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»Ich sehe dich.« Nur eine Berührung von ihr bedeutet den Tod. Seit Jahren bereist Lyenna den Kontinent, auf der Suche nach einer Lösung für ihren Fluch. Sie bleibt immer in Bewegung, blickt nie zurück. Der Kontakt zu anderen Menschen ist für sie undenkbar. Bis sie im Königreich Valádey eine Prinzessin kennenlernt, die ihre Neugier weckt. Doch wie lange wird es dauern, bis Lyennas Vergangenheit sie einholen wird? | Welt der Mavéa | Young Adult Romantasy mit LGBT+ Themen
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Seitenzahl: 490
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Das Buch
Lyenna – Der ewige Fluch
Nur eine Berührung von ihr bedeutet den Tod. Seit Jahren bereist Lyenna den Kontinent, auf der Suche nach einer Lösung für ihren Fluch. Sie bleibt immer in Bewegung, blickt nie zurück. Der Kontakt zu anderen Menschen ist für sie undenkbar. Bis sie im Königreich Valádey eine Prinzessin kennenlernt, die ihre Neugier weckt. Doch wie lange wird es dauern, bis Lyennas Vergangenheit sie einholen wird?
Die Autorin
Larissa Mücke wurde im Jahr 2000 in Papenburg geboren und mag es nicht, über sich selbst in der dritten Person zu schreiben. Mehr Informationen über sie findet man aber auch im Internet.
© Larissa Mücke
©2024 Larissa Mücke
1. Auflage
Autor: Larissa Mücke, Hölderlinstr. 8, 26892 Dörpen
Umschlaggestaltung: Larissa Mücke
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin: Neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Titelei
Das Buch und die Autorin
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Ich sehe dich.
Prolog
TEIL 1
1 • Entkommen
2 • Das leuchtende Blau
3 • Ein sicheres Zuhause
4 • Nur eine Maske
5 • Drei Worte
6 • Auf unbekanntem Terrain
7 • Der liebliche Geruch
TEIL 2
8 • Die Alte Sprache
9 • Ein kleines Kunstwerk
10 • Das Fest der ewigen Nacht
11 • Himmelswolle
12 • Aus Seide und Samt
13 • Die untergehende Sonne
14 • Im Angesicht des Todes
15 • Flucht
16 • Ein kühler Wind
TEIL 3
17 • Entführt
18 • Ein anderer Mensch
19 • Die kurzen Zeilen
20 • Dunkelheit
21 • Ein Teil der Gemeinschaft
22 • Die Höhlen
23 • Ein paar Tropfen
24 • Pflicht und Ehre
25 • Voller Lügen
26 • Ein hübsches Gesicht
TEIL 4
27 • Wächter der Bibliothek
28 • Zuflucht
29 • Vivianne
30 • Die Prinzessin
31 • Gleichgewicht
32 • Der ewige Fluch
33 • Loyalität
34 • Der einzige Weg
35 • Das Licht in seinen Augen
Epilog
Die Alte Sprache • Übersetzungen
Danksagung
Meine Schritte hallten laut von den kahlen Steinwänden wider, während ich den langen Flur entlanglief. Nur die vereinzelten Fackeln an den Wänden beleuchteten mir den Weg. Ich benötigte meine ganze Selbstbeherrschung, um nicht immer wieder über meine Schulter zu blicken oder jede Sekunde loszurennen. Aber ich musste so wirken, als hätte ich jedes Recht, hier zu sein, als würde ich an diesen Ort gehören. Ich durfte nicht auffallen. Ansonsten würde ich in großen Problemen stecken.
Es war eine dumme Idee gewesen, mich in den Palast zu schleichen, aber für diese Einsicht war es nun wohl zu spät. Und es war ja auch nicht so, als hätte ich eine große Wahl gehabt. Niemand, der noch ganz bei Verstand war, hielt sich nach Einbruch der Dunkelheit noch an der freien Luft auf, und auch ich würde nicht das Risiko eingehen, einem Nachtwandler über den Weg zu laufen. Ich hatte nicht besonders viel Interesse daran, als Abendessen zu enden. Mir gefiel mein Blut da, wo es war: In meinem Körper. Mit diesen blutsaugenden Wesen der Nacht dort draußen war es sogar sicherer, in den streng bewachten Palast der Königsfamilie einzubrechen. Obwohl auch das für jeden anderen vermutlich einem Selbstmord gleichgekommen wäre. Aber im Gegensatz zu jedem anderen wusste ich, was ich hier tat. Für mich war es ein Leichtes, unerkannt zu bleiben. Hoffte ich zumindest.
Die meisten Menschen versteckten sich nachts in ihren Wohnungen und hofften, dass die Nachtwandler sich mit den Tieren und den wenigen Obdachlosen zufriedengeben würden, die sich draußen aufhielten. Ich hätte es vermutlich ebenso getan, wenn ich eine Wohnung gehabt hätte. Aber die hatte ich nicht, also musste ich mir für jede Nacht eine andere Lösung überlegen.
Während der letzten Tage hatte ich eine leerstehende Hütte gefunden, in der ich die Dunkelheit hatte verbringen können, aber heute Abend waren die eigentlichen Besitzer überraschend nach Hause gekommen. Ich war gezwungen gewesen, mir schnell etwas anderes zu überlegen, und es gab nur ein Gebäude, das groß genug war, damit ich es betreten konnte, ohne dabei gesehen zu werden: der Palast. Es war ja auch nur für eine einzige Nacht. Sobald die Sonne aufging, würde ich wieder verschwinden. Niemand würde mitbekommen, dass ich überhaupt hier gewesen war. Zumindest, wenn mich niemand hier erwischen würde. Ich brauchte nur ein leeres Zimmer, in dem ich mich verstecken könnte. Ein verlassener Dienstbotengang vielleicht, oder auch eine kleine Abstellkammer. Schlafen würde ich in dieser Nacht eh nicht.
Bevor ich jedoch eine Tür öffnen konnte, tauchte am Ende des Ganges eine Gestalt auf. Für einen Moment hatte ich Angst, dass die Nachtwandler es entgegen meiner Erwartungen geschafft hatten, die Palastmauern zu überwinden, doch ich erkannte schnell, dass das vor mir ein gewöhnlicher Mann war. Schade nur, dass er für mich im Augenblick ebenso gefährlich werden könnte wie die Blutsauger dort draußen, denn seiner Rüstung zufolge gehörte er zur Palastwache. Es war zu spät, um einfach umzudrehen und eine andere Richtung einzuschlagen. Er hatte mich bereits gesehen und das würde mich nur verdächtig wirken lassen. Also zog ich mir die Kapuze meines Umhangs tiefer ins Gesicht und ging weiter direkt auf ihn zu, ohne meinen Schritt zu verlangsamen.
Er kam mir entgegen, beachtete mich aber nicht weiter. Für ihn gab es keinen Grund zu glauben, dass ich ein Eindringling war. Der Palast galt als uneinnehmbar, aber eine solche Kleinigkeit hatte mich noch nie aufgehalten. Ich hielt meinen Blick starr geradeaus gerichtet, als hätte ich ein Ziel vor mir, das ich unbedingt erreichen müsste. Als hätte ich eine Aufgabe. Der Soldat grüßte mich mit einem Nicken, während er an mir vorbeilief. Ohne zu zögern erwiderte ich diesen Gruß und bereute meine Entscheidung nur eine Sekunde später.
