Lucys Entdeckungen - Patricia St John - E-Book + Hörbuch

Lucys Entdeckungen E-Book und Hörbuch

Patricia St. John

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Beschreibung

Im Mittelpunkt dieser packenden Geschichte steht die zwölfjährige Lucy, die bei ihren Großeltern aufwächst. Ihr Leben ist seit ihrer frühesten Kindheit von einem Geheimnis umgeben. Dieses zu lüften ist Lucys fester Entschluss. Warum weiß sie zwar, wie ihre Mutter starb, aber nicht, was mit ihrem Vater ist? Warum wollen ihre Großeltern lieber nicht mit ihr darüber reden?

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Seitenzahl: 183

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Zeit:4 Std. 24 min

Sprecher:Hanna Steidle

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Patricia M. St. John

Lucys Entdeckungen

www.bibellesebund.net

Christliche Literatur-Verbreitung Bielefeld

 

Impressum

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Originaltitel: The Mystery of Pheasant Cottage

Erschienen bei: Scripture Union (Bibellesebund), London

© 1977 by Patricia St. John

8. Auflage 2022

© 1979 der deutschsprachigen Ausgabe by Verlag Bibellesebund, Winterthur

 2. Auflage 2022

© 2019 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://www.bibellesebund.de/

Übersetzung: Doris Hoppler

Titelgestaltung: Lucian Binder, Marienheide

Layout des E-Books: Inge Neuhaus

Printausgabe: ISBN 978-3-87982-553-0

E-Book: ISBN 978-3-95568-327-6

Hinweise des Verlags:

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes und der Bilder kommen.

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Inhalt

Titel

Impressum

Eine wichtige Frage

Das Pfingstlager

Der geheimnisvolle Brief

Ein nächtliches Gespräch

Ein neuer Freund

Lucy lernt einen Schriftsteller kennen

Ein geheimer Plan

Der Besuch im Gefängnis

Eine wichtige Entscheidung

In Spanien

Lucy weiß keine Antwort

Ein Ausflug nach Gibraltar

Die Rettungsaktion

Im Krankenhaus

Abschied von Spanien

Der letzte Brief

Eine wichtige Frage

Wenn ich so in meine Vergangenheit zurückschaue, verstehe ich nicht, warum ich nicht schon früher danach gefragt habe. Ich spürte sehr wohl, dass mein Leben seit meiner frühesten Kindheit von einem Geheimnis umgeben war. Keiner hatte es mir je gesagt, und trotzdem war ich mir ganz sicher, dass ich nicht immer im Gärtnerhaus beim Eingang zum Schlossgut »Eastwood« gelebt hatte. Vor langer Zeit hatte ich an einem anderen Ort gelebt, unter blauem, wolkenlosem Himmel. Ein großer Mann trug mich dort auf seinen Armen, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er einmal auf allen vieren kroch und ich auf seinem Rücken reiten durfte. Als ich älter wurde, fragte ich mich oft, ob das vielleicht mein Vater gewesen war. Aber seltsamerweise habe ich mich nie danach erkundigt.

Ich kann mich auch noch daran erinnern, wie ich mir das erste Mal Gedanken darüber machte. Es war an einem Morgen im Mai um elf Uhr. Ich ging damals in die erste Klasse. An diesem Morgen saß ich mit meinen Schulkameraden auf der Spielwiese unter einem Apfelbaum; wir tranken unsere Pausenmilch. Ein warmer Wind wehte und blies uns die rosaroten Blütenblätter ins Haar. Auf der anderen Seite der Straße blühten die Gänseblümchen wie Sterne auf der Wiese. Alles war schön, bis Thomas, der Sohn des Bankdirektors, plötzlich seine neugierigen runden Augen über den Tassenrand auf mich richtete und laut fragte:

»Lucy, warum lebst du bei deiner Großmutter? Warum hast du keine eigene Mutter und keinen eigenen Vater wie wir alle?«

Ich drehte mich hilfesuchend nach der Lehrerin um, denn ich wusste, dass sie mir helfen würde. Doch diese war eben einen Jungen suchen gegangen, der sich in der Garderobe versteckt hatte, um ungestört Süßigkeiten zu naschen. So waren wir allein. Alle Kinder sahen mich nun an, und ich musste mir schnell eine Antwort überlegen. Trotzig starrte ich Thomas an und dachte, er sähe aus wie ein dicker Frosch – aber bei weitem nicht so interessant.

