Luftpost zwischen Tag und Nacht - Leo Pinkerton - E-Book

Luftpost zwischen Tag und Nacht E-Book

Leo Pinkerton

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Beschreibung

Lili Robinson, 35 Jahre alt, finanziell unabhängig durch eine kleine Erbschaft ihres Großvaters, mietet ein möbliertes Haus in einer Kleinstadt, um dort Geschichten zu schreiben und diese zu illustrieren. Der Besitzer des Hauses befindet sich für ein Jahr in Amerika. Nachdem sie sich häuslich eingerichtet hat, beginnt sie mit ihrer Arbeit. Schon nach kurzer Zeit stellt sie fest, dass sie nicht allein im Haus ist. Jemand Fremdes hat mit einem roten Stift auf ihr Papier geschrieben. Lili durchsucht das Haus, findet aber niemanden und glaubt an die Anwesenheit eines Geistes. Professor Rufus Wittgenstein jun., der in seinem Haus an einem Fachbuch für Chemie arbeitet, wird mit der Situation konfrontiert, dass eine junge Frau sein Haus bezieht, ohne dass er etwas dagegen tun kann. Die Frau erscheint ihm wie ein Hologramm, mit dem es jedoch für ihn keine haptische oder akustische Möglichkeit der Kommunikation gibt. Offensichtlich nimmt sie ihn überhaupt nicht wahr. Er kann sogar durch sie hindurch laufen. Lediglich ein blauer Briefblock, den sie zum Schreiben benutzt, erscheint real in Rufus' Welt. Er nutzt die Gelegenheit, sich ihr darauf mitzuteilen. Nach einer anfänglichen Phase der Verwirrung, in der beide darauf bestehen, das alleinige Recht zum Bewohnen des Hauses zu haben, beginnen Lili und Rufus einen schriftlichen Dialog in blauer und roter Schrift auf besagtem Luftpostpapier. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, wie es zu ihrem unerklärlichen Phänomen kommen konnte.

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Seitenzahl: 193

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Table of Contents
Luftpost zwischen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
Kapitel 1a
Danksagung
Vielen Dank lieber Leser, dass Sie dieses Buch gekauft haben

Luftpost zwischen

Tag und Nacht

Besuchen Sie uns im Internet:

www.verlagshaus-el-gato.de

Taschenbuchausgabe

1. Auflage Januar 2014

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch teilweise - nur mit

Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Cassandra Krammer

Bildnachweis: © Shutterstock / ukmooney - 94936297

Satz: Verlagshaus el Gato

Lektorat: Andrea el Gato, Antonia Benthack Druck: Booksfactory

ISBN: 978-3-943596-48-9

Luftpost zwischen

Tag und Nacht

Roman

Leo Pinkerton

Verlagshaus el Gato

für den Uhrmachermeister,

der mir das große Rätsel der Zeit schenkte.

für Tante Marianne,

die mir das Leben mit auf den Weg gab.

Kapitel 1

Rufus fuhr erschrocken zusammen. Er ging gerade durch den weitläufigen Flur seines Hauses, als sich die Eingangstür plötzlich öffnete. Eine Frau trat ein. Sie stellte einen großen Koffer auf dem Boden ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. All dies geschah, ohne dass Rufus ein einziges Geräusch vernahm. Er sah eine Schweißperle die Stirn der Frau hinunterrinnen.

„Wer sind Sie? Wie sind Sie hereingekommen?“, fragte er unsicher. Die Frau reagierte nicht. Sie hielt den Kopf schräg und schien auf ein Geräusch zu horchen.

Rufus ging auf sie zu. „Hallo! Sie! Was tun Sie hier?“, fragte er lauter als vorher.

Die Frau streckte ihre Hand aus und griff in einen feinen Lichtstreifen, der wie der Strahl eines Scheinwerfers den Flur entlanglief. Sie lächelte. Ihre Hand ging durch Rufus‘ Körper hindurch, ohne ihn zu berühren. Erschrocken wich er nach hinten aus und befühlte ungläubig seine Brust. Sie war fest. Rufus ging wieder einen Schritt nach vorn. Vorsichtig streckte er seine Hand aus und näherte sich der Fremden. Seine Finger zitterten, als er durch ihren Körper hindurch fuhr, als wäre er Luft.