»Einen Moment!«, rief er und ich blieb wie erstarrt stehen, während ich meinen Fehler erkannte. Ich hatte ihn gegrüßt, als wären wir einander ebenbürtig. Von einem Soldaten zum anderen. Dabei war ich in seinen Augen nur eine weitere Hofdame gewesen, eine von vielen Frauen, die die örtliche Prinzessin verhätschelten. Hätte ich doch nur einen Knicks gemacht oder ihn gleich ignoriert wie diese Hofdamen, die stets dachten, etwas Besseres zu sein. Es passte nicht in das Weltbild eines Soldaten, dass auch eine Frau ein Training absolviert hatte, das sie zu einer Kriegerin machte. Mein Verhalten war auffällig. Aber noch war es nicht zu spät, die Rolle der Hofdame anzunehmen. Ich musste nur überzeugend sein.
»Gibt es ein Problem, mein Herr?«, fragte ich leise. Ich spürte seinen nachdenklichen Blick auf mir, hielt aber meinen Kopf unterwürfig gesenkt. Mit der Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den langen, dunklen Haaren vor meinen Augen, konnte er mich nicht besonders gut erkennen. Die vereinzelten Kerzenleuchter an den Wänden spendeten glücklicherweise nur wenig Licht. Er konnte nur meine Kleidung sehen, und die hatte ich schon zuvor von einer der Hofdamen gestohlen. Das Kleid war zwar unbequem und überaus unpraktisch, ließ mich aber vornehm aussehen. Ich wirkte wie eine gewöhnliche Hofdame, zumindest auf den ersten Blick. Zu diesem Schluss schien auch der Soldat gekommen sein.
»Was tut Ihr so weit von Euren Gemächern entfernt, und das in der Dunkelheit?«, fragte die Wache höflich, aber bestimmt. Er hielt mich nicht für einen Eindringling, das war gut, aber dennoch durfte ich mich nicht in Sicherheit wiegen.
»Wie bitte? Ich bin nicht mehr im Flur zu meinem Gemach?«, wiederholte ich so überrascht wie möglich. »Verzeiht mir, ich bin diese Woche neu im Palast angekommen und verlaufe mich ständig. Wärt Ihr so freundlich und könntet mir erklären, wie ich am schnellsten zurückkomme?«
Der Wache schien diese Erklärung auszureichen, denn seine Schultern entspannten sich und ein kurzer Blick zeigte mir, dass er mich freundlich anlächelte. »Selbstverständlich, ich geleite Euch zurück.«
Er griff nach meinem Arm, um mir den Weg zu zeigen. Das Kleid, das ich trug, hatte keine Ärmel. Ich hatte auf die Schnelle kein anderes gefunden, und meine schwarzen Seidenhandschuhe, die ich zu jeder Zeit trug, reichten nur bis knapp über meine Ellbogen. Es war nicht viel von meiner Haut zu sehen, nur ein paar Zentimeter, doch das war bereits genug.
Bevor ich es verhindern konnte, legte der Soldat seine dunkle Hand direkt auf meinen Oberarm. Eine beiläufige Geste, keine große Besonderheit. Haut berührte Haut. Und ich vergaß jede Vorsicht.
»Nein!«, schrie ich und entriss ihm meinen Arm. Doch es war bereits zu spät. Er hatte mich berührt. Das war sein Todesurteil. Schockiert blickte ich in sein Gesicht, während ich von einer Kraft durchströmt wurde, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Er war noch jung, viel zu jung, um zu sterben. Er hätte ein langes Leben vor sich gehabt, das spürte ich. Aber niemand, der mich berührte, überlebte länger als einige Monate. Ich konnte es nicht mehr ungeschehen machen. Es war lange nicht mehr vorgekommen, dass ich jemanden berührt hatte und so war ich unvorsichtig geworden. Das hätte niemals passieren dürfen.
»Scheiße«, fluchte ich und bemerkte, wie der Soldat mich musterte und nach seinem Schwert griff. Er war verwirrt von meiner plötzlichen Wesensänderung, konnte mich nicht mehr einschätzen. Er stolperte zurück, als er meine Augen sah und endlich verstand, dass ich alles andere als gewöhnlich war. Nicht dass das jetzt noch etwas bedeuten würde, für ihn war es längst zu spät.
»Tut mir wirklich leid«, meinte ich, holte aus und schlug dem Soldaten mitten in sein Gesicht. Er hatte nicht einmal Zeit, etwas zu sagen, da war er bereits umgefallen. Eine kleine Lache seines Blutes sammelte sich unter seinem Kopf, aber das beachtete ich nicht weiter. Es war egal, ob er diesen kleinen Schlag überleben würde oder nicht. Sein Leben war bereits vorbei.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und lief in die entgegengesetzte Richtung davon. Von nun an sollte ich einen großen Bogen um diesen Palast machen.
Golden, beautiful, like a flower.
Sappho (630/612 – um 570 v. Chr.)
»Verdammt, das kann doch nicht wahr sein«, fluchte ich leise und riss den gelblichen Zettel mit meinem Gesicht vom Baumstamm. Es war drei Monate her, seit ich diese verhängnisvolle Nacht im Palast verbracht hatte und seitdem war ich nicht einmal in die Nähe der hohen Mauern gekommen. Ich hatte Valádey zwar noch nicht verlassen, aber hielt mich ausschließlich am Rande der Stadt auf. In dem Gebiet, in dem die meisten Menschen kaum etwas besaßen und zu viele eigene Sorgen hatten, um sich mit der fremden Frau zu befassen, die mit verhülltem Gesicht durch die Straßen zog.
Ich hatte gedacht, ich müsste nur eine Weile abwarten und mich ruhig verhalten, bis der kleine Vorfall im Palast vergessen sein würde, aber anscheinend war das nicht der Fall. Seufzend musterte ich den Aushang in meiner Hand. Es war kein besonders gutes Bild von mir, der Soldat hatte mein Gesicht immerhin kaum gesehen, aber es reichte. Der König hatte sogar genug investiert, um die Farbe meiner Augen auf dem Papier darzustellen. Ein leuchtendes Orange, das einen scharfen Kontrast zur schwarzen Tinte bildete. Mit dem Finger fuhr ich über den Text, der unter meinem Bild stand.
Gesucht. Lebendig. 700 Taláre Belohnung.
Eine Menge Geld für eine Frau, die nichts getan hatte, außer in den Palast einzubrechen. Ich hatte ja nicht einmal etwas gestohlen, selbst das Kleid hatte ich zurückgelegt. Aber das war dem König offenbar egal. Wahrscheinlich fühlte er sich in seiner Ehre verletzt, weil eine Frau es geschafft hatte, in seinen Palast zu schleichen und ohne eine Spur wieder zu verschwinden. Oder der Soldat war mittlerweile gestorben und sie ahnten, dass ich etwas damit zu tun hatte.
Was auch immer der Grund war, wieso der König mich finden wollte, siebenhundert Taláre waren viel Geld. Unfassbar viel. Insbesondere für die Menschen um mich herum, die sich so eine Belohnung wahrscheinlich nicht einmal vorstellen konnten. Ich konnte nur hoffen, dass die Bewohner hier wie in den meisten Städten nicht lesen konnten, ansonsten würde es schwierig werden, es ohne Probleme aus Valádey herauszuschaffen.
