyer weiter. »Es gibt eine Teilnahmegebühr.«

Ich klettere vom Hocker und überfliege den Text, in dem von einem landesweiten Wettbewerb die Rede ist. Das Finale soll am 4. Advent genau hier, auf dem Falkenhainer Weihnachtsmarkt, stattfinden. Dem Gewinner winken ein großzügiges Preisgeld und eine einjährige Kooperation mit einem großen Münchener Sterne-Hotel. Mein Herz klopft schneller. Bis ich auf der letzten Seite ankomme.

Um die Qualität unserer Bewerber zu sichern, erheben wir eine Teilnahmegebühr von 500 Euro.

Ich lasse den Flyer sinken. »So viel? Was soll das denn?«

Claudia zuckt mit den Schultern. »Das Excelsior Hotel ist eine erstklassige Adresse. Die Konditoren-Innung will wahrscheinlich verhindern, dass sich irgendwelche selbst ernannten Hobbybäcker bewerben.«

»Mmh.« Ich reiche ihr den Flyer zurück. »Ganz schön hochnäsige Haltung. Aber so viel sind fünfhundert Euro auch wieder nicht …«

»Das sieht unser Konto leider anders.« Theresa wedelt mit ihrem Notizbuch. »So viel haben wir nicht mal eben übrig.«

»Ich bin ja mal sehr gespannt, wer sich da so bewirbt«, sagt Claudia. »Oh, und da fällt mir gerade ein, wisst ihr schon von …«

»Madame Seibelt. Immer eine Freude, Sie wiederzusehen, Frau Nachbarin.« Ein Mann mit dunkelbraunem Bart und karierter Pudelmütze bleibt neben unserem Stand stehen und deutet eine Verbeugung an.

»Jacques.« Claudias Stimme wird kühl. Er lässt sich davon nicht beirren, schenkt ihr ein strahlendes Lächeln. »Wo wir doch jetzt Nachbarn sind, darf ich Sie auf einen kleinen Begrüßungspunsch einladen?«

Sie wird so rot wie ihre Haare. »Ich hab leider noch viel zu tun. Bis später, Kinder.«

Wir sehen ihr zu dritt nach, wie sie in der Menge der aufbauenden Händler verschwindet. »Weiterhin frohes Schaffen, die Damen.« Jacques tippt sich an die Stirn, dann geht er in die andere Richtung davon.

Theresa und ich schauen uns an und prusten los. »Na, das kann ja noch heiter werden.«

»Ich befürchte das Schlimmste.«

Sie wendet sich wieder ihrem Notizbuch zu. Die Lichterkette in meiner Hand blinkt anklagend. Ich unterdrücke ein Seufzen und nehme die Herausforderung an.

Eine halbe Stunde später sind die Dekokisten leer. Obwohl ich am liebsten alles wieder abnehmen und noch mal von vorne beginnen würde, betrachtet Theresa mein Werk mit einem wohlwollenden Nicken.

»Na bitte, geht doch.« Sie öffnet die oberste Schublade unter der Verkaufstheke und holt einen kleinen silbernen Schlüssel heraus. »Zeit für die Beleuchtungsprobe.«

»Muss das wirklich sein?«

»Wir sollten überprüfen, ob alle Lichterketten funktionieren«, antwortet sie, ohne mich anzusehen. »Zur Sicherheit.« Sie öffnet die Tür und steigt die drei Treppenstufen am Eingang des Wagens hinunter. Ein metallisches Klicken ertönt, dann quietscht die Holztür des Sicherungskastens beim Vorderrad.

Ich atme langsam aus und blinzele ein paarmal gegen die aufsteigenden Erinnerungen. Dann folge ich ihr nach draußen. Mit dem Sonnenuntergang ist die Temperatur um mehrere Grad gefallen. Mein Atem bildet kleine Wölkchen, und ich ziehe den Reißverschluss des Wintermantels höher.

Theresa kniet vor der geöffneten Klappe, die Finger über der Sicherung für die Beleuchtung. Eine Sekunde vergeht, dann noch eine.

»Bist du bereit?«, fragt sie, genau wie Mama es immer gemacht hat.

Nein. Ich bin nicht bereit.

