Luther lesen - Martin H. Jung - E-Book

Luther lesen E-Book

Martin H. Jung

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Beschreibung

Luthers Schriften liegen in nur für Fachleute geeigneten modernen Editionen vor. Ferner gibt es für jeden lesbare modernisierte Luthertexte in verschiedenen Bänden und Sammelbänden. Nicht auf dem Markt ist momentan eine Sammlung wichtiger und interessanter Luthertexte in einem Band, der einen Eindruck vom "ganzen Luther" vermittelt. So gesehen schließt dieser Band eine seit langem vorhandene Lücke. Das Buch bietet nahezu alle wichtigen Luthertexte in Auszügen. Die Textfassungen beruhen auf Kurt Alands "Luther deutsch", wurden aber durchweg anhand der Originaltexte überprüft, überarbeitet und korrigiert und noch einmal der heutigen deutschen Sprache und Rechtschreibung angepasst. Ergebnis ist ein sowohl authentischer als auch leicht lesbarer und gut verständlicher Luther. Dem Leser begegnen allseits bekannte Texte wie die Thesen, die Adels- und die Freiheitsschrift, aber auch dogmatische und erbauliche Texte, ferner problematische und schwierige Texte wie Luthers Polemiken gegen Juden, Türken und den Papst. Das Buch kennt keine Tabus! Kurze Einleitungen ordnen die Texte ein und helfen beim Verstehen. Gerahmt wird der Band von Melanchthons Bericht über Luthers Herkunft sowie dem Bericht von Augenzeugen über Luthers Tod. So gesehen bietet "Luther lesen" eine andere, neuartige, aber komplette Luther-Biografie, bei der im Kern Luther selbst zu Worte kommt.

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Seitenzahl: 395

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Luther lesen

Die zentralen Texte

Auf der Grundlage von Kurt Alands »Luther deutsch« bearbeitet und kommentiert von Martin H. Jung, herausgegeben vom Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD)

Zweite, verbesserte und um einBibelstellenregister erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 10 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99810-7

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: © Martin Luther: Das Neue Testament.Wittenberg: Hans Lufft 1530. Landesbibliothek Coburg P I 6/12

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Geleitwort

Einführung

Zeittafel

Philipp Melanchthon über die Herkunft und die Geburt Luthers

Das Gewitter bei Stotternheim: Luther wird Mönch (1505)

Das Turmerlebnis: Luther wird Reformator

Der Schritt an die Öffentlichkeit: Thesen gegen den Ablass (1517)

Neue Thesen: Die Disputation von Leipzig

Luther fordert Reformen: »An den christlichen Adel« (1520)

»Von der Freiheit eines Christenmenschen«

»Über die Gefangenschaft der Kirche«

Ehe und Familie

Schule und Bildung

Pfarrer und Gemeinden

»Ich widerrufe nicht!« Die Wormser Rede (1521)

Bibelübersetzung und Bibelinterpretation

Rücksicht auf die Schwachen!

Elementare Glaubenslehren: Katechismus

Luthers Anleitung zum Beten

Die Unfreiheit des menschlichen Willens und der verborgene Gott

Die Gegenwart Christi in Brot und Wein

»Von weltlicher Obrigkeit«

Sind Kriege erlaubt? Darf ein Christ Soldat sein?

Kritik am Großhandel und am Großkapital

Luthers Nein zum Aufstand der Bauern

»Mit Juden freundlich umgehen!« (1523)

»Man soll die Synagogen verbrennen!« (1543)

Türken, Mohammed, Islam, Koran

»Nein« zum Konzil

»In Rom regiert der Antichrist!«

»Keine Angst vor dem Tod!«

Justus Jonas über Luthers letzte Tage und sein Sterben

Literatur

Verzeichnis der verwendeten Lutherschriften

Abbildungsnachweise

Personen- und Sachregister (in Auswahl)

Bibelstellenregister

Geleitwort

2017 feiern wir das Reformationsjubiläum. Die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen widmen eine ganze Dekade der Vorbereitung auf dieses Datum und stellen die einzelnen Jahre unter zentrale Themen der Reformation. Eine Fülle von Literatur ist bereits erschienen und im Erscheinen begriffen. Spezialstudien und einführende Bücher, aber auch populäre Sammlungen von Lutherzitaten und Anekdoten füllen mittlerweile die Auslagen der Buchläden. Daneben stehen der Lutherforschung umfangreiche Editionen zur Verfügung. Die große Weimarer Ausgabe, zum 400. Geburtstag Luthers 1883 begonnen, umfasst heute 127 Bände mit ca. 80.000 Druckseiten. Zahlreiche andere Ausgaben bestehen daneben und machen das Feld für den interessierten Laien eher unübersichtlich. Wo anfangen und wie sich in den Textmassen zurechtfinden?

Das vorliegende Buch möchte hier Orientierung bieten. Es liegt nun ein Werk vor, in dem die zentralen Texte des Reformators in einem Band versammelt sind. Auf ihn können Pastorinnen, Pfarrer und Gemeindepädagoginnen in der Konfirmandenarbeit und für Themenabende zurückgreifen. Lehrerinnen und Lehrern steht für den Geschichts- oder Religionsunterricht eine wertvolle Textsammlung zur Verfügung. Aber auch für die private Lektüre sei das Buch empfohlen. So sehr es eine Auswahl ist und so wenig damit das Ganze der Theologie Luthers repräsentiert sein kann, so sehr können Sie als Leserin und Leser versichert sein, dass Sie damit einen guten und profunden Einblick in das Leben und Denken Luthers gewinnen können.

So wie Luther von den Christen forderte, selbst die Bibel zu lesen, und dies bis heute gilt, so möchte ich Sie dazu ermutigen, Luther im Original zu lesen. Mit Gewinn werden Sie merken, dass seine kraftvolle Sprache verständlich ist, dass er es vermag, deutlich und prägnant auszudrücken, worum es ihm geht. Aber auch die Abständigkeiten und die dunklen Seiten Luthers sind nicht ausgespart. Die Textauswahl bringt die Spannungen und die Ambivalenzen seiner Theologie zum Ausdruck. In jedem Fall werden Sie in die Lage versetzt, sich ein eigenes Urteil zu bilden, was Sie persönlich an Luther begeistert und wo es auch einfach gut ist, dass es schon 500 Jahre zurückliegt.

Luther lebt in diesen Texten: als ein Motor der Neuzeit und als ein Mensch seiner Epoche, verwickelt in Konflikte und Auseinandersetzungen, als ein Denker von hoher theologischer und philosophischer Bildung, der bis heute fasziniert und inspiriert. Er kommt uns in den Texten nahe als ein frommer Christ in Glaube und Zweifel, als ein von Ängsten gepeinigter wie von großen Hoffnungen beseelter Mensch – und als einer, mit dessen Texten es sich lohnt, das eigene Reformationsgedenken inhaltlich zu vertiefen.