Aber es half nichts. Es wurde Zeit, dass ich aus dieser Stadt verschwand, wie schon aus all den Städten zuvor. Ich hatte gehofft, dass ich dieses Mal länger bleiben könnte, doch diesen Gedanken konnte ich nun wohl aufgeben. Vermutlich würde ich in ein neues Königreich reisen müssen, um dem König ganz zu entkommen. Immerhin erstreckten sich die Grenzen dieses Reiches kaum weiter als ihre Hauptstadt, so würde ich nicht weit reisen müssen.
Aber es gab eh nichts mehr, was mich an diesem Ort hielt. Wenn ich bis jetzt noch keine Hinweise entdeckt hatte, dass hier jemand lebte, der meinen Fluch brechen konnte, dann wäre jeder weitere Tag Zeitverschwendung. Auch wenn ich in dieses Königreich meine größte Hoffnung gesteckt hatte, weil es so nah an dem Ort lag, an dem ich verflucht wurde; aber offensichtlich war diese Hoffnung nur ein falscher Trugschluss gewesen. Hier würde ich genauso wenig eine Antwort finden wie in den zwölf Königreichen zuvor, also konnte ich auch ebenso gut weiterziehen.
Ich zerriss meinen Fahndungszettel in kleine Stücke und ließ sie achtlos zu Boden fallen, bevor ich das schwarze Seidentuch über meinem Mund und meinen Haaren zurechtrückte, und meine langen Handschuhe sorgfältig wieder nach oben zog. Wenn jemand versuchen sollte, mich aufzuhalten, würde derjenige meine Haut nicht berühren können, und so würde er zumindest nicht sterben müssen. Einen Unfall wie mit dem Soldaten wollte ich nicht noch einmal riskieren. Ich hatte bereits genug Unschuldige getötet.
Entschlossen griff ich meine Tasche fester und drehte mich um, blieb aber sofort wieder stehen. Vor mir stand ein ganzes Dutzend Menschen, einige von ihnen sogar mit Mistgabeln und Fackeln bewaffnet. Einige ihrer Gesichter erkannte ich. Da war der Bäcker, bei dem ich in den letzten Wochen mein Brot gekauft hatte, der Sohn der Schneiderin, die meinen Umhang geflickt hatte, und der Wirt, dem ich ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte, dafür, dass er mich beim Anblick meiner unnatürlichen Augen nicht aus seiner Gaststätte geworfen hatte. Diese Männer waren in den letzten Monaten freundlich zu mir gewesen. Zwar immer vorsichtig, weil sie bemerkt hatten, dass ich nicht normal war, aber dennoch freundlich. Von dieser Freundlichkeit war in ihren Blicken jetzt jedoch nichts mehr zu sehen. In ihren Augen lag pure Abscheu, gepaart mit Furcht.
Eigentlich sollte ich jetzt wohl Angst haben, aber dafür war mir dieser Anblick schon viel zu vertraut. Die letzten fünf Städte, in denen ich gewesen war, hatten mich alle auf diese Art verabschiedet. Selbst wenn ich gewollt hätte, gab es keinen Ort, an dem ich dauerhaft bleiben konnte. Das war nichts, was mich überraschen konnte.
»Da ist die Hexe!«, rief der Wirt, der am weitesten vorne stand. In seiner linken Hand hielt er einen weiteren der Fahndungszettel, in seiner rechten Hand eine Axt. Natürlich, für seine Arbeit musste er in der Lage sein, zumindest ein wenig lesen zu können, und er hatte seinen Freunden mit Sicherheit sofort erzählt, dass der König nach mir suchte und jeden, der mich auslieferte, reichlich belohnen würde.
»Muss das wirklich schon wieder sein?«, murmelte ich mehr zu mir selbst, hob aber beschwichtigend die Hände.
»Nur um das klarzustellen, eine Hexe bin ich nicht!«, rief ich ihnen zu und versuchte, so wenig bedrohlich wie möglich auszusehen. Was mir vermutlich nicht besonders gut gelang. Immerhin konnten sie nur meine unmenschlich aussehenden Augen erkennen und die hatten bislang jeden Menschen vor Angst zum Zittern bringen können. »Wenn ich magische Kräfte hätte, wären wir jetzt sicher nicht in dieser Lage.«
»Es ist uns egal, was du bist! Du wirst von hier verschwinden!«
Mit diesen Worten rannte der Sohn der Schneiderin auf mich zu und ich überlegte nicht mehr lange. In einem Kampf wäre ich ihm ohne Zweifel überlegen, selbst wenn all seine Freunde ihm helfen würden. Ich hatte ein jahrelanges Training bei den besten Assassinen des Landes absolviert, und keine einzige der Kampftechniken vergessen, die mir beigebracht wurden. Aber mich jetzt auf einen Kampf einzulassen, würde mich nur unnötig aufhalten. Ich hatte eh vorgehabt, Valádey zu verlassen, also machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte los.
Wenig überraschend war ich schneller als die Stadtbewohner hinter mir, und der Abstand zwischen uns wurde mit jedem Schritt von mir größer. Nur meine hohen Schuhe verhinderten, dass ich so schnell rennen konnte, wie ich es eigentlich wollte. Mittlerweile bereute ich es, sie überhaupt gestohlen zu haben. Sie sahen zwar atemberaubend schön aus und ließen mich aussehen wie eine feine Dame, aber sie waren nicht gerade praktisch, um damit vor einer Meute aggressiver Männer davonzurennen. Also zögerte ich nicht lange und zog mir die Schuhe noch während des Laufens aus.
Eine wirklich nützliche Technik, die mir meine Lieblingslehrerin bei den Assassinen vor einigen Jahren beigebracht hatte. Meine besten Tricks hatte ich alle von Malaika gelernt und sie seitdem mehr als nur einmal angewendet. Sie war es auch gewesen, die mich gelehrt hatte, dass man manchmal wichtige Dinge zurücklassen musste, um sich selbst zu retten.
Also ließ ich meine wunderschönen Schuhe im Dreck zurück, ohne mich noch einmal umzusehen, und schmiss nach einigem Nachdenken auch meine Tasche an den Wegesrand. Das zusätzliche Gewicht belastete mich nur und in ihr war nichts, was ich mir nicht in der nächsten Stadt neu besorgen könnte. Nur die versteckten Messer unter meinem Kleid und das Schwert auf meinem Rücken behielt ich, für den Fall, dass es doch noch zu einem Kampf kommen würde.
Es war ein ganz anderes Gefühl, den warmen Stein unter meinen nackten Sohlen zu spüren, während ich durch die Straßen rannte. Wenn die grölenden Männer hinter mir nicht gewesen wären, hätte ich dieses Rennen vielleicht sogar genießen können. Meine Füße flogen schon fast über den Boden, aber mein Herzschlag erhöhte sich kaum. Jahrelanges Training hatte mich abgehärtet und während die Menschen hinter mir schon langsamer wurden, war ich noch nicht einmal außer Atem.
