Luisa wagt das L(i)eben - Christina Beuther - E-Book

Luisa wagt das L(i)eben E-Book

Christina Beuther

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Beschreibung

Ist das Leben nicht so viel Meer?

Luisas Leben verläuft eigentlich genau so wie sie es sich gewünscht hat: ein Traumjob in einer angesagten Werbeagentur und den Traummann an ihrer Seite. Eigentlich. Oder ist doch nicht alles so perfekt? Wenn sie ganz ehrlich ist, dann hadert sie schon länger mit ihrer Arbeit und Traummann Mark ist doch vor allem mit seiner Karriere beschäftigt. Passt ihr Leben noch zu ihr? Und sie noch zu ihrem Leben? Kurzentschlossen nimmt sie sich eine Auszeit und besucht ihren Bruder Tom in Köln, der sie überredet wieder Kontakt zu Nik aufzunehmen. Nik, der einmal ihr bester Freund war und mit dem Luisa nach einem blöden Streit seit Jahren nicht mehr geredet hat. Als sich die beiden auf dem zehnjährigen Abitreffen aussöhnen, überredet er Luisa mit ihm nach Dänemark zu fahren, wo er das Ferienhaus seiner Eltern wieder instand setzen möchte. Weit entfernt vom Alltag wirbeln Wind und Meer Luisas Leben und Herz kräftig durcheinander. Und daran ist auch Nik nicht ganz unschuldig …

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Über das Buch

Ist das Leben nicht so viel Meer?

Luisas Leben verläuft eigentlich genau so wie sie es sich gewünscht hat: ein Traumjob in einer angesagten Werbeagentur und den Traummann an ihrer Seite. Eigentlich. Oder ist doch nicht alles so perfekt? Wenn sie ganz ehrlich ist, dann hadert sie schon länger mit ihrer Arbeit und Traummann Markus ist doch vor allem mit seiner Karriere beschäftigt. Passt ihr Leben noch zu ihr? Und sie noch zu ihrem Leben?

Kurzentschlossen nimmt sie sich eine Auszeit und besucht ihren Bruder Tom in Köln, der sie überredet wieder Kontakt zu Nik aufzunehmen. Nik, der einmal ihr bester Freund war und mit dem Luisa nach einem blöden Streit seit Jahren nicht mehr geredet hat. Als sich die beiden auf dem jährlichen Abitreffen aussöhnen, überredet er Luisa mit ihm nach Dänemark zu fahren, wo er das Ferienhaus seiner Eltern wieder instand setzen möchte.

Weit entfernt vom Alltag wirbeln Wind und Meer Luisas Leben und Herz kräftig durcheinander. Und daran ist auch Nik nicht ganz unschuldig …

Über Christina Beuther

Christina Beuther, geb. 1975 ist Lehrerin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Heidelberg. Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane »Aber sowas von Amore« und »Ist das jetzt schon Liebe« lieferbar.

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Christina Beuther

Luisa lernt das L(i)eben

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

1998 – Der Geschmack von Gummibären

Kapitel 3

Kapitel 4

2002 – Im Gewitterschutzbunker

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

2005 – Alle Momente zusammen mit dir

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

2007 – Kölle alaaf, oder nüchtern betrachtet, war es betrunken besser

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

2008 – Komm schon, und tanz mit mir

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

2009 – Wally, Sternenhimmel und das schönste Mädchen der Welt

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

2013 – Der Plan für die Zukunft

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Danke

Impressum

1.

»Guten Morgen, Berlin! Es ist 7:13 Uhr, und vor uns liegt ein grandioser Donnerstag. Uns erwarten wunderbare 25 Grad bei strahlend blauem Himmel. Der Sommer ist da. Raus aus den Federn, ihr Langschläfer! Natürlich mit der besten Musik und der besten Laune Berlins. Hier ist euer Morning-Torge, hier ist Enjoy Berlin, euer perfekter Start in den Tag …«

Ich schlug mit der Hand auf den Wecker und brachte Morning-Torge zum Verstummen. Wenn ich etwas beim Aufwachen nicht leiden konnte, dann waren das allerbestens gelaunte Morgenmenschen, bei denen man sich unweigerlich fragte, was sie eigentlich einwarfen, um so drauf zu sein. Apropos Morgenmensch. Mit der Hand fühlte ich neben mich. Die andere Seite des Betts war leer. Mark war natürlich schon aufgestanden und drehte seine allmorgendliche Joggingrunde entlang der Spree. Verschlafen öffnete ich die Augen, rollte mich langsam aus dem Bett und zog die Vorhänge zur Seite. Die Morgensonne schien mir ins Gesicht, und ich musste niesen.

Im Schloss drehte sich der Schlüssel. »Hey, hast du wirklich bist jetzt geschlafen?« Mark kam ins Schlafzimmer, wie immer wie aus dem Ei gepellt, selbst nach dem Laufen. Während meine Haare beim Aufstehen in alle Richtungen standen, sah mein Freund nach dem Aufwachen aus, als wäre er der aktuellen Müsli-Anzeigenkampagne von Parkmann und Partner entsprungen – FitFrühstück, das fitte Kickstart-Müsli in den Tag –, eine der Kampagnen, die er selbst entwickelt hatte und die beim Kunden, wie immer, auf Begeisterung gestoßen war. Von meinen Slogans und Kampagnen, jedenfalls denen der letzten Monate, konnte man das weniger behaupten.

»Solltest du dich nicht besser auf den Kundentermin vorbereiten, anstatt auszuschlafen?«

»Ausreichend Schlaf ist die beste Vorbereitung«, entgegnete ich und rollte innerlich die Augen. Mark kannte mich und blickte mich skeptisch an, weshalb ich ein »Wird super« hinterherschob. So richtig überzeugt klang das nicht, trotzdem oder gerade darum lächelte ich ihn zuversichtlich an und zeigte ihm ein Thumbs-up.

