Lügenpresse -  - E-Book

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Beschreibung

Kann man den Medien nicht mehr trauen? Der Kampfbegriff »Lügenpresse« markiert das Extrem eines Vertrauensverlusts, dem der Journalismus schon länger unterliegt. Den Medien wird von vielen nicht mehr zugetraut, die Bürger wahrheitsgetreu zu informieren. Sie stehen im Verdacht, heikle Informationen, z.B. über Muslime und Flüchtlinge, zu unterschlagen. Den Journalisten wird unterstellt, willfährige Sprachrohre der Regierenden zu sein. Manipulation und politische Kampagne sind weitere Reizworte. Solche Urteile treffen insbesondere die öffentlich-rechtlichen Sender, aber auch die privatwirtschaftlichen Medien, und sie werden immer rabiater geäußert. Wie ist diese Glaubwürdigkeitskrise entstanden? Wieso sind plötzlich so viele Leser und Zuschauer verunsichert? Was sind die politischen Hintergründe? Die Autoren unternehmen eine spannende Spurensuche und skizzieren, was Journalisten gegen die Verunsicherung tun können. Mit Beiträgen von Giovanni di Lorenzo, Jakob Augstein, Klaus Brinkbäumer, Heribert Prantl, u.a.

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Seitenzahl: 308

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»Lügenpresse«

Anatomie eines politischen Kampfbegriffs

Herausgegeben von Volker Lilienthal und Irene Neverla

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Volker Lilienthal / Irene Neverla

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Vorspann

Vorwort

»Lügenpresse« – Begriff ohne jede Vernunft?

Selbstkritik

Haben wir Grund, uns zu schämen?

Zehn Prinzipien für die journalistische Wahrheitssuche

Wie gut werden wir informiert?

Die »Vertrauenskrise« der Medien – Fakt oder Fiktion?

Neue Medien, neue Nutzungsgewohnheiten

Wenn Öffentlichkeit manipuliert wird

»Zwei mal drei macht vier«

Die Medien und die Klimalüge

»Lügenpresse auf die Fresse«

Respektvolle Kommunikation mit dem Publikum

Lügen, Halbwahrheiten, Gerüchte

Wenn der Hass auf die Presse tätlich wird

Was tun?

Die Aufgabe Öffentlichkeit respektieren

Transparenz schafft Vertrauen

Medien-Mainstream

Selbstbehauptung

Trotz alledem

Recherche ist die neue Meinung

Autorenverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

»Lügenpresse« – zur Versachlichung der Debatte

von Volker Lilienthal

Eine verbürgte Geschichte, keine »Fake News«: Am Weihnachtsfest überrascht die Großmutter mit der Aussage, sie traue den Medien auch nicht mehr. Die verlautbarten doch nur noch, was die Mächtigen wollten. Es fallen die Stichworte Merkel und Systemmedien.

Die Schwiegertochter fragt nach, will es genauer wissen: Ob sie denn wirklich glaube, dass Merkel bei den Senderbossen anrufe? Nein, sie sei doch nicht naiv, entgegnet die Angesprochene entrüstet. Für so etwas habe die ihre Leute.

Kann ja sein, lenkt die Schwiegertochter ein, dass früher die Parteien immer mal wieder versucht hätten, auf die Personalpolitik der Sender Einfluss zu nehmen. Aber heute sei das nicht mehr der Normalfall, bei der täglichen Programmgestaltung schon gar nicht.

Doch der Vermittlungsversuch misslingt, die alte Dame fühlt sich unverstanden und zurückgewiesen. Am Ende fließen sogar Tränen. So geschehen an Weihnachten 2016. Das Reizthema »Lügenpresse« hat also das Zeug, Familien zu entzweien. Mindestens für einen empfindlichen Augenblick.

Das Unwort irritiert, und zwar auch diejenigen Leserinnen und Leser, Hörer und Zuschauer, die bislang ganz zufrieden waren mit dem, was ihnen die Medien über die Welt da draußen mitteilten. Aber jetzt, wo an allen Ecken, auf Demos und im Internet »Lügenpresse« gerufen wird? Vielleicht ist ja was dran und wir werden belogen und betrogen, mindestens aber unvollständig informiert, hinters Licht geführt und politisch irregeleitet?

Das aggressive Schimpfen auf »Lügenpresse« und »Systemmedien« kann eine Verunsicherung in die gesamte Gesellschaft tragen. Das ist ein Nachteil nicht nur für Medienunternehmen und Journalisten, deren Produkte in der Folge vielleicht weniger gekauft, genutzt und geglaubt werden. Wenn der erst einmal gesäte Zweifel sich verbreitet, sich einnistet in das Image, das Bild, das Bürgerinnen und Bürger von den Medien haben, dann kann Journalismus weniger gut das leisten, wofür er in einer freien Gesellschaft gebraucht wird: allseitige Information, damit alle Staatsbürger auf dem neuesten Stand sind hinsichtlich der wichtigsten Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und im Ausland. Nur auf einer verlässlichen Basis des Informiertseins kann man sich seine Meinung bilden, Wahlentscheidungen treffen und teilhaben an den gesellschaftlichen Debatten, in denen Ziele der Weiterentwicklung als Nation und Gesellschaft ausverhandelt werden. Das alles wird unsicher, wenn der Zweifel regiert.

Für Journalistinnen und Journalisten ist das Unwort ohnehin ein Schreckgespenst, eine zusätzliche Entmutigung in der alltäglichen Arbeit. Seit der sogenannten Medienkrise in den 2000er-Jahren sind sie es gewohnt, dass ihre Zeitungen und Zeitschriften immer seltener gekauft und seltener gelesen werden. Die Folge: Redaktionelle Arbeitsplätze wurden abgebaut, Honorare für freie Journalisten gleichen einem Hungerlohn. Journalismus ist also schon länger ein prekärer Beruf, einer auch mit denkbar schlechtem Ansehen. Das Mitte der 2010er-Jahre aufgekommene »Lügenpresse«-Verdikt aber hat die Lage aus Sicht der Journalisten nochmals verschlimmert: Jetzt werden sie für ihre Arbeit beschimpft, ja sogar bedroht. Sind denn alle verrückt geworden? Wo bleiben Respekt und Wertschätzung für eine gesellschaftlich relevante Arbeit, ohne die Demokratie kaum funktionieren kann?