Mein Dank gilt allen, die zum Gelingen dieses Buches ihren Beitrag geleistet haben. Insbesondere danke ich Prof. Dr. Martin H. Jung, der in einer professionellen Mischung aus tiefer Sachkenntnis und Pragmatik die Luthertexte ausgewählt und zum Teil neu übersetzt hat. Seine knappen und informativen Texteinleitungen versprechen eine gute Unterstützung der Lektüre. Mein Dank gilt auch Oberkirchenrat Dr. Georg Raatz, der vonseiten des Amtes der VELKD das Projekt von Anfang an unterstützt und redaktionell begleitet hat. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sei Dank gesagt für die Aufnahme des Bandes in sein Programm und Jörg Persch und Christoph Spill für die verlegerische Betreuung.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich gewinnbringende Lektüre und dass sie sich anstecken lassen von der Sache, von der Luther begeistert war: dass »Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten, also dass ein Gott haben nichts anders ist denn ihm von Herzen trauen und glauben« (Luther, Großer Katechismus).

Schwerin, Ostern 2016

Landesbischof Gerhard UlrichLeitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD)

Einführung

Prof. Dr. Martin H. Jung

Martin Luther – er hat mich immer fasziniert, aber er hat mich manchmal auch abgestoßen. Er hat mich immer inspiriert, aber manchmal habe ich ihn auch nicht verstanden.

Martin Luther – erstmals begegnet bin ich ihm, als ich 1969 als 13-Jähriger die Lutherstadt Wittenberg mit der Lutherhalle und dem Luthergrab besuchte. 1969/70 im Konfirmandenunterricht habe ich seinen Kleinen Katechismus auswendig gelernt und aufgesagt. Im schulischen Religionsunterricht spielte Luther, anders als Freud und Feuerbach, damals keine Rolle. 1976, als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in Israel, wurde ich erstmals auf Luthers Judenfeindschaft angesprochen und lernte so den »bösen Luther« kennen. Die Begegnungen mit Luthers dunklen Seiten setzten sich zunächst fort. Ich erfuhr, dass er zum Totschlagen der um Freiheit und Gerechtigkeit kämpfenden Bauern aufgerufen hatte. Ich erfuhr, dass er, anders als ich und viele andere junge Christen damals, Christsein und Kriegsdienst für vereinbar hielt. Ich erfuhr, dass er Obrigkeitsgehorsam eingeschärft und den Christenmenschen zum Bürger zweier verschiedener Reiche erklärt hat, mit der Konsequenz, dass die Ethik Jesu in der Welt nur bedingt Geltung habe.

Einen neuen, positiven Zugang zu Luther fand ich als Student bei Michael Welker in Tübingen sowie bei Helmut Gollwitzer (1908–1993) und Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) in Berlin. Ich entdeckte, dass Luther Religion mit Freiheit verbunden und gerade damit die neuzeitliche Religionsgeschichte nachhaltig geprägt hatte. Ich entdeckte, wie Luther bei aller Wertschätzung der Bibel auch schon Bibelkritik, Sachkritik an der Bibel, übte und sie nicht als ein Lehrbuch der Weltgeschichte und der Naturwissenschaft ansah. Ich entdeckte die faszinierende Gottesdefinition Luthers: Ein Gott ist das, woran du dein Herz hängst. Ich entdeckte den Luther, der das allgemeine Priestertum propagiert, die Pfarrerwahl durch die Gemeinde gefordert sowie die Rolle und das Ansehen der Frauen aufgewertet hatte, der für mehr und bessere Bildung eingetreten war, also nicht nur eine Kirchen-, sondern eine Gesellschaftsreform forderte, Sexualität als ein natürliches menschliches Bedürfnis ansah, die Tolerierung der Juden verlangte, den Eheschluss zwischen Juden und Christen erlauben wollte sowie dafür sorgte, dass erstmals eine Übersetzung des Korans in lateinischer Sprache erscheinen konnte. Der moderne, der innovative Luther war und ist freilich manchmal auch unbequem. Dies gilt besonders für seine scharfen Worte, mit denen er die politisch und wirtschaftlich Mächtigen in ihre Grenzen weist. Vieles liest sich, als wäre es für heute geschrieben.

Meine nächste Luther-Erfahrung verbindet sich mit dem Ersten Kirchlichen Examen 1984 in Tübingen. Heiko Augustinus Oberman (1930–2001), einer der größten Lutherforscher des 20. Jahrhunderts, bei dem ich aber nie studiert hatte, fragte mich nach Luthers Begründung der Kindertaufe – und ich musste passen. Damals wusste ich sie nicht, heute teile ich sie: Die Kindertaufe zeigt, dass Gott Menschen annimmt, die noch gar nichts für ihn leisten können. So gesehen steht die Kindertaufe für die Kernaussage der Reformation: Der Sünder wird vor Gott gerecht durch den Glauben allein, nicht durch Werke.

Bei Luther fasziniert auch die Sprache. Luther war ein Meister im Formulieren. Sein anschaulicher und lebendiger, mitunter witziger, mitunter grober Sprachstil macht das Lesen seiner Texte, selbst wenn sie theologisch gesehen schwere Kost bieten, zum Vergnügen.

Noch heute lesen wir Luther – natürlich und vor allem an den theologischen Fakultäten und Instituten, aber auch in den Gemeinden und mitunter privat bei uns zu Hause. Luther hätte das nie erwartet. Von den meisten seiner Werke hielt er selbst nicht viel. Er wusste, dass sie schnell dahingeschriebene Gelegenheitsschriften waren. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn sie bald wieder vergessen worden wären. Nur seine Katechismen und sein Buch über die Unfreiheit des menschlichen Willens wollte er der Nachwelt erhalten wissen. Es kam anders. Schon vor Luthers Tod begannen seine Anhänger und Nachfolger damit, seine Schriften zu sammeln und noch einmal herauszugeben. Die Reihe der Lutherausgaben wurde begonnen, und sie findet bis heute immer wieder Fortsetzung.

Luther wollte, dass sich die Christen, auch die Universitätsgelehrten, in erster Linie mit der Bibel beschäftigten. Der Protestantismus entwickelte eine ausgesprochene Bibelfrömmigkeit und eine Theologie, die sich als Auslegung der Heiligen Schrift verstand. Doch auch den Katholizismus hat Luther, spät und indirekt, beeinflusst. Heute hat die Bibel, anders als zu Luthers Zeit, auch in der römisch-katholischen Kirche und in der katholisch-theologischen Forschung einen höheren Rang.

Luther gehört zu den größten Theologen in der Geschichte der Christenheit. Er steht gleichrangig neben Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin, Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Indem sich die evangelischen Kirchen auf seine reformatorischen Impulse zurückbeziehen und weil sich alle nachfolgenden Epochen der protestantischen Kirchen- und Theologiegeschichte in ein Verhältnis zu ihm gesetzt haben und bis heute setzen, hat Luther eine integrative Funktion und stiftet konfessionelle Identität.

Aber wie gehen wir mit den dunklen Seiten Luthers um? Können Evangelische ihren katholischen Brüdern und Schwestern oder Juden und Muslimen noch in die Augen sehen, nachdem sie gelesen haben, was Luther über den Papst und über Mohammed gesagt und welche Vorwürfe er den Juden gemacht hat? Aber betroffen sind auch evangelische Mitchristen – Zwinglianer, Calvinisten, Mennoniten, Baptisten, Schwenkfelder –, gegen die Luther kaum weniger hart polemisiert hat.

Rom hat Luther verketzert, Luther hat Rom verteufelt. Die römisch-katholische Kirche von heute ist aber nicht mehr die Kirche, die Luther bekämpft hat. Auch die evangelischen Kirchen haben sich seit Luthers Zeit erheblich verändert. Über manche innerkirchliche Polemik Luthers muss, wer sich heute angegriffen fühlen könnte, einfach hinwegsehen.