Mark gab mir einen Kuss auf die Stirn, verschwand im Bad, und kurz darauf hörte ich das Rauschen der Dusche. Seufzend ging ich in die Küche, ließ mir einen Macchiato aus dem großen verchromten Kaffeevollautomaten laufen, machte mir einen Toast und setzte mich auf den Designerbarhocker. Wird super … Eher würde es das genaue Gegenteil, denn dass sich mit dem, was ich mir überlegt hatte, kein Blumentopf gewinnen ließ, war absehbar. Aber – um im Bild zu bleiben – wem fiel denn bitte auch etwas Zündendes zu Blumenerde ein? Mir beim besten Willen nicht. Jedenfalls nicht mehr. Irgendwie fühlte ich mich leer. Kreativer als mein Marmeladentoast würde der Tag heute wahrscheinlich nicht mehr.

»Du isst Toast?«

Mark war in die Küche gekommen und machte sich wie jeden Morgen sein gesundes Müsli. Der kritische Blick auf mein Frühstück war mir nicht entgangen.

»Ich esse Toast.«

»Möchtest du nicht doch lieber ein Müsli?«

»Ich esse Toast.«

»Vielleicht würdest du morgens besser aus dem Bett kommen, wenn …«

»Ich würde besser aus dem Bett kommen, wenn ich nicht bis spät in die Nacht arbeiten würde.«

»Vielleicht müsstest du nicht bis spät in die Nacht arbeiten, wenn du dich gesünder ernähren würdest. Bringt Körper und Geist in Einklang.«

»Kannst du bitte aufhören, mit mir in Werbeslogans zu reden?«, entgegnete ich angenervt. Immer das Gleiche. »Iss du ruhig dein tipptoppfittes Müsli, und erfreu dich an deinem scharfen Körper und deinem scharfen Geist, aber lass mir meinen Toast.«

Mark grinste, hob sein T-Shirt hoch, so dass mein Blick auf seinen trainierten Bauch fiel. »Lust, dich an meinem scharfen Körper zu erfreuen?«

Ich musste lachen. Er stellte seine Müslischale zur Seite, kam auf mich zu, hob mich auf die Theke und schob mein Schlaf-T-Shirt hoch, doch ich machte mich frei. »Nein. Nicht jetzt. Wir müssen gleich los.« Ich hüpfte herunter und stand neben ihm.

»Ach komm, dafür sollte immer Zeit sein.« Mark zog mich an sich.

»Nein, Mark, nicht jetzt.«

»Nein, Mark, nicht jetzt. Ich kriege seit Wochen nichts anderes zu hören.«

Er ließ mich los, und mich packte das schlechte Gewissen, denn er hatte recht. Entweder ich musste arbeiten, oder ich war gestresst oder müde und einfach nie in der Laune. Kurz schmiegte ich mich an ihn und gab ihm einen verheißungsvollen Kuss, während meine Hände unter sein T-Shirt wanderten. »Nicht jetzt, aber wer weiß, was heute Abend passiert …« Verwegen blickte ich ihm in die Augen.

»Weißt du eigentlich, wie scharf du mich gerade gemacht hast?«

Ich biss in meinen Toast und grinste ihn an. »Abfahrt in zwanzig Minuten. Ich fahre.« Dann drehte ich mich um und verschwand im Bad.

»Shopstavaganza.« Marks dunkelbraune Augen strahlten begeistert, als er am Abend nach Hause kam. »Genial, oder? Der Kunde fand’s geil.« Er hatte sein edles dunkelblaues Jackett ausgezogen und öffnete die oberen Knöpfe seines schicken, weißen und eng geschnittenen Hemdes.

»Shopstavaganza?«, fragte ich.

»Ja, genau.« Er reichte mir eine Box mit Essen, das er vom veganen Imbiss um die Ecke mitgebracht hatte. »Früher war frau ein Shopaholic, ab morgen ist frau ein Shopstavaganza. Das wird der neue Onlineshop.« Selbstzufrieden steckte er sich eine Gabel Linsenpasta in den Mund.

»Ist das nicht zu sperrig, ich meine, wer soll sich das merken?«, wandte ich ein und stocherte in meinem Tofucurry.

»Quatsch. Shop-staaa-va-gan-zaaa”, sprach er sein neues Zauberwort betont aus, »ist einfach nur geil. Und ich habe den Auftrag.« Grinsend ließ er sich neben mich auf die weiße Designerledercouch fallen.

»Hey, das ist doch toll.« Irgendwie klang das nicht so begeistert, wie es hätte klingen sollen, doch egal. Mark war berauscht von sich, seiner Idee und dem Auftrag, da hatte er kein Ohr für leise Tonfälle zwischen den Zeilen. Geschweige denn, dass er sich für mich und meinen Tag interessiert hätte. »Das feiern wir heute. Boris, Jeanette und Vik kommen später ins Maybach. Vorher …« – er stellte sein Essen zur Seite – »ist mir aber nach einer kleinen, ganz privaten Feier.« Er kniete sich vor mich und drückte sanft meine Beine auseinander.

»Nein, nicht.« Ich schob seine Hände zur Seite.

»Wie bitte?« Irritiert blickte er mich aus seinen dunkelbraunen Augen an.

»Mir ist gerade nach keiner kleinen, privaten Feier.«

Marks Ausdruck wechselte kurz von irritiert zu verstimmt, bis mich seine perfekten weißen Zähne wieder anlächelten. Selbst in einer Werbung für Zahnpasta würde er mehr als überzeugen. An Mark war alles perfekt; die dunklen Augen, die er zu seinem Mark-Strahlen anknipsen konnte, seine feine Nase, die geschwungenen Lippen, die braunen, leicht gelockten Haare, seine Haut, der athletische Körper, seine Ideen für Kampagnen, für Slogans, sein Name für den neuen Onlineshop …

»Ach komm, dass man nicht direkt den Kundenwunsch trifft, das kann vorkommen. Du wirst eine super Kampagne entwickeln. Lass uns heute feiern.« Er lehnte sich vor und küsste meinen Hals, während seine Hände meinen Busen streichelten. Erneut schob ich ihn zurück.