Wir an der Universität Hamburg wollten es genauer wissen. Ist das böse Wort von der »Lügenpresse« bloß »ein Ausdruck von Paranoia«, wie der Medienwissenschaftler Norbert Bolz meint? Oder teilweise sogar berechtigt? Was sagt die Wissenschaft zum allseits beklagten Vertrauensverlust – ist er tatsächlich so gravierend? Und wie gehen Journalisten mit dem Problem um? Üben sie sich in Selbstkritik? Finden sie neue Wege der Vertrauensbildung? Geleitet von diesen Fragen haben Irene Neverla und ich im Wintersemester 2016/17 eine Ringvorlesung mit dem Titel »›Lügenpresse‹ – Medienkritik als politischer Breitensport« ausgerichtet.[1]

Im Rahmen des sogenannten Allgemeinen Vorlesungswesens waren nicht nur Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hamburg eingeladen. Das Bildungsangebot richtete sich vor allem an Bürgerinnen und Bürger, die mehr wissen wollten: über die etwaige Berechtigung von Journalismuskritik, über Vertrauen und Glaubwürdigkeit und über die Antworten namhafter Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf die kursierenden Zweifel.

Der Erfolg gab uns recht: Die insgesamt 16 Vortragsabende bis Ende Januar 2017 wurden jeweils von mehreren Hundert Menschen besucht.[2] Konstruktive Diskussionen im Anschluss an die Referate bewiesen zusätzlich das starke inhaltliche Interesse und das Bemühen auf allen Seiten – Publikum, Wissenschaftler, Journalisten – um gegenseitiges Verstehen. Auch wenn man nicht in die Köpfe von Zuhörerinnen und Zuhörern blicken kann: Die große Mehrheit der Anwesenden schien sich in jedem Moment einig, dass es gelegentlich Grund zur Kritik an journalistischen Fehlleistungen geben mag, dass aber die im politischen Kampfbegriff »Lügenpresse« enthaltene Unterstellung, Journalisten lögen absichtlich, berichteten wissentlich und im fremden Auftrag die Unwahrheit, eine vollkommen abwegige Annahme ist – eine Annahme, die wohl mehr aussagt über diejenigen, die die ehrenrührige Behauptung fahrlässig in Umlauf bringen, als über die so Kritisierten. Wir hoffen, dass die Hamburger Debatte, die auch medial stark beachtet wurde, zur Versachlichung beitragen konnte. Diese Versachlichung soll nun fortgesetzt werden. Alle für diesen Sammelband ausgewählten Beiträge wurden für den Druck grundlegend überarbeitet, einige ganz neu geschrieben.

In ihrem einleitenden Aufsatz schlägt Irene Neverla einen weiten Bogen zu Wissensbeständen der Kommunikationsforschung, die uns beim Verständnis der zwiespältigen Wahrnehmung von Journalismus beim Publikum helfen können. Der Schwerpunkt liegt hierbei in der Rezeptionsforschung: Was erwarten Menschen von Medien und was stellen sie damit an? Was bedeuten Fachbegriffe wie News Bias, Hostile Media Effect und Third Person Effect?

Zwei prominente Journalisten üben sich im Anschluss in Selbstkritik: Jakob Augstein, Herausgeber des Freitag und streitbarer Kolumnist, geht so weit, auch Journalisten mit dafür verantwortlich zu machen, dass rechtspopulistische Bewegungen in Deutschland an Boden gewinnen konnten. In ihrer Elitenorientierung hätten die Medien das Verständnis für die Nöte einfacher Menschen verloren. Auch Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer sieht Anlass zur Selbstkritik, aber auch guten Grund, am hehren Begriff der Wahrheit festzuhalten – dessen Eignung von Augstein in Zweifel gezogen wird. Wie sich Journalisten diesem Ideal praktisch annähern können, dafür formuliert Brinkbäumer zehn Prinzipien.

Zur Panik gibt es keinen Grund – das ist die Botschaft von Carsten Reinemann und seinen Mitautorinnen Nayla Fawzi und Magdalena Obermaier. Sie haben die neuere Vertrauensforschung bilanziert und kommen auf Basis einer kritischen Auswertung der empirischen Daten zu dem Schluss, dass es in der Bevölkerung zwar ein relativ starkes Misstrauen gegen die Berichterstattung zu bestimmten politischen Streitthemen (Ukraine, Russland, Rechtspopulismus) gibt, dass aber die große Mehrheit immer noch ein Grundvertrauen in Medien hat.

Katharina Kleinen-von Königslöw untersucht in ihrem Beitrag die neuere, digital getriebene Medienentwicklung und deren Zusammenhang mit der Lügenpresse-Debatte: Was verändert sich, wenn Menschen Journalismus über neue Internet-Plattformen teilen, kommentieren und sich auch selbst in die Debatte einmischen? Ist das ein Zugewinn an demokratischer Partizipation oder richten viele ihr Weltbewusstsein gemütlich in einer widerspruchsfreien Filterblase ein?

Öffentlichkeit wird zuweilen manipuliert – das wurde sie immer. Und die Wahrheit wird auf dem Markt der Meinungen immer umstritten sein. Norbert Schneider wählt eine historisch-philosophische Perspektive und lässt den Leser teilhaben an einer bildungsgesättigten Exegese der Begriffe Lüge und Wahrheit. Seine These: Die Schimpfrede »Lügenpresse« komme nicht primär auf, weil der Journalismus nicht gut genug wäre, sondern weil sich Menschen von den unsicher gewordenen Bedingungen ihres Lebens überfordert fühlten.

Was Manipulation konkret bedeutet und wie sie in der Zukunft tendenziell lebensbedrohlich werden kann, das macht Michael Brüggemann an den »Klimaleugnern« deutlich, an einem wissenschaftlich unhaltbaren falschen Bewusstsein, das leider auch seriöse Medien nicht ganz ignorieren können, weil sie sich sonst dem Vorwurf der Nachrichtenunterdrückung aussetzen würden. Ein besonderes Schlaglicht wirft Brüggemann auf die aktuell verschärfte Situation in den USA, seit Donald Trump zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Dessen über Twitter verkündete These: Der Klimawandel ist eine Erfindung der Chinesen.

Von »Lügenpresse« zu reden ist nicht nur folgenloses Schwadronieren. Viel zu häufig kommt diese vorrangig politisch motivierte und immer mutmaßende Medienkritik sehr aggressiv daher. Ihre Urheber drohen Journalisten – und manchmal schlagen sie sogar zu. ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke schildert anschaulich, auf welches Niveau sich manche Menschen begeben. Zumal wenn es gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht, der vielen als »Staatsfunk«, Merkel-treu und als Ausgeburt von »Zwangsgebühren« gilt. Davon darf man sich nicht irremachen lassen, so der Chefredakteur von ARD-aktuell, der Tagesschau und Tagesthemen verantwortet. Aber auch Gniffke sieht Anlass zur Selbstkritik und die Notwendigkeit für Journalisten, ihre Maßstäbe des Berichtens und Urteilens immer wieder neu zu justieren. Gniffke führte die Ukraine-Berichterstattung und die über Donald Trump und die US-Präsidentschaftswahl als Beispiele an.