„Oh, mein Gott“, flüsterte er.

Lili stand einen Moment reglos in der Diele des fremden Hauses. Sie stellte ihren braunen, großen Koffer ab. Sein abgewetztes Leder zeigte, dass er sie schon auf vielen Reisen begleitet hatte. Lili lauschte in die Stille des Hauses. Ein muffiger Geruch lag in der Luft. Der Gedanke, für ein Jahr, völlig abgeschieden von ihrer gewohnten Umgebung, an diesem Ort zu wohnen, kam ihr plötzlich absurd vor. Sie hatte nicht erwartet, dass das Haus so groß war.

Der Eigentümer, ein Professor, hielt sich im Ausland auf. In Amerika. In der kleinen Zeitungsanzeige hatte sie gelesen: Möbliertes Haus in ländlicher Umgebung für ein Jahr preisgünstig zu vermieten. Es hatte so verlockend geklungen, dass Lili spontan beim Makler anrief. Das Glück war auf ihrer Seite, sie war die Erste, die sich auf die Anzeige meldete. Sie blieb die Einzige.

Im Nachhinein wusste sie nicht mehr, warum sie den Immobilienteil ihrer Tageszeitung überhaupt durchgesehen hatte. Ihre Wohnung in der Stadt bot alles, was sie brauchte. Zu Anfang war es nur ein kleiner Gedanke gewesen, eine Zeit lang irgendwo hinzugehen, wo sie alleine sein konnte. Doch der Gedanke wurde zur Idee, die Idee setzte sich fest und trieb sie zum Handeln. Danach ging alles sehr schnell. Sie fand sofort jemanden, der ihre Wohnung ebenfalls für ein Jahr übernehmen wollte. Mit Ausnahme einiger persönlicher Dinge, die sich nun in ihrem Lederkoffer befanden, übergab sie ihren Wohnungsschlüssel und war hierher gefahren.

Jetzt, als Lili in der Diele stand, in deren Mitte auf einem dünnen Lichtstreifen Tausende von Staubkörnchen tanzten, fragte sie sich, ob sie nicht besser umkehren sollte. Fasziniert betrachtete sie das Glitzern der Staubteilchen. Behutsam streckte sie ihre Hand danach aus. Die Teilchen wirbelten wild durcheinander. Lili ging dem Lichtstreifen nach.

Er kam aus einem Raum rechts von ihr. Durch die Ritzen eines geschlossenen Fensterladens wurde er bis ins Innere des Hauses gelenkt. Lili öffnete den Fensterladen, dessen eingerostete Scharniere ein lang gezogenes Quietschen hinterließen, und drehte sich um. Es war nur ein kleiner Teil des Zimmers, den sie sah. Nachdem sie auch die übrigen drei Fenster geöffnet hatte, offenbarte sich der Raum in seiner vollen Größe. Überall in der Luft wirbelte glitzernder Staub, aufgeschreckt durch das gleißende Sonnenlicht, das nun ungehindert hineinströmen konnte, um auch den kleinsten Winkel mit Helligkeit zu bereichern.

Rufus war der geisterhaften Erscheinung ins Wohnzimmer gefolgt. Irritiert stellte er fest, dass der Raum völlig verändert aussah. Sämtliche Möbelstücke waren plötzlich in weiße Tücher gehüllt.

„Was ist das denn?“, fragte Rufus verblüfft.

Er ging zu seinem Wohnzimmertisch und wollte das bis auf den Boden reichende Tuch herunterziehen, doch er konnte es nicht greifen. Verwirrt und mit offenem Mund beobachtete er die Frau.

Das Bild, das sich Lili nun bot, erinnerte sie an Filme, in denen reiche Leute, waren sie für längere Zeit abwesend, ihre Möbel auf diese Art und Weise vor dem Einstauben schützten. An der Form der verhüllten Gegenstände erkannte sie, um welche Möbel es sich handeln musste. Sie ging zu einem Sofa.

Vorsichtig nahm sie eine Ecke des Tuches zwischen die Finger und zog daran. Langsam glitt es zu Boden. Vor Lili stand nicht einfach nur ein Sofa. Es war der Inbegriff eines Sofas. Seine Polster schienen durch bloßes Ansehen noch weicher zu werden, und der Stoff aus weinrotem Samt glänzte noch leicht an den Stellen, die von regelmäßiger Berührung verschont geblieben waren. Lili quietschte vor Vergnügen, als sie sich in die einladenden Polster fallen ließ.