»Mark, nein. Ich meine es ernst. Mir ist nicht nach Feiern. Hier nicht und auch nicht später.«

Das Strahlen war verschwunden, und Mark war nur noch verstimmt. »Wo ist dein Problem?«

»Ich weiß nicht.«

Er sah mich kopfschüttelnd an und stöhnte: »Luisa, nicht schon wieder.«

»Und außerdem weiß ich nicht, ob ich meinen Job überhaupt noch mag. Vegan – und du?, Herb a dent – einfach strahlend lächeln und Shop-staaa-va-gan-zaaa, ich bitte dich. Wo ist da der Inhalt?«

Mark war aufgestanden. Wütend stopfte er sich sein Hemd in die Hose. »Sag mal, wie ichbezogen bist du eigentlich?«

»Ich? Ichbezogen? Ich freu mich, dass du heute einen so großen Erfolg hattest und dass du dich so darüber freust, aber mein Tag war heute ehrlich gesagt beschissen, Scheißtag – wenn’s beschissen läuft. Darauf könntest du ja wohl auch ein wenig Rücksicht nehmen und zumindest mal nachfragen, wie es bei mir so war, anstatt dauernd zu betonen, wie außerordentlich geil du doch bist!«

Mark schüttelte den Kopf und strich die Haare, die ihm dabei ins Gesicht gefallen waren, wieder akkurat nach hinten. Selbst in einer Werbung für Shampoo wäre er nicht fehl am Platz. »Weißt du, dieser in deinen Au en inhaltslose Job sorgt dafür, dass es uns ganz schön gut geht«, schleuderte er mir entgegen.

Ich schaute mich um. Große Wohnung in Prenzlauer Berg, Designermöbel, teure Kleidung … »Meinst du das hier mit ›gut gehen‹?« Wir waren nicht das erste Mal an diesem Punkt.

»Weißt du was? Schieb deinen Frust alleine. Ich geh jetzt feiern.« Er nahm sein Jackett, und ich hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Mein bissiges »Viel Spaß!« hatte er nicht mehr vernommen, das hallte im großen Wohnzimmer an der hohen Decke wider und kam zu mir zurück.

Da saß ich also in edlem Rock und feiner Seidenbluse in unserer gemeinsamen Wohnung, die aussah, als wäre sie der Design-Sonderausgabe von Schöner Wohnen entsprungen, und fragte mich wieder, ob all das samt diesem Job überhaupt passte. Zu mir. Nach dem Abitur hatte ich Germanistik studiert und eigentlich immer schreiben wollen; Reportagen, Artikel und Berichte über Menschen und Themen, die interessant waren, die faszinierten. Das Einzige, was ich nun schrieb, waren lächerliche Slogans und aufgeplusterte Kampagnenkonzepte.

Vielleicht hatte Mark aber doch recht, und ich schob nur Frust, weil ich ein kleines kreatives Tief hatte, ein Luxusproblem, denn eigentlich war ich doch glücklich. Vor zwei Jahren hatten Mark und ich diese Wohnung gefunden, eine Traumwohnung, wie unsere Freunde sagten, und ja, die Wohnung war ein Glücksgriff. Dazu hatte ich einen coolen, spannenden, herausfordernden und nie langweiligen Job in einer der erfolgreichsten Werbeagenturen der Stadt. Einen Job, den ich liebte und in den ich in den letzten Jahren ungemein viel investiert hatte, in dem ich erfolgreich war und Karriere gemacht hatte. Nicht nur meine Freundin Vik war eine tolle Kollegin, ich arbeitete in einem großartigen Team. Dazu hatte ich einen tollen und interessanten Freundeskreis und Mark, meinen Traummann.

Ich stand auf, ging in die Küche, versenkte mein Curry im Biomüll und öffnete eine Flasche Rotwein. Unsere Beziehung war harmonisch, auch wenn ich mich gerade über ihn ärgerte und verstehen konnte, dass auch er sauer auf mich war. Wir hatten uns an meinem ersten Tag in der Agentur kennengelernt, und ich war sofort hin und weg gewesen. Head over heels. Ich liebte die Leidenschaft, mit der er alles anging, seine Kreativität. Wir tickten beide gleich – vielleicht bis auf meinen Schlafrhythmus, seinen Fitnessdrang und seine Vorliebe für gesunde Ernährung –, und wir hatten die gleichen Ziele. Ich trank einen Schluck. Hatten wir die? Natürlich hatten wir die. Warum kamen diese Sinnfragen dann seit ein paar Monaten immer wieder? Seit geraumer Zeit schon fragte ich mich heimlich, ob diese Ziele und dieses Leben eigentlich noch zu mir passten. Quatsch, ich schüttelte den Kopf, ich hatte nur ein Luxusproblem, einen Scheißtag und saß in einem kreativen Loch. Und dann machte es auf einmal klick: Ich musste raus. Ein paar freie Tage, und alles wäre wieder in Ordnung. Ich brauchte einfach eine kleine Auszeit. Woanders.

»Das ist nicht dein Ernst.« Mark sah mich verständnislos an. Obwohl er erst nach Hause gekommen war, als ich schon im Tiefschlaf lag, war er natürlich vor mir aufgestanden und bereits laufen gewesen. Frisch geduscht stand er vor mir, eine Tasse Espresso in der Hand. Ich hätte am liebsten die Augen gerollt. Nicht, dass dieses Bedürfnis mittlerweile chronisch war, aber wir führten dieses Gespräch nun schon, seit er von seiner Laufrunde zurück war. Er verstand einfach nicht, warum ich diese Zeit für mich brauchte. Und das lag nicht nur daran, dass er es mir immer noch nachtrug, gestern nicht mit ihm ausgegangen zu sein und gefeiert zu haben. Er schien mich und mein Problem einfach nicht ernst zu nehmen.

»Ich brauche diese Auszeit. Ich habe das Gefühl, mein Kopf ist voller Blumenerde, und ich weiß nicht, ob mir überhaupt noch etwas einfällt«, unternahm ich dennoch einen weiteren Versuch.

»Ach komm, ich kann mich nur wiederholen, so eine kleine kreative Durststrecke ist doch völlig normal.« Mark lachte, und ich merkte, wie ich langsam wütend wurde. Klar, dass Mister Ideenflüsterer Mark Wenger ganz locker von einer kreativen Durststrecke sprechen konnte, bei ihm dauerte so etwas schließlich höchstens ein paar Stunden.