Im Übrigen plädiert Gniffke für einen anhaltend respektvollen Umgang mit dem Publikum. Der Dialog müsse immer wieder gesucht werden. Aber müssen sich Journalisten eigentlich alles gefallen lassen? Sich beschimpfen lassen und noch die andere Wange hinhalten? Nein, sagt Tobias Gostomzyk, Experte für Medienrecht. In seinem Beitrag zeigt er die schützenden Grenzen auf, die das Recht gegen Beleidigung und Verunglimpfung zieht. Dass »Lügenpresse«-Rufer manchmal zu Gewalttätern werden und dann der Polizei und dem Staatsanwalt überantwortet werden müssen, zeigen die krassen Beispiele von Gewaltanwendung gegen Journalisten, die Martin Hoffmann in seinem Beitrag auflistet und analysiert.

Was aber tun? Welche Strategien zur Bildung von (neuem) Vertrauen kann es geben? Mit diesen wichtigen Fragen setzen sich die drei Autoren des nächsten Buchabschnitts auseinander. Horst Pöttker argumentiert, es gehe gar nicht so sehr um Vertrauen – denn gesunde Skepsis sei ja angezeigt und in einer Demokratie sowieso erlaubt. Sein Petitum gilt einem Mehr an Verständnis für die journalistische Arbeit – dafür, wie Artikel und Filme zustande kommen, welchen Gesetzen der Nachrichtenauswahl Journalisten folgen und wie Quellen auf ihre Glaubwürdigkeit hin geprüft werden können. Hierfür sollten sich Bürger interessieren, so Pöttker. Aber die Bringschuld für mehr Transparenz sieht er bei den Medien.

Kritisch setzt sich Michael Haller mit jüngeren Fehlentwicklungen in der Berichterstattung auseinander (sein Beispiel ist die Flüchtlingskrise 2015). Er sieht generelle Dysfunktionen in der neuen Journalismusentwicklung, aber er adressiert an die Praxis auch konkrete Vorschläge zur Verbesserung. Auch sein Stichwort ist dabei: Transparenz. Nur mit ihr könne Vertrauen zurückgewonnen werden.

Aus alldem folgen Aufgaben auch für Journalismusforschung und Kommunikationswissenschaft. Das ist Thema des Beitrags von Uwe Krüger, der den Begriff »Mainstream« zum Ausgangspunkt seiner Argumentation nimmt. Darunter versteht er eine problematische Neigung von Medien, sich inhaltlich einander anzugleichen, Deutungsweisen mächtiger Lobbygruppen in der Gesellschaft kritiklos zu übernehmen und dem Publikum das Gefühl zu geben, es gäbe keinen Pluralismus mehr.

Der vorliegende Band schließt mit zwei Beiträgen zum journalistischen Ethos, die beide von der Selbstbehauptung eines gesellschaftlich relevanten Berufs handeln. Autoren dieser beiden Schlusskapitel sind zwei überaus prominente Journalisten: Heribert Prantl, wortgewaltiger Leitartikler der Süddeutschen Zeitung, Innenpolitik-Chef und Mitglied der Chefredaktion, sowie Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit. Beide sind nicht unkritisch gegenüber ihrem Gewerbe, aber sie sagen auch: Eine lebendige Demokratie braucht kritischen, gut informierten, unabhängigen Journalismus. Und Deutschland hat sehr viel davon.

Hoffen wir, dass sich das in diesen turbulenten Zeiten immer wieder bewahrheitet. Dass wir als Publikum Nutznießer umfassender Recherchen, kluger Analysen und mutiger Kommentierungen werden können. Und dass wir den Überblick behalten dank einer Nachrichtengebung, die keine Missstände unterschlägt, aber auch nichts aufbauscht, was die Aufregung nicht lohnt. Diese Besonnenheit braucht es – gerade jetzt.

»Lügenpresse« – Begriff ohne jede Vernunft?

Eine alte Kampfvokabel in der digitalen Mediengesellschaft

von Irene Neverla

Ein Gespenst geht um. Das Gespenst heißt »Lügenpresse«. Es tauchte auf bei den Montagsdemonstrationen der Pegida in Dresden im Herbst 2014. Mittlerweile hat der Begriff »Lügenpresse« Eingang gefunden in die breite Öffentlichkeit, über Dresden und Sachsen, über Deutschland, über Europa hinaus. Was ist die Botschaft dieses Begriffs? Warum macht er Karriere? Welche medialen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen erklären die Wiederentdeckung und rasante Verbreitung dieser politischen Kampfvokabel? Und wie lässt sich in diesem rhetorischen Kampfgetümmel Journalismus verstehen, also die Profession, die unsere öffentliche Kommunikation weitgehend gestaltet?

Zur Erfolgsgeschichte und zur Rhetorik der »Lügenpresse«

»Lügenpresse« ist kein neues Wort, sondern gehört seit dem 19. Jahrhundert zum Arsenal der politischen Rhetorik. Als politische und propagandistische Kampfvokabel wechselte »Lügenpresse« ideologisch mehrfach die Seiten zwischen den politischen Lagern – mal rechts, dann links – und überlebte unterschiedlichste Machtkonstellationen.[3] »Lügenpresse« unterstellt pauschal, dass die Presse, die Redaktionen, die Journalisten lügen, das heißt Tatsachen verschweigen, verfälschen, sie falsch oder unvollständig darstellen, in einen irreführenden Kontext setzen, und all dies gezielt und absichtsvoll. »Lügenpresse« ist heute das Schlagwort für ein Narrativ, eine Erzählung über betrügerische Medien und die Schuldigen der gesellschaftlichen Krise – vor allem die Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien, die sich miteinander verschworen hätten, und denen deshalb Wahrhaftigkeit und Legitimation abgesprochen wird. Wie es zu Verschwörungstheorien gehört, ist diese Erzählung psychologisch schwer zu widerlegen, denn jedes Gegenargument kann schon als weitere Finte der Verschwörer gesehen werden. »Lügenpresse« ist für eine nicht kleine Bevölkerungsgruppe in Deutschland gefühlte Realität – trotz gegenteiliger Fakten.[4]

Auch wenn das Lügenpresse-Narrativ Resonanz bis in die politische Mitte hinein finden mag, so ist ohne Zweifel der politische Kontext, in dem »Lügenpresse« derzeit als Kampfbegriff offensiv eingesetzt wird, im rechten Spektrum zu verorten, in einem politischen Lager mit einer konservativ-autoritären bis völkisch-nationalistischen Weltsicht. Die ideologischen Linien sind hier getragen vom anti aufklärerischen Protestgestus gegen Eliten, gegen Pluralismus, gegen faktenbasierte Vernunft.[5]

Der Anti-Elitismus richtet die pauschale Kritik gegen das Macht-Syndikat der Etablierten. Dazu gehören neben den Spitzen in Politik, Parteien und in der Wirtschaft auch die »Diskurs-Eliten« in Wissenschaft und Journalismus, die Wissen generieren, verarbeiten und vermitteln. »Die Medien« treten in dieser Weltsicht besonders stark hervor, in ihren täglichen Schlagzeilen, oder gar »die Journalisten« in ihrer permanenten Bildschirmpräsenz. Insoweit bieten sie eine plakative Projektionsfläche und Personifizierungen in der großen Erzählung vom Betrug der Moderne am Menschen.