Sie betrachtete der Reihe nach die anderen Möbel im Zimmer - Sessel, Stuhl, Tisch, Schrank, Sideboard, Vitrine und Schreibtisch. Nach und nach entblößte sie jedes einzelne Möbelstück, sodass sich in der Mitte des Raumes ein weißer Tücherberg bildete.

Inzwischen war die Frau mehrmals durch Rufus hindurch gelaufen. Offensichtlich war er für sie nicht vorhanden. Er wusste plötzlich nicht, wie er es nennen sollte, denn er war ja da. Nicht das leiseste Geräusch nahm er von ihr wahr, obgleich er gesehen hatte, dass sie mindestens einmal laut gelacht haben musste. Rufus lief der Frau hinterher wie ein Hund, als sie das Wohnzimmer verließ. Er kam sich blöd vor, weil er zwischendurch immer wieder erfolglos versuchte, sich durch lautes Husten und heftiges Armwedeln bemerkbar zu machen.

Nachdem alle Möbelstücke von den Tüchern befreit waren, begann Lili mit einem Rundgang durch das Haus. Rechts vom Wohnzimmer befand sich die Küche. Groß und geräumig war sie, wie für eine mehrköpfige Familie gedacht. Lili fand alles, was man brauchte, um einen anständigen Haushalt zu führen: Spüle, Herd, Kühlschrank, Spülmaschine sowie mehrere Schränke mit unzähligem Geschirr, Berge von Töpfen und Kochutensilien. Die Krönung war der massive Eichentisch. Er bot so viel Platz, dass daran bequem zehn Personen tafeln konnten.

Lili erkundete das Erdgeschoss weiter. Es gab noch ein kleines Bad und eine Treppe nach unten in den Keller. Den wollte sie zuletzt inspizieren. Sie stieg zuerst die Treppe hinauf in das obere Stockwerk. Von der Diele aus führte ein schmaler Gang nach rechts. Auf seiner linken Seite lagen zwei Zimmer. Gleich groß geschnitten, und mit je einem Bett darin, befanden sie sich genau über dem Wohnzimmer. Gegenüber davon gab es ein geräumiges Bad und ein weiteres Zimmer, in dem ein großes Doppelbett stand. Lili folgerte, dass die zwei anderen Zimmer die Kinderzimmer sein mussten. Im Elternschlafzimmer gab es einen Balkon, der zurzeit im Schatten lag. Weiterhin entdeckte sie eine separate Tür, die ebenfalls zum Bad führte.

Lili schleppte ihren Koffer ins Schlafzimmer und räumte ihre Kleidung in den Schrank, der so geräumig war, dass er noch Platz für weitere fünf Koffer geboten hätte. Danach bezog sie das große Bett mit frischer Wäsche, die sie dort drin gefunden hatte. Als sie fertig war, ging sie wieder nach unten.

Vor ihr lag die Kellertreppe, die sich nach unten wendelnd in Dunkelheit verflüchtigte. Lili drückte einen Lichtschalter am oberen Treppenabsatz. Eine kleine Lampe leuchtete auf, sodass ihr zumindest ein schwacher Lichtschein den Weg wies. Vorsichtig ging sie die Stufen hinunter. Gedanken an Düsternis, Mäuse, Spinnen und gruselige Gestalten sprangen wie wild in ihrem Kopf herum. Keller hatten für Lili etwas Unheimliches. Unwillkürlich stellte sich ein ihr bekannter Automatismus in Angstsituationen ein. Sie sang. Leise, aber mit klarer Stimme, begleitete sie sich die Stufen hinunter. Die erste Tür rechts war aus Metall. Der Raum dahinter entpuppte sich als Heizungsraum. Im Raum daneben standen mehrere Holzkisten und Kartons, zwei kaputte Stühle, sowie das für Millionen andere Keller typische Gerümpel. Der nächste Raum war offensichtlich eine Art Vorratskammer, in der sich Unmengen von Lebensmitteln in Dosen und Gläsern in Regalen befanden, die vom Boden bis zur Decke reichten. Nach einem kurzen Überblick stellte Lili fest, dass kein Verfallsdatum überschritten war. An der Wand gegenüber stand ein Regal, in dem sich das Weindepot des Hauses befand. Sie staunte über die vielen unbekannten Sorten. Manche Flaschen schienen seit Ewigkeiten dort zu liegen, so dick lag Staub darauf.