Und: Luther war kein Heiliger und wollte kein Heiliger sein. Er bekannte sich bis zuletzt dazu, fehlerhaft, sündig zu sein. Eines seiner letzten Worte lautete: »Wir sind Bettler«, Bettler vor Gott, bettelnd um Verzeihung und Gnade. Luther hat sich selbst relativiert, und auch wir dürfen ihn relativieren. Wer Luthers dunkle Seiten nicht ignoriert – nur wer Luthers dunkle Seiten nicht ignoriert –, hat das Recht, sich weiter auf Luther zu berufen, und darf es auch mit gutem Gewissen tun.

Es gibt keine Identität, zu der nicht auch schwarze Flecken gehören würden. Wer sich wegen seiner dunklen Seiten von Luther distanzieren wollte, müsste sich auch vom Christentum als solchem distanzieren, denn seine Geschichte ist reich an dunklen Flecken. Identität gibt es nur in gebrochener Form und sie muss deshalb Selbstkritik immer einschließen. Nicht Purismus, sondern historische Kritik ist die richtige Antwort auf die Gebrochenheit dieser und aller Identitätsgeschichten.

Auch für evangelische Christen ist manches, was Luther geschrieben hat, heute befremdlich. Luther sprach viel vom Teufel. Der Teufel war für ihn eine Realität – wie Gott. Viele Christen und viele Theologen würden Luther an diesem Punkt heute nicht mehr zustimmen. Ein personhafter Teufel ist vielen fragwürdig geworden. Gleichwohl könnte man Luther darin Recht geben, dass das Böse mehr und mächtiger ist als die Summe der bösen Taten. Die Rede vom Teufel wollte genau dies ausdrücken. Und noch etwas wäre zu bedenken: Wenn Luther Personen wie den Papst als vom Teufel besessen darstellt, unterscheidet er zwischen der Person und der Macht, die sie lenkt, und lässt der Person eine Chance, sich von dieser Macht zu befreien.

Luther rechnete zeitlebens mit einem baldigen Weltende. Auch dies spürt man seinen Schriften an und auch dies befremdet heute. Das heutige Lebensgefühl ist, allen Umwelt- und Klimakrisen zum Trotz, ein anderes. Wir leben, als ob es kein Ende gäbe, als ob wir ewig Zeit hätten und als ob die Welt ewig Bestand hätte. Wir halten es entgegen allen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sozusagen mit Aristoteles, dem von Luther bekämpften »toten Heiden«, der die Welt ebenfalls als ewig angesehen hat. Die Bibel und Luther erinnern uns aber daran, dass unsere Zeit und die Zeit dieser Welt begrenzt sind, und mahnen uns dadurch, verantwortlich mit unserem Leben und unserer Welt umzugehen.

Richtig verstanden, richtig übersetzt, kann also auch der Luther, der uns auf den ersten Blick befremdet, aktuell und lesenswert sein.

Über Luther wird viel geschrieben. Lohnend ist es, Luther selbst zu lesen und selbst zu beurteilen. Luther ist lesenswert, aber schwer zu lesen. Die Schwierigkeit liegt weniger an seinen Gedanken als daran, dass er entweder lateinisch schrieb oder in einem Deutsch, das nicht mehr das unsere ist. Man muss Luther übersetzen und lesbar machen, und das ist nicht so einfach. 1948 hat der Kirchenhistoriker Kurt Aland (1915–1994) damit begonnen, Luthertexte ins heutige Deutsch zu übertragen. Sein vielbändiges, oftmals nachgedrucktes Werk »Luther deutsch«, 1948–1974 erschienen, wurde zu einer der erfolgreichsten Luther-Quellenpublikationen der neueren Zeit. Es diente meiner Arbeit als Grundlage. Vielfach musste jedoch noch einmal neu oder anders übersetzt und formuliert werden, um Luthers Gedanken in einer heute wirklich für jeden verständlichen Sprache wiederzugeben. Bibelzitate orientieren sich an der Lutherübersetzung von 1984, es sei denn, dass es der Sinnzusammenhang erforderlich machte, an Luthers Form des Zitats festzuhalten. Luther zitierte die Bibel häufig nicht wörtlich, sondern frei und paraphrasierend.

Meine Textzusammenstellung bietet wichtige, interessante und für heute relevante Luthertexte. Bei der Auswahl wurde besonders darauf geachtet, die Texte einzubeziehen, über die häufig gesprochen und kontrovers diskutiert wird, wie die Judenschriften Luthers, und alle Facetten von Luther zur Sprache kommen zu lassen, also auch seine Schattenseiten. Der Aufbau des Buches orientiert sich an der Biografie des Reformators. Mitgeholfen bei den anspruchsvollen Arbeiten an und mit den Texten hat meine Wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Helen-Kathrin Treutler. Bei weiteren Korrekturen und der Erstellung der Register halfen meine Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sarah-Christin Leder, M. Ed. sowie meine Wissenschaftlichen Hilfskräfte Annika Redmann, Vincent Peltz und Christian Fischer, B. A. Ferner danke ich Oberkirchenrat Dr. Georg Raatz im Amt der VELKD für eine aufmerksame Durchsicht des Manuskripts und viele hilfreiche Anregungen. Er hatte auch die Idee zu diesem Buchprojekt und hat wesentlich zu seiner Realisierung beigetragen.

Für alle, die sich für die vollständigen und die Originaltexte interessieren, werden jeweils die Fundorte in den zitierfähigen Luther-Ausgaben in Kurzform nachgewiesen. Die Abkürzungen werden im Literaturverzeichnis aufgelöst, wo sich auch Hinweise auf die gängige Luther- und Reformationsliteratur finden.

Zeittafel

1483

Geburt Luthers in Eisleben (10. November)

1497/98

Schüler in Magdeburg (Domschule)

1498–1501

Schüler in Eisenach (Pfarrschule St. Georg)

1501

Student in Erfurt (Grundstudium)

1505

Erwerb des Magistergrads, Beginn des Jurastudiums Gewittererlebnis und Klostereintritt

1507

Priesterweihe, Beginn des Theologiestudiums

1511/12

Reise nach Rom*

1512

Luther wird Professor in Wittenberg

1517

95 Thesen gegen den Ablass: Beginn der Reformation (31. Oktober)

1518

Heidelberger Disputation

1519

Leipziger Disputation

1520

Luther wird der Ausschluss aus der Kirche angedroht (Bannbulle, 15. Juni)

1521

Ausschluss aus der Kirche (3. Januar) Luther steht in Worms vor dem Kaiser (17./18. April) Der Kaiser verhängt die Reichsacht über Luther (25. Mai)

1521/22

Luther auf der Wartburg, Übersetzung des Neuen Testaments

1525

BauernkriegLuther heiratet Katharina von Bora

1529

Protest der Evangelischen auf dem Reichstag von Speyer

1530

Augsburger Reichstag und Augsburger Bekenntnis

1534

Vollendung der Bibelübersetzung

1545

Beginn des Konzils in Trient

1546

Luther stirbt in Eisleben (18. Februar)

_____________

*Neue, allgemein anerkannte, auf Forschungen Hans Schneiders (2011) basierende Datierung.