»Weil ich keine hab«, antwortete ich. »Wisch dir deinen Mund ab, Thomas. Du bist voll Milch.« Das sagte Großmutter fast jeden Tag zu mir. Wenn ich das meinerseits zu einem anderen Kind sagte, fühlte ich mich sicher und erwachsen. Doch Thomas kümmerte sich nicht darum.

»Warum denn nicht?«, bohrte er weiter. »Wo sind sie denn? Alle Kinder haben eine Mutter und einen Vater. Jemand muss dich doch zur Welt gebracht haben!«

Nun waren alle still. Sagte ich: »Ich weiß es nicht«, würden sie mich auslachen und ich müsste weinen. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Schon fühlte ich die Tränen hochsteigen.

»Vielleicht sind sie tot«, sagte Mary Blossom fröhlich. »Vielleicht sind sie auch weggelaufen und haben dich zurückgelassen«, überlegte ein anderes Mädchen.

»Oder vielleicht sind sie geschieden«, meinte Bobby schließlich, als wüsste er genau Bescheid.

Verzweifelt schaute ich mich um und atmete erleichtert auf, als ich die Lehrerin mit dem Jungen an der Hand auf uns zukommen sah. Er hatte sein Gesicht mit Schokolade verschmiert und schaute beschämt zu Boden. Dadurch wurden die anderen Kinder abgelenkt. Ich ging auf die Lehrerin zu, nahm ihre Hand und fühlte mich geborgen. Doch Thomas hatte seine Frage noch nicht vergessen. Er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Frau Warner«, rief er schnell, »warum lebt Lucy bei ihrer Großmutter? Ich meine, warum hat sie keinen Vater und …?«

Deutlich war Frau Warners Stimme zu hören:

»Wenn ich eine Großmutter wie Frau Ferguson hätte, würde ich mich nicht darum kümmern, ob ich Eltern hätte. Sie ist so viel wert wie eine Mutter und ein Vater zusammen. Du hast Glück, Lucy. Meine Großmutter starb, als ich ein Säugling war … Wisch dir deinen Mund ab, Thomas, du bist voll Milch. Und nun hört alle zu. Da heute der erste Mai ist …«

Sie machte eine kleine Pause und genoss die Spannung, die sich bei uns ausbreitete. Vergessen war die Frage nach meinen Eltern.

Welche Überraschung wartete auf uns, weil heute der erste Mai war?

»Weil heute der erste Mai ist«, wiederholte die Lehrerin, »gehen wir jetzt nicht wieder ins Klassenzimmer zurück, um zu rechnen, sondern machen einen Spaziergang und suchen Sumpfdotterblumen.«

Man hörte ein Freudengeschrei. Sechzehn Siebenjährige hüpften und rannten vom Schulhof. Die Lehrerin sagte nichts, denn sie wusste, dass sie die Kinder leicht einholen würde, sobald es bergauf ging. Still ging ich neben ihr her. Ich hielt immer noch ihre Hand und war innerlich aufgewühlt. Ich wusste jetzt, dass ich diese Frage schon lange tief in mir drin gespürt hatte, ohne sie jemals ausgesprochen zu haben. Nun hatten plötzlich die anderen gefragt, und ich wusste keine Antwort.