Zufrieden ging sie zum letzten Raum, der unter der Küche lag. Das Licht funktionierte nicht. Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Lili hörte nur das leise Ticken einer Uhr. Sie schloss die Tür und nahm sich vor, später mit einer Taschenlampe die Glühbirne auszuwechseln. Singend stieg sie die Treppe ins Erdgeschoss hoch, jedoch nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Inzwischen war es halb sechs. Lili verließ das Haus, um sich in der Nähe aus einem kleinen Geschäft, das sie auf dem Hinweg gesehen hatte, mit den nötigen Grundnahrungsmitteln wie Brot, Wurst, Käse, Butter, Marmelade, Tee, Kaffee und Milch zu versorgen. Eine Art Urlaubsgefühl überfiel Lili, als sie die Straße entlang schlenderte. Es gab keine Flugzeuge, die über ihrem Kopf zu sehen waren. Das entfernte Geräusch der Motoren auf der Hauptstraße erinnerte an das Rauschen einer Meeresbrandung. Lili spürte, dass sie sich an diesem Ort wohlfühlen würde. Jetzt wusste sie, dass ihre Entscheidung, hierher zu kommen, doch richtig gewesen war.

Am frühen Abend verließ die geisterhafte Erscheinung das Haus.

Rufus war erleichtert, vermutete jedoch, dass sie zurückkehren würde. Ihre Verhaltensweise oben im Schlafzimmer deutete darauf hin, dass sie sich in seinem Heim häuslich niederlassen wollte. Rufus fragte sich, was mit ihm geschehen war. War er jetzt völlig übergeschnappt? Was hatte er da eigentlich gesehen? War die Frau tatsächlich vorhanden gewesen oder war sie ein Gespenst? Hatte er eventuell die Wirkung einiger chemischer Substanzen unterschätzt? Er überlegte weiter, ob er vielleicht überarbeitet sein könnte, wies diesen Gedanken jedoch sofort wieder von sich, da er es gewohnt war, stundenlang über seinen Formeln zu sitzen. Jetzt war es für ihn weniger wichtig, wie es zu dieser Erscheinung kommen konnte, sondern vor allem notwendig, eine Möglichkeit zu finden, ihr mitzuteilen, dass sie sich gefälligst ein anderes Haus suchen sollte. Mit wem könnte man darüber reden, ohne für verrückt gehalten zu werden? Er rief lieber niemanden an.

Rufus ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Er stierte vor sich hin und fühlte sich plötzlich müde und leer.

Als Lili nach einer Dreiviertelstunde wieder zurück ins Haus kam, ging sie in die Küche und räumte ihre Einkäufe in den Kühlschrank. Geschafft setzte sie sich an den großen Küchentisch und bestrich ein Brot mit Butter und Marmelade. Auf dem Herd begann ein alter Teekessel vor sich hin zu singen. Neben dem kleinen Lebensmittelgeschäft war ein winziger Schreibwarenladen gewesen. Dort hatte sie einen Schreibblock und einen blauen Filzstift gekauft.

Nachdem sie das Brot gegessen und ihren ersten Durst mit einer Tasse Tee gestillt hatte, schlug Lili das Deckblatt des Blocks zurück und strich sanft mit der Hand über das erste Blatt Papier. Sie hatte Luftpostpapier gewählt. Es fühlte sich dünn und weich an. Sie liebte es, auf dünnem, weichen Papier zu schreiben. Sie nahm den Filzstift in die rechte Hand und begann das zu tun, wofür sie hierher gekommen war. Sie wollte schreiben und vielleicht auch mal wieder malen.