Philipp Melanchthon über die Herkunft und die Geburt Luthers

Von Luther sind nur autobiografische Bemerkungen überliefert. Die erste Biografie des Reformators schrieb sein Wittenberger Kollege und Mitreformator Philipp Melanchthon, der ab 1518 an seiner Seite gestanden hatte. Melanchthon berichtete auch erstmals von Luthers Herkommen und Geburt, und daran lehnen sich alle modernen Luther-Biografen an. Ganz sicher ist der Geburtstag, nicht aber das Jahr. Neben 1483 kommen auch 1482 und 1484 infrage. Kirchenbücher, in denen Geburten und Taufen festgehalten wurden, gab es im 15. Jahrhundert noch nicht. Melanchthon hatte mit Luthers Mutter und Luthers Bruder gesprochen sowie einem aus Mansfeld stammenden Studenten. Als Geburtsort hatte Luther selbst mehrfach Eisleben genannt. Es wurde jedoch auch schon diskutiert, ob es nicht doch Mansfeld gewesen sein könnte.

Philipp Melanchthon, Praefatio (1546):Corpus Reformatorum. Bd. 6. Halle/Saale 1839, Sp. 155–170.

Die Familie mit dem Nachnamen Luther ist alt, niederen Standes und im Herrschaftsbereich der ruhmreichen Grafen von Mansfeld weit verbreitet. Aber Martin Luthers Eltern wohnten zuerst in der Stadt Eisleben, wo Martin Luther geboren wurde. Später zogen sie in die Stadt Mansfeld, wo der Vater Johannes Luther Ämter bekleidete und wegen seines guten Rufs von allen rechtschaffenen Bürgern sehr geschätzt wurde. Bei der Mutter Margarita, der Ehefrau von Johannes Luther, zeigten sich nicht nur die zu einer anständigen verheirateten Frau gehörenden guten Eigenschaften, sondern es leuchteten auch besonders ihre Sittsamkeit, ihre Gottesfurcht und ihr Gebet hervor. Die anderen anständigen Frauen sahen in ihr ein Vorbild der Tugend.

Als ich sie mehrmals nach der Zeit fragte, wann ihr Sohn geboren wurde, antwortete sie, sie erinnere sich an Tag und Stunde genau, habe aber Zweifel am Jahr. Sie versicherte aber, er sei am 10. November geboren, nachts nach der elften Stunde. Und das Kind habe den Namen Martin erhalten, weil der nächste Tag, an dem das Kind durch die Taufe der Kirche eingefügt wurde, dem heiligen Martin geweiht war. Aber sein Bruder Jakob, ein anständiger und angesehener Mann, sagte, die Familie sei zum Alter seines Bruders der Ansicht gewesen, dass er im Jahre 1483 nach Christi Geburt geboren sei. Nachdem Martin das bildungsfähige Alter erreicht hatte, erzogen die Eltern ihren Sohn zu Hause, Gott zu erkennen und zu fürchten und sich anderen Tugenden verpflichtet zu fühlen.

Wie es bei rechtschaffenden Menschen üblich ist, sorgten sie dafür, dass er Lesen und Schreiben lernte. Der Vater von Georg Oemler brachte den noch kleinen Jungen in die Grundschule. Da er noch lebt, kann er unseren Bericht bezeugen.

Das Gewitter bei Stotternheim: Luther wird Mönch (1505)

Der Reformator war Mönch. Dass Luther zwanzig Jahre lang im Kloster gelebt hat, steht vielen nicht vor Augen. Von seinen Eltern war er allerdings nicht zum Klosterleben bestimmt worden. Sie hatten ihn im Jahre 1505 in Erfurt ein Jura-Studium aufnehmen lassen. Doch im ersten Semester warf ihn ein Gewitter aus der Bahn, woraufhin er ins Kloster der Erfurter Augustiner-Eremiten eintrat. Es war, das hatte er sich gemerkt, am Alexiustag, dem 17. Juli. Alexius war ein zu Luthers Zeit angesehener, aber ganz legendarischer Heiliger und Asket. In Todesangst hatte Luther nämlich der heiligen Anna, der Großmutter Jesu und Patronin der Bergleute, versprochen, wenn er überlebe, Mönch zu werden. Hierüber berichtete er 34 Jahre später, 1539, in einer sogenannten Tischrede. Zu Hause am Tisch mit Besuchern erzählte er am 16. Juli, dem Vorabend des Alexiustags, davon, und einer der Besucher schrieb die Erzählung auf.

Martin Luther, Tischrede am 16. Juli 1539:WA.TR 4, S. 440, Nr. 4707.

Am 16. Juli, dem Alexiustag, sprach er: »Heute jährt es sich, dass ich in das Kloster zu Erfurt gegangen bin.« Und er begann die Geschichte zu erzählen, wie er ein Gelübde abgelegt hatte, als er nämlich kaum vierzehn Tage vorher unterwegs gewesen und durch einen Blitzstrahl bei Stotternheim nicht weit von Erfurt derart erschüttert worden sei, dass er im Schreck gerufen habe: »Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!« … »Nachher reute mich das Gelübde, und viele rieten mir ab. Ich aber beharrte darauf, und am Tag vor Alexius habe ich die besten Freunde zum Abschied eingeladen, damit sie mich am folgenden Tag ins Kloster geleiteten. Als sie mich aber zurückhalten wollten, sprach ich: Heute seht ihr mich zum letzten Mal. Da begleiteten sie mich unter Tränen. Auch mein Vater war sehr zornig über das Gelübde, doch ich beharrte auf meinem Entschluss. Niemals dachte ich, das Kloster zu verlassen. Ich war der Welt ganz abgestorben.«

Das Turmerlebnis: Luther wird Reformator

Zehn Jahre nach Luthers erster Lebenswende, zehn Jahre nach seinem Klostereintritt, wurde der Mönch zum Reformator. Luther hatte seit 1505 Theologie studiert und war 1512 Theologieprofessor in Wittenberg geworden. Er hielt Vorlesungen über die Psalmen (1513–1515) und über die Paulusbriefe (1516–1518). Dabei kämpfte er – theologisch und existenziell – um die Frage, wie Gottes Gerechtigkeit zu verstehen sei. Anhand des Römerbriefs (Römer 1,17) fand er eine Antwort, die sein Verständnis der Theologie, ja sein Verständnis Gottes völlig veränderte. Luther berichtete darüber nur einmal ausführlich, dreißig Jahre später, 1545, in einer Vorrede zu einer Sammelausgabe seiner lateinischen Schriften. Weil er die hier geschilderte theologische Erkenntnis in seiner Studierstube im Turm des Wittenberger Augustinerklosters gewonnen hatte, sprach man später vom Turmerlebnis.

Viel diskutiert wurde die Frage, wann genau sich die Wende vollzog. Luthers Ausführungen sind nicht eindeutig. War es während der ersten Psalmenvorlesung oder erst im Zusammenhang der zweiten, die 1519 begann? War es vielleicht 1518, also nach den 95 Thesen? Oder gab es überhaupt keinen Wendepunkt? War es vielmehr ein sich über Monate und Jahre hinziehender Erkenntnisprozess, den Luther dann später erzählerisch verdichtete? Die Kontroverse unter den Lutherforschern dauert an und wird wohl nie enden, weil die Antwort immer auch von der jeweiligen Perspektive der Interpreten abhängt.