»Ich werde Großmutter heute fragen«, beschloss ich. Darum dachte ich nicht mehr weiter über dieses Thema nach, sondern freute mich über den Spaziergang. Die Lehrerin war nun an der Spitze. Sie sah aus wie der Rattenfänger von Hameln mit der keuchenden Klasse hinter sich, während sie Fragen und Anweisungen rückwärts rief. »Schaut mal, wie viele verschiedene Arten wildwachsender Pflanzen ihr entdecken könnt … Verschiedene Arten hab ich gesagt, Sally. Nicht nur Löwenzahn pflücken! Schaut auch mal in den Hecken nach. Vielleicht findet ihr ein Nest … Thomas, hör auf zu schwatzen! Wir wollen den Vögeln zuhören, aber du scheuchst sie alle weg. Nun steht alle still … Du auch, Betsy. Seid ganz ruhig ... kann jemand die Drossel singen hören?«

Danach wanderten wir durch den Eichenwald. Plötzlich entdeckte ich einen Goldschimmer im Schatten, und dann rief ich laut, dass ich Sumpfdotterblumen entdeckt hätte.

Alle bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp. Doch die Lehrerin rief uns auf den Weg zurück und erklärte uns, dass letztes Jahr ein Junge seinen Schuh im Sumpf verloren hätte. Es gab jedoch genug Blumen, die man vom Weg aus pflücken konnte. Wir kehrten anschließend mit nasser Erde an den Schuhen und Blütenstaub auf der Nase zurück. Unsere Lehrerin hatte die schmutzigsten Schuhe von allen, weil sie immer wieder von einem Ende des Sumpfes zum anderen laufen musste, damit keiner von uns hineinfiel.

Viele Eltern warteten schon am Schultor auf uns. So verschwand ein Kind nach dem anderen mit einem gelben Blumenstrauß in der Hand. Ich wohnte ein ganzes Stück von der Schule entfernt, daher aß ich in der Schule zu Mittag. Die Lehrerin brachte mich erst gegen 16 Uhr zur Bushaltestelle. Während wir auf den Bus warteten, nahm sie einige Blütenblätter aus meinem Haar und strich mir ein paar Locken aus dem Gesicht. Dann beugte sie sich plötzlich zu mir hinunter und küsste mich. Ich war verwundert, weil sie das bisher noch nie getan hatte. Vielleicht tat sie es wegen der Frage, die die Kinder mir gestellt hatten. Vielleicht tat ich ihr leid.

Großmutter erwartete mich an der Bushaltestelle mit Shadow, unserem großen Neufundländer, der bellend vor Wiedersehensfreude auf mich zusprang. Normalerweise machten Shadow und ich ein gemeinsames Wettrennen bis nach Hause, nur Großmutter ging in gemütlichem Tempo hinter uns her. Aber an diesem Nachmittag war Shadow sicher enttäuscht von mir, denn ich hatte keine Lust, mit ihm um die Wette zu laufen. Still ging ich neben Großmutter her und drückte die Blumen an mich. Dann platzte ich mit meiner Frage heraus: »Großmutter, warum lebe ich bei dir und Großvater? Hatte ich nie eine Mutter und einen Vater? Alle anderen Kinder haben doch Eltern.«

Da war es lange Zeit ganz still. Ich hörte eine Biene summen und eine Amsel pfeifen. Endlich antwortete Großmutter:

»Deine Mutter war unsere liebe Tochter Alice, Lucy. Sie starb, als du noch ein kleines Baby warst. Außer Großvater und mir gab es niemanden, der für dich hätte sorgen können. Darum nahmen Großvater und ich dich bei uns auf, als unser eigenes kleines Mädchen.«

»Aber hatte ich denn keinen Vater?«, wollte ich weiter wissen. »Und warum kümmerte er sich nicht um mich? Ist er auch tot?«

Es folgte eine lange Pause, während der ich vertrauensvoll auf die Antwort wartete, denn ich wusste, dass Großmutter immer die Wahrheit sagte.

»Er ist damals weggegangen«, sagte Großmutter langsam, »und wir haben ihn nie wiedergesehen. Er war kein guter Mann, Lucy. Er hätte dich nicht erziehen können. Du gehörst jetzt und für immer zu uns, als wärst du unsere eigene kleine Tochter. Schau, da ist Großvater. Er hat uns gesehen.«

Wir hatten unseren Garten erreicht. Großmutter redete von etwas anderem, presste die Lippen zusammen und gab mir dadurch zu verstehen, dass sie keine weiteren Fragen zu dieser Sache hören wollte. Mir war es recht.