Als ich um die nächste Ecke bog, sah ich schon den nah gelegenen Wald vor mir. Nur noch ein paar hundert Meter und ich könnte Valádey ein für alle Mal hinter mir lassen. Nach einigen Stunden der Wanderung würde ich dieses Königreich nie wiedersehen müssen. Die Meute hinter mir würde mich sicherlich nicht bis in den Wald verfolgen. Sie wollten mich nicht in ihrer Stadt wissen, aber danach würden sie mich ziehen lassen. Wenn sie wirklich dachten, dass ich eine Hexe wäre, würden sie keinen Kampf mit mir beginnen. So war es bisher immer gewesen. Selbst die Belohnung vom König würde nicht ausreichen, damit sie ihr vertrautes Gelände verließen, um in der Wildnis nach mir zu suchen.
Ich überlegte bereits, wo ich als nächstes hingehen sollte. Vielleicht in ein benachbartes Königreich, oder gleich ans andere Ende des Kontinents. Aber ich würde schon einen Ort finden, an dem ich bleiben könnte, zumindest für eine Weile. Das hatte ich bisher immer.
Bevor ich Valádey jedoch für immer verlassen konnte, tauchte eine Gruppe Soldaten am Ende der Straße auf. Sie bemerkten mich sofort, nicht zuletzt dank meiner schreienden Verfolger. Ich vermutete, dass sie eh auf der Suche nach mir gewesen waren. Einige Meter vor ihnen kam ich schlitternd zum Stehen, bevor ich noch direkt in ihre Schwerter lief, die sie auf mich gerichtet hatten.
»Sieh an, genau die Frau, die wir gesucht haben«, begrüßte mich einer der Soldaten grinsend und ich seufzte leise auf. Mit den Stadtbewohnern hätte ich es ohne Probleme aufnehmen können und auch mit den Soldaten wäre ich vermutlich fertig geworden. Aber beide Gruppen auf einmal zu besiegen, nachdem sie mich umzingelt hatten, war so gut wie unmöglich. Eine so große Zahl an Gegnern konnte ich alleine nur besiegen, wenn ich nicht von allen Seiten angegriffen werden konnte. Wann genau hatte ich eigentlich so nachgelassen? Früher wäre es mir nie passiert, so in die Falle zu laufen. Malaika wäre enttäuscht von mir, wenn sie mich jetzt hätte sehen können.
»Ich wusste nicht, dass ich plötzlich so beliebt bin«, antwortete ich gelassen und lockerte bewusst meine Schultern, atmete schneller, als ob mich der Lauf erschöpft hätte. Ich wollte nicht so gefährlich aussehen, eher wie eine erschöpfte, junge Frau, die vor den Stadtbewohnern davonrannte, weil sie sich mit Gegnern angelegt hatte, mit denen sie nicht fertig wurde. Es war für mich besser, wenn die Soldaten mich unterschätzten, zumindest fürs Erste. So würde ich viel bessere Chancen bekommen zu fliehen. Und glücklicherweise neigten die meisten Männer hier tatsächlich noch immer dazu, eine arme, schwache Frau wie mich zu unterschätzen.
Ich warf einen Blick zurück, wo die Männer aus der Stadt mich eingeholt hatten und jetzt stehen blieben, von der neuen Situation irritiert. In der Sekunde, in der ich beschlossen hatte, vor ihnen davonzulaufen, war uns allen klar gewesen, dass sie nicht wirklich vorhatten, mich einzuholen. Sie wussten nicht sicher, wer oder was ich war. Nur, dass ich gefährlich genug war, dass der König selbst mich suchte. Mit so jemandem wollte man sich nicht anlegen, für keinen Preis der Welt. Diese Männer wären zufrieden damit gewesen, wenn ich Valádey verlassen hätte und nie wieder zurückgekehrt wäre. Das Auftauchen der Soldaten aber veränderte alles.
»Im Namen Seiner Majestät, König Dólay, der Königliche, seid Ihr verhaftet«, meinte ein Soldat in der vordersten Reihe mit kalter Stimme.
»König Dólay, der Königliche?«, wiederholte ich überrascht und zog eine Augenbraue hoch. »Findet Ihr nicht, dass diese Bezeichnung ein wenig übertrieben ist?«
Selbst der Name des Königs, dólay, stammte aus der Alten Sprache und bedeutete »der König«. Ob ihm das bewusst gewesen war, als er beschlossen hatte, sich selbst »König Der König, der Königliche« zu nennen? Vermutlich nicht, die wenigsten Menschen sprachen noch die Sprache der Nachtwandler. Was wahrscheinlich auch der Grund war, warum mich die Soldaten ohne den Hauch eines Lächelns anstarrten, bis ich ein leises Schnauben ausstieß. Schade, dass sie nur ihre eigene Sprache beherrschten. Sie würden nie wissen, wie lustig ich eigentlich war.
»Ihr solltet diesen freundlichen Männern dort hinten die Belohnung für mich auszahlen«, bemerkte ich mit einem Nicken auf die überfordert aussehenden Menschen in meinem Rücken. »Ohne sie hättet Ihr mich nie erwischt und sie können das Geld gebrauchen.«
»Wir werden darüber nachdenken«, antwortete der Soldat vor mir mit schief gelegtem Kopf. »Werdet Ihr uns freiwillig begleiten oder müssen wir Euch dazu zwingen?«
Er musterte mich noch immer misstrauisch, doch seine Schultern entspannten sich ein wenig. Sie hatten wohl jemand anderen erwartet als mich. Wenn der König mich gefangen nehmen wollte, weil ich eine Wache angegriffen und bewusstlos geschlagen hatte, passte es wohl kaum zu meinem Ruf, mich für die ärmeren Bürger von Valádey einzusetzen. Für diese Soldaten musste ich wie eine schwächliche Frau wirken, die ein viel zu gutes Herz hatte, um jemandem etwas anzutun. Sie konnten ja nicht wissen, wie weit sie damit von der Wahrheit entfernt waren.
»Keine Sorge, ich komme freiwillig mit. Ich habe nur eine einzige Bedingung.«
»Eine Bedingung?« wiederholte ein anderer Soldat spöttisch und sah erst zu den auf mich gerichteten Schwertern und dann zu seinen Kollegen. »Wer will ihr sagen, dass sie nicht gerade in der besten Position ist, Bedingungen zu stellen?«
Er lachte laut, wurde aber sofort wieder still, als ich ihm in die Augen sah. Mein Blick machte ihn nervös. Gut so. Ohne ein weiteres Wort an ihn wanderte mein Blick weiter zu dem Soldaten, der einen Schritt vorgetreten war. Wahrscheinlich ihr Kommandant.
»Meine Bedingung ist, dass Ihr Euch von mir fernhaltet. Keiner Eurer Männer soll mich berühren«, meinte ich fest. »Dann komme ich ohne jeglichen Widerstand mit Euch, wo auch immer Ihr mich hinbringen wollt.«
Der Soldat musterte mich nachdenklich, als würde er darüber nachdenken, wieso ich eine solche Forderung stellte, also fügte ich grinsend hinzu: »Ich werde nun einmal nicht gerne ungebeten angefasst. Wenn Ihr Euch darauf nicht einlassen wollt, können wir das Ganze natürlich auch auf die harte Tour machen. Aber ich würde mein Schwert nur ungern von Eurem Blut reinigen müssen. Ich würde Euch also raten, meine kleine Bitte einfach zu erfüllen.«
Einige Sekunden musterte der Kommandant mich, nickte dann aber und Mitleid erschien auf seinem Gesicht. Ich war mir sicher, dass er mir kein einziges Wort meiner Drohung glaubte. Ich konnte mir vorstellen, wie ich auf ihn wirken musste. Eine hilflose junge Frau, die den Gedanken an die bloße Berührung eines Mannes nicht ertrug. Aber es war mir egal, was dieser Soldat sich fälschlicherweise zusammenreimte. Mich interessierte nur, wie er sich entschied.