Vieles spricht dafür, das Turmerlebnis wie die ältere Lutherforschung auf oder um das Jahr 1514 zu datieren. Dass Luther nicht sofort und sogleich alle Konsequenzen seiner Erkenntnis übersah, ist selbstverständlich. Ein einschneidendes Erlebnis und ein längerer Erkenntnisprozess sind durchaus miteinander vereinbar. Neben Paulus fand Luther auch im Kirchenvater Augustinus einen Gewährsmann für seine neue Lehre.

Martin Luther, Vorrede zum ersten Band der WittenbergerAusgabe der lateinischen Schriften (1545): WA 54, S. 176–187;Cl 4, S. 421–428; StA 5, S. 618–638; LDStA 2, S. 491–509.

Unterdessen war ich in diesem Jahr von Neuem daran gegangen, den Psalter auszulegen. Ich vertraute darauf, geübter zu sein, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer, an die Galater und an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Mit außerordentlicher Leidenschaft war ich davon besessen gewesen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Nicht die Herzenskälte, sondern ein einziges Wort im ersten Kapitel (Römer 1,17) war mir bisher dabei im Wege: »Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart.« Ich hasste nämlich dieses Wort »Gerechtigkeit Gottes«, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit aller Lehrer unterwiesen war, es philosophisch von der formalen oder aktiven Gerechtigkeit, wie sie es nennen, zu verstehen, nach der Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.

Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Bußleistungen versöhnen könnte. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich doch heimlich gewaltig gegen ihn: Als ob es noch nicht genug wäre, dass die elenden und durch die Erbsünde ewig verlorenen Sünder durch das Gesetz der Zehn Gebote mit jeder Art von Unglück beladen sind – musste denn Gott auch noch durch das Evangelium Jammer auf Jammer häufen und uns auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen? Voller Unruhe, in meinem Inneren wild und verwirrt, klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an. Ich dürstete glühend danach zu wissen, was Paulus wolle.

Da hatte Gott mit mir Erbarmen. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (im Evangelium) offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht. Ich ging die Schrift durch, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch bei anderen Worten das Gleiche, zum Beispiel: »Werk Gottes« (Johannes 6,29) bedeutet das Werk, das Gott in uns wirkt; »Kraft Gottes« (1. Petrus 4,11) – durch die er uns kräftig macht; »Weisheit Gottes« (Lukas 2,40) – durch die er uns weise macht. Das Gleiche gilt für »Stärke Gottes«, »Heil Gottes«, »Ehre Gottes«.

Mit so großem Hass, wie ich zuvor das Wort »Gerechtigkeit Gottes« gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dieses Wort als das allerliebste hoch. So ist für mich diese Stelle des Paulus in der Tat die Pforte in das Paradies gewesen. Später las ich Augustinus’ Schrift »Vom Geist und vom Buchstaben«, wo ich wider Erwarten darauf stieß, dass auch er »Gerechtigkeit Gottes« in ähnlicher Weise auslegt als eine Gerechtigkeit, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns gerecht macht. Und obwohl dies noch unvollkommen geredet ist und nicht alles deutlich ausdrückt, … so gefiel es mir doch, dass eine Gerechtigkeit Gottes gelehrt wird, durch welche wir gerecht gemacht werden.

Der Schritt an die Öffentlichkeit: Thesen gegen den Ablass (1517)

Seit 1515 wurde von der Kirche auch in Deutschland in großem Stil Ablass verkauft. Das Geld sollte dem Neubau der Peterskirche in Rom zugute kommen.

Was ist Ablass? Ablass meint Nachlass oder Erlass. Es geht um den Erlass von Sündenstrafen, die hinsichtlich ihrer Schuld schon vergeben waren. Die Kirche unterschied zwischen Schuld und Strafe. Wer sündigte, machte sich schuldig. Die Schuld wurde durch das Bußsakrament, zu dem die Beichte gehörte, vom Priester im Namen Gottes vergeben. Die Vergebung befreite aber nicht von der Strafe. Jede Sünde hatte aus Sicht der Kirche auch eine Strafe zur Folge. Viele Strafen, so glaubte man, würden erst im Jenseits verbüßt, im Fegefeuer. Im Fegefeuer wurden Strafen vollstreckt. Das Fegefeuer darf nicht verwechselt werden mit der Hölle. In der Hölle wurden Sünder, die schwere Sünden nicht gebeichtet hatten oder denen ihre Schuld nicht vergeben worden war, und notorische Ketzer ewig bestraft. Es gab kein Entrinnen. Im Fegefeuer wurden die Menschen eine Zeit lang bestraft, sozusagen gereinigt, damit sie anschließend Eingang in den Himmel fänden. Ablass bedeutete vor allem den Erlass dieser »zeitlichen«, diesseitigen Sündenstrafen, die nach dem Tod im Fegefeuer vollstreckt würden. Wer Ablass kaufte, dem gab die Kirche die Zusage, dass er am Fegefeuer vorbei in den Himmel käme.

Abb. 1: Luther als Mönch 1520

Luther zweifelt an, ob es ein Fegefeuer überhaupt gibt. Er bestreitet der Kirche auch das Recht, sich in Gottes Strafhandeln einzumischen, was diese mit der Lehre vom »Schatz der Kirche«, womit die Verdienste Christi und der Heiligen gemeint waren, begründete. Er kritisiert ferner, dass der Ablassverkauf offenkundig erfolgt, um Geld einzunehmen. Und er betont, dass Buße, biblisch verstanden, kein kirchliches Ritual, sondern eine Lebenshaltung sei. Den Papst sieht Luther 1517 – noch – nicht als den eigentlich Schuldigen an.

In 95 Thesen in lateinischer Sprache entfaltete Luther seine Gedanken. Die Sätze sind sprachlich und theologisch anspruchsvoll, weil sie für Gelehrte gedacht waren. Nicht alle sind für heutige Leser verständlich. Luther wandte sich an die Öffentlichkeit, aber zunächst nur an die universitäre und innerkirchliche Öffentlichkeit, mit der er über seine Thesen disputieren wollte, noch nicht an die Allgemeinheit. Er soll, so berichtete später Melanchthon, die Thesen am 31. Oktober an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg »angeschlagen« haben. Die Schlosskirche diente der Universität als Aula für große Veranstaltungen. Außerdem beherbergte sie eine große Sammlung von Reliquien von Heiligen, deren Besuch und Verehrung ebenfalls Ablass versprach. Auf jeden Fall hat Luther seine Thesen am 31. Oktober an verschiedene Bischöfe geschickt und Freunden ausgehändigt. Schnell erschienen sie, möglicherweise ohne Luthers Zutun, im Druck, auch übersetzt in deutscher Sprache.

Wir haben kein Bild Luthers aus dieser frühen Zeit. Das erste Lutherbild, ein Kupferstich, entstand 1520 und wurde, wohl weil es zu wenig gefällig war, nicht im Druck verbreitet. Es zeigt einen ernsten, hageren Mönch, der in die Ferne blickt, also auf Gott und ins Jenseits schaut (Abb. 1, S. 21). Lucas Cranach, Maler in Wittenberg, hat das Bild geschaffen.

Luthers Thesen werden im Folgenden vollständig wiedergegeben. Die wichtigsten und leichter verständlichen sind hervorgehoben.