Die Haustür unseres kleinen Hofes stand offen, und ein verlockender Geruch strömte uns aus der Küche entgegen. Großvater grüßte uns winkend von seinem Kartoffelacker aus. Das kleine Haus wurde von den Buchen überragt, die das Schlossgut begrenzten. Ich wusste, dass unter den Buchen kühle, schattige Teppiche von wilden Hyazinthen lagen. Hier bei meinen freundlichen Großeltern gefiel es mir. Was wollte ich mehr?

Wozu brauchte ich einen Vater? Und noch dazu einen schlechten?

Trotzdem bewegte mich die ganze Sache weiterhin. Je älter ich wurde, umso mehr verwirrte sie mich. Denn wenn der große Mann mein Vater gewesen war, dann konnte er nicht ganz und gar schlecht sein. Sonst hätte er mich damals nicht auf den Armen getragen und mich auf seinem Rücken reiten lassen. Doch das blieb ein Rätsel ohne Lösung. Und fünf lange Jahre erwähnte ich diese Sache gegenüber keinem Menschen mehr.

Das Pfingstlager

Diese fünf Jahre vergingen schnell. Andere mögen sie langweilig nennen, doch für mich waren sie gefüllt mit aufregenden Erlebnissen. Ich wurde in der Schule immer versetzt, kam in die Korbballmannschaft und wurde Klassenbeste in Englisch. Ich mochte Gedichte und schrieb meine ersten Geschichten in Schreibhefte. Großvater erkrankte an Bronchitis und musste ins Krankenhaus, und ich bekam Masern. Unsere Katze warf mehrmals Kätzchen. Ich wurde Pfadfinderin und nahm mit elf Jahren an meinem ersten Lager teil.

Doch all diese spannenden und schönen Erlebnisse waren nicht so wichtig wie meine eigene geheime Welt. Mein Leben wurde nicht bestimmt durch Ferien und Schuljahre, sondern durch ganz andere Dinge, wie z.B. die ersten Frühlingsanzeichen: die Primel am Flussufer oder die erste blühende Osterglocke, die sich durch dünne Eichenblätter zwängte. Der Sommer kündigte sich mit dem ersten Kuckucksruf und dem Blühen der Heckenrosen an. Der Herbst zeichnete sich durch die leuchtenden Farben der Blätter und den Geruch der Kartoffelfeuer aus und der Winter durch meine einsamen Fußspuren im weißen Schnee. Das war meine eigentliche Welt. Sie war so wichtig für mich, dass es mich nie besonders gestört hatte, als Einzelkind aufzuwachsen und vieles, was andere Kinder tun, nicht tun zu können.

Manchmal, wenn mich die anderen Mädchen in der Schule auslachten, weil ich das Meer noch nie gesehen hatte, wurde ich unzufrieden. Ich überlegte, ob ich wohl irgendwann herumreisen würde oder ob ich jemals die Gewohnheiten meiner Großeltern verändern könnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie mein Wunsch nach einer Ferienreise in Erfüllung gehen würde, denn meine Großeltern wurden jedes Jahr älter. Außerdem erhielt Großvater, der über dreißig Jahre lang Schlossgärtner gewesen war, keine große Rente. Doch meine Großeltern fühlten sich wohl auf ihrem Hof. Sie hatten kein Bedürfnis, Ferien zu machen. Hin und wieder besuchten einige Verwandte die beiden. Sie hätten auch nicht verreisen können, weil sie sich um ihre Tiere kümmern mussten. Ich war damit zufrieden und glücklich, wenn meine Schulkameraden mich nicht gerade deswegen auslachten. Ich spielte gern im Wald, ging auf die Hügel und las. Oder ich schrieb Geschichten von Kindern, die lange Reisen mit Schiffen oder Flugzeugen unternahmen und all die interessanten Länder besuchten, die ich aus meinem Geographiebuch kannte. Außerdem hatte ich schon kleine Aufgaben auf dem Hof und im Garten zu erledigen. So wurde mir nie langweilig.