Ihr Leben lang hatte sie damit verbracht, sich schreibend voran zu arbeiten. Ein kleiner Stapel Kurzgeschichten, von denen sie tatsächlich ein paar in unbedeutenden Tageszeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte, war das Einzige, was sie bisher mit ihrer Schreiberei erreicht hatte. Ein Kinderbuch hatte sie geschrieben und selbst illustriert. Aber sie hatte nie wirklich versucht, es zu veröffentlichen. Schreiben war das, was Lili am liebsten tat, wenn sie Zeit genug dafür fand. Sie hatte das Haus gemietet, um nur das zu tun. Einen Roman wollte sie schreiben – mit eigenen Illustrationen. Sie hatte früher sogar mal eine Ausstellung gehabt, jedoch seit Jahren kaum einen Pinsel in die Hand genommen. Im Haus herrschte die ideale Stille, um ihre Ideen zu Papier zu bringen. Die Küche war ein guter Platz für die Kopfarbeit. Im Wohnzimmer dagegen würde sie ihr Atelier einrichten. Es bot genügend Raum für eine Staffelei und viele Leinwände.

Lili schrieb: Eigentlich habe ich nie wirklich versucht, ernsthaft zu schreiben und zu malen.

Sie schob den Block zur Seite und betrachtete von Weitem ihren ersten Satz. Gedankenverloren goss sie sich eine zweite Tasse Tee ein, gab zwei Löffel Zucker hinein und rührte um. Es machte ein klingelndes Geräusch. Lili gegenüber befand sich ein riesiges Fenster. Sie sah hinaus. Ein Busch direkt davor nahm ihr die Sicht auf den schmalen Vorgarten, der in einer zwei Meter hohen Hecke an den Bürgersteig grenzte.

Lili fiel auf, dass sie sich noch gar nicht den Garten hinter dem Haus angesehen hatte. Sie legte den Stift unter den geschriebenen Satz, stand entschlossen auf und verließ den Raum.

Die ganze Zeit, in der die Frau aß und trank, saß Rufus neben ihr und betrachtete sie. Ihr Haar war fast schwarz. Der bläuliche Schimmer überzeugte ihn davon, dass es sich nicht um eine Tönung handeln konnte, denn als Chemiker hatte er viele Jahre mit solchen Substanzen experimentiert. Das gehörte früher zu seiner Arbeit. Im Haar entdeckte er feine graue Strähnchen, und kleine Fältchen zeigten sich um die Augen herum, deren helles Grün mit winzigen, schwarzen Sprenkeln durchsetzt war.

Rufus kam sich seltsam vor, als er so dicht vor dem Gesicht der Frau saß. Er pustete sie an. Sie hätte seinen Atem spüren müssen, aber sie zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Genießerisch trank sie weiterhin unbeirrt ihren Tee. Plötzlich stand sie auf und verließ die Küche. Rufus entschloss sich, ihr nicht zu folgen. Er kochte sich ebenfalls Tee.

Lili war beeindruckt. Unüberschaubar groß breitete sich der Garten aus. Er zog sich einmal um das ganze Haus, wobei der größte Teil jedoch auf dessen Rückseite lag. Rundherum gesäumt von einer wahrscheinlich uralten Hecke, dachte Lili. Es gab drei Kastanien und eine Tanne, die so hoch war, dass Lili die Spitze nur undeutlich erkennen konnte. Angelegte Blumen- oder Gemüsebeete fand sie nicht, stattdessen war überall naturbelassene, wild wachsende Wiese, auf der sich Löwenzahn und verschiedene Sorten Gräser die Vorherrschaft erkämpft hatten. Mitten auf dieser Wiese stand eine Schaukel, die alles in den Schatten stellte, was Lili bisher gesehen hatte.

Aufgeregt lief sie darauf zu. Das Gerüst bestand rechts und links aus je zwei schräg stehenden Pfosten, die einen dicken Querbalken hielten und, so schätzte Lili, eine Höhe von mindestens vier Metern hatten. „Irre!“, quietschte sie und setzte sich vorsichtig auf das breite Brett, das an zwei dicken Seilen befestigt war, die sich auf dem letzten Meter nach unten teilten. Erwartungsvoll begann Lili, die Schaukel vor und zurück zu bewegen. Es war ein fremdartiges Gefühl, so langsam zu schwingen. Wie in Zeitlupe, immer höher und höher. Lili schloss die Augen. Sie lachte und stieß einen Juchzer nach dem anderen aus. Du meine Güte, dachte sie, was für ein Traum. Sie fühlte sich wie damals, als sie noch ein Kind war.

Rufus las, was die Frau geschrieben hatte:

Eigentlich habe ich nie wirklich versucht, ernsthaft zu schreiben und zu malen.

