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Martha Schad

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Beschreibung

War Ludwig Thoma Weiberfreund oder Weiberfeind? Martha Schad liefert einen Einblick in einen bisher nur wenig bekannten Bereich aus dem Leben Ludwig Thomas, einem der populärsten deutschen Dichter. Ludwig Thoma wird vorgestellt mit Blick auf die Frauen, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten: Frauen, die er liebte, verehrte, ablehnte oder gar hasste. Martha Schad schlägt in der etwas anderen Biografie über den Dichter, dem – wie er selbst schreibt – keine einzige »richtige Liebesszene« gelungen ist, ein neues Kapitel auf – mit einem Ergebnis, das mehr als nur überrascht.

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Martha Schad

Ludwig Thoma und die Frauen

Weiberfreund und Weiberfeind

Biografie

GewidmetEdgar Willy Liebermannvon Wahlendorf

Vorwort

In der Galerie Neue Meister in Dresden ist das Slevogt-Gemälde Marietta de Rigardo zu bewundern. Wenige wissen, dass es die spätere Ehefrau des Dichters Ludwig Thoma zeigt, eine exotische Schönheit. In seinen Erinnerungen, 1919 verfasst, erwähnte er selbst diese Ehe mit keinem Wort, da, wie er vorgibt, »das Weibliche« in seinem Leben keine Rolle spielte.

Walther Ziersch, der 1928 die Liebesbriefe Ludwig Thomas an seine Frau Marion herausgegeben hat, stellte fest, dass zwar schon viel über ihn geschrieben worden sei, aber etwas noch fehle: »Ein großes höchst wichtiges Kapitel: Ludwig Thoma und die Frauen.« Otto Gritschneder ist der Meinung in seinem Buch Angeklagter Ludwig Thoma: »… das Verhältnis zu Marion und zu Frauen überhaupt wäre wieder eine eigene Geschichte und gäbe ein neues Buch aus dem widerspruchsvollen Leben und Treiben unseres Ludwig Thoma.«

Was wusste man bisher von seiner Einstellung zu Frauen? Eigentlich nur, dass ihn bürgerliche und solide Frauen kaum interessierten. Es zog ihn zu verheirateten, außergewöhnlichen Damen hin. Thoma wusste sehr wohl um die Wirkung seines berühmten Namens auf Frauen. Einer, der Thoma kannte, formulierte: »In puncto Frauen war Ludwig Thoma kein Menschenkenner! Eine hysterische und eifersüchtige Köchin, eine extravagante Tänzerin und später eine kühl berechnende Freundin lieferten Thoma ein unstetes Leben.«

Ludwig Thoma sah noch 1902 bei einer Eheschließung selten die Liebe, dafür fast immer die Vernunft als das treibende Moment. Die monogamische Ehe, »in der Kirche als die einzige Form der geschlechtlichen Sittlichkeit verkündet«, habe der echten Sittlichkeit ebenso viel geschadet wie genützt. Mit dem 6. Mai 1905 änderte sich Thomas bisherige Einstellung zur Ehe. Er sah darin sein »Ideal.«

So wurde diese Arbeit geschrieben im Hinblick auf die Frauen, mit denen der Dichter lebte, die er liebte, verklärte, hasste und verhöhnte – von der wenig zärtlichen, starken Mutter bis zu seiner letzten großen Liebe, Maidi von Liebermann, und somit ist fast eine neue, etwas andere Ludwig-Thoma-Biographie entstanden: der Lebenslauf eines Dichters, dem in seinem Werk – wie er selbst schreibt – keine einzige »richtige Liebesszene« gelungen ist.

Erster Teil

Die Familie

Mutter und »Pflegemutter« – Schwestern und Schwägerinnen

Am 21. Januar 1867, einem bitterkalten Wintertag, wurde um 11 Uhr vormittags Ludwig Thoma in Oberammergau im Haus des Schnitzwarenverlegers Lang geboren und nur drei Stunden später von Pfarrer Joseph Aloys Daisenberger getauft. Taufpatinnen waren die Verlegerswitwe Maria Lang und deren Schwester Theresia, beide Schwestern von Ludwigs Mutter Katharina, geborene Pfeiffer.[1] Die Familie Pfeiffer war schon seit drei Generationen in Oberammergau ansässig; ursprünglich stammte sie aus der Gegend von Steingaden.

Katharinas Eltern waren Maria Katharina, geb. Neuner und Martin Pfeiffer, Posthalter und Schwabenwirt in Oberammergau. Die älteste Tochter Maria wurde 1850 die Ehefrau des kgl. Posthalters und Schnitzwarenverlegers Eduard Lang.

Über die Kinder- und Jugendjahre von Katharina ist nichts überliefert. Was Ludwig Thoma später für einen Brief hielt, worin seine Mutter »als sechzehnjähriges Mädchen ihre Eltern um Beisteuer zu einem Sommerkleid bittet«, war eine »Briefsteller-Übung, die mit roter Tinte durchgebessert wurde«.[2]

Es ist allerdings bekannt, dass Katharina in München bei Grodemange – Grodemange’s Weinhandlung Restaurant –, einem renommierten Gasthaus, kochen gelernt hatte. Mit fünfzehn Jahren verlor sie ihren Vater und mit 21 Jahren ihre Mutter. Damals übernahmen Katharinas Schwester Maria und deren Mann Eduard Lang den in Alte Post umbenannten Schwabenwirt in Oberammergau. Das Gasthaus verkauften sie nach einiger Zeit und zogen in das 1775 gegründete Verlegerhaus Georg Lang sel. Erben. Und in diesem Haus kam Ludwig Thoma zur Welt. Das unter seinem Vetter Guido Lang aufgestockte Haus – heute eines der schönsten bemalten Häuser Oberammergaus – trägt eine Erinnerungstafel an Ludwig Thoma.

Ludwig Thomas Mutter verlobte sich mit dem Jäger Max Thoma am 19. Juli 1855 und heiratete ihn zwei Jahre später. Der Vater hatte damals nach Pflicht und Brauch bei König Max II. um eine Audienz nachgesucht, und Ludwigs Mutter erzählte ihm noch viele Jahre später etwas verlegen, dass der König ihm zur Wahl der Gattin Glück gewünscht und gesagt habe, er sehe wohl, dass seine Revierförster einen ausgezeichneten Geschmack verrieten. Der König kam fast alljährlich nach Ammergau, und da mochte es wohl geschehen sein, dass ihm beim festlichen Willkommen die Töchter des Schwabenwirts Blumensträuße überreichen durften.

In seinen 1919 abgeschlossenen Erinnerungen weiß Thoma zu berichten, dass die Schwabenwirtstöchter neben ihrer Arbeit immer noch Zeit fanden, »ihren Geist zu bilden, und wenn sie nicht allzu viel lasen, so lasen sie ganz gewiss nie einen seichten Roman«![3]

Das junge Paar zog ins Forsthaus in Piesenhausen bei Marquartstein, dann nach Partenkirchen. Als Ludwig geboren wurde, wohnten die Thomas im Forsthaus in der Vorderriss. Da ein Wochenbett dort, noch dazu im Winter, eine für Mutter und Kind gefahrenvolle Situation darstellte, entschloss sich Katharina Thoma, ihre Niederkunft in Oberammergau bei ihrer verwitweten Schwester Maria, »an der sie mit allen Fasern ihres Herzens« hing, zu erwarten. Außerdem gab es in Oberammergau schon seit 1838 eine vorbildliche ärztliche Versorgung.[4]

In der Vorderriss wirkte Thomas Vater als Oberförster. Die ersten bleibenden Kindheitseindrücke knüpften sich für Ludwig Thoma an den kleinen Kreis von Menschen, welcher dort in enger Gemeinschaft lebte. Dieser bestand aus den Eltern und den Geschwistern Max (1858–1911), Maria (1860–1897), Peter (1864–1924), Katharina (1868–1958), Aloisia, gen. Luise (1872–1892); der im Jahr 1865 geborene Franz wurde nur 22 Tage alt. Des Vaters Jagdgehilfen sahen in Ludwig ein »Wunderkind«, denn seine Eltern lehrten ihn frühzeitig lesen und schreiben. Im Jahr 1873 ließ sich Thomas Vater auf eigenen Wunsch als kgl. Parkmeister nach Forstenried versetzen. Dort kam am 10. Dezember 1873 die Tochter Bertha zur Welt. Am 26. September des folgenden Jahres erlag Max Thoma in Forstenried einem Herzschlag. Seine Frau hielt sich damals zur Erholung von der schweren Geburt der Tochter bei ihrer Schwester in Oberammergau auf. Den Sterbenden hielt Viktoria Pröbstl im Arm, die ihm auch die Augen zudrückte.