Manchmal besuchte mich meine Freundin Mary Blossom für einen Tag. Dann ging ich mit ihr spazieren. Doch Mary war ganz anders als ich. Sie mochte es nicht, wenn wir einfach so in der Gegend herumliefen. Ihre ständige Frage: »Lucy, wohin gehen wir?«, ärgerte mich; und so gab ich ihr jeweils zur Antwort: »Wir gehen nirgendwohin; wir gehen einfach herum!« Nach einiger Zeit kehrten wir dann wieder um und spielten im Garten oder im Haus. Ich konnte Mary gut leiden, doch sie gehörte zu meiner Schulwelt – meine andere Welt, die Welt der Wälder, langweilte sie.

Von all meinen schönen Erinnerungen an diese Zeit stach eine ganz besonders heraus – das Pfadfinderlager über Pfingsten in Cotswolds, als ich elf Jahre alt war. Großmutter erlaubte mir mitzufahren – aber nur unter der Voraussetzung, dass ich nicht in einem reißenden Fluss badete oder die Jacke bei kaltem Wetter auszog. Ich war so gespannt, dass ich davor zwei Nächte lang kaum schlief. Als wir dann endlich mit unseren Rucksäcken und unserem Bettzeug im fahrenden Bus saßen, konnte ich vor Aufregung kaum sprechen. Ich presste meine gefalteten Hände zwischen die Knie, um auf diese Weise meine überschwängliche Freude zu unterdrücken. Da ich zu Hause nur mit älteren Leuten zusammen war, war ich ein ziemlich stilles Mädchen geworden. Doch während unserer mehrstündigen Busfahrt durch Alleen, sonnenüberflutete Landschaften und Dörfer mit strohgedeckten Backsteinhäusern taute ich allmählich auf. Wir sangen, erzählten uns alles Mögliche, lachten, aßen mitgebrachte Brote und tranken aus unseren Flaschen. Endlich waren wir angekommen. Unser Lager fand auf einem Berg statt, von dem aus man weit ins Tal blicken konnte. Unsere Leiter zeigten uns, wo wir die Zelte aufschlagen und wie wir ein Feuer anzünden sollten.

Dieses lange Wochenende erfüllte meine Erwartungen in jeder Beziehung. Ich schlief mit Mary zusammen in einem Zelt. Jede Stunde, in der wir nicht schliefen, war aufregend. Von dem Augenblick an, wo wir aufwachten und aus unseren Zelten in den frischen Morgen hinauskrochen, bis wir uns abends müde und überglücklich in unsere gemütlichen Schlafsäcke kuschelten, war alles atemberaubend. Wenn die Eulen hinter uns im Wald riefen, taten wir so, als würde uns das erschrecken, und wir klammerten uns aneinander. Am eindrucksvollsten waren für mich diejenigen Morgenstunden, in denen ich vor allen anderen aufwachte, schnell noch einen Pullover und Schuhe anzog und aus dem Zelt schlüpfte, um die erwachende Natur zu beobachten. Kaum stand die Sonne am Horizont, so hörte man schon einen Kuckuck aus dem nahegelegenen Buchenwald rufen. Die Leiterin ging im Morgenrock umher und entdeckte mich.

»Lucy«, sagte sie, »würdest du dich anziehen und eine Nachricht für mich zum Bauernhof bringen? Du musst durch den Wald gehen, den Berg hinauf und quer über die Wiese. Du wirst die Bauersleute vermutlich gerade beim Melken antreffen. Sag ihnen, sie möchten fünfzehn Eier für uns aufheben. Wir würden sie später abholen.«

Schnell zog ich meine Kleider an, während Mary verschlafen zu mir herüberblinzelte.