»Noch mal: Ich weiß nicht, ob mir überhaupt noch etwas einfällt«, wiederholte ich trotzig, »und ob ich das überhaupt noch will.«

»Ob du was noch willst?« Etwas Zögerndes schob sich in sein Lächeln.

»Den Job. Dieses oberflächliche und inhaltsleere Vermarkten von Produkten, die die Welt nicht braucht.«

»Hey!« Sein Lächeln war wieder souverän, wirkte auf mich jedoch von oben herab. »Das ist nicht professionell. Du steigerst dich ich was rein.« Ich konnte es nicht leiden, wenn er so war.

»Ich steigere mich hier in gar nichts rein. Und ob du mein Verhalten jetzt professionell findest oder nicht, ist dein Problem. Ich fahre. Peter weiß Bescheid.« Ich hatte gestern Abend noch eine Mail an unseren Chef Peter Parkmann, den Inhaber der Agentur, geschrieben, und heute Morgen war sein Okay im Posteingang gewesen.

Mark schüttelte den Kopf. »Tu, was immer du willst, ich finde deinen kleinen dramatischen Spontanurlaub jedenfalls mehr als überzogen.«

»Das sagtest du bereits«, kommentierte ich und kniff die Augen zusammen. Blödmann.

Mark stellte die Tasse auf den Tresen und nahm sein Jackett. »Ich weiß wirklich nicht, wo dein Problem ist.« Er sah mich an. »Ich für meinen Teil fahre jetzt oberflächliche und inhaltslose Produkte vermarkten, die die Welt nicht braucht. Das ist nämlich mein Job, und den mache ich sehr gerne.« In seinen Worten lag etwas Bitteres, und ich wusste, dass er, obwohl er keine Frage gestellt hatte, auf eine Antwort wartete.

»Wir sehen uns in ein paar Tagen.«

Es war nicht das, was er hatte hören wollen. Mark zuckte mit den Schultern. »Grüß deinen Bruder und den Anhang.« Er küsste mich auf die Stirn, dann war er aus der Tür.

Auf der Fahrt nach Köln hatten sich meine Gedanken im Kreis gedreht: Wusste ich wirklich nicht, ob ich meinen Job noch wollte, oder steigerte ich mich in etwas hinein? Warum war ich überhaupt unzufrieden? Lag es nur an meinem Job oder an meinem Leben? »Ich weiß wirklich nicht, wo dein Problem ist« hatte Mark gesagt, und eigentlich wusste ich es auch nicht.

Doch je näher ich meinem Ziel kam, desto mehr heiterte sich meine Laune auf. In Köln angekommen, erschien das Problem, was immer es sein mochte, viel kleiner. Ich bog mit meinem Mini in die Turmstraße und parkte direkt vor dem Haus, in dem mein Bruder mit seiner Familie lebte. Zufrieden stieg ich aus und holte meine Tasche aus dem Kofferraum. Es fühlte sich richtig an, hierhergekommen zu sein. Gut gelaunt drückte ich auf die Klingel.

»Hallo?«, erklang eine fröhliche Kinderstimme in der Gegensprechanlage.

»Ich bin’s.«

»Luisa!«

Der Türöffner brummte, und noch bevor ich ganz im Flur stand, fiel mir bereits ein kleiner Junge stürmisch um den Hals.

»Endlich!«

Ich musste lachen. »Hey, Theo. Mensch, bist du groß geworden.« Herzlich schloss ich meinen jüngsten Neffen in die Arme. »Aber sag mal, warum bist du denn gar nicht in der Schule?«

»Der Herr hier ist krank.« Tom war die Treppe heruntergekommen. »Na, sagen wir eher, jetzt wohl wieder nahezu gesund.« Er wuschelte durch Theos Haar, dann umarmte mein Bruder mich.

»Schön, dass du da bist.« Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und nahm meine Tasche.

»Schön, dass es euch so spontan gepasst hat«, entgegnete ich und ging hinter ihm die Holztreppe hinauf, Theo an der Hand.

»Hey, wenn wir in irgendwas besonders stark sind, dann in Spontanität. Das Chaos lässt sich nicht anders überleben.« Anne, Toms Frau, stand mit Lotta auf dem Arm lachend in der Wohnungstür.

»Ich finde ja, dass Bezaubernde-Babys-Machen unbedingt auch zu euren Stärken gehört.« Ich umarmte Anne, gab Lotta einen Kuss auf den Kopf, und ihre dünnen Härchen kitzelten. Tief atmete ich diesen wunderbaren Geruch ein.

»Noch ist der Babyduft da, wobei du mir viel zu schnell groß wirst, Lottchen.«

»Du warst ja auch schon viel zu lange nicht mehr da. Herzlich willkommen im Chaos.« Meine Schwägerin blickte mich fröhlich an. »Komm rein.«

2.

»Und Mark hatte keine Lust, mitzukommen?« Tom lehnte im Türrahmen des Gästezimmers, während ich meine Sachen auspackte.

Ertappt. »Du musst gar nicht versuchen, deinen kritischen Unterton zu verbergen. Mark hatte einfach keine Zeit. Er steckt mitten in einer wichtigen Kampagne.«

Wie immer. Warum meinte ich, die Gedanken meines Bruders lesen zu können? Marks Charme hatte auf meinen Bruder eine eher gegensätzliche Wirkung. Beide kamen nicht richtig miteinander zurecht, was ich darauf schob, dass Tom nun mal mein großer Bruder war und meine Freunde immer schon skeptisch beäugt hatte. »Und ich hatte einfach Lust, euch zu besuchen«, fuhr ich besonders beschwingt fort, »hab euch vermisst.«

Toms Augen ruhten auf mir, und ich merkte, wie ich unruhig wurde, wusste ich doch, dass er in mir lesen konnte. Doch anstatt weiter nachzuhaken, fragte er etwas ganz anderes. »Dann gehst du morgen bestimmt zu deinem Abitreffen?«

Das Abitreffen. In meinem kreativen Loch samt kleinem persönlichem Gedankenchaos hatte ich den Termin vollkommen vergessen. Vielleicht auch, weil ich eh nicht vorgehabt hatte, teilzunehmen. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht.«