Die »Viktorl«

Wer war nun diese Viktoria Pröbstl? Ludwig Thoma selbst war für sie um einen Titel verlegen, der ihre Wirksamkeit richtig bezeichnen könnte: »Stütze der Hausfrau sagte man damals nicht, und es klänge mir zu fremdartig; ›Kinderfräulein‹ paßte nicht zur Bescheidenheit unseres Hauses und würde ihrer Tätigkeit nicht gerecht. So will ich sie, wie ehedem im Leben, die alte Viktor heißen.« Sie war die Tochter eines Handelsgärtners und Bürgermeisters von Schongau, kam zur Familie Thoma, als Ludwig zwei Jahre alt war, und starb vierunddreißig Jahre später, 1893, in einem von Ludwig Thoma gemieteten Haus in Allershausen.

Die Viktor, eine angehende Dreißigerin, war nicht ganz frei von altmädchenhafter Empfindlichkeit, doch so lebenstüchtig, dass sie für die ganze Familie zur unentbehrlichen Beraterin und Helferin wurde. Ihr Tagebuch, in das sie oft ein gefühlvolles Gedicht aus Zeitschriften und Büchern abschrieb, weist eine erstaunliche Formulierungsgabe auf. Sie besaß eine ausgesprochene Neigung für schöne Literatur. Hin und wieder litt sie unter Weltschmerz. Sie schloss mit dem Jagdgehilfen Thomas Bauer eine dauerhafte Freundschaft; eine Ehe wurde nicht daraus.

Nachdem Familie Thoma von der Vorderriss nach Forstenried umgezogen war, kehrte Viktoria zu ihrem kranken Vater nach Schongau zurück. Doch als sich Katharina Thoma mit der Tochter Bertha im März 1874 zur Erholung nach Oberammergau begeben hatte, sprang Viktoria vorübergehend als »Pflegemutter« in Forstenried ein. Wieder in Schongau, erreichte sie im September die Nachricht von der Hauslehrerin Mathilde Kemptner, dass der Herr Parkmeister krank sei. Viktoria wollte in Oberammergau »FrObf« (= Frau Oberförster, d. Vf.) besuchen, die sie aber nicht empfangen konnte, da sie so schwach war. Beim nächsten Besuch fand sie Frau Thoma sehr krank vor. Darauf entschloss sie sich, wieder nach Forstenried zu reisen. »HrP« (= Herr Parkmeister) und die Kinder empfingen sie voll Freude, was Fräulein Mathilde eifersüchtig aufhorchen ließ. Zwei Tage nach ihrer Ankunft starb Max Thoma. Viktoria vertraute ihrem Tagebuch an, dass sie die Kinder nicht verlassen werde, denn »Ludwig ging mir nicht mehr von der Stelle«, er brauchte sie so sehr.

Mit dem Tod des Vaters brach eine sehr schwere Zeit für die Mutter und ihre sieben Kinder an. Von nun an waren sie erst einmal »auf vielfache Hilfe von Vormündern und Verwandten angewiesen«, die sich erstaunt zeigten, dass keinerlei Vermögen da war, von dem die Thomas hätten leben können. Die tatkräftige Viktorl löste den Haushalt in der Dienstwohnung in Forstenried auf und brachte die Kinder nach Oberammergau zur Mutter, um dann allein ins Schongauer Elternhaus zurückzukehren. In ihr Tagebuch schrieb sie:

Der Abschied von Fr P u Kinder fiel mir unendlich schwer, besonders Kathi u Ludwig weinten bitterlich … Als ich zur Thür hinaus streckte sie (= Frau Thoma, d. Vf.) beide Arme nach mir aus. Ich ging früh ½6 Uhr. Tant Paulus welche Ludwig und Luischen in die Pfalz mitnimmt, wird mit Frl M(athilde) um ½9 Uhr abgereißt sein. Wie schmerzlich mag erst der Abschied von den Kindern gewesen sein.[5]

Von nun an wurde Ludwig »zwischen Verwandten und Seminaren hin- und hergeschoben, fühlte sich als Außenseiter und Benachteiligter, erlebte die Vorrechte der Besitzenden und Anerkannten«.[6] Wie schon im Tagebuch von Viktor erwähnt, kamen Ludwig und Luise in die Obhut von Tante und Onkel Albert Paulus, dem Leiter der Vermessungsstelle in Landstuhl in der damals noch bayerischen Pfalz. Ludwig war noch keine sieben, sein Schwesterchen gerade zwei Jahre alt. Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, das die sichtlich verschüchterten Kinder zeigt; sie »muten wie ein städtisch gekleidetes Hänsel- und Gretel-Paar an …«[7] Aus Landstuhl, wo Ludwig die Volksschule besuchte, ist ein Brief vom Dezember 1874 an die Mutter erhalten, der wohl unter Mithilfe der Tante Paulus entstanden sein dürfte:

Liebe Mama Mir gefällt es sehr gut in Landstuhl. Ich habe gar kein Heimweh. Es ist sehr schön. Auf der Reise habe ich viel gesehen, besonders in Ludwigshafen, wo der Rhein war, und da habe ich Schiffe gesehen welche beleuchtet waren. Der Herr Lehrer ist mit mir sehr freundlich und streng. Es hat mich sehr gefreut liebe Mama als ich gehört habe daß es dir besser ging. Viele Grüße und Küsse an Mutter Großmutter und Tante meinen Geschwistern und allen, auch an dich viele Grüße und Küsse von Deinem dankbaren Sohn Ludwig.

Zum Jahreswechsel 1875 bekam dann Viktor einen sehr ausführlichen Brief Ludwigs aus Landstuhl. Er zählte ihr die vom Christkind erhaltenen Geschenke auf:

… eine Photographie vom lieben seeligen Papa und der schönen Rieß, dan ein Polzrohr mit Polzen dan den kleinen Maler welches eine Mappe mit Zeichnungsvorlagen und Farben ist; ferner Soldaten Bilderbögen, ein Lesebuch und einen Ballen, so wie eine Sparbüchse wo ich jeden Kreuzer hineinlege. Das Markstück vom Herrn Posthalter habe ich auch gefunden … An Weihnachten habe ich viel an den lieben Papa gedacht. Gelt liebe Viktor, wie können wir uns freuen, daß es nun der lieben Mama wieder besser geht; Gott gebe daß es von recht langer Dauer ist und uns dadurch unsere liebe Mama recht viele Jahre erhalten bleibt. Viele Grüße von Bettchen, welche recht gut mit mir ist; auch ich grüße und küsse dich herzlich, und bleibe Dein Dich liebender Ludwig.