Träger der Wahrheit ist das Volk, das sich gegen »die anderen« abgrenzt, die definiert werden durch ethnische Herkunft, durch Religion oder eben Elitezugehörigkeit. Das Volk demgegenüber steht in symbiotischer, ja mystischer Verbindung zum »Führer«, der den »Volkswillen« intuitiv erkennt und zur Sprache bringt. In diesem einfachen und dichotomen Weltbild ist kein Platz für Vielfalt. Daher stören Journalisten tendenziell – sie sind hier »Wahrheitsverdreher«, »Volksverhetzer«, »Volksverräter« – so beispielhaft die Parolen der Wortführerin Tatjana Festerling bei Pegida-Protesten im Januar 2015.

Verschränkt mit diesem völkischen Anti-Elitismus und Anti-Pluralismus ist auch Anti-Faktizität, eine affektiv geladene Aversion gegen Fakten und Evidenzen. Der Faktizität »derer da oben« stehen Gefühle und Stimmungslagen des einfachen, aber ursprünglichen Volkes gegenüber. Dazu Georg Pazderski, Mitglied im Bundesvorstand der AfD: »Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht darum, wie das der Bürger empfindet.« In dieselbe Richtung weist der Diskurs aus den USA um »alternative Fakten«. Auch diese Umschreibung ist nichts anderes als eine Absage an Sachaussagen, auf die man sich anhand von Daten und Fakten einigen kann, und ein Rückzug in eine Weltsicht, die lediglich durch einen ideologischen Glauben und weiter nicht begründet werden muss. Diese Haltung als Post-Faktizität zu bezeichnen, ist eigentlich verfehlt. Denn die Abwehr von Faktizität und Vernunft ist nicht neu, sondern war kontinuierlich seit Beginn der Aufklärung im 18. Jahrhundert deren schattenhafte Begleiterscheinung, die immer dann heftig aufflammte, wenn technologischer und sozialer Wandel besonders intensiv anrollten. Der anti-aufklärerische Diskurs ist historisch nicht neu, aber die Vehemenz, mit der er heute aufbrandet, ist doch verstörend und verlangt nach Erklärungen.

Strukturmoment Mediatisierung: Nichts mehr ohne Medien

Was bildet heute den speziellen Nährboden für die Wiederentdeckung und den Erfolg des Lügenpresse-Narrativs? Als Erklärung wird meist auf Prozesse der Globalisierung verwiesen. Durch die Dynamik des weltweit agierenden Kapitalismus, durch politische Entscheidungen zugunsten von De-Regulierung und durch die Digitalisierung ist es weltweit zu enormen Verwerfungen gekommen, sowohl zwischen Ländern wie auch innerhalb von Gesellschaften. Die Welt ist gespalten in Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Ängste und Aggressionen der – ökonomischen und soziokulturellen – Verlierer ballen sich im politischen Protest. Diese Erklärung ist aber nicht ausreichend. Sie blendet die besonderen Bedingungen der Mediengesellschaft aus. Erst wenn man diese Bedingungen näher betrachtet – hier zusammengefasst unter den Stichworten Mediatisierung und Digitalisierung –, versteht man, wieso das Lügenpresse-Narrativ so erfolgreich sein kann.

Wir leben in einer Gesellschaft mit einem nie gekannten Maß an »Mediatisierung«.[6] Unsere Informations- und Kommunikationswelt ist von technisch hochkomplexen Medien durchdrungen. Wir können dieser mediatisierten Kommunikation praktisch nicht entkommen und die Wirkmacht der Medien prägt tief wie nie zuvor unseren Alltag. In dieser unübersichtlichen Gesellschaft sind wir alle auf Experten der Informationsarbeit angewiesen – zum Beispiel auf den professionellen Journalismus. Sie sind stellvertretend für uns alle auf der permanenten Suche, welche Themen gegenwärtig neu und gesellschaftlich relevant sind und auf welchen Fakten sie basieren. Auch wenn Journalismus sich um Objektivität bemüht, ist das Ergebnis unweigerlich eine von den Medien geprägte Konstruktion von Wirklichkeit. Diese Medienrealität ist nicht falsch, aber sie repräsentiert ein von der Logik der Medien geprägtes Wirklichkeitsbild mit eigenen Schwerpunktsetzungen und problematischen Blindstellen.

Dabei erfolgt die journalistische Auswahl von Themen nicht beliebig nach individuellem Gusto oder Zufall. Vielmehr lernen Journalisten im Laufe ihrer beruflichen Sozialisation sogenannte Nachrichtenfaktoren als Leitlinien ihrer Auswahl anzuwenden.[7] Nachrichtenfaktoren sind Zuschreibungen von Merkmalen zu Ereignissen, um die professionellen Arbeitspraktiken des Journalismus, der immer unter Zeitdruck arbeitet, routinemäßig zu erleichtern. Zu den gängigen Nachrichtenfaktoren zählen geografische und kulturelle Nähe, Negativität, Konflikt, Überraschung, Prominenz und Personalisierung. Das Ergebnis führt häufig zu einem »News Bias«, zu übereinstimmenden Schlagzeilen und Quellen in verschiedenen Medien. Anders gesagt: Die professionellen Routinen der journalistischen Nachrichtenwahl führen zu Kumulation und Konsonanz, zur Fokussierung auf bestimmte Themen und Meinungen.[8] Sie führen zu einem »Medien-Mainstream«, der bestimmte Themen und Meinungen an den Rand drängt.[9] Und es kann zu einer Differenz kommen zwischen der veröffentlichten Meinung und dem, was in Teilen der Bevölkerung wahrgenommen, gefühlt und gedacht wird.

In normalen Zeiten ist dies nicht weiter problematisch. In Krisenzeiten dagegen können solche Abweichungen als dramatisches Indiz für Verzerrungen, Betrug und Lüge empfunden werden. Zumal in einer Gesellschaft, in der zwar Zivilgesellschaft und demokratische Kultur insgesamt gewachsen sind und sich stabilisiert haben, jedoch die Polarisierung der Gesellschaft und Radikalisierung der autoritär orientierten politischen Kultur vorangeschritten ist, wie in Bezug auf Deutschland die »Mitte-Studie« der Universität Leipzig seit Jahren zeigt[10] und wie die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien und Persönlichkeiten auch in anderen Ländern Europas und in den USA belegen.