»Wohin gehst du?«, fragte sie gähnend. »Soll ich mitkommen?«

»Nein, nein«, antwortete ich schnell, »ich werde nicht lange weg sein. Ich muss im Bauernhof etwas ausrichten und muss sofort gehen. Du kannst mir ja entgegenkommen, wenn du willst.« Ich schoss aus dem Zelt, denn das war meine besondere Aufgabe, und ich wollte allein gehen. Die Sonne schaute gerade über den obersten Baumwipfeln hervor, und ihr Licht durchflutete den Wald mit so hellen Strahlen, dass ich nichts anderes sehen konnte. Es schien, als liefe ich in ein Lichtmeer hinein. Dann war der Wald zu Ende, und ich stieg auf den Berg. Die Wiese war übersät von Blumen, von Gänseblümchen, Feuernelken, Butterblumen und Sauerampfer, die vom Tau bedeckt waren und im Licht funkelten.

Wie schnell ich lief! Ich zog meine Schuhe aus und sprang und tanzte barfuß bergauf, während mich die Blumen an den Beinen kitzelten. Ich freute mich meines Lebens, lachte und klatschte in die Hände und genoss das Barfußgehen auf dem kühlen Gras. Auf dem Rückweg überquerte ich die Wiese in gemütlichem Tempo, um diese herrliche Stunde möglichst lange auszudehnen. Doch leider kam mir Mary entgegen. Als ich ihr Gesicht sah, wusste ich, dass sie mir ein Geheimnis mitzuteilen hatte.

»Lucy«, begann sie geheimnisvoll, »weißt du was?«

»Was?«, fragte ich.

»Ich kam dir durch den Wald entgegen, und die beiden Leiterinnen standen am Waldrand.«

»Na und?«

»Sie sahen dich!«

»Was macht das denn?«

»Aber Lucy, sie sprachen über dich. Ich hörte es. Mich sahen sie nicht, denn ich versteckte mich hinter einem Baum. Darum hörte ich, was sie sagten.«

Ich schwieg. Meine Neugier war geweckt, aber das wollte ich Mary nicht zeigen.

»Lucy, soll ich dir sagen, was sie über dich redeten?«

»Was denn?«

»Die Leiterin sagte …« Mary machte die hohe Stimme und die schleppende Sprechweise der Leiterin nach: »›Seltsam, dass die brave kleine Lucy so wild sein kann! Es steckt mehr in dem Kind, als man meinen könnte!‹ Die andere Leiterin meinte: ›In Lucy steckt eine Menge. Ihre Lehrerin erzählte, dass sie hervorragende Aufsätze schreibt. Sie müsste gelegentlich von ihren Großeltern wegkommen und richtig zu leben anfangen.‹ Das sagten sie, Lucy. Das andere hab ich vergessen. Und dann drehten sie sich um und sahen mich.«

»Wie dumm!«, ärgerte ich mich, »mir geht es doch gut, und ich bin mit meinem Leben zufrieden, so wie es ist.« Doch die Freude wollte an diesem Tag nicht so richtig wiederkehren. Den ganzen Morgen dachte ich über diese Bemerkungen nach, während wir frühstückten, aufräumten und im Fluss badeten. Was war falsch daran, wenn man brav war und bei seinen Großeltern lebte? Und was tat ich anderes in den vergangenen elf Jahren, als zu leben? Das sagten sie vermutlich nur, weil ich nicht alles erlebt hatte, was die anderen Kinder in meinem Alter schon erlebt hatten, und weil ich noch nie am Meer gewesen war. Doch was wussten sie schon von meinem wirklichen Leben? Sie waren ja noch nie bei mir zu Hause gewesen. Für den Rest des Tages blieb ich verärgert.

Sicher wunderten sich die anderen darüber, dass ich so missmutig war. Erst gegen Abend besserte sich meine Laune wieder, als wir am Feuer Würstchen grillten. Da vergaß ich die ganze Angelegenheit.

Doch diese Bemerkungen hatten wieder alle Fragen und Ahnungen in mir wachgerüttelt. Ich war anders als die anderen.