»Leg los.«

Meine Schwester steckt die Sicherung ein, und der Wagen leuchtet auf. Das warme Licht Hunderter kleiner Glühbirnen reflektiert in den bunten Glaskugeln und bringt die Strohsterne zum Strahlen. Genau so soll es aussehen. Ich bekomme eine Gänsehaut.

»Wow.« Meine Schwester lässt die Klappe des Sicherungskastens offen und stellt sich neben mich.

Für einen Moment betrachten wir mein Werk schweigend. Ich riskiere einen Seitenblick, aber Theresas Gesicht verrät nichts über ihre Gefühle.

Sie bemerkt es und räuspert sich »Das wäre schon mal geschafft.« Ihre Stimme zittert für einen Moment.

Ich greife nach ihrer Hand, drücke sie.

»Denkst du, es würde ihr gefallen?«

»Ich …« Meine Kehle ist auf einmal wie zugeschnürt. Bis vor Kurzem dachte ich, ich wüsste, wie Mama denkt. Dass wir immer einer Meinung sein würden. Aber ich habe mich geirrt. Und jetzt kann ich diesen Irrtum nie wiedergutmachen.

»Ich hoffe es.«

Theresa schluckt. »Ich auch.« Dann löst sie sich von mir und zieht die Sicherung heraus.

In der plötzlichen Dunkelheit tanzen helle Lichtflecken auf meiner Netzhaut. Ich räuspere mich. »Punsch?«

»Punsch.«

Wir bahnen uns einen Weg durch die Menschenmenge, die sich bereits vor Gretas Stand versammelt hat. Alle paar Meter werden wir von einem bekannten Gesicht aufgehalten.

»Kinder, wie schön, euch zu sehen! Ich freue mich schon seit Wochen auf eure frischen Lebkuchen.«

»Sieh an, die Schwestern Lindenthal. Immer noch in ihrem schönen Holzwagen, wie ich sehe. Wie laufen die Geschäfte?«

»Mensch Kathi, hätte dich fast nicht erkannt! Bist du etwa schon wieder gewachsen?«

Es folgen herzliche Umarmungen, enthusiastisches Händeschütteln und augenzwinkernde Bemerkungen über mein Wachstum. Viele Standbetreiber kommen seit Jahrzehnten zum Falkenhainer Weihnachtsmarkt und kennen uns, seit ich laufen kann. Deshalb lasse ich diese Kommentare lächelnd über mich ergehen, auch wenn ich mit sechsundzwanzig definitiv nicht mehr wachse.

Was danach kommt, ist schwieriger zu ertragen.

»Mein herzliches Beileid.«

»Ich war wirklich geschockt, als ich es gehört habe.«

»Das muss schwer für euch sein, ohne sie aufzubauen.«

Sie meinen es alle nur gut. Trotzdem zieht jede Beileidsbekundung den Knoten in meiner Brust ein Stückchen enger.

Ich atme auf, als wir an der Theke ankommen.

»Da seid ihr ja endlich!«, ruft Greta uns entgegen. »Apfel-Zimt-Punsch, wie immer?«

Wenig später halten wir zwei dampfende Tassen in der Hand. Das Porzellan wärmt meine steifen Finger, und der Duft nach Zimt und Nelken hüllt mich ein wie eine tröstende Umarmung. Kurz darauf gesellt sich auch Claudia dazu, nachdem sie sich vergewissert hat, dass Jacques nicht in der Nähe ist. Als alle Anwesenden mit Getränken versorgt sind, stellt Greta sich zu uns und schenkt sich ebenfalls eine Tasse Punsch ein. »Seid ihr gut vorbereitet?«, fragt sie zwischen zwei Schlucken. »Für die neue Konkurrenz?«

Meine Schwester runzelt die Stirn. »Wovon sprichst du?«

Claudia stellt ihre Tasse ab. »Das wollte ich euch eben noch erzählen. Habt ihr noch nichts von den Bergmüllers gehört?«

»Bergmüller?« Theresa wirft mir einen fragenden Seitenblick zu. Ich schüttele den Kopf. »Nie gehört. Wer soll das sein?«

»Eine große Unternehmerfamilie aus München.« Claudia senkt die Stimme. »Ihr Stand ist in der letzten Reihe, direkt neben dem Teeladen vom alten Benno.«

»Da war doch immer Roswitha mit ihrer kleinen Backstube.« Ich runzele die Stirn.