Die Orientierung der Journalisten an gängigen Nachrichtenfaktoren einerseits, verbunden mit Konkurrenzdruck andererseits, lässt eine Aufmerksamkeitsökonomie entstehen, die durch Themenzyklen und Skandalisierung gekennzeichnet ist. Die Auswahl von Themen wird dabei geprägt vom Blick der Journalisten auf die Konkurrenzmedien – wenn dort ein bestimmtes Thema auf der Agenda steht, dreht man es selbst auch weiter – und auch von Annahmen der Journalisten über Erwartungen des Publikums. Denn Themenfokussierung entsteht nicht nur durch Handeln aufseiten der Journalisten, sondern auch durch Handeln aufseiten der Rezipienten. Dass »Sex and Crime« Einschaltquoten und Auflagensteigerung bringen, funktioniert nur im Zusammenspiel von Produzenten und Konsumenten, von Journalismus und seinem Publikum.

Strukturmoment Digitalisierung: Vom Mediennutzer zum User und Produzenten

Mediatisierung ist historisch nicht neu, sondern ein fortschreitender Prozess, der sich in Schüben immer wieder verdichtet. Der jüngste Entwicklungsschub, in dem wir uns befinden, ist der Prozess der Digitalisierung. Dessen Auswirkungen auf unser Leben in Arbeit, Alltag und persönlichen Beziehungen sind gewaltig. Ebenso gewaltig und tief greifend sind die Auswirkungen der Digitalisierung auf die öffentliche Kommunikation und auf Integrationsformen der Gesellschaft. Das 20. Jahrhundert war die Epoche des Journalismus als Gatekeeper, der darüber entscheidet, welche Themen und Meinungen an die Öffentlichkeit gelangen. Mit dem Internet als Hypermedium, das allen jederzeit und zu jedem Thema Zugang zu Information und Kommunikation bietet, ist diese Monopolstellung des Journalismus aufgebrochen. Der Journalismus hat damit auch von seiner Funktion eingebüßt, für den Kitt der sozialen Integration in der Gesellschaft zu sorgen. Hatten sich schon seit den 1980er-Jahren die klassischen Medienmärkte ausdifferenziert, etwa erkennbar an der Zunahme von Special-Interest-Zeitschriften oder privaten TV- und Radio-Kanälen, so setzen sich die Segmentierungen seit den 2000er-Jahren online und insbesondere in den sozialen Netzwerken fort. Jeder von uns kann im eigenen Universum leben, in der selbst geschaffenen digitalen Blase, im eigenen Echoraum: mit dem eigenen Blog, der eigenen Twitter-Community, mit eigenen Nachrichten-Feeds, den selbst gewählten Social-Media-Foren, die durch Algorithmen der Anbieter fortwährend die eigene Weltsicht bestätigen und verdichten.

Eigentlich ist die Rolle des Journalismus, für Selbstbeobachtung der Gesellschaft zu sorgen, Themen zu vermitteln und letztlich integrativ zu wirken, dringlicher denn je. Aber der Journalismus muss diese Funktion nun stärker als zuvor teilen mit nicht-professionellen, aber durchaus machtvollen Kommunikatoren in den sozialen Netzwerken des Internet.

Die Aufsplitterung in Teilöffentlichkeiten und ein »Social Zoning« sind auch in der politischen Kommunikation zu bemerken. Politiker haben die Möglichkeit der direkten Ansprache von Bevölkerungsgruppen als ihren Followern auf Twitter oder Freunden auf Facebook. Sie können die Vermittler in Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit umgehen und ihren Anhängern direkt mitteilen, was sie denken – die scheinbar ganze Wahrheit, unverblümt und ohne angebliche Verdrehung und Verschwörung der journalistischen Vermittler. Das öffnet auch in der Politik Potenziale für Erkenntnisse gleichermaßen wie Potenziale für Simplifizierung in der medialen Wirklichkeitskonstruktion.

Die Digitalisierung und mit ihr die partizipative Wende in der öffentlichen Kommunikation haben noch einen anderen Effekt: Sie vermitteln einer größeren Bevölkerungsgruppe erstmals Erfahrungen in einer medialen Umwelt, die zuvor nicht zur Verfügung standen. Eine mögliche Folge daraus könnte der generalisierte Manipulationsverdacht sein, dass man Fakten und Meinungen im Netz ganz leicht selbst prägen, ja sogar manipulieren kann und dass dies Journalisten nicht nur möglich ist, sondern dass sie dies auch ständig praktizieren. Das eigene Manipulationspotenzial wird also projiziert auf die journalistische Profession. Die Annahme von »Lügenpresse« erscheint in diesem Denken somit als eine schlüssige Folgerung.

Schließlich ist ein drittes Moment der Digitalisierung relevant für das Lügenpresse-Narrativ. Es ist dies die verbale Aggressivität im Internet. Sie beginnt mit Pöbeleien und geht über Shit-Storms hin zu ungebremsten Hassreden. Das Internet ermöglicht nicht nur vernunftbasierte und gar demokratische Partizipation, wie viele erhofft hatten. Es verleitet in seiner Anonymität auch zu Enthemmungen aller Art: beleidigend, sexistisch, rassistisch, obszön. Wie wirkt sich diese virtuelle Gewalt auf unseren Umgang mit realer Gewalt aus?

In der Kommunikationswissenschaft wird seit Jahrzehnten darüber geforscht, welche Wirkung Gewalt im Fernsehen oder in Computerspielen haben kann. Demzufolge gibt es in der Regel keine einfachen linearen Wirkungsverläufe – erst Mediengewalt, dann Gewalthandeln eines Menschen in der Realität –, aber es lassen sich Wirkungen durchaus konstatieren, wie die Gewöhnung an Gewalt (Habitualisierung), während eine Bereinigung von Aggressionen (Katharsis) durch mediale Gewalt eher nicht stattfindet. Die Vermutung liegt nahe, dass der hohe Aggressionspegel im Internet auch auf die Offline-Realität überschwappt.