Ganz automatisch nahm er seinen roten Filzstift, mit dem er in den letzten Tagen wichtige Textstellen in seinen Büchern markiert hatte, und schrieb: Warum nicht?

Laut singend betrat Lili das Wohnzimmer und setzte sich im Schneidersitz auf das rote Samtsofa. Ihre Augen suchten den Weg nach draußen. „Hier werde ich bleiben“, sagte sie laut. Dann ging sie in die Küche, um zu schreiben.

Ungläubig starrte sie auf das blaue Luftpostpapier. Klar und deutlich zeigten sich unter ihren eigenen, blauen Worten die roten Buchstaben einer anderen Schrift: Warum nicht?

Lili setzte sich vor das Blatt und rieb sich die Augen. Die beiden Worte verschwanden nicht. Sie war im Garten gewesen, hatte geschaukelt, und während dieser Zeit war jemand in die Küche gekommen und hatte mit einem roten Stift diese Frage unter ihren Satz geschrieben.

Lili öffnete die Besteckschublade am Tisch und griff nach einem großen Messer. Damit bewaffnet schlich sie durch das ganze Haus. Von oben bis unten durchsuchte sie jeden Winkel, in dem sich eine Person hätte verstecken können. Der einzige Raum, den sie bei ihrer Suche ausließ, war der Keller, aus dem sie das Ticken der Uhr gehört hatte. Niemand war da. Lili hatte Angst.

Rufus amüsierte sich herzhaft. Er kam sich fast vor wie im Kino, als er die kleine Frau mit dem riesigen Lachsmesser durchs Haus schleichen sah. Er folgte ihr in gebührendem Abstand. Jetzt war er froh, dass sie ihn nicht sehen konnte, denn er war fest davon überzeugt, dass diese Frau tatsächlich zustechen würde, wenn jemand ihr Leben bedrohte.

Plötzlich schlug sich Rufus vor den Kopf. Er fragte sich, warum es ihm erst jetzt auffiel, dass er auf ihr Papier hatte schreiben können. Ihm fiel das Tuch im Wohnzimmer wieder ein, das er nicht hatte berühren können, und der Koffer im Flur, durch den er aus Versehen einfach hindurchgelaufen war. Die Tasse, aus der sie getrunken hatte, war für ihn nur ein Abbild geblieben, durch das seine Hand hindurchfuhr, als er versuchte, das Gefäß anzufassen. Der Block hingegen war feste Materie, mit der sowohl sie als auch er umgehen konnte.

Rufus ging zurück in die Küche, setzte sich und wartete, was weiter passieren würde.

Als Lili wieder am Tisch saß, neben sich das große Messer, von dem sie überzeugt war, dass man dafür einen Waffenschein brauchte, machte sie sich keine weiteren Gedanken mehr darüber, dass eine andere Person die rote Frage gestellt haben könnte. Wahrscheinlich hatte sie selbst die zwei Worte geschrieben, obwohl sie zum einen gar keinen roten Filzstift besaß und sich zum anderen auch nicht daran erinnern konnte. Was jedoch nicht heißen musste, dass sie es deshalb nicht gewesen war. Es gab viel, das Lili vergaß.Bestimmte Angelegenheiten blieben einfach nicht in ihrem Gedächtnis. Sie hatten dort nur einen kurzen Aufenthalt, um sich schon im nächsten Moment für längere Zeit, oder auch für immer, zu verabschieden. So gesehen glich Lilis Gehirn einem Sieb. Die Löcher darin waren für die Dinge bestimmt, an denen sie nicht festhalten wollte. Lili war unter Freunden für ihre Vergesslichkeit bekannt.

Ganz langsam schrieb sie in sauberer, schnörkeliger Schrift unter die roten Buchstaben: Warum nicht?, dann schneller, Ja, warum eigentlich nicht? Das ist eine gute Frage. Es gibt Fragen, deren Beantwortung nicht einfach so aus dem Ärmel zu schütteln ist. Wenn ich genauer darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich mir diese Frage noch nie gestellt habe. Aber eigentlich will ich das auch gar nicht.