Viel später schrieb Ludwig Thoma über seine Kindheit: »Ich habe mit 9 Jahren schon in die ›Studi‹ fahren müssen, allein, unter fremde Leute. Man hat mich nicht lang gefragt, ob’s mir gefiel.«[8] In den Lausbubengeschichten, in denen viele Episoden seines jungen Lebens Eingang fanden, begegnet immer wieder das Motiv der Trennung des Kindes von der Mutter bzw. vom Elternhaus. Zeit seines Lebens scheint Thoma diese frühkindliche Erfahrung nie verwunden zu haben.

Katharina Thoma pachtete nach ihrer Genesung 1875 den neuerbauten Gasthof Zur Kampenwand in Prien am Chiemsee. Es gelang ihr, die gute Viktor dorthin zu holen.

»Ludwig macht mir so viel Verdruß«

Im Herbst 1876 wechselte Ludwig an die Studienanstalt Neuburg a.d. Donau. Da die Vermögensverhältnisse der Mutter noch immer als »höchst trostlos« galten, hätte er in Neuburg eine ¾ Freistelle erhalten. Doch schon im Juni 1877 wurde »der kgl. Oberförsters Wtt.« vom Direktorat mitgeteilt, dass sich Ludwig dieser Freistelle nicht würdig erweise, da er nur wenig Mühe aufwende, um vorwärts zu kommen! Katharina Thoma schämte sich deswegen sehr vor Ludwigs Vormund, »Oberappellathionsrat« Decrignis. Ein erneutes Bittgesuch der Mutter an das kgl. Staatsministerium für Kirchen- und Schulangelegenheiten in München wurde abgelehnt. Somit hatte die Mutter für Ludwig nun 700 statt 150 Mark Schulgeld zu bezahlen.

1877/78 befand sich Ludwig Thoma in der Studienanstalt Burghausen und zum Schuljahr 1878/79 am Wilhelmsgymnasium in München. Hier wurde er bei entfernten Verwandten in der Frauenstraße 2 /III untergebracht, dem Postassistenten a. D. Wilhelm Ruppert und dessen Frau sowie dem zum Haushalt gehörenden Premierleutnant a. D. Peter Geißler, die als »Onkel Joseph, Tante Minna und Onkel Wilhelm« in Thomas Erinnerungen bzw. in die Lausbubengeschichte Onkel Franz eingegangen sind. Da aber Thomas Neigungen zu »Kindereien« zu sehr ausgeprägt waren, wollten die Verwandten ihn wieder loswerden. Die Mutter gab dann den Gymnasiasten beim kgl. Professor a. D. Hubert Merk – der »Hauptmann Semmelmaier« in Tante Frieda – in der Rumfordstraße 24/IV re. in Pension. Ein »paar Verliebtheiten« fielen auch in diese Münchner Zeit. Thoma, nun in der Pubertät, wusste selbst, dass er »kein Schmuck für die Familie« war. Voller Verzweiflung beklagte sich die Mutter im Mai 1884 bei ihrem nach Australien ausgewanderten ältesten Sohn Max:

… Ludwig macht mir so viel Verdruß u. Kummer ich muß augenblicklich eine andere Wohnung für ihn nehmen da ihn Onkel nicht mehr behält, daß mir Ludwig so viel Herzleid anthun kann, wie schön könnte er es haben, er hätte es Viel besser als Ihr es hattet, nun lohnt er es mit solchen Undank, in der Classe geht es gerade so, doch Viel darf nicht kommen, ist es auch vorbei, was anfangen ich wüßte keinen Rath u. ein Bursche der lügt nascht u. roh ist taugt ja nirgends Etwas. Wie oft sage ich ihm welch unsäglicher Schaden es für die Schwester dann ist, den kein Mann hat Lust in solch eine Familie zu kommen und wär weiß was schon am See die Ursache war, wie schwer ich mich halte wen so Etwas ist, wie oft habe ich den lieben Gott gedankt, daß wir so in Achtung da waren, aber wenn Ludwig so fort macht, wie weit wird er kommen u. man wird dan auch uns meiden, ich habe ihm schon oft gesagt, mein Max, wen da wäre wie würde er es Dir sagen, u. erst lieb Papa seel. wen er wüßte welch Undank ich von Ludwig hätte.

Dieser Brief der Mutter ist ein vernichtendes Urteil über den 17jährigen Sohn, bar jeder Milde und jeden Verständnisses. Genau genommen hatte die Mutter mit ihrem 1880 nach Australien ausgewanderten Sohn Max während dessen Lehrlingszeit viel größere Probleme: Er log und stahl, flog aus zwei Lehrstellen. Schließlich hatte er das Glück, dass er als Vertreter der Schnitzwarenverleger Lang nach Australien gesandt wurde. Zwei Jahre später folgte ihm sein Bruder Peter. Beider Tätigkeit in Australien blieb ohne Erfolg. Jetzt aber sollte ausgerechnet Max den jüngeren Bruder zur Raison bringen und ihm auf Wunsch der Mutter »einen recht bösen Brief schreiben.«

In München steigerten sich die »Orientierungsschwierigkeiten« des 18jährigen Schülers Ludwig. Es kam zu einem Eklat bei Professor Merk, was auch mit dessen Frau zusammenhing. Keiner schien Ludwig zu verstehen, am wenigsten aber die Mutter. Wieder einmal hatte er von ihr einen vorwurfsvollen Brief erhalten, auf den er mit einer heftigen Rechtfertigung reagierte:

Liebe Mama! Deinen lieben Brief habe ich erhalten u. daraus ersehen, daß Du über meinen nicht sehr entzückt warst; deswegen gehe ich aber von meiner Aussage durchaus nicht zurück.

Einen Brief von Dir zu lesen, auf das hin dem Vormund zu sagen, man »könne« mich nicht mehr haben, über mich in einer Weise loszuziehen, die wirklich wunderbar ist, mir zu drohen, alles, was sie überhaupt von mir wissen, dem Rector zu sagen aus dem Grunde, weil ich nicht mehr komme, ist eine »Gemeinheit«, die ihresgleichen sucht, u. die wenigstens ich zu würdigen weiß, Herr Vormund (Ludwig von Raesfeldt, d.V.) hat mir offen alles wieder gesagt u. hat mich gefragt, was ich darauf zu sagen habe. Nun, wenn ich Dir sage, daß er mir bei der Charakteristik Merks Recht gegeben, so kann Dir das genügen. Er ist eben ein Mann u. läßt sich nicht durch das Gefasel u. den Salbader eines Menschen, wie Merk’s rühren. Nie habe ich geglaubt, daß der Professor »ein so miserabler Kerl« ist; … Wie ich erfahren mußte, trischt die Merk in einer Weise über unsere Familie, die wirklich empörend ist. Peter, erzählte sie allen ihren Bekannten, habe dem Pfarrer die Hostie ins Gesicht geworfen, sei dann, um dem Zuchthause zu entgehen, nach Australien geschickt worden. Ich mußte mir es erzählen lassen von einer Frau, die mir ihr »Mitleid« über dies Familiendrama aussprach. Prost! Da hast Du die lieben guten Professors. Ich habe das Maul gehalten gegen sie, weil ich gebunden bin u. werde es auch ferner thun, aber ein gutes Wort ihnen noch zu geben, dazu bringt mich kein Teufel. –