Wie Menschen mit Medien umgehen: Wirkungsmechanismen

Wenn der Begriff »Lügenpresse« ideologisch so wenig gebunden und präzise ist, warum ist er dennoch so erfolgreich und flackert immer wieder auf in der Mediengeschichte, selbst in einer offenen Gesellschaft wie im heutigen Deutschland mit seiner ausgeprägten Medienfreiheit? Der Grund liegt zuallererst in der Ungewissheit von Kommunikation, die anfällig macht für Misstrauen. Kommunikation ist – wie die Kommunikationstheorie dies nennt – kontingent. Das heißt, Kommunikation ist prinzipiell offen für Deutungen, nicht eindeutig und immer fehleranfällig, Verständigung ist ungewiss. Zwar ist in einer Kommunikationssituation, in der beide Partner anwesend sind und in der es um einfach prüfbare Fragen geht, eher wahrscheinlich, dass sich Kommunikationspartner einig werden in der Wahrnehmung einer Sache und ihrer Deutung. Sobald jedoch Kommunikation durch komplexe Medien vermittelt wird, und dies womöglich über mehrere Kaskaden hinweg – vom Reporter über die Nachrichtenagenturen zu den Redaktionen –, gestaltet sich die Überprüfung durch den Einzelnen komplexer oder wird gar unmöglich. Misstrauen gegenüber einem hochmediatisierten Aussageinhalt ist insoweit eine durchaus intuitiv richtige Reaktion. Vertrauen ist keineswegs selbstverständlich. Es setzt gewachsene positive Erfahrungen ebenso voraus wie Kenntnisse darüber, wie mediatisierte Kommunikation operiert.

Zur Erklärung der Erfolgsgeschichte des Narrativs »Lügenpresse« gibt es eine Reihe von in der Kommunikationswissenschaft bewährten Wirkungsmodellen. Eines dieser Modelle ist die »Schweigespirale«, entwickelt von Elisabeth Noelle-Neumann in den 1970er-Jahren.[11] Die empirischen Daten, mit denen Noelle-Neumann damals arbeitete, waren umstritten. Konzeptionell aber könnte das Modell heute (wieder) brauchbar sein und würde erklären, weshalb das Narrativ der Lügenpresse so sehr im Aufwind ist, wenngleich man hier eher die Bezeichnung »Redespirale« oder »Aufmerksamkeitsspirale« verwenden sollte. Gewinnt nämlich eine Thematik oder Sichtweise an öffentlicher Aufmerksamkeit durch die Berichterstattung, so wächst damit ihr Verbreitungsgrad und möglicherweise auch ihre Akzeptanz. »Lügenpresse« erscheint womöglich mittlerweile nicht mehr nur als Kampfvokabel für eine abseitige Minderheitenmeinung, zum Beispiel als Polemik von Nazi-Gruppen, sondern als akzeptiertes Stichwort für eine Medienkritik in breiteren Bevölkerungskreisen. Einen solchen Prozess einer wachsenden Rede- und Aufmerksamkeitsspirale unterstützen paradoxerweise die Medien selbst: Indem sie über die Lügenpresse-Debatte berichten – was sie tun müssen, um ihrer Berichtspflicht zu genügen –, machen sie den Kampfbegriff »Lügenpresse« bekannt, tragen zu seiner Verbreitung bei und steigern womöglich seine Akzeptanz, zumindest bei all jenen, die sich dadurch emotional oder in ihrer Weltsicht bestätigt fühlen.

Zwei weitere Konzepte bieten Erklärungen für das Narrativ Lügenpresse. Dem »Hostile Media Effect« zufolge haben Menschen die Tendenz, die Medienberichterstattung als unfair und verzerrt wahrzunehmen.[12] Das kann so weit gehen, dass bei einem umstrittenen Thema die Anhänger der einen wie der anderen Meinung im selben Artikel unterschiedliche Tendenzen herauslesen. Außerdem gibt es das Phänomen des »Third-Person Effect«, demzufolge Menschen die Wirkung der Medien auf andere als stärker als auf sich selbst einschätzen.[13]

Man könnte also folgende Wirkungskette vermuten, die im Ergebnis zur Verstärkung des Lügenpresse-Narrativs beiträgt: Angesichts eines Medien-Mainstreams, der dem Lügenpresse-Narrativ kritisch bzw. ablehnend gegenübersteht – selbst wenn diese Berichterstattung weitgehend sachlich und in der Meinung zurückhaltend gestaltet ist – werden Lügenpresse-Anhänger darin nicht so sehr die triftigen Argumente, sondern die böswillige Feindlichkeit der Berichterstattung sehen. Damit sehen sie ihre Meinung bestätigt, dass Medien die Wahrheit verdrehen und Teil einer Verschwörungselite sind. Im Sinne des »Third-Person Effect« könnten Anhänger des Lügenpresse-Narrativs weiter vermuten, dass die aus ihrer Sicht feindliche Medienberichterstattung zwar keine Wirkung auf sie selbst, aber eine starke Wirkung auf andere habe. Dass die eigene Sichtweise sich noch nicht gänzlich durchgesetzt hat, hätte demzufolge seine Gründe nicht in der mangelhaften Begründbarkeit des Lügenpresse-Narrativs, sondern in der Wirkungsstärke des Medien-Mainstreams auf andere.

Drei Facetten des Journalismus: Beruf, Funktionssystem, Kulturproduzent

So weit die Strukturmomente und Prozesse der digitalisierten Mediengesellschaft, welche die aktuelle Erfolgsgeschichte der Lügenpresse-Erzählung erklären. Welche Rolle spielt in dieser Gesellschaft der Journalismus? Auf die einfache Frage, was Journalismus ist, gibt es aus Sicht der Forschung mindestens drei Erklärungen, die alle ihre Richtigkeit haben: Journalismus ist ein Funktionssystem in der modernen Gesellschaft, Journalismus ist ein Kulturproduzent, und Journalismus ist ein Beruf wie andere Berufe auch.

Journalismus ist ein soziales Funktionssystem, das unabdingbar zur modernen Gesellschaft gehört, die hoch arbeitsteilig und komplex bis zur Unübersichtlichkeit ist. Diese Gesellschaft benötigt den Journalismus als spezialisierte Institution, die sich kontinuierlich darum kümmert, wichtige Themen zu erkennen, sie zu prüfen und für die öffentliche Kommunikation aufzubereiten. Besonders unverzichtbar ist Journalismus in der Demokratie. Hier müssen immer wieder Konflikte ausgehandelt und Entscheidungen in einem diskursiven Prozess möglichst transparent und letztlich konsensuell erarbeitet werden. Die Kernaufgabe des Journalismus in der demokratischen Gesellschaft ist es, die informationelle Basis zur Selbstbeobachtung und zum Selbstverständnis der Gesellschaft bereitzustellen. Der Journalismus tut dies, indem er allgemein interessierende Themen auswählt nach den Kriterien Relevanz (interessant für möglichst viele Menschen), Aktualität (mit Gegenwartsbezug und Neuigkeitswert) und Faktenbezug (also nicht frei erfunden und so weitgehend wie möglich nachweisbar und prüfbar anhand von Fakten).

Die ausgewählten Themen bearbeitet der Journalismus so, dass sie möglichst verständlich sind, aber eben auch möglichst viel Aufmerksamkeit erzielen. Dafür werden bestimmte Darstellungsformen eingesetzt, die wir als lesendes, hörendes und sehendes Publikum kennen und einschätzen können. Als Mediennutzer wissen wir zum Beispiel, dass die Schlagzeilen der Bild-Zeitung skandalisieren und sensationalistisch aufbauschen (wollen), und wir erwarten von den Beiträgen der Tagesschau im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine Witzerzählungen, sondern seriöse und geprüfte Nachrichten.