Martin Luther, Disputatio pro declaratione virtutisindulgentiarum (1517): WA 1, S. 229–238; Cl 1, S. 1–9; StA 1,S. 173–185; LDStA 2, S. 1–15.

1.Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: »Tut Buße …« (Matthäus 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.

2.Dieses Wort kann nicht auf die Buße als Sakrament – also die Beichte und die Bußleistungen –, die durch das priesterliche Amt verwaltet wird, bezogen werden.

3.Aber es bezieht sich auch nicht nur auf die innere Buße, ja eine solche wäre gar keine, wenn sie nicht nach außen mancherlei Werke zur Abtötung des Fleisches bewirken würde.

4.Daher bleibt die Strafe, solange die Feindschaft des Menschen gegen sich selbst – das ist die wahre innerliche Buße – bestehen bleibt, also bis zum Eingang ins Himmelreich.

5.Der Papst will und kann keine Strafen erlassen außer solchen, die er nach seiner eigenen Entscheidung oder der der kirchlichen Satzungen auferlegt hat.

6.Der Papst kann eine Schuld nur dadurch erlassen, dass er sie als von Gott erlassen erklärt und bestätigt. Außerdem kann er sie in den ihm vorbehaltenen Fällen erlassen. Wollte man das gering achten, bliebe die Schuld ganz und gar bestehen.

7.Gott erlässt überhaupt keinem die Schuld, ohne ihn zugleich demütig in allem dem Priester, seinem Stellvertreter, zu unterwerfen.

8.Die kirchlichen Bestimmungen über die Buße sind nur für die Lebenden verbindlich, den Sterbenden darf demgemäß nichts auferlegt werden.

9.Daher handelt der Heilige Geist, der durch den Papst wirkt, uns gegenüber gut, wenn er in seinen Erlassen immer den Fall des Todes und der höchsten Not ausnimmt.

10.Unwissend und schlecht handeln diejenigen Priester, die den Sterbenden kirchliche Bußstrafen noch für das Fegefeuer aufsparen.

11.Die Meinung, dass eine kirchliche Bußstrafe in eine Fegefeuerstrafe umgewandelt werden könne, ist ein Unkraut, das offenbar gesät worden ist, als die Bischöfe schliefen.

12.Früher wurden die kirchlichen Bußstrafen nicht nach, sondern vor der Lossprechung auferlegt als Prüfstein für die Aufrichtigkeit der Reue.

13.Die Sterbenden werden durch den Tod von allem frei, und für die kirchlichen Satzungen sind sie schon tot, weil sie von Rechts wegen davon befreit sind.

14.Ist die Haltung eines Sterbenden und die Liebe Gott gegenüber unvollkommen, so bringt ihm das notwendig große Furcht, und diese ist umso größer, je geringer die Liebe ist.

15.Diese Furcht und dieser Schrecken genügen für sich allein – um von anderem zu schweigen –, die Pein des Fegefeuers hervorzurufen, denn sie kommen dem Grauen der Verzweiflung ganz nahe.

16.Es scheinen sich demnach Hölle, Fegefeuer und Himmel in der gleichen Weise zu unterscheiden wie Verzweiflung, annähernde Verzweiflung und Sicherheit.

17.Offenbar haben die Seelen im Fegefeuer die Mehrung der Liebe genauso nötig wie eine Minderung des Grauens.

18.Offenbar ist es auch weder durch Vernunft- noch Schriftgründe erwiesen, dass sie sich außerhalb des Zustandes befinden, in dem sie Verdienste erwerben können oder in dem die Liebe zunehmen kann.

19.Offenbar ist auch dieses nicht oder wenigstens nicht für alle Seelen erwiesen, dass sie ihrer Seligkeit sicher und gewiss sind, wenn auch wir ihrer völlig sicher sind.

20.Daher meint der Papst mit dem »vollkommenen Erlass aller Strafen« nicht einfach den Erlass sämtlicher Strafen, sondern nur derjenigen, die er selbst auferlegt hat.

21.Deshalb irren jene Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und selig werde.

22.Vielmehr erlässt er den Seelen im Fegefeuer keine einzige Strafe, die sie nach den kirchlichen Satzungen in diesem Leben hätten abbüßen müssen.

23.Wenn überhaupt irgendwem irgendein Erlass aller Strafen gewährt werden kann, dann gewiss nur den Vollkommensten, das heißt aber: ganz wenigen.

24.Deswegen wird zwangsläufig ein Großteil des Volkes durch jenes in Bausch und Bogen und großsprecherisch gegebene Versprechen des Straferlasses getäuscht.

25.Die gleiche Macht, die der Papst bezüglich des Fegefeuers ganz allgemein hat, besitzt auch jeder Bischof und jeder Seelsorger in seinem Bistum bzw. seinem Pfarrbezirk.

26.Der Papst handelt sehr richtig, wenn er den Seelen im Fegefeuer die Vergebung nicht auf Grund seiner – ihm dafür nicht zur Verfügung stehenden – Schlüsselgewalt, sondern auf dem Weg der Fürbitte zuwendet.

27.Menschenlehre predigen, die sagen, dass die Seele aus dem Fegefeuer emporfliege, sobald das Geld in der Kasse klinge.

28.Gewiss, sobald das Geld in der Kasse klingt, können Gewinn und Habgier wachsen, aber die Fürbitte der Kirche steht allein im Ermessen Gottes.

29.Wer weiß überhaupt, ob alle Seelen im Fegefeuer losgekauft werden wollen? Beim heiligen Severin und Paschalis soll das beispielsweise nicht der Fall gewesen sein.

30.Keiner kann der Aufrichtigkeit seiner Reue gewiss sein, viel weniger dessen, dass er völligen Erlass der Sündenstrafe erlangt hat.

31.So selten einer in rechter Weise Buße tut, so selten kauft einer in der rechten Weise Ablass, nämlich außerordentlich selten.

32.Wer glaubt, durch eine Ablassurkunde seines Heils gewiss sein zu können, wird auf ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden.

33.Nicht genug kann man sich vor denen hüten, die den Ablass des Papstes jene unschätzbare Gabe Gottes nennen, durch die der Mensch mit Gott versöhnt werde.

34.Jene Ablassgnaden beziehen sich nämlich nur auf die von Menschen festgesetzten Strafen der sakramentalen Genugtuung.

35.Nicht christlich predigt, wer lehrt, dass für diejenigen, welche Seelen aus dem Fegefeuer loskaufen oder Beichturkunden erwerben, Reue nicht nötig sei.

36.Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassurkunden.

37.Jeder wahre Christ, sei er lebendig oder tot, hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche. Gott gibt ihm diese auch ohne Ablassurkunde.

38.Doch dürfen der Straferlass und der Anteil an den genannten Gütern, die der Papst vermittelt, keineswegs gering geachtet werden, weil sie – wie ich schon sagte – die Verkündung der göttlichen Vergebung darstellen.

39.Auch den gelehrtesten Theologen dürfte es sehr schwerfallen, vor dem Volk zugleich die Fülle der Ablässe und die Aufrichtigkeit der Reue zu rühmen.

40.Aufrichtige Reue begehrt und liebt die Strafe. Die Fülle der Ablässe aber macht gleichgültig und lehrt sie hassen; wenigstens legt sie das nahe.

41.Nur mit Vorsicht darf der apostolische Ablass gepredigt werden, damit das Volk nicht fälschlicherweise meint, er sei anderen guten Werken der Liebe vorzuziehen.