Ich muß mich überhaupt wundern, daß Du Dich auf ein paar frömmelnde u. scheinheilige väterlich aussehende Worte Merks rühren u. lenken läßt. Da hat »der Kerl« freilich leichtes Spiel. Wenn er es wagt u. will mir so väterlich kommen, dann speie ich ihn an … Wahrscheinlich wird er Dir wieder sehr besorgt schreiben u. Du über seine väterliche Zuneigung entzückt sein. Mama! Mama! Ich will nichts gesagt haben, aber wenn Du weniger leeren Worten glauben würdest, könnte es Dir nicht schaden. Von Anfang warnte ich Dich zu vertraut mit den Leuten zu sein; Du scheutest Dich nicht zu sagen, daß es Peter u. Max nicht gut gehe, siehe die Früchte Deiner Vertrauensseligkeit! Nicht wahr wäre es, sagte die Merkin, daß meine Brüder ein Geschäft hätten, bei irgend einem Handwerker wären sie untergebracht »die Taugenichtse«. – Auch Herrn Rector muß sie oder er die schöne Fabel von Peter erzählt haben, denn dieser sagte zu mir »Sie haben ja zwei verunglückte Brüder«? Und als ich sagte: Wie so? meinte er, sie hätten nichts getaugt … Um wieder auf Deinen Brief zu sprechen zu kommen, so will ich Dich bitten, mir keine Vorwürfe wegen Merks zu machen, ich weiß selbst, was ich ihnen gegenüber zu thun habe, u. das ist, daß ich sie ignoriere, auch beim Fortgehen, ich nehme da keine anderen Gründe dagegen an, das thue ich, ist so sehr wenig. –

Auch bin ich am Schlusse des Jahres nicht gesonnen, kummervolle Briefe zu schreiben, ich habe Grund zur Lustigkeit u. bin auch lustig; heute gieng ich auf die Haidhauser Dult, damit Du weißt, wo ich am Sonntag war; kasteien u. Stubensitzen thue ich nicht. Überhaupt begreife ich Deinen ganzen Brief nicht, Kummer?? Ich glaube, Du bist es so gewöhnt, mir immer von Deinem Kummer zu schreiben, daß Du nicht mehr anders kannst. Meinen möchte man es. Das ist zum Wahnsinnigwerden. Am Ende des Jahres, wo man gewiß weiß, daß man aufsteigen darf, von Kummer zu reden. Bist Du denn so ganz anders als andere Leute? Die freuen sich, daß das Jahr gut zu Ende ist u. Du hast Kummer!! Nun, ich kann nicht helfen, mehr kann ich nicht thuen, als Dir beweisen, daß Du keinen Grund dazu hast. Also, wenn ich Dich bitten darf, so sei so gut u. versalze mir nicht die ganze Freude aufs Wiedersehen, die jetzt schon ziemlich abgekühlt ist, denn als Kind kann u. will ich mich nicht behandeln lassen. Das hätten wir jetzt hoffentlich abgemacht … Nochmals möchte ich Dich bitten, nicht wieder an Kummer u. derlei Dinge (?) zu denken …

Grüße an alle, besonders An Dich

von Deinem Dich liebenden

Sohn Ludwig

Mir that es selbst weh, Dir so schreiben zu müssen Mama, aber Du hast mich durch Deinen Brief gezwungen.

München, 26. Juli 1885

Die Mutter war »Inhalt und Motivation«[9] seines Lebens, wie es dieser Brief deutlich zeigt. Thoma kämpfte selbst als 18jähriger noch vergeblich um die Liebe der Mutter, die ihm jedes Lob versagte und sich voll Selbstmitleid bei ihrem Sohn stets nur beklagte.

Ludwig Thomas Brief steht allerdings im krassen Gegensatz zu den Schilderungen seiner Schulzeit in seinen Erinnerungen. Dort kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Thoma »ein Leben lang bestrebt ist, den Eindruck eines geradezu idealen Muttererlebnisses zu erwecken«.[10] In Wirklichkeit jedoch bestand eine gestörte Mutterbeziehung, die ihren Ursprung darin hatte, dass der »untröstliche und ungetröstete Bub«[11] nach dem frühen Tod des Vaters auch noch die Trennung von der Mutter zu verkraften hatte. Thoma kehrte im Grunde genommen erst als Erwachsener wieder heim zur Mutter. In den wenigen Wochen der Sommerferien – die Hauptsaison für den Gastbetrieb – blieb ihr kaum Zeit für Zuwendungen an ihren Sohn. Selbst wenn er ein Schuljahr erfolgreich hinter sich gebracht hatte, war sie nicht mit ihm zufrieden, sondern ermahnte ihn, noch fleißiger zu sein, um noch bessere Noten zu bekommen. Sie reagierte immer gereizter auf ihn und zeigte »die klassische Fehlhaltung von Erwachsenen, die den Kindern zu einem geordneten Lebensweg und sich selbst zum Ausgleich unerfüllter Hoffnungen verhelfen wollen«.[12]

Während in den Lausbubengeschichten die gute Mutter Thoma in stiller, duldender Liebe ihre unendliche Milde ausbreitet, reagierte Ludwig Thomas eigene Mutter in Wirklichkeit stets ohne jedes Verständnis auf dessen Streiche. Auf der anderen Seite war die äußerst tüchtige Frau als Mutter von heiratsfähigen Töchtern, als Witwe und Gastronomin ganz besonders auf die Achtung ihrer Umgebung angewiesen.

»Liebe Mama – Du siehst, es geht alles gut«

Im August 1886 legte Ludwig Thoma schließlich sein Abitur in Landshut ab. Er kehrte heim nach Traunstein, wo seine Mutter 1883 den Gasthof Zur Post gepachtet hatte. Ausnahmsweise mit sichtlichem Stolz und großer Erleichterung holte die Mutter zusammen mit ihren vier Töchtern den Sohn am Bahnhof ab: »So hatten nun die Bürger dieser Stadt Gelegenheit, mich in Farbenpracht mit dem pede libero stolzieren zu sehen und der braven Frau Oberförster zu dem Erfolge ihres Sohnes Glück zu wünschen.«

Allzu viel sprach Ludwig damals nicht, da er von der mehrere Tage dauernden Abiturfeier in Landshut stockheiser war. Dies wiederum veranlasste die Viktor, ihm zu sagen, dass er doch »sehr versoffen« aussähe. Sie gab sich damals etwas gekränkt, da sie als »Hüterin des Hauses« ihn nicht auch schon am Bahnhof hatte begrüßen dürfen. Doch dann meinte sie zu Ludwig, dass nun für ihn der Weg zum Beruf des Vaters offenstünde und er möglicherweise eines Tages Oberförster in der Vorderriss werden könnte.

Ludwig Thoma ging damals tatsächlich an die Forstakademie nach Aschaffenburg, wechselte aber bereits nach zwei Semestern zum Studium der Rechtswissenschaft nach München und Erlangen. Er wollte lieber Anwalt werden. Mit großer Genugtuung schrieb er seiner Mutter am 5. Februar 1893 aus München:

Liebe Mama,

Soeben kommt Goes (= ein Studienkollege Thomas), daß ich als Praktikant bei dem berühmten Dr. Loewenfeld, Rechtsanwalt und Privatdozent, aufgenommen werde. Hurrah! Es ist so ziemlich hier die feinste Anwaltschaft. Du siehst, es geht alles gut.

Anstatt sich über diesen Erfolg ihres Sohnes zu freuen, hatte die Mutter jedoch wieder nur Ratschläge parat. Sie warnte Ludwig vor dem »Strudel der Münchner Vergnügungen«. Doch der inzwischen immerhin 26jährige Sohn teilte ihr mit, dass er den Abend lediglich entweder im Café Heck oder in der Nürnberger Wurstküche verbringe. Er esse dort zu Abend und trinke ein paar Glas Bier. Der Viktor gestand er, dass die Wurstküche fast so gut sei wie ihre Küche, das Hofbräuhaus-Bier schmecke einmalig. Doch wegen dieser Genüsse musste er sich nun wiederum von Viktor und seiner Schwester Maria ganz abscheulich den Kopf waschen lassen. Sie waren der Meinung, dass der ewig unter Geldnot leidende Praktikant lieber Brot und Käse essen solle statt Fleisch.