Lili malte Quadrate auf das Papier und verband sie miteinander, sodass durchsichtige Würfel daraus entstanden. Wenn sie nicht weiter wusste, konnte sie das stundenlang tun. Schließlich schrieb sie: Ich glaube, diese Frage kann ich nicht beantworten. Zumindest jetzt noch nicht. Vor dieser einen stehen andere Fragen, die zuerst beantwortet werden müssen. Lili malte wieder kleine Quadrate auf das Blatt, bevor sie schrieb: Was mache ich hier eigentlich? Ich zerbreche mir den Kopf über eine Frage, von der ich nicht einmal weiß, ob ich sie überhaupt selbst gestellt habe.

Der Zeiger der Küchenuhr wanderte auf die Acht zu. Lili hatte großen Hunger. Sie ging in den Vorratskeller und wählte eine Dose mit Hühnersuppe aus. Bei der Gelegenheit fand sie einen kleinen Karton mit Glühbirnen, von denen sie eine mit nach oben nahm. Am nächsten Tag wollte sie die Birne in dem dunklen Keller austauschen.

In der Küche füllte sie die Suppe in einen kleinen Topf und stellte ihn auf die Herdplatte. Nach fünf Minuten saß Lili am Tisch und löffelte genüsslich vor sich hin. Kauend zog sie den blauen Block zu sich heran und schrieb: Das Haus ist wunderschön. Ich frage mich, was für Menschen hier normalerweise leben. Es ist fast unvorstellbar, dass die Räume mit Stimmen erfüllt sind. Alles ist so ruhig. Von außen dringt kaum ein Laut herein. Es ist wie geschaffen für mich. Ich glaube, hier könnte ich immer leben. Schlafen, essen und schaukeln. Die Schaukel ist fantastisch. Wer sie wohl gebaut hat? Das muss ein wunderbarer Mensch sein. Vielleicht schaukelt er genauso gerne wie ich.

Lili sah auf die Uhr. Es war noch früh am Abend, aber sie fühlte sich sehr müde. Sie schrieb: Morgen werde ich anfangen zu notieren, was genau ich hier eigentlich schreiben will.

Und damit nahm eines ihrer größten Probleme seinen Lauf. Zuerst versuchte sie immer, ihre Idee in groben Zügen aufzuschreiben. Aber noch während des Schreibens verschwand das ursprüngliche Gerüst aus ihrem Sinn, sie schweifte ab, verlor sich in tausend Gedanken und fand nicht mehr zu dem zurück, was sie eigentlich schreiben wollte. Lili besaß neben einem verschwindend winzigen Stapel fertiger Geschichten einen riesigen Berg Papier voller Ideen, und ihr schlechtes Gedächtnis trug dazu bei, dass der Papierberg wuchs, statt abgearbeitet zu werden. Hatte sie es jedoch einmal geschafft, eine Idee aufzugreifen, scheiterte das Projekt meistens trotzdem daran, dass Lili nicht in der Lage war, die Geschichte über den Anfang hinaus zu entwickeln. Sie war der Auffassung, dass der Anfang einfach sitzen musste. Wenn ihr das nicht gelang, fand sie für den Rest der Geschichte keine Worte mehr. Der zweite Berg Papier bestand daher aus unzähligen Anfängen. Jedes Mal, wenn sie nicht weiter kam, nahm sie sich vor, sich später noch einmal daranzusetzen, doch in den meisten Fällen sorgte ihre Vergesslichkeit dafür, dass es nie dazu kam.

Rufus las, während die Frau schrieb und wunderte sich, dass sie plötzlich minutenlang einfach nur dasaß und kleine, blaue Quadrate und Würfel auf das Papier zeichnete. Er überlegte, ob er ihr mitteilen sollte, dass er auf ihr Papier geschrieben hatte, doch er ließ es lieber. Seine Angst vor dem Lachsmesser war groß, obgleich sich an der Materielosigkeit der Frau nichts geändert hatte. Rufus beobachtete, wie sie eine Hühnersuppe aufwärmte und gedankenverloren aß. Ihm gefiel die Möglichkeit, jemanden beobachten zu können, ohne dass dieser es wusste. Um zu prüfen, ob er außer dem Luftpostpapier noch irgendetwas anderes aus der Welt der Frau wahrnehmen konnte, roch er an ihrem Teller – nichts. Zur Sicherheit steckte er anschließend seinen Finger in die heiße Brühe, nicht ohne Angst vor dem Schmerz, den er erwartete, aber sein Finger tappte ins Leere, bis er den Tisch berührte.