42.Man soll die Christen lehren: Die Meinung des Papstes ist es nicht, dass der Erwerb von Ablass in irgendeiner Weise mit Werken der Barmherzigkeit zu vergleichen sei.

43.Man soll die Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen.

44.Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe und wird der Mensch besser, aber durch Ablass wird er nicht besser, sondern nur teilweise von der Strafe befreit.

45.Man soll die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, ihn übergeht und statt dessen für den Ablass gibt, kauft nicht den Ablass des Papstes, sondern handelt sich den Zorn Gottes ein.

46.Man soll die Christen lehren: Die, welche nicht im Überfluss leben, sollen das Lebensnotwendige für ihr Hauswesen behalten und keinesfalls für den Ablass verschwenden.

47.Man soll die Christen lehren: Der Kauf von Ablass ist eine freiwillige Angelegenheit, nicht geboten.

48.Man soll die Christen lehren: Der Papst hat bei der Erteilung von Ablass ein andächtig für ihn gesprochenes Gebet nötiger und wünscht es deshalb auch mehr als zur Verfügung gestelltes Geld.

49.Man soll die Christen lehren: Der Ablass des Papstes ist nützlich, wenn man nicht sein Vertrauen darauf setzt, aber sehr schädlich, falls man darüber die Furcht Gottes fahren lässt.

50.Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche versinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde.

51.Man soll die Christen lehren: Der Papst wäre, wie es seine Pflicht ist, bereit, wenn nötig die Peterskirche zu verkaufen, um von seinem Geld einem großen Teil jener zu geben, denen gewisse Ablassprediger das Geld aus der Tasche holen.

52.Auf Grund einer Ablassurkunde das Heil zu erwarten ist vergeblich, auch wenn der Ablasskommissar, ja der Papst selbst seine Seele dafür verpfänden würde.

53.Feinde Christi und des Papstes sind diejenigen, die anordnen, dass wegen der Ablasspredigt das Wort Gottes in den umliegenden Kirchen völlig zum Schweigen kommen soll.

54.Dem Wort Gottes geschieht Unrecht, wenn in ein und derselben Predigt auf den Ablass die gleiche oder längere Zeit verwendet wird als für das Wort Gottes.

55.Die Meinung des Papstes muss unbedingt sein: Wenn der Ablass – als das Geringste – mit einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst gefeiert wird, sollte das Evangelium – als das Höchste – mit hundert Glocken, hundert Prozessionen und hundert Gottesdiensten gepredigt werden.

56.Der Schatz der Kirche, aus dem der Papst den Ablass austeilt, ist dem Volk Christi weder genügend bezeichnet noch bekannt.

57.Offenbar besteht er nicht aus zeitlichen Gütern, denn die würden viele von den Predigern nicht so leicht mit vollen Händen austeilen, sondern nur einsammeln.

58.Er besteht aber auch nicht aus den Verdiensten Christi und der Heiligen, weil diese dauernd ohne den Papst Gnade für den inneren Menschen sowie Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren bewirken.

59.Der heilige Laurentius hat gesagt, dass der Schatz der Kirche ihre Armen seien, aber die Verwendung dieses Begriffes entsprach der Auffassung seiner Zeit.

60.Wohlbegründet sagen wir, dass die Schlüssel der Kirche – die ihr durch das Verdienst Christi geschenkt sind – jenen Schatz darstellen.

61.Selbstverständlich genügt die Gewalt des Papstes allein zum Erlass von Strafen und zur Vergebung in besonderen, ihm vorbehaltenen Fällen.

62.Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.

63.Dieser ist zu Recht allgemein verhasst, weil er aus Ersten Letzte macht.

64.Der Schatz des Ablasses jedoch ist mit gutem Grund außerordentlich beliebt, weil er aus den Letzten Erste macht.

65.Also ist der Schatz des Evangeliums das Netz, mit dem man einst die Besitzer von Reichtum fing.

66.Der Schatz des Ablasses jedoch ist das Netz, mit dem man jetzt den Reichtum von Besitzenden fängt.

67.Der Ablass, den die Ablassprediger lautstark als außerordentliche Gnade anpreisen, kann tatsächlich dafür gelten, was das gute Geschäft anbelangt.

68.Doch ist er verglichen mit der Gnade Gottes und der Verehrung des Kreuzes in Wahrheit ganz geringfügig.

69.Die Bischöfe und Pfarrer sind gehalten, die Kommissare des apostolischen Ablasses mit aller Ehrerbietung zuzulassen.

70.Aber noch mehr sind sie gehalten, Augen und Ohren anzustrengen, dass jene nicht anstelle des päpstlichen Auftrags ihre eigenen Hirngespinste predigen.

71.Wer gegen die Wahrheit des apostolischen Ablasses spricht, der sei verworfen und verflucht.

72.Wer aber gegen die Zügellosigkeit und Frechheit der Worte der Ablassprediger auftritt, der sei gesegnet.

73.Wie der Papst zu Recht seinen Bannstrahl gegen diejenigen schleudert, die das Ablassgeschäft auf mannigfache Weise zu schädigen versuchen,

74.so will er noch viel mehr den Bannstrahl gegen diejenigen schleudern, die unter dem Vorwand des Ablasses auf Betrug hinsichtlich der heiligen Liebe und Wahrheit sinnen.

75.Es ist irrsinnig zu meinen, der päpstliche Ablass sei mächtig genug, einen Menschen loszusprechen, auch wenn er – um etwas Unmögliches zu sagen – die Mutter Gottes vergewaltigt hätte.

76.Wir behaupten dagegen, dass der päpstliche Ablass auch nicht die geringste lässliche Sünde wegnehmen kann, was deren Schuld betrifft.

77.Wenn es heißt, auch der heilige Petrus könnte, wenn er jetzt Papst wäre, keine größeren Gnaden austeilen, so ist das eine Lästerung des heiligen Petrus und des Papstes.

78.Wir behaupten dagegen, dass dieser wie jeder beliebige Papst größere hat, nämlich das Evangelium, Geisteskräfte und »Gaben, gesund zu machen« usw., wie es 1. Korinther 12,28 heißt.

79.Es ist eine Gotteslästerung zu sagen, dass das in den Kirchen an hervorragender Stelle errichtete Ablasskreuz, das mit dem päpstlichen Wappen versehen ist, die gleiche Kraft wie das Kreuz Christi besitze.

80.Bischöfe, Pfarrer und Theologen, die dulden, dass man dem Volk solche Predigt bietet, werden dafür Rechenschaft ablegen müssen.

81.Diese freche Ablasspredigt macht es auch gelehrten Männern nicht leicht, das Ansehen des Papstes vor böswilliger Kritik oder vor gar spitzfindigen Fragen der Laien zu schützen.

82.Zum Beispiel: Warum räumt der Papst nicht das Fegefeuer leer um der heiligsten Liebe und höchsten Not der Seelen willen – also aus einem wirklich triftigen Grund –, da er doch unzählige Seelen loskauft um des unseligen Geldes zum Bau einer Kirche willen – also aus einem sehr fadenscheinigen Grund?

83.Oder: Warum bleiben die Totenmessen sowie Jahrestage für die Verstorbenen bestehen, und warum gibt der Papst nicht die Stiftungen, die dafür gemacht worden sind, zurück oder gestattet ihre Rückgabe, wenn es doch ein Unrecht ist, für die bereits aus dem Fegefeuer Losgekauften zu beten?