»Tja, jetzt nicht mehr. Ihr wisst ja, für Roswitha war die Standgebühr immer schon schwer zu stemmen. Letztes Jahr liefen die Geschäfte schlechter, und dann wurden die Gebühren auch noch erhöht.«

»Ja, das haben wir alle mitbekommen«, murmelt Greta naserümpfend in ihre Tasse.

»Roswitha konnte sich den Platz einfach nicht mehr leisten. Und die Bergmüllers haben ihre Beziehungen spielen lassen, um ihn zu bekommen.« Claudia streicht sich gewichtig die Haare aus der Stirn. »So heißt es zumindest.«

»Aber Roswitha hat auf dem Markt immer den Großteil ihrer Einnahmen für den Winter gemacht. Sie braucht den Platz hier, vor allem, wenn sie eh schon finanzielle Probleme hat!«, protestiere ich.

Claudia seufzt. »Das musst du mir nicht sagen. Aber Familie Bergmüller glaubte offenbar, dass sie ihn dringender braucht.«

Ich stelle meine Tasse so ruckartig ab, dass heißer Punsch auf meine Finger schwappt. »Was glauben die, wer sie sind?«

»Was genau verkaufen sie?«, schaltet Theresa sich dazwischen.

»Backwaren aller Art. Zimtsterne, Nussecken, Eierplätzchen, die ganzen Klassiker. Ihre Spezialität sind allerdings … Lebkuchen.« Claudia schüttelt den Kopf. »Ich will mir gar nicht ausmalen, was eure Mutter dazu gesagt hätte.«

»Ich kann mir Claras Reaktion lebhaft vorstellen«, sagt Greta düster.

Noch während sie spricht, zücke ich mein Handy und tippe den Namen Bergmüller in die Suchzeile. Innerhalb weniger Sekunden lande ich auf der Homepage einer Münchner Café-Kette. Minimalistisch eingerichtete Innenräume, pastellfarbene To-go-Becher, Matcha-Lattes auf der Getränkekarte.

Genau das, was Mama für unser Café Lindenthal nicht wollte.

»Guckt euch das an.« Ich drehe mein Handy so, dass die anderen den Bildschirm sehen können. »Dafür haben sie Roswitha den Platz weggenommen!« Wut brandet in mir auf. Es fühlt sich gut an. »Wenn sie glauben, dass sie mit diesem Hipster-Zeug in Falkenhain überzeugen können, haben sie sich geirrt.«

»Das werden am Ende die Kunden entscheiden«, sagt Theresa. Sie klingt ungerührt, aber ihre Finger umklammern die Tasse so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. »Was gibt es sonst noch über diese Familie zu wissen?«

»Nicht viel«, sagt Greta. »Sie führen eine gut laufende Bäckereikette in München und Umgebung, mehrere Restaurants und eine Werbeagentur. Einer der Söhne ist vor Kurzem nach Falkenhain gezogen. Siegfried oder Simon oder so was. Er ist es auch, der den Stand hier eröffnet.«

So beiläufig wie möglich schaue ich über meine Schulter. »Ist er hier?«

Claudia schüttelt den Kopf. »Bisher hat ihn noch niemand so richtig zu Gesicht bekommen.«

»Wahrscheinlich ist es unter seinem Niveau, mit den einfachen Standbetreibern Punsch zu trinken.«

Theresa wirft mir einen Blick zu. »Nicht alle Städter sind arrogante Arschlöcher.«

»Bisher habe ich noch keine anderen kennengelernt«, murmele ich in meine Tasse.

Greta hebt die Augenbrauen.

»Anwesende ausgenommen.«

»Mach dir keine Gedanken, Mädchen«, antwortet sie. »Wir werden ja noch sehen, was das für einer ist. Ich für meinen Teil werde meine Lebkuchen jedenfalls weiterhin in der Konditorei meines Vertrauens kaufen.« Sie hebt grinsend ihre Tasse, und ich stoße meine dagegen.