Ein schlimmer Schicksalsschlag traf die Familie am 21. Juli 1892: Ludwigs Schwester Luise verstarb im blühenden Alter von 20 Jahren. Sie arbeitete damals in der Poststelle im Gasthof der Mutter in Traunstein. Als ganz junges Mädchen, etwa dreizehn Jahre alt, war sie in die Poststelle nach Oberammergau gekommen und hatte dort wohl bei ihrer Tante Maria gewohnt. Am 23. Oktober 1886 erwähnte Ludwig Thoma jedoch in einem Brief an Oberforstrat Ludwig von Raesfeldt: »Luise wird jetzt bis auf weiteres in Traunstein bleiben, da sie etwas kränklich ist und sehr aufmerksamer Pflege bedarf.« Wann sie wieder nach Oberammergau zurückkehrte, ist nicht bekannt. Zum Jahreswechsel 1889 erhielt »Fräulein Loischen« einen entzückenden Brief ihres »Brüderchens« Ludwig:

Traunstein, 31.(12).89

An Wohlgeboren

Fräulein Loischen Thoma

Postadjunctin oder sowas ähnliches

in Oberammergau

bei Kohlgrub

Liebes Luischen! Dein Briefchen haben wir erhalten u. hat uns sehr gefreut.

Daß das liebe Christkindchen sich so gut eingestellt hat freut mich sehr.

Ich wünsche Dir alles Gute zum neuen Jahr, vor allem daß Du nicht noch süßer wirst, sonst bleibst Du einmal pappen. An Tantchen, Idchen, Guidchen, Clärchen und Röschen recht viele Grüße und alles Gute zum Neuen Jahr, ebenso der Frau Bäschen.

Freu Dich recht an den vielen Messerchen und Tellerchen und Eierbecherchen, Büchelein und Geldbeutelchen, schmiere den Telegraphendraht ordentlich, befleißige Dich im Markenpappen und Stempeln und leite wie bisher den Weltverkehr zwischen Murnau und Oberau, womit ich bin Dein Brüderchen

Ludwig

NB! Mir hat das Christkindchen gebracht: Ein Westchen, ein Jäckchen, Cigarrelein und einige Märkchen.

Das Sterben der Mutter

1893 arbeitete Thoma als Konzipient in der Kanzlei des Rechtsanwalts Xaver Hardt in Traunstein. Wenn er mit der Mutter über kommende Zeiten sprach, überlegten sie sich, wo er sich einmieten sollte, und wie viele Zimmer man brauchen würde, denn es galt für ihn als ausgemacht, dass die Mutter dann die Wirtschaft aufgeben und zu ihm ziehen werde. Die Mutter war damals wegen eines Herzleidens in Behandlung, und ihr Sohn machte sich große Sorgen um sie:

20. Juli 1893 … Die Hauptsache ist aber, liebe Mama, daß Du auch in Seebruck nach den Vorschriften des Herrn Dr. Leonpacher lebst und nicht gleich so scharf anpackst. Es müßte ja auch ohne Dich gehen, und Käthl wird ja gewiß alles tun, um Dich zu ersetzen.

Ich möchte Dir und Peter hier nochmals ans Herz legen, daß Ihr für Kahnfahrten, Baden der Fremden etwas thut und nicht die Hütten unversperrt und vernachlässigt laßt.

Ich habe in Schliersee Gelegenheit gehabt zu sehen wie sehr die Leute darauf schauen. Nimm mir diese Zwischenbemerkung nicht übel, ich sage es nur in Euerem Interesse. Du selbst sollst auch Kahn fahren, liebe Mama. So viel Zeit wird Peter übrig haben, daß der Dich täglich 1–2 Stunden fährt.

In dieser Zeit kam es zu einem Rechtsstreit zwischen der Mutter Thoma und einem Bauern. Thoma schaltete sich sofort in das Geschehen ein – wie es endete, ist nicht bekannt – und befriedigte damit ein wenig die Sehnsucht nach »Genugtuung und Bewährung« vor der Mutter.[13]

Im Mai 1894 erhielt er von seiner Schwester Marie alarmierende Nachrichten über den Gesundheitszustand der erst 63jährigen Mutter. Er schrieb darauf seiner Schwester am 1. Juni:

… Ist den wirklich gar keine Hoffnung mehr auf Besserung? Ich kann den Gedanken nicht ertragen und laufe wie im Traume herum. Wenn nur Mama nicht leiden muß. Das wäre schrecklich. Ich kann verstehen, was Du ausstehst, welche Qualen Dir der Anblick unserer lieben guten Mama macht. Ich werde Dir das auch nie vergessen. Ein Trost muß es uns doch immer bleiben, daß wir Mamale zeigen durften, wie sehr wir sie lieben.

Einen Tag später, am 2. Juni 1894, verschied die Mutter. Thoma hatte einige Tage vor ihrem Ableben nach einem Besuch bei ihr in Seebruck seinem Tagebuch anvertraut:

Und doch muß ich zu Gott beten, daß er Mama bald sterben läßt. Sie leidet so sehr und dann weint sie herzzerbrechend. Ich gehe aus dem Zimmer, weil ich es nicht hören kann … Die letzten Nächte waren schrecklich.

Thoma stilisierte den Tod der Mutter. Diese Sicht ging in sein Erstlingswerk Agricola (1897) und 15 Jahre später in sein Volksstück Magdalena ein.

Dieser Tod der Mutter, um deren Zuneigung und Anerkennung Thoma immer gekämpft hatte, war ein bitterer und einschneidender Moment in seinem Leben; »man muss nicht nach der glatten Formel von der starken Mutterbindung greifen«,[14] um dies zu erklären. In Thomas Erinnerungen steht dazu zu lesen:

Kein Erlebnis hat einen so nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht wie Krankheit und Tod meiner Mutter, und in der Erinnerung an jene Tage, die ich an ihrem Krankenbette zugebracht habe, ist mir erst ganz das Verständnis für die schlichte Größe aufgegangen, die in ihrem mutigen Ertragen des Unabänderlichen lag …

Ihre altbürgerliche Art zeigte sich in der ruhigen Anordnung der Dinge, die nach Brauch und Sitte bei ihrem Begräbnisse beobachtet werden sollten und die, wie sie annehmen konnte, uns nicht mehr so bekannt waren wie ihr. Sie gab uns an, wer im Hause beschenkt werden müsse, was die Leichenfrau und die Träger und die Totengräber zu erhalten hätten, und als wir sie davon abbringen wollten, sagte sie, das müsse auch richtig gemacht werden, und man dürfe nicht ängstlich verstecken spielen.

Das abgeklärte, von Sentimentalität freie Gefühl, das sie dabei leitete, zeigte uns noch einmal ihren zugleich gütigen und tüchtigen Sinn, den sie oft im Leben bewiesen hatte …

Was die Religion betraf, so hatte sich die Mutter ihren eigenen Grundsatz zurechtgelegt, nämlich dass man sich aus den Lehren der Kirche das viele Gute und Schöne entnehmen und sonst nicht nachgrübeln und kritisieren sollte. Sie hat nach ihrer Religion gelebt und fasste das Wesen des Christentums in dem Satz zusammen, »dass man niemandem weh tun dürfe«. Um religiöse Meinungen anderer hat sie sich ihr Leben lang nicht gekümmert, ganz im Gegensatz zu einer sich gegen jeden Zwang auflehnenden Natur, der alten Viktorl.