»Ich habe Nik getroffen.« Womit mein Bruder beim eigentlichen Grund meines Zögerns war. »Ruf ihn einfach an. Wie auch immer, ich muss los ins Lokal. Wir sehen uns morgen zum Frühstück.« Tom drückte mich, bevor er ging, und ich ließ mich auf das Bett fallen. Nik. Wie lange hatte ich nichts von ihm gehört? Fast zwei Jahre. Genauso lange, wie ich mich nicht bei ihm gemeldet hatte. Vielleicht hatte Tom recht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto alberner schien es, Nik nicht einfach anzurufen. In zwei Jahren wuchs schließlich einiges an Gras. Warum also nicht? Ich nahm mein Handy. Ob Niks Nummer überhaupt noch stimmte? Ich würde es einfach herausfinden und drückte auf seinen Kontakt. Nach zweimal Klingeln war er dran.

»Hey.« Niks Stimme klang überrascht.

»Hey. Ich bin’s. Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet …«

»Alles gut. Ich freu mich, dich zu hören. Sehr.« Ein kurzes Schweigen, das aber nicht unangenehm war, sondern sich angenehm vertraut anfühlte.

»Ich bin bei Tom.«

»Wir sind uns vor ein paar Tagen über den Weg gelaufen.«

»Ich weiß. Da wusste er aber noch nicht, dass ich komme. Ich bin sozusagen ein spontaner Überraschungsbesuch.«

Nik lachte. Sein vertrautes Lachen; herzlich und warm und echt. »Und was sind dann so deine spontanen Pläne hier in Köln?«

»Eigentlich habe ich keine spontanen Pläne hier, nur meinen besten Freund möchte ich wiedersehen, und das schon eine ganze Weile.« Und das war wirklich wahr, selbst wenn ich von dem, was ich da von mir gab, überrascht war.

»Ich dich auch«, antwortete er, und ich musste lächeln.

»Du lächelst«, sagte Nik durch den Hörer.

»Du auch.« Wieder das vertraute Schweigen.

»Gehen wir morgen zusammen zum Abitreffen?« Erneut überraschte ich mich selbst. »Ich meine natürlich, solltest du überhaupt daran teilnehmen wollen. Vielleicht hast du ja auch andere Pläne. Wenn nicht, können wir uns auch zu einem anderen Zeitpunkt treffen, ich bleibe für eine Woche in Köln.«

»Ich hatte sowieso vor, hinzugehen, und gehe gern mit dir. Soll ich dich bei Tom abholen?«

»Ist das kein Umweg für dich? Oder wohnst du nicht mehr in der Südstadt?«

»Doch, aber ich bin vorher ganz in der Nähe von euch.«

»Dann sehr gerne.«

»Um 20 Uhr?«

»Perfekt. Bis dann.«

»Bis dann, Paulsen.«

Noch immer lächelnd nahm ich mein Handy vom Ohr. Paulsen. Das sagte nur Nik zu mir. Seit ich ihn kannte. Eigentlich, seit ich denken konnte.

Es tat gut, von Nik in die Arme geschlossen zu werden. Ich musste zugeben, dass ich vorher ein wenig aufgeregt gewesen war und Angst gehabt hatte, wir könnten uns vielleicht fremd sein. Jetzt war ich erleichtert und glücklich, dass es sich nicht so anfühlte, als lägen zwei Jahre und ein unsäglicher Streit zwischen heute und unserem letzten Treffen. Im Gegenteil, ihn wiederzusehen fühlte sich wie selbstverständlich an.

Er hatte sich nicht groß verändert. Und doch …

»Stimmt etwas nicht?« Er sah mich fragend an.

»Der Bart ist neu.«

Er strich mit seiner Hand über den gepflegten, kurzen Bart, der in dem gleichen Dunkelblond schimmerte wie seine Haare, die er nach wie vor kurz trug. »So neu ist er auch nicht.«

»Steht dir gut.«

»Danke. Wobei, erkennst du mich eigentlich so ohne Brille, du Blindschleiche?«

Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber bei dem Ausmaß an Unverschämtheit kannst nur du es sein. Und das nennt man Kontaktlinsen.«

Nik lachte. »Du trägst deine Haare wieder länger.«

Ich nickte.

»Ich mag sie so lieber als kurz«, bemerkte er und wuschelte durch meinen braunen, leicht gelockten Bob.

»Hey, lass das.«

Nik grinste sein unverschämtes Nik-Grinsen und legte den Arm um mich. »Komm«, sagte er, »dann wollen wir mal.«

»O mein Gott«, entfuhr es mir, als wir in das Millers traten, das schon recht gut gefüllt war. Alles sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Zu Oberstufenzeiten war das Millers mein zweites Zuhause gewesen. Jetzt war es Jahre her, dass ich das letzte Mal hier gewesen war. Der schwarz-weiß geflieste Boden, die Bistrotische und -stühle, die schwarze Holzbar mit den wackeligen Barhockern, die Tanzfläche am anderen Ende der Kneipe mit der Diskokugel an der Decke, die alten Sofas davor, der Geruch nach abgestandenem Kölsch, Rauch und langen und ausgelassenen Partys, das schummrige Licht …

»Ich habe das Gefühl, ich bin auf Zeitreise.«

»Na dann, willkommen in der Vergangenheit.« Nik grinste.

»Luisa! Nik! Das ist ja so toll, dass ihr gekommen seid!« Jemand kam auf uns zugestürmt.

»Hallo, Becky«, sagte Nik.

Natürlich. Wie hätte es auch anders sein sollen? Becky, unsere ehemalige Jahrgangsstufensprecherin, die gute Seele des Jahrgangs, begrüßte uns euphorisch. Sie hatte die Feier selbstverständlich organisiert.

»Luisa, wie lange ist es her? Seit dem Abi?«

»Jup.« Ich nickte.