»Einverstanden. Keiner meiner Männer wird Euch gegen Euren Willen berühren.«
Zufrieden atmete ich auf, blieb aber weiterhin wachsam. Ich durfte nicht zulassen, dass so ein Fehler wie gestern Abend sich wiederholen konnte. Es war schlimm genug, dass ich mich vielleicht für einen Mord an einem Soldaten verantworten musste, da wollte ich nicht auch noch die Tode all dieser Männer meiner Liste hinzufügen. Ganz egal, ob ich sie nun in Notwehr umbrachte oder sie während eines Kampfes berührte. Auch wenn meine Handschuhe und meine Tücher über Kopf und Gesicht das Risiko minimierten, gab es immer die Gefahr, aus Versehen jemanden zu berühren. Die Soldaten selbst schienen jedoch nicht zu bemerken, dass ich ihnen mit dieser Forderung eigentlich nur einen Gefallen tun wollte. Sie hatten sich wahrscheinlich schon darauf gefreut, mich ein wenig herumstoßen zu können und waren jetzt enttäuscht, dass ich ihnen diesen Spaß genommen hatte.
»Aber Sir, sie ist doch nur ein Mädchen«, bemerkte einer der Männer leise. »Wieso sollten wir auf ihre Bedingungen eingehen?«
»Ihr rührt sie nicht an. Das war ein Befehl, Cale«, antwortete der Kommandant jedoch streng, woraufhin der Soldat namens Cale sich sofort wieder zurückzog. Dann wendete der Mann sich wieder an mich, sein Tonfall ebenso schroff: »Und jetzt gebt mir dieses Schwert.«
Ich unterdrückte nur mit Mühe ein Schnauben, als ich seine Wortwahl bemerkte. »Dieses Schwert«, nicht »Euer Schwert«. Anscheinend war der Gedanke, dass dieses Schwert mein Eigentum war, völlig absurd für ihn. Sicherlich ging er davon aus, dass ich es irgendwo von einem Mann gestohlen haben musste. Dieses Königreich war in dieser Hinsicht wirklich rückschrittlicher als die meisten der anderen, in denen ich mich ansonsten aufhielt. Und deutlich rückschrittlicher als das, in dem ich aufgewachsen war.
Aber ich wollte nicht noch mehr Ärger haben als eh schon, also zog ich betont langsam mein Schwert und hielt es ihm mit dem Griff voran entgegen.
»Also gut, gehen wir dann?«, fragte ich gelassen. Der Kommandant wies dreist mit meinem eigenen Schwert in die richtige Richtung, also lief ich los, bevor er mein Augenrollen sehen konnte.
Die meisten der Soldaten hatten ihre Schwerter bereits wieder weggesteckt. Wie dumm von ihnen. Sie hatten mich nicht einmal gefragt, ob noch weitere Waffen in meinem Besitz waren. Mein Schwert war mir zwar in einem direkten Kampf lieber als die vielen kleinen Messer und Dolche, die ich zu jeder Zeit bei mir trug, aber auch mit denen konnte ich jedem von ihnen erheblichen Schaden zufügen. Aber sie kamen nicht einmal auf den Gedanken, dass ich bewaffnet sein könnte. Mein Plan, möglichst harmlos auszusehen, ging offenbar auf.
Also lief ich neben den Soldaten her, mein zufriedenes Lächeln vom Tuch über meinem Mund verborgen. Mit dieser Ausgangssituation würde es mir sicherlich gelingen, auch ein zweites Mal aus diesem verfluchten Palast zu entkommen.
Es war ein langer Weg zum Palast, aber der Kommandant hielt sein Wort und keiner seiner Männer wagte es, mich zu berühren. Er genoss offenbar viel Respekt unter seinen Soldaten und das war auch gut für sie. Der König würde es bestimmt nicht gern sehen, wenn ich auf dem Weg hierher noch mehr seiner Männer zum Tod verdammen würde. Auch wenn ich nicht vorhatte, lange genug zu bleiben, dass er die Auswirkungen meiner Berührungen verstehen konnte. Man konnte nie wissen, was abergläubische Menschen sich ausdachten, wenn sie mich sahen.
»Verratet Ihr mir, weshalb Ihr mich eigentlich verhaftet?«, fragte ich den Kommandanten, als die hölzernen Palasttore einige hundert Meter vor uns auftauchten. Je mehr ich darüber in Erfahrung bringen konnte, weshalb der König mich sehen wollte, desto besser konnte ich mich darauf vorbereiten, was mich im Palast erwartete.
»Könnt Ihr Euch das nicht bereits denken?« Der Kommandant wirkte ehrlich überrascht und ich warf ihm ein schiefes Grinsen zu, als er sich zu mir umdrehte. Auch wenn er das natürlich unter meinen Tüchern nicht besonders gut erkennen konnte.
»Oh, ich kann mir viele Gründe vorstellen, weshalb Ihr mich verhaften wollt. Ich habe mir nicht gerade Mühe gegeben, mich an all Eure Gesetze zu halten. Die Frage ist nur, bei welchem meiner Vergehen Ihr mich auch erwischt habt.«
Der Soldat vor mir warf mir einen abschätzenden Blick zu, konnte aber das Zucken um seinen Mundwinkel nicht verbergen. Es war wohl eher ungewöhnlich, dass seine Gefangenen Scherze über ihre Verbrechen machten. Und da er mich nicht wütend anfuhr, dass ich das Ganze nicht so locker sehen sollte, lag die Vermutung nahe, dass er keine Ahnung hatte, was ich einem seiner Kameraden angetan hatte. Und tatsächlich bestätigte sich meine Vermutung mit seinen nächsten Worten.
»Euch wird vorgeworfen, dass Ihr in der letzten Nacht in den Palast geschlichen seid«, beantwortete er meine Frage leise. »Das ist kein sehr schwerwiegendes Verbrechen, also gibt es keinen Grund, sich zu sorgen. Ihr werdet vermutlich nicht einmal das Innere des Kerkers sehen müssen, aber Seine Majestät möchte persönlich mit Euch sprechen. Es ist in den letzten Jahren niemandem mehr gelungen, sich ungesehen hinter die Palastmauern zu schleichen.«
Ich wusste nicht genau, was mich dazu bewog, meine nächsten Worte auszusprechen. Vielleicht war es, weil der Kommandant mir gesagt hatte, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Ich hätte mir zwar eh keine Gedanken gemacht, dass mich ihr Kerker tatsächlich dauerhaft festhalten könnte, aber es war dennoch freundlich von ihm, mich darauf hinzuweisen.
»Ich hoffe, Ihr hattet meinetwegen keine Schwierigkeiten. Es war nicht meine Absicht, Eure Sicherheitsmaßnahmen als zu schwach erscheinen zu lassen. Das sind sie keineswegs gewesen.«
Streng genommen war das gelogen, zumindest für jemanden wie mich. Es war erschreckend einfach gewesen, die Palastmauern zu überwinden. Dennoch, er und seine Männer waren für die Sicherheit im Palast zuständig und mein spontaner Einbruch hatte ihnen sicherlich eine Menge Ärger beschert. Ich bereute das zwar nicht, aber ich konnte ja zumindest so tun, als hätte seine Arbeit es mir schwer gemacht, den Palast zu betreten.