Dass Thoma auch Jahre nach dem Tod seiner Mutter immer noch nicht über den Verlust hinweggekommen war, zeigt ein Brief, den er im Januar 1919 an seine damalige Geliebte, Maidi von Liebermann, schrieb:

Wie lange Jahre litt ich – und das ist keine Redensart – an dem Verluste meiner lieben Mutter. Mitten in eine Freude hinein klang ihre müde Stimme: »Muß ich sterben, Kind?« und dann wars aus mit Freuen und Sorglossein. Ist Dirs nie aufgefallen – aber Du kennst ja nicht viel von mir – aber vielleicht fällt es Dir noch auf, daß ich immer wieder eine sterbende Mutter (im Vöst, Magdalena) schilderte? Und ich glaube, nicht eine richtige Liebesszene?

Darüber denke einmal nach, Schatz. Von niemand mehr, als vom Künstler gilt das: Wes das Herz voll ist, geht der Mund über. Jedes Schaffen kommt unbewußt aus dem Tiefsten heraus, aus Eindrücken, die nach vielen Jahren wieder wach werden. Ja, fast alles geht auf die Kindheit zurück, weil da die Eindrücke in das weiche Gemüt sich am stärksten einprägen …

Nachdem Maidi von Liebermann Thomas Manuskript Erinnerungen gelesen hatte, war sie der Meinung, er habe über seine Mutter und seine Geschwister zu wenig berichtet. Von den noch lebenden Geschwistern wollte Thoma zwar nach wie vor nichts schreiben, die Ausführungen über den Lebensweg der Mutter ergänzte er im August 1919 dann noch.

Auch als Thoma die ersten Sprossen der Leiter zum schriftstellerischen Ruhm erklommen hatte und im Januar 1903 zur Première der Lokalbahn am K. K. Hofburgtheater nach Wien reiste, dachte er daran, »wie es wohl meiner Mutter zumute gewesen wäre, wenn sie mich vor dem berühmten Theater der alten Kaiserstadt unmittelbar vor der Aufführung meines Stückes gesehen hätte. Wie ein unglaubwürdiges Glück wär’s ihr vorgekommen, wie eine märchenhafte Fügung des Schicksals, das den Buben aus der Vorderriß in dieses marmorne Prachtschloß geführt hatte. Und war’s auch nicht ganz so wundersam, wie sie es empfunden hätte, merkwürdig war es doch, und das Erreichen eines Zieles war es doch …«

Durch den Tod der Mutter 1894 änderte sich auch das Leben von Ludwigs Geschwistern. Die Mutter hatte den gepachteten Gasthof Zur Post in Traunstein ab 1883 zusammen mit Thomas Schwestern geführt. Als ihr zweitältester Sohn Peter 1892 aus Australien – er war 1882 seinem Bruder Max dorthin gefolgt – zurückgekehrt war, kaufte sie zusätzlich den Gasthof zur Post in Seebruck am Chiemsee für 65 000 Mark. Peter und seine Schwester Luise übernahmen die Posthalterei und betrieben mit der Mutter zusammen die Gastwirtschaft. Die Schwestern Käthi und Bertha bewirtschafteten nach wie vor das Gasthaus in Traunstein. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, warum die Geschwister 1896 den Gasthof in Seebruck verkauften und den Pachtvertrag in Traunstein auflösten. Wahrscheinlich waren sie unfähig, ohne die tüchtige Mutter die Gastwirtschaften zu betreiben.

Peter war damals 30 Jahre – er wanderte erneut nach Australien aus –, Marie 34, Katharina 26, und Bertha 21 Jahre alt, und alle waren unverheiratet. Dazu kam noch die knapp 70jährige Viktor. Und nun lagen sie dem 29jährigen Ludwig auf der Tasche, der sich gerade entschlossen hatte, Anwalt in Dachau zu werden. Er übernahm mit der Fürsorge für die Geschwister eine selbstauferlegte Verpflichtung. Sie hielten ihm nämlich des Öfteren vor, dass die für sein Studium angefallenen Kosten ihre eigene Ausbildung verhindert hätten. Allerdings hatten die Schwestern Katharina und Bertha als junge Mädchen die Lehr- und Erziehungsanstalt der Englischen Fräulein in Altötting bzw. Aschaffenburg besucht.

Im Oktober 1894 war die Entscheidung für eine Anwaltskanzlei in Dachau gefallen. Voll Überschwang informierte Thoma seine Schwester Marie:

München 16. Oktober 1894

Liebe Marie! Morgen erfolgt mein Einzug in Dachau; ich stehe nun zum erstenmal in eigenen Schuhen und muß das Schwimmen probieren. Was hätte wohl Mamale gesagt, und welche Segenswünsche hätten meinen Anfang begleitet … Ich werde, wenn die Praxis sich macht, im November 1–2 Tage zu Dir kommen. Diesmal stelle ich eine Bitte an Dich. Kaufe auf meine Kosten – ich schicke Dir sofort das Geld – ein Schwein und lasse es suren und räuchern. Ich habe mir ausgerechnet, daß ich um das Dreifache billiger lebe, wenn ich öfter zu Hause esse, und lieber ist es mir auch. Lasse es so herrichten wie damals im November 91. Du wirst vielleicht lächeln über meine Bitte, aber ich fange halt jetzt meinen eigenen Hausstand an.

Das »Weibervolk«

Ab September 1895 konnte Thoma es sich leisten, die Viktorl nach Dachau zu holen, damit sie ihm den Haushalt führe. Sie kam mit Freuden. War es ihrer Meinung nach zwar keine Stelle wie einstens beim Oberförster in der Vorderriss, so war es doch immerhin eine im ersten selbständigen Haushalt des »Herrn Doctor«, den sie schon als Kind auf dem Arm getragen hatte. In Dachau galt sie als »d’Frau Mutter« des Rechtsanwalts, die sie ja altersmäßig hätte sein können. Neben der Hausarbeit betätigte sie sich auch als »Empfangsdame« in der Kanzlei. Da sie grundsätzlich für die kleinen Leute eintrat, war sie für die ratsuchenden Klienten so vertrauenerweckend, dass sie bei Abwesenheit des Rechtsanwaltes gleich die Vorgespräche führte. Thoma ließ von ihr auch Schreibarbeiten ausführen, was sie als besondere Auszeichnung ansah. Zum Viktorl gesellten sich in Dachau dann auch noch Thomas Schwestern Marie und Bertha sowie die Haushaltshilfe Liesl.

Für Thoma begann nun eine »stille, liebe Zeit«: umsorgt von vier Frauen. Seine häusliche Situation schilderte er seinem Freund, Assessor Frankl, wie folgt:[15]