In dieser Nacht konnte ich lange Zeit nicht schlafen, während Mary an meiner Seite schnarchte. Ich hörte den Eulen und dem Rascheln der Bäume zu und versuchte, mich an das Gesicht des großen Mannes zu erinnern, der auf allen vieren gekrochen war. Doch es nützte nichts. Das Bild schien für immer verschwunden zu sein.

Der geheimnisvolle Brief

Das Pfingstlager war vorüber. Die Zeit verging so schnell, dass ich selten rückwärts oder vorwärts schaute, sondern einfach jeden neuen Tag genoss. Wieder einmal ging der Sommer in den Herbst über, und nun kam ich in die weiterführende Schule.

Wieder kam der Winter, Schnee fiel und bedeckte alles mit einer weißen Decke. Wieder suchte ich Tannenzapfen und röstete Kastanien und bastelte heimlich Weihnachtsgeschenke. Wieder hörte ich das Blöken des neugeborenen Lammes und atmete den warmen Südwind ein, der die Knospen hervortrieb. Ich wusste: Der Frühling war unterwegs.

Es war der vorletzte Schultag vor den Sommerferien. Draußen grünte und blühte es. Der Unterricht war fast zu Ende. Die Schüler waren unruhig und warteten sehnsüchtig auf das Klingeln der Schulglocke. Die Englischlehrerin las uns ein Gedicht vor. Da das Fenster weit geöffnet war, konnten wir die Ringeltauben gurren und die Schafe nach ihren Lämmern rufen hören. Unsere Aufmerksamkeit war weg.

Die Lehrerin schloss ihr Buch, ging zur Tafel und schrieb in großen Buchstaben »SOMMERFERIEN«. Ein begeistertes Flüstern ging durch die Reihen, und alle Blicke richteten sich wieder auf die Lehrerin.

Sie sah aus wie der Sommer selbst, wie sie in ihrem gelben Pullover in der Sonne stand. »Bald plant ihr eure Sommerferien«, verkündete sie. »Dies ist nun ein Wettbewerb, an dem ihr in euren Ferien arbeiten könnt. Im nächsten Schuljahr gibt es für den besten Aufsatz einen Preis. Ihr könnt eine Geschichte schreiben oder berichten, was ihr letztes Jahr in den Ferien erlebt habt oder was ihr für dieses Jahr plant. Schreibt, was ihr wollt, aber versucht, die Besonderheiten des Sommers zu beschreiben.«

Sie schaute im Kreis herum, in die leeren Gesichter. »Der Sommer scheint eine schläfrige Angelegenheit zu sein«, sagte sie schmunzelnd. »Lasst uns schon einmal ein paar Gedanken sammeln und sie an die Tafel schreiben. Mary, woran denkst du, wenn ich Sommerferien sage?«

Mary fuhr zusammen. »Hm …«, stammelte sie, »hm … Hitze … und … Eis …«

»Ja, gut. Jemand anders? Jennifer?«

»Schwimmen … Strand … Esel …«

»Kasperletheater … Boccia …«

»Tennis.«

»Campingurlaub im Wohnwagen.«

»Auf meinem Pony reiten …«

Die Lehrerin schrieb alles an die Tafel. Dann drehte sie sich zu ihren Schülern um, die plötzlich wieder hellwach waren.

»Das stimmt alles. Erinnert euch doch mal an eure Ferienorte vom letzten Jahr! Anna, wo warst du letztes Jahr in deinen Sommerferien?«

»Wir reisten mit unserem Auto durch Schottland.«

»Und wie war Schottland im Sommer?«

»Es gab Berge und Seen, und es regnete, und wir hatten mit unserem Auto eine Panne. Wir besuchten Schlösser und Schlachtfelder. Wir hielten nach dem Loch-Ness-Ungeheuer Ausschau, hatten aber keinen Erfolg.«

Die Lehrerin seufzte leicht und sah mich an.

»Lucy?«, fragte sie.