Der Kommandant musterte mich überrascht, antwortete aber nur mit einem Nicken, bevor er sich wieder nach vorne umdrehte und ich meine Schultern entspannte. Ich war ebenfalls nicht an einem weiteren Gespräch interessiert, denn ich hatte alles erfahren, was ich wissen wollte. Sie hatten keine Ahnung von meinem Fluch. Sie wussten nicht, dass ich diese arme, unschuldige Wache zum Tode verdammt hatte, als er mich berührt hatte.
Das war eine Erleichterung für mich. Wenn ich einfach nur dem König erklären konnte, dass es nichts als ein dummer Zufall war, dass ich seine Mauern hatte überwinden können, könnte ich schon in ein paar Stunden auf dem Weg ins nächste Königreich sein. Ich musste nur einen überzeugenden Grund finden, wieso ausgerechnet mir dieser Einbruch gelungen war, ohne meine Ausbildung bei den gefährlichsten Assassinen des Kontinents zu erwähnen. Das war immerhin nicht der beste Umgang für eine verzweifelte Frau, die nur Schutz vor der Nacht und den darin lebenden Geschöpfen gesucht hatte. Und genau diese arme, hilflose Frau würde ich vor dem König sein.
Den Rest des Weges legten wir in völligem Schweigen zurück, und ich nutzte die Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Wie es aussah, brachten die Soldaten mich direkt in den Thronsaal. Der Kommandant hatte seine Worte ernst gemeint. Wenn ich Glück hatte, würde ich den Kerker tatsächlich nicht einmal von innen sehen.
»Wartet hier«, befahl der Mann vor mir, als wir vor zwei großen, aufwendig verzierten Holztüren stehen blieben. Der Thronsaal.
Die Soldaten links und rechts von mir spannten sich sichtlich an und auch hinter mir konnte ich eine gewisse Unruhe verspüren, als ihr Kommandant die Tür einen Spalt weit öffnete und sie wieder direkt hinter sich schloss. Während die Soldaten neben mir sich sichtlich zusammenreißen mussten, um nicht nach ihren Schwertern zu greifen, bemerkte ich mit einem Lächeln, dass der Grund für ihre Unsicherheit ich selbst war. Auch wenn diese Soldaten auf der Straße selbstbewusst, fast schon überheblich gewirkt hatten, waren sie jetzt doch nervös. Vielleicht waren sie doch gar nicht so naiv, wie ich gedacht hatte. Sie wussten nicht, wer oder was genau ich war, und sie würden mich gleich direkt zu ihrem König bringen. Wenn ich diesem ach so königlichen Mann wirklich etwas antun wollte, würden sie mich nicht davon abhalten können. Es wäre dumm gewesen, dieser Situation mit irgendetwas anderem als Anspannung zu begegnen.
Aber auch wenn ich mich durch ihre Anspannung geschmeichelt fühlte, war das nicht gerade förderlich für den Ruf als hilflose Dame, den ich gerne aufrechterhalten wollte. Also achtete ich darauf, keine ruckartigen Bewegungen zu machen und reglos darauf zu warten, dass die Türen sich wieder öffneten. Ich wollte diesen Männern keinen Grund geben, ihre Schwerter gegen mich zu richten. Die Messer in meinem Kleid sollten versteckt bleiben, bis ich sie wirklich brauchen würde. Vorerst.
»Ihr dürft eintreten«, meinte der Kommandant leise, als er nach einer gefühlten Ewigkeit die Türen öffnete. Mit einer Handbewegung bedeutete er seinen Männern, draußen zu warten. Nur Cale, er selbst, und ein weiterer Soldat, der mir nicht besonders aufgefallen war, begleiteten mich ins Innere des Saals. Diese Entscheidung überraschte mich, aber dem unzufriedenen Blick in den Augen des Kommandanten entnahm ich, dass nicht er diese Entscheidung getroffen hatte. Der König selbst musste beschlossen haben, mich nur mit minimaler Bewachung zu empfangen. Interessant.
Innerhalb weniger Sekunden erfasste ich die Details im Thronsaal. Die hohen Fenster, die bis zur Decke reichten, die prachtvollen Säulen an den Wänden, und die unzähligen Teppiche am Boden, die zu dem erhöhten Thron am Ende des Saals führten. Unter anderen Umständen wäre ich beeindruckt gewesen, aber da ich gerade dem König als seine Gefangene vorgeführt wurde, richtete ich meine Aufmerksamkeit lieber darauf, mich unauffällig nach möglichen Fluchtwegen umzusehen, falls irgendetwas schief gehen sollte. Von dem Gang abgesehen, aus dem wir kamen, hatte ich innerhalb von fünf Sekunden drei Fluchtwege aus dem Saal entdeckt. Ein Dienstboteneingang links von mir, eine unauffällige Tür hinter dem Thron, die mit ziemlicher Sicherheit in die Privatgemächer der Königsfamilie führen würde, und ein gewagter Sprung durch eines der Fenster. Keiner der Wege war besonders optimal und jeder einzelne mit Risiken verbunden, daher hoffte ich, dass diese Fluchtideen genau das bleiben würden: Ideen.
Erst als ich dieses Problem gedanklich gelöst hatte, wanderte mein Blick weiter zu dem Thron vor mir. Nein, den Thronen vor mir. Es war nicht der übergroße Stuhl aus purem Gold mit rotem Samt, der mich überraschte, sondern das etwas kleinere Ebenbild daneben. Auf dem die wohl schönste Frau saß, die ich je gesehen hatte. Ich nahm den König neben ihr kaum wahr, nachdem ich nur ein einziges Mal in ihre Augen gesehen hatte. Dieses strahlende Blau ließ mein Herz höherschlagen, doch nicht allein aus Bewunderung. Das, was ich fühlte, wenn ich in ihr hübsches, rundes Gesicht sah, war pures Adrenalin. Ich kannte diese Augen, kannte das leuchtende Blau aus meinen Albträumen. Es waren die Augen der mavéa. Menschen mit beeindruckender Macht, die mit bloßen Worten der Alten Sprache die Welt um sich herum verändern konnten. Menschen, die mich während meiner kurzen Kindheit jeden Tag umgeben hatten. Und genau die Menschen, die mir meinen Fluch auferlegt hatten, dank dem ich seit Jahren keine menschliche Berührung mehr hatte genießen können.
Erst beim Näherkommen wurde mir klar, dass es trotz meiner anfänglichen Bestürzung Unterschiede gab zwischen diesen Augen und dem unnatürlichen Blau der mavéa. Es lag an der Art, wie sich das Licht der untergehenden Sonne in ihnen brach, ohne sie buchstäblich zum Funkeln zu bringen. Diese Frau war keine mavéa, sie war ein Mensch. Ein besonderer Mensch, zweifelsohne, immerhin war sie die Prinzessin dieses kleinen Königreiches. Aber immerhin war sie ein Mensch. Ein Mensch, nur ein ganz gewöhnlicher Mensch. Diesen Gedanken wiederholte ich immer wieder, bis sich meine Atmung normalisiert hatte und ich meinen Blick endlich von ihren Augen losreißen konnte.