»Ich natürlich auch.« Claudia macht es uns nach. »Alle für einen, oder wie war das?«

Theresa bleibt ernst. »Hoffen wir mal, dass unsere Kunden das genauso sehen werden.«

»Ganz bestimmt«, sage ich. »Ausgeschlossen, dass irgendein Münchener Schnösel an Mamas Lebkuchenrezept herankommt.«

Meine Schwester nimmt noch einen Schluck Punsch. »Wahrscheinlich hast du recht.«

Greta räuspert sich und hebt ihre Tasse: »Auf Clara Lindenthal!«

Köpfe drehen sich in unsere Richtung, Unterhaltungen verstummen. Dann werden um uns herum weitere Tassen in die Luft gehoben, zehn, zwanzig, dreißig. Ein Chor von Stimmen antwortet: »Auf Clara Lindenthal!«.

Ich könnte schwören, dass sie in diesem Moment hier ist.

Wir werden dich nicht enttäuschen, verspreche ich ihr im Stillen. Ich werde dich nicht enttäuschen. Nicht noch einmal.

Kapitel 2

Ach, ich freue mich ja so, dass es heute endlich wieder losgeht!«, sprudelt Hildegard Prantl. Mit ihrem quietschpinken Wintermantel und dem selbst gestrickten grünen Wollschal zieht sie am Samstagmorgen die Blicke aller Besucher des Café Lindenthal auf sich. »Der November ist ja so ein scheußlicher Monat, so grau und kalt. Aber wenn am dreiundzwanzigsten erst mal der Weihnachtsmarkt anfängt, ist das Schlimmste überstanden, stimmt’s, Bertie?«

»Mmh?« Bertram Prantl, der gerade unseren Zeitungsständer sondiert, schaut auf. Als er den Blick seiner Frau auffängt, nickt er eilig. »Ja, absolut. Du hast recht, mein Schatz.«

Ich verkneife mir ein Grinsen. »Heute Morgen wieder das Übliche, Frau Prantl?«

»Das wäre wunderbar, meine Liebe.« Hildegard lehnt sich zu mir über die Theke und flüstert: »Aber den Kuchen lassen Sie weg, ja? Wir wollen ja nachher noch auf den Weihnachtsmarkt gehen. Und der Arzt hat gesagt, Bertie soll auf seinen Zucker achten.«

Ich antworte ebenso leise: »Wird gemacht.«

Sie zwinkert mir verschwörerisch zu.

Während ich ein Vollkornbrot und zwei Croissants in eine Tüte packe, fahre ich in normaler Lautstärke fort: »Ich hoffe doch, dass wir Sie heute Nachmittag wiedersehen. Der Markt eröffnet um 16 Uhr, und wir stehen wie jedes Jahr direkt neben Claudia Grautstücks Nähstand.«

»Ganz bestimmt. Wir lieben Ihre Lebkuchen, der Bertie und ich. Nicht wahr, Schatz?«

Ihr Mann ist mittlerweile im Sportteil der Lokalzeitung versunken. »Was? Jaja, ganz genau.«

»Wollen Sie die Zeitung einfach mitnehmen? Wir haben noch genug davon, und die kauft sowieso nie jemand.«

Bertram wirft seiner Frau einen schnellen Seitenblick zu. »Wenn das so ist, gerne!«

Frau Prantl lässt ein großzügiges Trinkgeld in unser Sparschwein fallen, dann klemmt sie sich ihre Tüten unter den Arm und hakt sich bei ihrem Mann unter. »Bis später, meine Liebe.«

Als die Tür klingelnd ins Schloss fällt, taucht Theresa in der Seitentür auf, die in die erste Etage zu unserer Wohnung führt. Seit Mamas Tod leben wir dort nur noch zu zweit, was sich auch nach fast vier Monaten immer noch falsch anfühlt. Dafür brauche ich nur ungefähr zwei Minuten aus meinem Bett hinter die Ladentheke.

»Wir sind nicht wirklich in der finanziellen Position, um Zeitungen zu verschenken. Durch die Extra-Bestellungen für den Weihnachtsmarkt sind wir ziemlich ins Minus geraten.«

Obwohl Theresa das Backen ebenfalls von unserer Mutter gelernt hat, hat sie sich nach der Schule für eine kaufmännische Ausbildung entschieden und ist seitdem hauptsächlich für unsere Finanzen verantwortlich. Womit sie mich manchmal in den Wahnsinn treibt.