Alle professionellen Kompetenzen, Regeln und Richtlinien im Journalismus haben das Ziel, Wirklichkeit so umfassend und allseitig abzubilden wie irgend möglich. Objektivität (im Textjournalismus) und Authentizität (im Bildjournalismus) gelten als die obersten Ziele, wenngleich rein erkenntnistheoretisch klar ist, dass es die eine und einzig richtige Darstellung von Wirklichkeit nicht geben kann. Dennoch ringt der Journalismus täglich darum, dieses Ziel zu erreichen. Ein simples Beispiel dafür, wie dies handwerklich umgesetzt wird, ist die Regel des sogenannten Double-Checks, dass also eine Tatsachenbehauptung mindestens von zwei Quellen abgesichert sein sollte, die voneinander möglichst unabhängig sind. Der Journalismus orientiert sich an einer berufsspezifischen Ethik, die aus den Gesetzen ableitbar, in professionseigenen Standards (wie dem Pressekodex) festgeschrieben ist und die im Zuge der Berufsausbildung vermittelt wird.

Insoweit ist Journalismus mit anderen Professionen vergleichbar: Ärzte bemühen sich, ihre Patienten vollständig zu heilen, Anwälte setzen sich für ein Gerichtsurteil zugunsten ihrer Klienten ein. Hier wie auch im Journalismus sind diese professionellen Ziele nicht immer in jedem Einzelfall erreichbar. Kurz: Alle Regeln des Journalismus zielen auf das Gegenteil dessen, was die Zuschreibung »Lügenpresse« dem Journalismus unterstellt.

Aber die Wirklichkeit ist komplizierter. Denn es gibt eine zweite Facette des Journalismus: als Kulturproduzent. Bei aller sachlich-nüchternen Funktionslogik, die oben beschrieben wurde, ist doch unvermeidlich, dass Journalismus ideologisch nicht absolut neutral wirkt. Journalismus ist eingebettet in die Gesellschaft, arbeitet mit dem vorhandenen Wissen, teilt viele der gängigen Haltungen, auch der Eliten – und ist zugleich auch prägende Kraft, indem er auf dieses Wissen und Bewusstsein einwirkt. Zum einen durch seine Themenwahl – kommunikationswissenschaftlich »Agenda Setting« genannt –, zum anderen durch die Einbettung der Themen in Deutungszusammenhänge – dies wird in der Kommunikationswissenschaft »Framing« genannt. Journalismus ist somit zwar sachlicher Dienstleister, aber auch prägende mitverantwortliche Institution für das, was in einer Gesellschaft debattiert wird. Warum Klimawandel und nicht weltweite Armut zum Nachrichtenthema machen? Warum die Bedrohung der Eisbären in der Arktis und nicht die der Spatzen in der nächstgelegenen Großstadt? Warum eine Reportage zum Schicksal eines gescheiterten Politikers und nicht eine über den harten Alltag einer Leiharbeiterin? Das sind Entscheidungen, die Journalistinnen und Journalisten treffen müssen. Wobei selbst bei optimaler Umsicht mindestens zeitweise blinde Flecken entstehen, problematische Leerstellen in der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Wer aber sind die Journalistinnen und Journalisten? Darauf gibt die dritte Facette Antwort, die Erforschung von Journalismus als Beruf. Das journalistische Herkunftsmilieu in Deutschland ist seit Jahrzehnten die liberalbildungsbürgerliche Mittelschicht, also gebildet, urban, ethnisch homogen. In ihren politischen Haltungen tendieren Journalisten stärker zu linksliberalen und grünen Positionen als die Gesamtbevölkerung. Zwar ist der Anteil der Frauen im Journalismus in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen und dürfte sich beinahe 40 Prozent nähern. Aber die Spitzenpositionen der Ressortleiter und Chefredakteure sind immer noch überwiegend Männern vorbehalten, und dies umso stärker, je politischer das Ressort oder Medium sich versteht. Der Anteil der journalistisch Tätigen mit Migrationshintergrund ist kaum gewachsen und entspricht längst noch nicht dem Anteil in der Gesamtbevölkerung. Zusammengefasst heißt dies, dass jene Bevölkerungsgruppen, die als »Verlierer« von Modernisierung, Globalisierung und in Deutschland auch der Wiedervereinigung gelten – typischerweise vor allem Menschen mit geringem Bildungsniveau –, im Journalismus nicht vertreten sind. Nun ist ein hohes formales Bildungsniveau im Journalismus sicherlich begrüßenswert. Aber die starke soziografische Verankerung des Journalismus in der bildungsbürgerlichen, männlichen und weißen Mittelschicht führt zu dem Verdacht, dass es zu einer Schieflage in der Berichterstattung und zu systematischen Blindstellen kommen kann. Aufgrund der sozialen Herkunft richtet sich der Blick eher auf bestimmte soziale Problemlagen, die dem eigenen Milieu nahestehen, sodass andere Milieus sich in der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigt sehen. Kommunikationswissenschaftlich ausgedrückt hieße dies, dass die Funktion des »Agenda Settings« – die Themenwahl und Priorisierung bestimmter Themen – und die Funktion des »Framings« – die Rahmung von Problemlagen und der Meinungsvermittlung – vom Journalismus unzureichend erfüllt würden. Dies sind gegenwärtig nur plausible Vermutungen, empirische Studien dazu stehen noch aus.

Vor dem Hintergrund klarer Arbeitsregeln und einer elaborierten Professionsethik wird verständlich, wenn Journalistinnen und Journalisten zunächst fassungslos vor der Unterstellung stehen, sie als Einzelpersonen, der Journalismus als Profession, alle Redaktionen, die ganze Institution würde lügen. Das stellt eine krasse Misstrauenserklärung gegenüber dem Journalismus und eine Geringschätzung seiner Leistungen dar. Andererseits ist der Journalismus eine Profession, die es sich zur Aufgabe macht, Kritik und Kontrolle unerbittlich auszuüben und die dabei keineswegs zimperlich mit Akteuren in Politik, Sport, Kultur oder im Unterhaltungsgeschäft umgeht. Weiter gedacht müsste also gerade diese Profession es aushalten, wenn sie selbst hart angefasst wird.

Bedingungen journalistischer Arbeit: Freiheit und Unabhängigkeit der Medien

Die Leistung des Funktionssystems Journalismus in einer Gesellschaft hängt nicht nur von den Fähigkeiten der einzelnen Journalisten ab, sondern auch von Rahmenbedingungen mit vielen Einzelfaktoren.