»Nein, das kann doch gar nicht sein. Kinder, wie die Zeit vergeht. Wenn ihr was zu trinken sucht, bestellt einfach an der Bar, bei Hunger ist drüben im Nebenraum ein kleines Buffet aufgebaut. Luisa, du bist, soweit ich mich richtig erinnere, nicht angemeldet. Kannst du bitte bei Michi deinen Unkostenbeitrag begleichen?« Becky lächelte uns selig an, dann hatte sie die nächsten lang Verschollenen entdeckt und stürmte davon.

»Willkommen in der Vergangenheit«, wiederholte ich Niks Worte.

»Darauf ein Kölsch?«

Als Antwort nahm ich Niks Hand und zog ihn in Richtung Bar.

»Hast du noch zu vielen aus der Klasse Kontakt?«

Nik schüttelte den Kopf. »Zu Yannik, klar, und auch zu Daniel seit ein paar Jahren wieder mehr. Und was den Rest betrifft, läuft man sich in Köln immer mal wieder über den Weg. Und du?«

»Ich telefoniere hin und wieder mit Bine, und wir schreiben uns recht häufig. Von ein paar Leuten bekomme ich über Insta und Facebook etwas mit. Aber das war’s.« Direkt nach dem Abi hätte ich es nie für möglich gehalten, dass man sich so schnell aus den Augen verlieren würde, aber so war es wohl einfach.

»Hey, Nik, altes Haus.« Ein Mann klopfte Nik auf die Schulter.

»Daniel, wenn man vom Teufel spricht«, grüßte Nik ihn herzlich. Beide lachten und nahmen sich in den Arm.

»Daniel?«, fragte ich verwundert.

Der Mann drehte sich um. »Luisa. Da hat es sich doch glatt gelohnt, aus Singapur angeflogen zu kommen.«

»Mensch, Daniel, ich hätte dich fast nicht erkannt«, entfuhr es mir.

»Ich weiß.« Er grinste zufrieden. Hatte ich Daniel eher korpulent in Erinnerung, war er nun schlank und durchtrainiert.

»Der gute Daniel hat Triathlon für sich entdeckt«, klärte Nik mich auf, und ich hob anerkennend die Augenbrauen.

»Und, Nik, was meinst du, schaffen wir es vor meinem Abflug auf eine gemeinsame Runde?«

Nik hob abwehrend die Hände. »Lieber nicht. Beim letzten Mal habe ich eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, bis ich mich wieder erholt hatte.« Er lachte.

»Ich frag dich später einfach noch mal.« Doch dann schien Daniel plötzlich abgelenkt und blickte zur Eingangstür. »Da kommt Sandra. Auf die habe ich mich besonders gefreut. Nichts gegen euch zwei, aber ihr entschuldigt mich?« Und schon war er unterwegs in Richtung Eingang.

»Sandra scheint die gleiche Anziehungskraft auf ihn zu haben wie früher.« Nik drückte mir ein Kölsch in die Hand.

»Danke. Aber schau, wie sie guckt.« Beide mussten wir lachen. War Sandra dem dicklichen Daniel immer mehr als abweisend begegnet, sosehr er sich auch ins Zeug gelegt hatte, strahlte sie ihn jetzt nicht nur überrascht, sondern auch recht angetan an.

»Was zehn Jahre alles ändern können«, bemerkte Nik. »Zum Wohl.«

Ich prostete zurück. »Manche Dinge ändern sich dann aber doch nicht.« Mein Blick fiel auf die Tanzfläche, wo eine Frau alles gab und versuchte, andere zum Mittanzen zu animieren. »Jaqueline, ganz die Stimmungskanone wie eh und je.« Am anderen Ende der Bar hing eine Gruppe Männer über ihren Kölsch. Sie machten den Eindruck, als hätten sie morgens schon mit dem Feiern begonnen. »Die Partyfraktion ist schon gut dabei«, bemerkte ich und nahm dann zwei Frauen auf einem Sofa ins Visier, die ihre Blicke von oben herab durch den Raum wandern ließen. »Und Celina und Janine finden sich immer noch toller als den Rest.«

»Die zwei müssen aufpassen. Abschätzige Blicke verursachen fiese Falten«, bemerkte Nik trocken, und ich verschluckte mich vor Lachen an meinem Kölsch.

Eine ganze Weile und ein paar Kölsch später hatte ich Bine getroffen und fröhlich geherzt, erfahren, dass Marina mit dem dritten Kind schwanger war, Rüdi gerade die zweite Scheidung verarbeitete, Jochen glücklicher Grundschullehrer war und ganz bald seine Freundin heiraten würde, Regine inzwischen in München lebte und ein Hotel leitete, Heiners Eventagentur ein großer Erfolg war, Iris und Steffen eine heimliche Affäre hätten, Ronja angeblich mit einem Fußballer des FC zusammen war, Markus nach wie vor Probleme hatte, sich wirklich festzulegen, was für das weibliche Geschlecht genauso galt wie für den Job. Ich hatte noch eine Menge anderer Gespräche geführt und mich von Jaqueline zum Tanzen verleiten lassen. »Puh!« Ich ließ mich neben Nik auf eines der Sofas fallen und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr richtig getanzt.«

»Du willst mir doch jetzt nicht erzählen, dass das Berliner Nachtleben nicht mit dem Millers mithalten kann?«

Er hatte den Arm um mich gelegt, und ich genoss die vertraute Nähe meines besten Freundes. Was hatte ich ihn vermisst. Und so brach es aus mir heraus: »Ich habe in den letzten Monaten eigentlich nur gearbeitet. Nachts vorm Laptop feiert es sich eher schlecht …«

»Und ich dachte, darum ginge es dir, um die Arbeit. Und dass alles andere im Leben überbewertet ist.« War da ein spitzer Unterton in seiner Bemerkung? Ich setzte mich aufrecht hin und sah ihn an. Und tatsächlich, ich hatte mich nicht vertan, Niks Augen hatten ein leicht angriffslustiges Flackern.

»Du bist also doch noch sauer.«

»Ich wundere mich nur. War doch alles so toll.« Jetzt schwang Ironie in seinen Worten mit.

»Ist es auch.« Ich hatte das Bedürfnis, mich zu verteidigen.