Nach längerer Pause fühle ich den Drang in mir, Ihnen ein Lebenszeichen zu geben … Wenn in unserem stillen Wohnzimmer in Dachau die alten Bekannten Revue passieren, es geschieht das fast alle Tage, so marschieren Sie stets an der Tete. Die weiblichen Bestandteile meines Hauswesens geben Ihnen wohl ab u. zu einen der anderen Halbgötter z. B. Huber, Dr. Jäger, Hardt an die Seite; für gewöhnlich marschieren jedoch Sie allein voran; der gemischte Haufen hinterdrein. – Wir leben sehr ruhig; ich habe mich wieder in die Rolle des einzigen Hahnes im Hühnerhofe, selbstredend ohne weitere Vergleiche, eingelebt u. fühle mich erstaunt, wie wohl einem so viel Fürsorge tut. Als pater familias gehe ich pünktlich jeden Abend aus, während das Weibervolk sich mit laustegeln vergnügt. Unsere Gespräche haben ihren Mittelpunkt in mir, so daß jegliche Frage erst gelöst erscheint, wenn ich das Maul aufgetan habe. Der kleine Krieg zwischen Victorl u. Marie ist im Erlöschen begriffen u. ist nur mehr ein kleines Plänkeln, welches seine Richtung auf meinen Beifall nimmt. Die alte Viktorl hat reichliche Gelegenheit, die sämtlichen Erlebnisse aus ihrem nur anscheinend ruhigen Leben zu erzählen. Sie begann damit am 3. September, u. obwohl sie jeden Tag eine Reihe von sich gibt, ist sie heute doch noch nicht fertig, ja es scheint nicht einmal, als ob irgend eine merkliche Verringerung dieser Fülle eingetreten wäre. Die Verwandten u. Bekannten von Victorl müssen eine ganz erstaunliche Vielseitigkeit besessen haben, da auf jede Situation des täglichen Lebens, der häuslichen Arbeit irgend ein Sinnspruch der Familie Pröbstl citiert werden kann …

Die beschriebene Idylle mit dem »Weibervolk« darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der inzwischen 29jährige »brummige Junggeselle, Wirtshäusler und Leseratz« nach einer Ehefrau sehnte. Er hatte zwar in seiner Münchner Zeit einige Affären gehabt, doch in Dachau schien es für ihn schwierig zu sein, junge Damen kennenzulernen. So gab er 1896 Bekanntschaftsanzeigen auf oder antwortete auf Heiratsannoncen in Zeitungen. Unter dem 13. Dezember notierte er im Tagebuch:

Reger Briefverkehr mit Wien. Reizend mit Frl. Ida. Pikante schl(anke) Wiener Dame; ebenso Frl. Magda. Frau Martha, eine sehr j(unge) Wittwe schreibt sehr energisch; elegisch ein Frl. Reder. Ich versuche noch Annäherung an e(ine) g(ewisse) Renee, R. W. bis jetzt ohne Erfolg.[16]

Und sechs Tage später, am 19. Dezember, findet sich der Eintrag: »Die Wienerinnen bombardieren mich mit Briefen!«

Unterstützung der Geschwister

Schon Anfang 1896 hatte sich der Personenstand des Haushalts geändert. Die beiden Schwestern waren nach München gezogen. Sie wurden spielend von Viktorl ersetzt. Die »moderne Scheherezade« ließ nun sämtliche Schongauer Märchen an der Haushaltshilfe Liesl aus. Thoma fühlte sich als untaugliches Objekt für die Schönheit von Viktorls Erzählungen, denn er verfolgte eine Geschichte, die er schon 3–4mal erzählt bekommen hatte, beim fünften Mal nicht mehr mit der gebührenden Spannung.

Viktorls Bewunderung für ihren Schützling wuchs ins Unermessliche, als dieser an einem strahlenden Maitag zur Feier des 25. Jahrestages des Frankfurter Friedens auf dem Marktplatz in Dachau eine Ansprache an die Veteranen hielt. Sie stand an einem Fenster des Zieglerhauses und vergoss Tränen der Rührung und hatte nur den einen Wunsch, dass dies alles Thomas Mutter noch hätte miterleben dürfen.

Die beiden Schwestern konnten inzwischen unter denkbar günstigen Verhältnissen eine »Pension« in München erwerben. Thoma freute sich, dass sie damit auf eigenen Füßen stehen konnten. Sie hatten dort mit vornehmen Leuten zu tun, »die sie gleichstehend mit größter Liebenswürdigkeit behandeln. Bertha hat reizenden Anschluß gefunden u. wird die diversen Traunsteiner u. Seebrucker Ecken abschleifen, was dann einen prächtigen Edelstein abgeben wird.«[17]

Marie und Bertha hatten in der Arcisstraße 41 das Erdgeschoss und den ersten Stock gemietet. Somit waren die beiden Frauen nur Zimmervermieterinnen, betrieben also keine gewerbliche Pension. Das ganze Unternehmen dauerte nur ein knappes Jahr. Marie erkrankte so schwer, dass sie in die nahegelegene Privat-Heilanstalt Josephinum gebracht wurde, wo sie am 15. Juni 1897 mit knapp 37 Jahren verstarb.

So ganz klar ist die Geschichte mit der Pension nicht. Denn einmal schrieb Thoma, dass er seiner älteren Schwester Marie eine Pension gekauft und nach deren Tod »ziemlich alles« verloren habe, ein anderes Mal teilte er seiner Cousine Ricca Lang mit, Viktoria Pröbstl habe ihr »kleines Vermögen« an Maria geliehen und nicht mehr zurückbekommen.

Bertha war nach dem Tod der Schwester kurze Zeit Haushälterin bei einem Apotheker in der Liebigstraße und führte dann ab Oktober 1897 zusammen mit Viktorl ihrem Bruder Ludwig den Haushalt, der inzwischen in München in der Augustenstraße 19/I im Gartenhaus wohnte. Er hatte am 1. 4. 1897 seine Kanzlei in Dachau aufgegeben und sich für München entschieden. Dies wiederum konnte Viktorl beim besten Willen nicht verstehen. Sie litt sehr darunter, dass der »Herr Doctor« mit seinem sorgenfreien Leben in Dachau nicht zufrieden sein wollte. »Die Jahre in Dachau brachten Ludwig Thoma ein geistiges Kapital ein, an dem der Dichter und Satiriker sein Leben lang zehrte.«[18]

Die große Freude des Jahres 1897 war für Thoma das Erscheinen seines ersten Buches mit dem Titel Agricola. Bauerngeschichten. Die Schriftstellerei begann ihm schon seit 1896 mehr Freude zu bereiten als die Anwaltstätigkeit. Thoma entdeckte sein »Phäakengemüt«, und wenn er nicht auf seine Geschwister hätte Rücksicht nehmen müssen, hätte er längst schon alles leichten Herzens aufgegeben, um Schriftsteller zu werden, was er dann ja auch im September 1899 tat. Nach dem Verkauf seiner Rechtsanwaltspraxis zog er in zwei möblierte Zimmer in der Lerchenfeldstraße 5. Für Viktor und seine Schwester Bertha mietete er ein kleines Haus in Allershausen und unterstützte beide mit monatlich 180 Mark.

Seine 31jährige Schwester Katharina verheiratete sich am 22. Juni 1899 mit dem aus Langenstadt, kgl. Bezirksamt Kulmbach, stammenden protestantischen Adam Hübner (*27. Mai 1868), der als Stationskommandant in Allershausen lebte. Als Trauzeugen fungierten die Gendarmen Georg Kammerl und Johann Küspert. In der Standesamtsurkunde wurde als Wohnsitz von Katharina Thoma vor ihrer Eheschließung Schwarzenbach an der Saale angegeben. Offensichtlich war sie dort in »Stellung« gewesen und hatte in Franken ihren Mann kennengelernt. Die verwitwete Kathi starb 1958, kurz vor ihrem 90. Geburtstag, im Krankenhaus in Egenhofen bei Fürstenfeldbruck.[19]

Die Schwägerinnen Jenny und Gertraud

Max Thoma kam am 18. Juli 1901 mit seiner englischen Frau Jenny, den vier Buben sowie Bruder Peter nach Deutschland zurück. Die Heimreise hatten Ludwig Thoma und die gute Viktoria Pröbstl mit ihren letzten Ersparnissen finanziert. Ludwig Thoma brachte die Heimkehrer erst einmal bei Viktor Pröbstl und Schwester Bertha in Allershausen unter. Doch das ging gründlich schief, da Viktor in Jenny eine »drohende Gefahr für ihre oberherrliche Gewalt in Allershausen« sah. Viktor schuftete von morgens um sechs Uhr an, und Bertha half so fleißig, dass sie gleich »etliche 10 Pf.« abgenommen hatte. Es dauert nicht lange, da hatten Viktor, Bertha, aber vor allem die in Allershausen lebende Käthi, den Bruder mit seiner Familie so verärgert, dass Ludwig Thoma nun seine Cousine Ricca Lang in Oberammergau bat, für Max und dessen Familie dort eine Bleibe zu finden, was dann auch geschah. Thoma, der damals in Berlin weilte, machte in einem Brief vom 27. November 1901 seinem Herzen über die ganze Angelegenheit Luft, und Schwester Käthi kam dabei gar nicht gut weg.