84.Oder: Was ist das für eine neue Frömmigkeit vor Gott und dem Papst, dass sie einem Gottlosen und Feind erlauben, für sein Geld eine fromme und von Gott geliebte Seele loszukaufen, doch um der eigenen Not dieser frommen und geliebten Seele willen erlösen sie diese nicht aus frei geschenkter Liebe?

85.Oder: Warum werden die kirchlichen Bußsatzungen, die »tatsächlich und durch Nichtgebrauch« an sich längst abgeschafft und tot sind, doch noch immer durch die Gewährung von Ablass mit Geld abgelöst, als wären sie höchst lebendig?

86.Oder: Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Crassus1, nicht wenigstens die eine Kirche Sankt Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen Gläubigen?

87.Oder: Was erlässt der Papst denen oder woran gibt er denen Anteil, die durch vollkommene Reue ein Anrecht haben auf völligen Erlass und völlige Teilhabe?

88.Oder: Was könnte der Kirche Besseres geschehen, als wenn der Papst, wie er es jetzt einmal tut, hundertmal am Tage jedem Gläubigen diesen Erlass und diese Teilhabe zukommen ließe?

89.Wieso hebt der Papst, wenn er durch den Ablass das Heil der Seelen mehr sucht als das Geld, früher gewährte Urkunden und Ablässe jetzt auf, die doch ebenso wirksam sind?

90.Diese äußerst peinlichen Einwände der Laien nur mit Gewalt zu unterdrücken und nicht durch vernünftige Gegenargumente zu beseitigen, heißt, die Kirche und den Papst dem Gelächter der Feinde auszusetzen und die Christenheit unglücklich zu machen.

91.Wenn daher der Ablass dem Geiste und der Auffassung des Papstes gemäß gepredigt würde, lösten sich diese Einwände alle ohne weiteres auf, ja es gäbe sie überhaupt nicht.

92.Darum weg mit allen jenen Propheten, die den Christen predigen: »Friede! Friede!« (Jeremia 6,14), obwohl kein Friede ist.

93.Wohl möge es gehen allen den Propheten, die den Christen predigen: »Kreuz! Kreuz!«, auch wenn vom Kreuz nichts zu spüren ist.

94.Man soll die Christen ermutigen, dass sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen trachten

95.und dass sie lieber darauf vertrauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu wiegen.

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1Römischer Politiker der Antike, berühmt für seinen Reichtum.

Neue Thesen: Die Disputation von Leipzig

Mit seinen Ablassthesen von 1517 wollte Luther eine Disputation, ein damals übliches akademisches Streitgespräch, an seiner Universität anstoßen. Diese kam jedoch nie zustande. Luther disputierte aber 1518 in Heidelberg mit Mitgliedern seines Ordens und 1519 in Leipzig mit dem großen katholischen Theologen Johann Eck aus Ingolstadt. In seinen Thesen zur Leipziger Disputation wiederholte Luther früher Gesagtes, stieß aber am Schluss zu noch schärferer Kirchenkritik vor. Seine Gegner brandmarkte Luther als »Sophisten« und »Theologisten«, d. h. als schlechte Philosophen und schlechte Theologen, und berief sich selbst auf Entscheidungen des Konzils von Nizäa, das im Jahre 325 getagt hatte und allgemein anerkannt wurde.

Luther entfaltete im Anschluss an den Kirchenvater Augustinus eine sehr strenge, ernste Sündenlehre, die seinen Erfahrungen als Mönch entsprach. Die Gegenposition brandmarkte er als Pelagianismus, womit er sie mit einer unter anderem auf den Theologen Pelagius zurückgehenden Lehre des 4. Jahrhunderts in Verbindung brachte, die auf verschiedenen Synoden verurteilt worden war. Er glaubte, an diesem Punkt sogar Aristoteles, von seinen Gegnern höchst verehrt, auf seiner Seite zu haben. Der radikalen Sündenerkenntnis des Menschen stellte Luther aber eine radikale Vergebungsbereitschaft Gottes gegenüber. Die Praxis der Kirche, die Vergebung spezieller Sünden höheren Würdenträgern vorzubehalten, lehnte er ab. Jeder Priester sei verpflichtet, jedem Bußwilligen zu vergeben.

Bei der Disputation selbst lockte Eck Luther noch weiter aus der Reserve, und Luther erklärte, Päpste und Konzile könnten irren und hätten oftmals geirrt. Auf dem Konzil zu Konstanz 1415 seien einige Gedanken von Johann Hus zu Unrecht verurteilt worden. Der Prager Theologe Hus war 1415 in Konstanz zum Ketzer erklärt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Martin Luther, Die Thesen zur Leipziger Disputation (1519):WA 2, S. 160f.

Gegen die neuen und alten Irrtümer wird Martin Luther folgende Thesen an der Universität zu Leipzig verteidigen:

1.Täglich sündigt jeder Mensch, aber täglich tut er auch Buße, wie Christus (Matthäus 4,17) lehrt: »Tut Buße!« Nur die vermeintlichen neuen Gerechten meinen, der Buße nicht zu bedürfen. Allerdings reinigt der himmlische Weingärtner selbst die Frucht bringenden Reben täglich.

2.Der Mensch sündigt auch, wenn er Gutes tut. Die Sünde erlangt Vergebung nicht aus sich selbst, sondern bloß durch Gottes Barmherzigkeit. Auch nach der Taufe bleibt noch Sünde im Kinde. Dies zu leugnen, hieße Paulus und Christus zugleich mit Füßen zu treten.

3.Wer da behauptet, dass das gute Werk und die Buße schon beim Abscheu vor den Sünden, noch vor der Liebe zur Gerechtigkeit beginnt und dass man dabei nicht mehr in der Sünde sei, den zählen wir zu den pelagianischen Ketzern, beweisen aber auch, dass er zugleich gegen seinen heiligen Aristoteles verstößt.

4.Gott verwandelt die ewige Strafe in eine zeitliche, nämlich das Kreuz zu tragen. Dieses aufzuerlegen oder wegzunehmen, haben kirchliche Rechtssatzungen oder Priester keine Macht, selbst wenn sie – durch schädliche Heuchler verführt – sich das anmaßen.

5.Jeder Priester muss den Bußwilligen von Strafe und Schuld lossprechen, sonst sündigt er. Ebenfalls sündigt auch ein höherer Prälat, wenn er sich die Vergebung verborgener Taten ohne zwingenden Grund vorbehält, mag auch der Brauch der Kirche, das heißt der Heuchler, anders sein.

6.Vielleicht leisten die Seelen im Fegefeuer Genugtuung für ihre Sünden; dass aber Gott von einem Sterbenden mehr als die Bereitschaft zum Sterben verlangt, ist eine gänzlich unbegründete und verwegene Behauptung, da das auf keine Weise bewiesen werden kann.

7.Dass er nicht versteht, was Glaube, Reue noch was freier Wille ist, zeigt der, welcher da stammelt, der freie Wille sei Herr über die Taten, seien es gute oder böse, oder der da träumt, dass einer nicht allein durch den Glauben ans Wort gerechtfertigt werde oder dass der Glaube nicht jede Schuld aufhebe.

8.