Einige Kommunikationswissenschaftler haben diese Faktoren gesammelt und systematisiert in sogenannten Schichtenmodellen[14], die auch Vergleiche zwischen den Ländern erlauben. Als solche Rahmenbedingungen gelten der Stand der Gesellschaft und die rechtlichen Bedingungen, das Mediensystem und die Organisation von Medienunternehmen und schließlich die Profession des Journalismus selbst.

Auf der Ebene des Rechtssystems ist in Deutschland Artikel 5 des Grundgesetzes maßgeblich, denn er garantiert Informations- und Meinungsfreiheit für alle Menschen, besonders aber für die Medien als Institution. Eine verfassungsrechtliche Zusicherung der Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit allein – wie sie formal auch in autokratischen oder totalitären Staaten wie vormals in der DDR und heute beispielsweise in Nordkorea gegeben ist – gewährleistet noch längst nicht tatsächliche Pressefreiheit. Entscheidend für die Pressefreiheit sind weitere Faktoren, wie eine stabile Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Justiz. Entscheidend sind ebenso weitere Einzelgesetze, die den Spielraum für journalistische Recherche und Berichterstattung prägen. Ein rechtlicher Schutz von Informanten kann Journalisten erlauben, mit anonymen Quellen zu arbeiten. Ohne Letzteres hätte es weder die Aufdeckung der Watergate-Affäre in der Nixon-Ära Anfang der 1970er Jahre gegeben noch die Enthüllung der »Panama Papers«, die 2016 durch die Süddeutsche Zeitung an die Öffentlichkeit gelangten. Der Kontext der Pressefreiheit hängt somit nicht zuletzt auch von der Rechtsordnung, der politischen Kultur und dem zivilgesellschaftlichen Entwicklungsstand ab, von deren Partizipationsbereitschaft und Resistenz, ihrem Kampfverständnis in Konfliktsituationen sowie ihrem Verständnis für die Bedeutung des Journalismus als vierte, die Mächtigen kontrollierende Kraft.

Auch die Struktur des Mediensystems ist weichenstellend für Pressefreiheit. Es bedeutet einen Unterschied, ob es in einem Land ausschließlich private und damit kommerziell ausgerichtete Medienunternehmen gibt (wie zum Beispiel in den USA), ganz oder überwiegend staatsnahe Medien (wie zumeist in totalitär regierten Ländern) oder ein Mischsystem aus privaten und öffentlich-rechtlichen Medien, wie etwa in Großbritannien mit der BBC oder in Deutschland mit ARD und ZDF. Aber auch die Ebene der redaktionellen Organisation und damit verbundene Ressourcen und Machtpositionen können sehr unterschiedlich gelagert sein: Wie viel Geld steht zur Verfügung für teuren Recherchejournalismus und investigativen Journalismus? Wie steht es um die innere Pressefreiheit in einer Redaktion? Dürfen etwa vom Mainstream abweichende Positionen und Themen in der Redaktion vertreten werden und darf auch kritisch berichtet werden, wenn damit ein Interessenkonflikt gegenüber Anzeigenkunden droht? Und es geht um thematische Orientierungen und darum, ob die Ressorts und die damit verbundenen Kompetenzbündelungen die wichtigen Fragen und Herausforderungen der Gesellschaft abbilden. Ein Beispiel wäre die Einrichtung von Umwelt-Ressorts (wie etwa beim ZDF). Auch die Etablierung von Investigativ-Ressorts (wie etwa in der Süddeutschen Zeitung) sowie von internationalen redaktionellen Netzwerken für investigativen Journalismus (wie ICIJ, dem International Center for Investigative Journalism) ist Ausdruck der redaktionellen Fokussierungen sowie Spezialisierungen im Journalismus.

Wie kann man all diese Aspekte zusammenfassen? Einen Versuch in dieser Richtung bietet das Ranking der internationalen Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG). Sie prüft jährlich in 180 Ländern, wie es um die Presse- und Informationsfreiheit bestellt ist. Dabei kommen 87 Kriterien zum Tragen, die in folgenden Hauptindikatoren zusammengefasst sind: Medienvielfalt, Unabhängigkeit der Medien, journalistisches Arbeitsumfeld und Selbstzensur, rechtliche Rahmenbedingungen, institutionelle Transparenz und Produktionsinfrastruktur. Hinzu kommt ein weiterer Indikator für Übergriffe und Gewalttaten gegen Journalisten. Diese Bewertungsmaßstäbe werden Experten in den einzelnen Ländern zur Einschätzung vorgelegt. Zu diesen Experten zählen Journalisten, Wissenschaftler, Juristen und Menschenrechtsaktivisten. Aus den Gesamtbewertungen wird ein Ranking erstellt, das Vergleichsmöglichkeiten bietet zwischen den Ländern und der Entwicklung der Pressefreiheit im Zeitverlauf.

Im ROG-Ranking 2016 für den Zeitraum 2015 stehen die Länder Finnland, Niederlande, Norwegen und Dänemark auf den ersten Plätzen als Länder mit höchster Pressefreiheit, während auf den letzten Plätzen mit geringster Pressefreiheit die Länder Syrien, Turkmenistan, Nordkorea und Eritrea rangieren. Deutschland gehört zu den Ländern mit hoher Pressefreiheit, ist allerdings innerhalb eines Jahres, von 2014 auf 2015, leicht abgerutscht vom 12. auf den 16. der insgesamt 180 Plätze. Der ROG-Bericht fasst die Situation für Deutschland knapp und konzise wie folgt zusammen: »Insgesamt ist das Arbeitsumfeld für Journalisten in Deutschland gut. Aber auch hier wurden in den vergangenen Jahren Journalisten staatlich überwacht, etwa, wenn sie in der rechtsextremen Szene recherchierten. Während der öffentlich-rechtliche Rundfunk gebührenfinanziert wird, müssen immer mehr Zeitungen ums Überleben kämpfen. Die Anzahl der Zeitungen mit eigener Vollredaktion geht zurück. Der Zugang zu Behördeninformationen ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt und mit Zeit und Kosten verbunden. Journalisten werden von Rechtsextremen und Salafisten angegriffen.«[15] Die USA liegen auf dem 41. Platz. Hier wird moniert, dass die Pressefreiheit »allzu oft mit Verweis auf die nationale Sicherheit eingeschränkt wird«.[16] Kritisiert wird auch der mangelnde Informantenschutz für investigative Journalisten und ihre Hinweisgeber sowie die Überwachung von Millionen Bürgern im Internet durch den US-Geheimdienst NSA.

Fazit: Die Voraussetzungen für eine freie und offene Berichterstattung in Deutschland sind gut und stabil. Sicher, es gibt Strukturprobleme, es gibt Anfälligkeiten für Fehler, es gibt Verbesserungsbedarf. Aber es gibt faktisch keine Belege für absichtsvollen Betrug durch die Medienmächtigen.

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