Daß Max Dir nicht schreibt, ist mir nicht recht – aber lb. Viktorl, sei mir nicht böse, wenn ich Dir was sage. Ich schrieb es auch an Käthl. Es wäre vieles anders geworden, wenn Käthl nicht schon die ersten 8 Tage mit ihrer Krittelei angefangen hätte. Max kam mit hochgespannten Erwartungen und Gefühlen herüber und fand sofort strenge Kritik und Tadlerei …

Mit der Zeit, altes Viktorl, wird das schon sich bessern und glätten, aber ich verstehe, daß Max etwas bitter gegen Käthi ist. Ich gebe Dir auch darin recht, daß Jenny nicht die Perle aller Hausfrauen ist. Ich selbst habe immer Besorgnis gehabt, daß Du mir zu viel arbeitest und ich habe mich im Stillen geärgert, wenn Jenny sich bedienen ließ. – Aber ich sah darin bloß einen Anlaß, recht bald eine Änderung herbeizuführen. Reden und kritisieren bessert die Sache nie wenn in Gottesnamen die Mutter seiner vier Buben nicht Tag für Tag wie ein Schulmädel an alle möglichen Pflichten erinnern. Denke doch einmal nach, wie fürchterlich empfindlich Käthl ist gegen jeden noch so harmlosen Scherz auf ihren Adam.

Was hätte sie gesagt, wenn Max ihren Mann mit so offenbarer Abneigung und Feindseligkeit angeschaut und angeraunzt hätte, wie Käthl dies der Jenny tat.

Ich habe auf Nadeln gesessen, wenn Käthi im Lehnstuhl saß und Jenny bei jeder Gelegenheit mit ihren Blicken durchbohrte und halblaute Randbemerkungen machte, die Max recht wohl hörte. Er schwieg. Und gerade das war für ihn das Schlimmste.

Er fühlte sich als Bettler behandelt. Wenn er unsere Hilfe nicht gebraucht hätte, würde er sich mit Käthi schon verstanden haben …

Max und Jenny fühlten sich nicht wohl in Deutschland. Thoma meinte, dass die Sehnsucht seines Bruders nach Australien »lediglich das Heimweh von Jenny ist«; dazu hatte Thoma eine seltsame Erklärung:

Wenn Jenny Heimweh hat, ist es begreiflich; ihre Pflicht ist, dies Max zu verbergen u. sich in der Heimat ihres Mannes u. ihrer Kinder, die drüben gar keine Zukunft hatten, einzugewöhnen.

In dem Punkt gibt es bei mir keine Anwandlungen von Weichheit. Max hat seiner Frau die schönsten Lebensjahre geopfert, er hat Jahre lang in den unangenehmsten Verhältnissen gedient, alles weil er J. heiratete. Nun mag sie einigermaßen abtragen, indem sie ihm die alte Heimat wohnlich macht.

Daran, dass es Max in Australien beruflich zu nichts gebracht hatte, war ganz sicher nicht seine Frau schuld. Der unverheiratete Peter lebte dort auch nur als Gelegenheitsarbeiter.

Im Juni 1902 mietete sich Thoma mit seinem gesamten Familienclan beim Sixt-Bauern in Finsterwald zur Sommerfrische ein. Thoma gefielen seine vier »australischen« Neffen sehr. »Ich fühle mich ordentlich stolz als Onkel dieser verflucht guten Rassenhunde … wundervolle stramme Bengels …« Doch schon am 3. August verließ Max mit seiner Familie wieder die Heimat und wanderte nach Austin bei Winnipeg in Manitoba / Kanada aus; später zogen sie nach San Diego in Kalifornien.

In einer für Thoma schwierigen Zeit, seinem vergeblichen Ringen um Maidi von Liebermann, heiratete sein 55 Jahre alter Bruder Peter am 26. November 1919 Gertraud Günther, die protestantische, berufslose Tochter des in Leipzig lebenden Telegrafensekretärs Max Günther.

Schon Anfang November 1919 hatte Thoma Maidi mitgeteilt, dass er bei Peters Hochzeit nicht dabei sein werde. »Ich will mit diesen Leuten nichts zu thun haben. – Sächsische Ratzen.« Er bekräftigte sogar ein weiteres Mal, dass er von der Hochzeit keine Notiz nehmen werde:

Das ist hart, Maidi, oder sieht hart aus. Ich mag nicht lügen u. will keine Berührung mit dieser Familie.

Ich nehms bitterer als ich Dir sagen möchte.

18 Jahre habe ich Peter als erwachsenem Menschen ein Heim gegeben, nie merkte er, dass es mir zu viel war … Und jetzt als alter Kerl heiratet er diesen Firmling, diesen Schulfratzen, und setzt sich einfach hin als Ehemann.

Er wird u. soll erfahren, daß man mit dem Leben nicht Schindluder treibt. Von der Familie kommt mir nie jemand auch nur zum flüchtigsten Besuch ins Haus. Ricca (= Ehefrau von Thomas Cousin Guido, d. Vf.) sagte mir heute am Telefon, daß Peter erst heute seine Dummheit besiegelt. Er soll liegen, wie er sich bettet.

Peters Frau war am 3. November 1899 in Markdorf bei Überlingen geboren und somit 35 Jahre jünger als er. Sie lebte vor ihrer Heirat zusammen mit ihrer Schwester zur Untermiete bei Familie Kleinmeyer in Tegernsee. Dorthin zog auch Peter nach seiner Verheiratung. Nur ein paar Tage nach der Hochzeit, am 7. Dezember 1919, kam ihr Sohn Maximilian zur Welt.

Die Ehe von Peter und Gertraud hielt nur bis zum 7. April 1924. An diesem Tag meldete er sich in Tegernsee wieder ab und zog erneut nach Rottach, wo er bereits am 22. Mai des gleichen Jahres verstarb, erst 59 Jahre alt. Er ruht unweit seines Bruders Ludwig im Friedhof von Rottach-Egern.

Gertraud Thoma stand mit Maidi von Liebermann in Kontakt. Am 30. März 1924 sandte sie ihr folgendes Dankesschreiben: »Erlaube mir ihnen meine Rechnung zu schicken, deren Begleichung Sie übernehmen wollen. Haben Sie tausend Dank im voraus, und ich versichere Ihnen hiermit nochmal, daß ich Ihre Großmut in der Weise nicht wieder in Anspruch nehmen will. Gnädige Frau, Sie verhelfen mir durch Ihre Güte und Entgegenkommen zum Beginn eines neuen Lebens. Ich will jetzt gern arbeiten, um mir Ihr Vertrauen u. Ihre Zuneigung wiederzugewinnen. Bübchen läßt Ihnen durch mich Alles Gute wünschen! Trude Thoma«

Gertraud Thoma verließ Tegernsee am 23. September 1925 und zog mit ihrem Kind nach München. Sie verschied dort am 25. März 1976. Ihr Sohn Max starb am 8. Juli 1988 ebenfalls in München.

Trauer um die »Pflegemutter«