»Das holen wir locker wieder rein. Außerdem sind die Prantls gute Stammkunden.« In den Wochen nach Mamas Tod war Frau Prantl jeden zweiten Tag hier und hat uns Tupperdosen mit Suppe gebracht. »Da macht eine Zeitung weniger jetzt auch keinen Unterschied.«

»Mmh.« Theresa blättert mit gerunzelter Stirn in ihrem Notizbuch. »Hoffen wir es. Der zweite Backofen macht schon wieder Probleme, und wir müssen …«

»Entschuldigung?« Eine junge Frau mit weinendem Kleinkind auf dem Arm steht vor der Theke, einen Milchfleck auf dem Pullover. »Uns ist da leider ein kleines Missgeschick mit meinem Kaffee passiert. Hätten Sie vielleicht einen Lappen?«

»Gar kein Problem.« Ich werfe ihr ein Lächeln zu. »Bin sofort bei Ihnen.«

»Wir müssen gleich aber wirklich noch mal über den Backofen reden …«

Ich schiebe mich mit einem Lappen in der Hand an Theresa vorbei. »Gib mir fünf Minuten, dann bin ich ganz Ohr.«

Ich folge der Kundin zu ihrem Tisch, beseitige den kleinen See aus Milchschaum und Kaffee und biete an, ihr ein neues Getränk zu bringen. Auf dem Rückweg nehme ich noch weitere Bestellungen auf: Zwei Cappuccini für die beiden pensionierten Lehrerinnen, die jedes Wochenende für ein ausgiebiges Frühstück hierherkommen, und Kaffee für das Pärchen mit norddeutschem Dialekt am Fensterplatz. Vermutlich die ersten Weihnachtsmarkt-Touristen. Wir sind zwar nicht Nürnberg oder München, aber der Falkenhainer Weihnachtsmarkt ist trotzdem über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt.

Auf dem Rückweg zur Theke lasse ich den Blick durch das Café wandern, über die Tische aus dunklem Holz, die bunt zusammengewürfelten Sitzmöbel, die hellen Wände mit Landschaftsfotos aus Falkenhain. Jedes einzelne Möbelstück hat Mama sorgfältig ausgewählt. Die Leute sollten sich zu Hause fühlen.

»Wir wollen ihr zweites Wohnzimmer sein«, hat sie immer gesagt und dafür regelmäßig die Flohmärkte der Umgebung abgeklappert. Deshalb stehen um den ersten Tisch am Fenster zwei Vintage-Ledersessel und einen Tisch weiter drei restaurierte Gartenstühle. Die große Leselampe in der Ecke hat sie bei einer Haushaltsauflösung im Nachbarort vor dem Müll gerettet, und das hohe Bücherregal an der hinteren Wand hat hier ein neues Zuhause gefunden, als die Gemeindebücherei schließen musste. Mein Lieblingsstück ist das alte Klavier. Mama hat es vor zehn Jahren zufällig auf einem Garagenverkauf entdeckt – es war Liebe auf den ersten Blick. Wir mussten extra einen Anhänger mieten, um es hierher zu transportieren. Abends, nachdem die letzten Kunden gegangen waren, saß sie oft auf dem Klavierhocker und spielte, was ihr in den Sinn kam, ohne Noten, ohne Klavierunterricht.

Seit ihrem Tod hat niemand mehr darauf gespielt.

Ich schiebe den Gedanken beiseite und zwinge mich zurück in die Gegenwart.

Zwei Cappuccini, zwei Kaffee, ein neuer Milchkaffee.

Mit nur drei besetzten Tischen ist es ein ruhiger Samstagmorgen für das Café Lindenthal. Meine Lieblingszeit. Der Stress der Woche, die eiligen Espresso-Bestellungen werden abgelöst durch Croissants und Caffè Latte und entspannte Unterhaltungen mit bekannten Gesichtern. Während ich Milch aufschäume, summe ich die Songs aus dem Radio mit, die leise im Hintergrund laufen. Theresa ist schon wieder verschwunden, aber ihr Notizbuch liegt noch offen neben der Kasse. Ich klappe es zu und schiebe es zur Seite. Mit dem Weihnachtsmarkt werden wir unseren Rückstand wieder reinholen. So wie jedes Jahr.