»Na, dann ist doch alles bestens.«

»Ja. Alles bestens.«

War eben alles ganz selbstverständlich und vertraut gewesen, stand nun wieder dieser eine Abend zwischen uns. Nik wirkte plötzlich fremd, und wir schwiegen uns an.

»Ich gehe Yannik Hallo sagen«, sagte Nik schließlich und erhob sich.

»Tu das.« Ich sah ihm nach, wie er durch die Menge auf seinen guten Freund zuging. Mann. Ich hatte mich doch bei Nik für Marks blödes Verhalten und seine unangemessenen Sprüche entschuldigt, auch dafür, dass ich geschwiegen hatte. Mark konnte arrogant und von oben herab wirken. Gut, damals hatte ich es für Souveränität gehalten, heute sah ich diese Seite an ihm kritischer. Ich konnte wirklich verstehen, dass Nik verletzt gewesen war, aber der besagte Abend war jetzt fast zwei Jahre her. Außerdem hatte Nik mir auch wehgetan. Als wüsste er besser als ich, was ich im Leben wollte! Doch was sollte es? Rumsitzen half auch nicht weiter. Ich kannte ihn, sein Ärger würde so schnell verflogen sein, wie er aufgekommen war. Ich stand auf und suchte Bine. Zusammen gesellten wir uns zu ehemaligen Mitschülern aus dem Deutschleistungskurs, die gut gelaunt Erinnerungen an die Kursfahrt nach Italien aufleben ließen. Nik schien sich an der Bar blendend zu unterhalten. Ich unterhielt mich auch blendend.

»Attraktiver Kerl.«

Fragend blickte ich Bine an, die in die gleiche Richtung sah, in die ich eben selbst noch geguckt hatte.

»Nik?«, erwiderte ich ungläubig.

Bine nickte und grinste. »Eine Menge Mädchen waren damals in ihn verknallt. Weißt du, wie viele liebend gerne mit dir getauscht hätten?«

»Das ist doch Quatsch.« Und das war es wirklich, vollkommener Quatsch!

Bine reagierte nicht auf meinen Einwand. »Scheint heute noch genauso zu sein. Guck doch mal, wie Sophie ihn ansieht. Oder Maite.« Bine deutete unauffällig in die Menge, und es stimmte. Sophie suchte Niks Blick, und Maites Augen wanderten immer wieder zu ihm, und das, obwohl sie in ein Gespräch vertieft schien.

Ich schüttelte den Kopf. »Bine, das ist Nik.«

»Eben.« Bine nahm einen Schluck Wasser, dann sah sie mich an. Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Pass gut auf ihn auf heute Abend.«

»Weder ist er mein Nik, noch muss ich auf ihn aufpassen«, widersprach ich.

»Wenn du meinst. Ich bin aber raus. Es ist fast zwölf. Auf mich warten zu Hause auch ein sehr gut aussehender Mann und eine kleine Tochter, für die die Nacht in fünf Stunden wahrscheinlich schon wieder vorbei ist.« Bine stand auf. »Ich muss wohl oder übel los.« Sie umarmte mich. »Und wir sehen uns nicht erst in ein paar Jahren wieder.«

Ich betrachtete eine Stellwand mit Fotos von Jahrgangspartys, Kursfahrten, dem Abiball, und mein Blick blieb an einem Foto von Nik und mir hängen. Nebeneinander saßen wir an einem Lagerfeuer. Er hatte den Arm um mich gelegt. Mein Kopf lehnte an seiner Schulter. »Party auf den Rheinwiesen am letzten Schultag« lautete die Überschrift. Ich musste lächeln. An den Abend selbst konnte ich mich nur sehr vage erinnern, sehr wohl aber an die schlimmen Kopfschmerzen am nächsten Morgen.

»Weißt du, dass ich wegen euch fünfzig Euro verloren habe?« Yannik stand plötzlich neben mir.

Fragend sah ich ihn an, und Yannik grinste. »Ich habe mit Daniel gewettet, dass ihr zwei zusammenkommt.«

»Dass wir zwei zusammenkommen?« Ich deutete auf das Foto und konnte es nicht glauben.

»Genau. Ihr zwei.«

Ich musste lachen. »Nik und ich?« Amüsiert sah ich ihn an.

»Hast du eigentlich nie mitgekriegt, wie verliebt er in dich war?«

Das war doch eher ein müder Versuch, lustig zu sein. »Ha. Ha. Ha«, bemerkte ich betont gelangweilt.

»Dann habt ihr nie darüber gesprochen. Auch nicht über den Kuss?«, fragte er verwundert.

Der Kuss? Das war jetzt aber wirklich albern. »Da waren wir Kinder. Sieben oder acht! Und wir fanden es ekelig. Beide.«

Yannik schien irritiert. »Ihr habt euch mit acht geküsst?«

»Ja. Nachdem wir heimlich seinen Bruder beim Knutschen beobachtet hatten, dachten wir wohl, dass wir das auch mal versuchen könnten. Aber das war zum Schütteln.« Die Erinnerung ließ mich schmunzeln.

»An dem Abend«, er zeigte wieder auf das Foto, »habt ihr euch alles andere als geschüttelt.«

Ich starrte Yannik an.

»Du kannst dich wirklich nicht erinnern?«

»Weil es nichts zu erinnern gibt. Du verwechselst da offensichtlich was. Unser Freund Nik war verknallt in Sophie. Warte …« Mein Blick wanderte über die Fotos, dann hatte ich gefunden, was ich suchte. »Da hast du’s.« Ich deutete auf ein Foto, das auf dem Abiball ein paar Wochen später aufgenommen worden war. Sophie hatte die Arme um Niks Hals geschwungen und himmelte ihn an.

»Wenn du meinst. Ich habe wahrscheinlich eh schon zu viel gesagt«, entgegnete Yannik, und als Jaqueline uns beide auf die Tanzfläche zog, hatte ich den Eindruck, er wäre erleichtert, dass unser Gespräch damit beendet war.

Wenn du meinst … Hatte Bine das vorhin nicht auch zu mir gesagt? Ich schüttelte den Kopf und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Yanniks Witze waren schließlich auch schon besser gewesen.