Am liebsten wollte ich mich ganz von der Prinzessin abwenden, um meine Aufmerksamkeit dem König zuzuwenden, der momentan mein größeres Problem war, aber ich konnte meinen Blick nicht von ihr lösen. Ich war mir nicht einmal sicher, wieso mich diese Frau so faszinierte, aber sie hatte irgendetwas an sich, das sie von allen anderen Menschen abhob, die ich bisher in meinem Leben getroffen hatte. Und das waren während meiner endlosen Reise auf der Suche nach einer Heilung nicht wenige gewesen.
Obwohl ich mich schon seit Längerem in diesem Königreich aufhielt, hatte ich noch nicht viel über die Prinzessin hier gehört. Niemand sprach von ihr, als hätten die meisten Bewohner schon längst vergessen, dass hinter den Palastmauern nicht nur der König lebte. Ich war davon ausgegangen, die Prinzessin wäre noch ein Mädchen, nichts weiter als ein behütetes und verwöhntes Kind, aber mir wurde schnell klar, wie falsch ich mit dieser Vermutung gelegen hatte. Sie war zwar jung, aber nicht jünger als ich selbst. Und ihr entschlossener Gesichtsausdruck zeigte zwar, dass sie es gewohnt war, zu bekommen, was sie wollte, aber sie blickte mich so ernst an, als würde sie genau wissen, dass das Leben nicht für alle so angenehm war wie für sie. Sie war eine Frau, die klüger war, als die meisten es auf den ersten Blick ahnen würden.
Und auch ihr Aussehen war nicht wie das von anderen Prinzessinnen, die ich bereits getroffen hatte. Sie hatte nichts mit diesen schmalen, fast schon puppenhaften Mädchen gemeinsam. Ich war fest davon überzeugt, dass sich unter ihren üppigen Rundungen stahlharte Muskeln verbargen. Vielleicht war es das, was ich an ihr so besonders fand. Die wenigsten Prinzessinnen hielten es für nötig, selbst Kampftraining zu absolvieren.
Ihre ganze Ausstrahlung hatte etwas Magisches, als würde sie viel mehr Macht vor der Welt verstecken, als sie durch die Krone auf ihren gewellten, blonden Haaren hatte. Diese Frau war vielleicht keine mavéa, aber »gewöhnlich« war dennoch kein passendes Wort, um sie zu beschreiben. Ihre helle Haut war zu makellos, ihre Ausstrahlung zu anziehend auf mich.
Doch auch sie war ganz auf mich fokussiert, als würde sie die Soldaten um mich herum gar nicht wahrnehmen. In ihrem Blick war nichts von der Angst und der Skepsis zu finden, die mir sonst begegneten, wenn jemand in meine orangefarbenen Augen sah. Sie wirkte viel eher neugierig, als ob sie von mir nichts zu befürchten hätte. Bei jedem anderen hätte ich diese Annahme für naiv gehalten, aber ich fand es zu bewundernswert, dass die Prinzessin keine einzige Sekunde vor mir zurückschreckte. Das hatte ich noch niemals erlebt.
Ich schaffte es erst, mich von ihrem durchdringenden Blick abzuwenden, als der Kommandant vor mir stehen blieb und mich mit einer knappen Geste dazu aufforderte, es ihm gleich zu tun. Erst jetzt, wo der Bann der Prinzessin gebrochen war, hatte ich die Gelegenheit, mir den König mit dem absurden Namen genauer anzusehen. Auch er war ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Seine blassblauen Augen blickten freundlich, fast gütig zu uns hinab, ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Dem Verhalten seiner Soldaten nach zu urteilen war er tatsächlich ein guter König. Mir kam sogar der Verdacht, dass er sich selbst nur der Königliche nannte, weil er seinen eigenen Namen lustig fand. Vorausgesetzt, er kannte die Alte Sprache. Das Funkeln in seinen Augen zeigte zumindest ein gewisses Gespür für Humor. Vielleicht würde ich Glück haben und ohne Schaden davonkommen, wenn ich nur weiter die Rolle der hilflosen, jungen Frau spielte. Sicher hatte er ein weiches Herz für eine Frau im gleichen Alter wie seine einzige Tochter.
Erst nach zwei Sekunden wurde mir bewusst, dass der König auf eine Reaktion von mir wartete und ich sank in einen leichten Knicks, wobei ich darauf achtete, dass mein langes Kleid weiter meine noch immer nackten Füße bedeckte. Ich würde diesem König den notwendigen Respekt entgegenbringen, um nicht unverschämt zu sein, aber ich würde sicherlich nicht vor ihm niederknien wie einer seiner Untertanen. Weder vor ihm noch vor sonst jemandem. Er mochte ein König sein, aber er war nicht mein König, und daran sollte ich ihn ruhig erinnern. Das war der einzige Vorteil eines Lebens als Reisende: Ich kniete vor niemandem.
»Ihr dürft Euch erheben.« Die Stimme des Königs war laut und klar. Der Tonfall eines Mannes, der es gewohnt war, dass seine Befehle befolgt wurden. Also richtete ich mich ohne zu zögern wieder auf und stellte mich mit geradem Rücken vor ihn, ließ meine Lider jedoch gesenkt. Meine orangenen Augen würden nicht dabei helfen, möglichst harmlos zu wirken. Es fiel mir schon schwer genug, still zu bleiben, doch ich wusste, dass ich mich dieses Mal zusammenreißen sollte. Meine übliche, herausfordernde Art würde mich hier nicht weiterbringen. Ob ich heute noch aus Valádey verschwinden könnte oder erst in einigen Tagen nach einer halsbrecherischen Flucht, hing einzig und allein von der Entscheidung des Königs ab. Ich sollte ihn nicht verärgern, indem ich unaufgefordert sprach. Zumindest noch nicht.
»Wie lautet Euer Name?«
»Lyenna, Eure Majestät«, antwortete ich gerade laut genug, damit der König mich verstehen konnte, und blickte langsam zu ihm auf, gerade genug, um nicht unhöflich zu wirken, aber nicht so weit, dass mich der Anblick der Prinzessin noch einmal aus dem Konzept bringen könnte.
Ich wusste selbst nicht genau, wieso ich keinen falschen Namen erfunden hatte. Eigentlich hatte ich genau das vorgehabt, aber irgendetwas in mir sagte, dass ich ehrlich sein sollte. Zumindest so ehrlich wie möglich. In den besten Lügen war schließlich immer auch ein Teil der Wahrheit enthalten und auf mein Bauchgefühl hatte ich mich bislang immer verlassen können.
»Also gut, Lyenna. Ich habe einige Fragen an Euch. Seid Ihr bereit, mir diese Fragen zu beantworten?«
Ich spürte seinen Blick auf mir, wie er mich von oben bis unten musterte und versuchte, aus mir schlau zu werden. Das hochgeschlossene schwarze Kleid, das eindeutig zu warm war für die letzten Sommertage, das schwarze Tuch, das ich über meine Haare geworfen hatte und welches auch Mund und Nase vollständig verdeckte. Sein Blick blieb an meinen Augen hängen, doch zu meiner Überraschung zuckte er nur leicht zusammen, als er die unnatürliche Farbe bemerkte. Er musste dieses leuchtende Orange von den Fahndungszetteln erwartet haben, dennoch war dieser Mangel an Reaktion ungewöhnlich. Die meisten Menschen kreisten zumindest einmal ihre Faust vor ihrer Brust, als Zeichen, Böses abzuwehren. Die Prinzessin und der König waren wohl aus dem gleichen Holz geschnitzt.