Die kleine Glocke über der Tür klingelt, und Cosima Winters betritt das Café.

Ich unterdrücke ein Seufzen.

»Guten Morgen, Kathi. Kann ich noch ganz schnell einen Cappuccino bekommen? Zwei Schuss Espresso und fettarme Milch, bitte.«

»Kein Problem.«

Während ich im Kühlschrank nach einer Packung fettarmer Milch krame, tippt meine ehemalige Klassenkameradin auf ihrem iPhone herum. Obwohl Samstag ist, trägt sie ein Business-Outfit, grauer Blazer, graue Stoffhose, hohe Schuhe.

»Ich habe leider echt wenig Zeit«, sagt sie zwischen zwei Nachrichten. »Mein Chef hat heute Morgen ganz kurzfristig ein dringendes Meeting einberufen, für das Treffen mit den Briten am Montag.«

Wie rund die Hälfte der Einwohner Falkenhains hat Cosima nach ihrem Studium bei dem großen Autokonzern auf halber Strecke zwischen Falkenhain und München angefangen. Sie arbeitet in der Marketing-Abteilung und lässt keine Gelegenheit aus, das zu erwähnen.

»Bin fast fertig«, murmele ich und gieße die aufgeschäumte Milch in ihren To-go-Becher aus Bambus.

»Danke, du bist ein Schatz.« Sie streicht sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. »Unter uns gesagt, ich hätte wirklich ein bisschen Wochenende gebrauchen können. Aber so ist das leider in diesem Business.«

»Das kenne ich«, antworte ich mit einem pointierten Blick und stelle ihren Cappuccino auf den Tresen.

»Natürlich«, murmelt sie, die Aufmerksamkeit schon wieder auf ihr Handy gerichtet. »Auch, wenn man das nicht ganz vergleichen kann.«

Auf dem Klassentreffen im Frühling hat sie mehr als deutlich gemacht, was sie über meine Berufswahl denkt.

Ich schälte mich gerade in einer Toilettenkabine aus einem nur für diesen Anlass gekauften Jumpsuit, als sie mit Marisa und Annika die Toilette betrat.

»Was ist eigentlich mit Kathi passiert?«, fragte Marisa. »Die hatte doch auch fast nur Einsen im Abi. Und sechs Jahre später jobbt sie immer noch im Laden ihrer Mutter?«

»Keine Ahnung.« Cosimas Stimme klang kühl und überlegen. »Es macht halt nicht jede etwas aus sich.«

Wasser plätscherte, jemand versprühte einen Stoß Parfüm.

Dann wieder Cosima: »Aber wer weiß? Vielleicht reicht es ihr ja, in einem kleinen Provinznest Kaffee zu kochen.«

Gelächter. Ihre Schritte entfernten sich.

Ich blieb in meiner Klokabine zurück, die Hände zu Fäusten geballt.

»Ach nein? Wieso denn nicht?«, frage ich unschuldig.

»Hmm?« Cosima kramt nach ihrem Geldbeutel.

»Wieso kann man das nicht vergleichen?«, bohre ich nach.

Anstelle einer Antwort klatscht sie mir einen Zehn-Euro-Schein auf den Tresen und flötet: »Passt so.« Dann nimmt sie ihren Becher und schwebt zur Tür hinaus.

Einen Moment lang erlaube ich mir den Wunsch, dass sie auf ihren hohen Absätzen umknickt und mitsamt Cappuccino auf dem Bürgersteig landet.

Aber das Universum ist heute nicht auf meiner Seite.

Theresa betritt wieder den Raum, ihr Handy am Ohr. »Und es ist ausgeschlossen, dass du doch noch reinkommen kannst? Nein, wenn der Arzt das sagt, dann natürlich nicht. Ist okay, mach dir keine Gedanken. Gute Besserung. Tschüss.« Mit einem Seufzen beendet sie den Anruf. »Mist.«

»Was ist los?«

»Das war Luisa.« Sie presst die Lippen zusammen. »Sie ist heute Morgen mit dem Fahrrad gestürzt und hat sich den Knöchel geprellt.«

Ich verziehe das Gesicht. »Das klingt ziemlich unangenehm.«

»Allerdings.« Theresa nickt düster. »Damit fällt sie nämlich für mindestens zwei Wochen aus.«

»Scheiße.«

»Kann man so sagen. Ich werde mich jetzt mal ans Telefon hängen und fragen, ob eine der anderen Aushilfen spontan einspringen kann. Sonst muss sich eine von uns heute Nachmittag allein um den Weihnachtsmarkt kümmern, während die andere im Café bleibt.« Sie beginnt, durch ihre Kontaktliste zu scrollen.