Als ich von der Toilette kam, hatte ich ein Déjà-vu. Wo war Yannik? Gerne hätte ich seiner Erinnerung auf die Sprünge geholfen. Nik und Sophie standen nebeneinander, und Sophies Hand lag vertraut auf Niks Arm. Trotz der Lautstärke schienen sie in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein. Jedenfalls amüsierte Sophie sich gerade prächtig über eine Bemerkung, die Nik gemacht haben musste, und lächelte ihn verzückt an. Ehrlich, ich hatte vor zehn Jahren schon nicht verstanden, was Nik an Sophie fand. Heute war es nicht anders. Gut, Sophie war hübsch, aber nach wie vor gähnend langweilig. Sie hatte so gar nichts Besonderes an sich. Die Liaison zwischen Nik und Sophie hatte nur ein paar Wochen gedauert und hatte vor unserer lang geplanten Sommertour nach Südfrankreich geendet. Beim Gedanken an die gemeinsame Reise nach dem Abi musste ich lächeln.

Ich musterte Nik aus der Entfernung. Er hatte immer Sport getrieben, aber er war trainierter als früher. Sophie schien mehr als zu gefallen, was sie sah. Sie hatte ihre langen, blonden Haare nach hinten geworfen und schmachtete ihn an. War ihm die Wirkung, die er auf Sophie offensichtlich hatte, bewusst? Jedenfalls lächelte er. Blödmann. Manche Männer lernten es wohl nie.

Ich schüttelte den Kopf, wandte mich ab, schaufelte mir am Buffet eine Riesenportion Kartoffelsalat und zwei Frikadellen auf einen Teller und ließ mich auf eines der Sofas fallen. Wie spät war es? Ich checkte mein Handy. Kurz nach eins. Dann schrieb ich rasch eine Nachricht an Mark.

Luisa: Schlaf gut. Ich vermisse dich.

Mark: Hi, Süße, sitze noch in der Agentur. Vik und ich geben den Entwürfen für übermorgen den letzten Schliff.

Seine Antwort war prompt gekommen. Ich durchforstete mein Gehirn und kam beim besten Willen nicht darauf, welchen wichtigen Termin er Montag hatte. Drei Punkte zeigten mir, dass er fortfuhr.

Mark: Wird genial. Der Kunde wird begeistert sein.

Natürlich würde der Kunde begeistert sein. Hatte der Kunde eine andere Möglichkeit, als hin und weg zu sein, wenn Mister Creativity himself verantwortlich war? Ich rollte innerlich die Augen. Schon wieder, doch manchmal war Marks Selbstbewusstsein einfach anstrengend und schwer zu ertragen. Vielleicht war ich gerade auch nur eifersüchtig auf seine Einfälle. Aber gab es für Mark kein anderes Thema als die Arbeit? Kein persönliches Wort, von »Süße« einmal abgesehen? »Süße« genannt zu werden, konnte ich partout nicht leiden. Auch kein »Ich vermisse dich auch«, wobei er mich wahrscheinlich wirklich nicht vermisste. Er war im Flow. Da, wo er am liebsten war.

Nik ließ sich neben mich fallen.

»Hey, Nik.« Ein leichtes Fragen.

»Hey, Paulsen.« Kein Ärger mehr in seiner Stimme. Er klaute eine meiner Frikadellen. »Hast du eigentlich Pläne für deine Tage hier?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nö. Eigentlich nicht.«

»Hast du Lust, für ein paar Tage mit nach Nordjütland zu kommen? Ich habe meinen Eltern versprochen, nach dem Haus zu sehen und es sommerfertig zu machen.« Niks Mutter war Dänin, und ihr gehörte ein kleines Ferienhaus in den Dünen mitten im Nirgendwo, in dem Nik mit seiner Familie früher immer die Sommerferien verbracht hatte. »Ich könnte Hilfe gebrauchen.«

»Hilfe?«

»Ja, wer schleppt sonst die Bretter und reicht mir das Werkzeug?«

»An deiner Überzeugungskraft musst du nach wie vor arbeiten. Das reißt selbst dein ausgesprochen charmantes Lächeln nicht raus.«

»Also gut, ich würde mich sehr über deine Gesellschaft freuen.«

»Besser.«

»Und?«

»Ich komme mit«, hörte ich mich sagen, und es fühlte sich gut an. In den letzten Jahren war ich viel zu selten spontan gewesen.

Er legte den Arm um mich, und ich legte den Kopf an seine Schulter.

»Paulsen, ich hab dich vermisst.«

»Dito. Trotzdem Finger weg von der anderen Frikadelle.«

1998 – Der Geschmack von Gummibären

»Mats, kann ich mir deinen …« Weiter kam ich nicht, da hatte mir mein Bruder nicht nur bereits seine Zimmertür wieder vor der Nase zugeknallt, sondern auch noch ein leises, aber deutliches »Verpiss dich« in meine Richtung gezischt. Verwirrt stand ich vor der geschlossenen Tür und ordnete das, was ich vielleicht gesehen hatte. War da ein Mädchen in seinem Zimmer gewesen? Ich legte mein Ohr an die Tür, hielt die Luft an und lauschte. »Sorry. Mein kleiner Bruder«, hörte ich Mats sagen, und eine Mädchenstimme entgegnete: »Ach was, der war doch voll süß.« Sie kicherte, und Mats lachte selten dämlich.

Mats war in der letzten Zeit zwar wirklich oft selten dämlich, ich aber bestimmt nicht süß. Und warum tat mein Bruder so geheimnisvoll? Paulsen war ständig zu Besuch, und wir hatten nie die Tür zu. Was war an Mädchen also bitte geheim? Blöd.

»Nik?«, rief Paulsen die Treppe hoch. »Kommst du?«

Noch immer verwundert, hüpfte ich die Treppe hinunter. »Hast du den Tischtennisschläger?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Mats hat ein Mädchen in seinem Zimmer und mich gar nicht reingelassen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Voll albern.«

Paulsen grinste, und ich wusste nicht, warum. »Dann ist der verknallt«, stellte sie fachmännisch fest. »Tom ist dauernd verknallt und hat Besuch von Mädchen.«