»Wäre Gertrud noch mit dabei, dann wäre das gar kein Problem«, murmele ich.

Theresa wirft mir einen Seitenblick zu. »Du weißt genau, dass wir uns das nicht mehr leisten können. Und es war ihre Entscheidung, ihre Stunden zu reduzieren, nachdem Mama …«

»Jaja, ich weiß.«

Gertrud ist ein paar Jahre älter als Mama und hat über zwanzig Jahre als Bäckerin im Café gearbeitet. Während Mama und später wir uns um Kuchen, Torten und Lebkuchen gekümmert haben, war sie für unser Sauerteigbrot und die Brötchen zuständig. Aber diesen Sommer wurde sie sechzig und ihr zweites Enkelkind geboren. Dann ist Mama gestorben. Kurz nach der Beerdigung hat sie uns schließlich mitgeteilt, dass sie mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen möchte. Jetzt kommt sie nur noch montags, mittwochs und freitags für ein paar Stunden, um den Teig vorzubereiten. Damit müssen wir zwar eine Vollzeitkraft weniger bezahlen, sind aber auf Aushilfen angewiesen.

»Maik geht schon mal nicht ran.« Theresa legt auf, scrollt weiter nach unten.

»Wir finden schon noch jemanden«, sage ich. »Ganz sicher.«

Wir finden niemanden. Nachdem Theresa unsere gesamte Telefonliste abtelefoniert hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit Kisten voller Backwaren im Kofferraum allein auf den Weg zu machen.

In der ganzen Stadt spürt man, dass heute ein besonderer Tag ist: Die Straßen sind voller Autos mit Besuchern von außerhalb, die ersten Menschengruppen machen sich auf den Weg zur Eröffnungsfeier und ein großes Banner über der Hauptstraße verkündet den Beginn des 55. Falkenhainer Weihnachtsmarktes.

Der Marktplatz selbst gleicht einem Bienenstock, als ich dort ankomme. In den engen, mit Mulch ausgelegten Gassen eilen Händler hin und her, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Über den Dächern der Marktstände ragt die festlich beleuchtete Tanne in den Himmel, die fast so hoch ist wie der Rathausturm. In ihrem Schatten liegt eine Holzbühne, auf der sich die Mitglieder der Stadtkapelle versammeln. Und mittendrin halten Fotografen der umliegenden Lokalzeitungen das Geschehen mit der Kamera fest.

Leider habe ich keine Zeit, die liebevoll dekorierten Stände, die sorgfältig drapierten Tannengirlanden oder die Netze aus Lichterketten über den Gassen zu bewundern. So schnell wie möglich schlängele ich mich mit meinen Kisten durch das Gedränge zu unserem Verkaufswagen. Dort verteile ich zuerst Zimtschnecken, Spritzgebäck, Nussecken, Amarettini und Vanillekipferl auf Glasplatten in der Auslage. Dann heize ich den Ofen vor und öffne die große Schüssel mit Lebkuchenteig, die ich kurz vor meiner Abfahrt vorbereitet habe. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass ich noch eine halbe Stunde bis zur Eröffnung habe.

Das wird knapp.

Als die Stadtkapelle »Stille Nacht« anstimmt, bin ich verschwitzt und außer Atem, aber vorbereitet. Die Auslage ist gefüllt, die Preisschilder verteilt, und die erste Portion Lebkuchen backt im Ofen. Sie verbreitet einen himmlischen Duft nach Zimt und Vanille. Genau hier werde ich den Großteil der nächsten Wochen verbringen. Ohne Gertruds Hilfe im Verkauf müssen wir während des Marktes auf unseren freien Montag verzichten und die fünf Wochen durcharbeiten, aber selbst das kann meine Vorfreude in diesem Moment nicht trüben.

Ich schicke Theresa ein Foto unserer gut bestückten Auslage: Bin startklar.