»Selbstverständlich, Eure Majestät. Ich werde all Eure Fragen beantworten, so gut es mir möglich ist«, antwortete ich und versuchte, die plötzliche Unsicherheit, die die Prinzessin in mir ausgelöst hatte, zu meinem Vorteil zu nutzen. Eine verängstigte Frau, die fürchtete, den König eines fremden Landes verärgert zu haben, mehr war ich in diesem Augenblick nicht. Mehr wollte ich nicht sein.
»Gut. Wart Ihr in der letzten Nacht in meinem Palast?«
Ich antwortete nur mit einem Nicken. Ich wusste ja, dass er die Antwort bereits kannte, woher auch immer, und da würde mir eine Lüge nur Schwierigkeiten bringen.
»Wie habt Ihr die Mauer überwunden?«
»Ich bin geklettert, Eure Majestät«, sagte ich nur kurz.
»Geklettert?«, wiederholte der König und zog eine Augenbraue hoch. »Die Mauer ist zehn Meter hoch. Unüberwindbar.«
»Ich klettere sehr gut«, erwiderte ich so unbedarft wie möglich. Ich erlaubte mir ein leichtes Schulterzucken und bemerkte, wie sich der Kommandant neben mir anspannte. Es gefiel ihm wohl nicht besonders gut, dass ich es so darstellte, als hätte ich keine großen Probleme gehabt, ins Schloss zu gelangen. Er war freundlich zu mir gewesen, also fügte ich hinzu: »Ich hatte wohl Glück, dass keine Eurer Wachen mich dabei beobachtet hat.«
»Aber einer meiner Soldaten hat Euch doch gesehen, nicht wahr?«, fragte der König und lehnte sich in seinem Thron ein wenig weiter vor.
Ich zögerte einige Sekunden, nickte dann aber vorsichtig. Ich musste aufpassen, durfte nicht zu viel verraten, aber wenn er mich bei nur einer einzigen Lüge erwischte, konnte ich meine Pläne, noch heute aus der Stadt zu verschwinden, vergessen. »Ja, Eure Majestät. Ich gebe zu, das hat er. Er hat bemerkt, dass ich mich auffällig verhalten habe, als ich durch die Gänge gelaufen bin.«
»Und dann? Was ist dann passiert?«
Langsam verschränkte ich meine Hände hinter meinem Rücken und spürte das vertraute Gewicht meiner Messer, die in meinen Ärmeln verborgen waren. Ich begab mich mit meinen Antworten auf diese Fragen auf ein gefährliches Terrain. War dieser Soldat bereits tot oder noch nicht? Ich musste es wissen, um meine Geschichte entsprechend anzupassen. Was hatte er seinem König über unsere Begegnung noch erzählen können? Ahnten sie etwas?
»Ich bin geflohen, Eure Majestät«, antwortete ich so vage wie möglich und der König lachte leise auf, bevor er sich an seinen Kommandanten neben mir richtete.
»Hat sie auf dem Weg hierher mit Euch gesprochen, Málek?«
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich den Namen des Soldaten bisher gar nicht gekannt hatte. Aber das war gerade mein geringstes Problem, denn ich ging in Gedanken bereits unser gesamtes kurzes Gespräch durch. Und mir wurde klar, dass es ein großer Fehler gewesen war, als ich ihn gebeten hatte, seine Männer von mir fernzuhalten. Verflucht sei mein viel zu weiches Herz.
»Ja, aber sie hat nicht viel gesagt, Eure Majestät«, antwortete Málek ihm mit gesenktem Kopf. »Sie meinte, sie würde sich nicht gegen uns wehren, solange keiner der Männer sie berührt und ich habe mich darauf eingelassen. Und sie wollte, dass wir den Männern, die sie verfolgt haben, die Belohnung geben. Davon abgesehen hat sie nur einmal danach gefragt, weshalb genau sie verhaftet wird. Ansonsten war sie vollkommen still.«
Am Rande bemerkte ich, dass Málek ihn nicht darauf hinwies, dass ich bei dieser Gelegenheit auch zugegeben hatte, mehrere andere Gesetze gebrochen zu haben. Ich war ihm dankbar dafür, zumindest ein klein wenig, aber der König schien sich leider für ein anderes, viel wichtigeres Detail zu interessieren.
»Sie hat nur gefordert, dass keiner der Männer sie berührt?«, fragte er nach und Málek nickte zur Antwort, bevor der König sich wieder an mich wandte.
»Ich glaube, ich habe genug gehört. Ich habe nur noch eine einzige Frage an Euch. Wenn Ihr die wahrheitsgemäß beantwortet, werde ich sofort entscheiden, was wir mit Euch tun werden, und ihr könnt auf eine Nacht im Kerker verzichten.«
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich tief durchatmete und mich zu einem Nicken überwand. »Selbstverständlich, Eure Majestät«, zwang ich mich zu sagen. »Ich würde es nicht wagen, Euch zu belügen.«
Ich versuchte, meine Rolle weiterzuspielen und zeitgleich die innere Unruhe in mir zu verdrängen, doch ich hatte Angst vor der Frage, die er mir stellen wollte. Der König war ebenso angespannt, wie ich es war, und ich wagte es nicht einmal mehr, den Blick von ihm zu nehmen. Auch wenn ich nur zu gerne gesehen hätte, wie die Prinzessin auf diese Situation reagierte, ich durfte mir keine Ablenkung mehr erlauben.
»Also gut, Lyenna. Ich möchte von Euch nur eines wissen: Ist es wahr, dass eine einzige Berührung von Euch ausreicht, um diese Person zum sicheren Tod zu verurteilen?«
Mein Gesicht war wie erstarrt, und ich erlaubte es mir nicht, bei dieser Frage auch nur mit der Wimper zu zucken. Woher hatte er das erfahren? Natürlich wusste ich von den Gerüchten, hörte das leise Geflüster der Menschen, wenn ich durch die Straßen lief. Niemand, der mich ansah, ging davon aus, dass ich voll und ganz menschlich war. Es gab immer die absurdesten Gerüchte über mich, wenn ich länger an einem Ort verweilte, einige näher an der Wahrheit als andere. Aber in meinem ganzen Leben hatte ich es noch nie erlebt, dass jemand tatsächlich diesen Gerüchten Glauben geschenkt hatte. Zumindest niemand, dessen erster Instinkt es nicht war, mit Mistgabeln und Fackeln hinter mir herzurennen.
Während ich noch darüber nachdachte, wie ich die Frage des Königs am besten beantworten konnte, ohne allzu offensichtlich zu lügen, spannte sich Málek neben mir an. Er war wohl bislang nicht davon ausgegangen, dass ich tatsächlich eine Bedrohung für seine beiden Herrscher sein könnte, aber diese neuen Informationen veränderten die Lage. Seine Hand bewegte sich wie zufällig in Richtung seines Schwertes. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, um eine logische Antwort zu finden.
»Ich weiß, dass meine spezielle Kleidung zu… Gerüchten führt«, antwortete ich leise und senkte leicht meinen Kopf, in der Hoffnung, dass ich harmloser wirken würde, wenn er meine unnatürlichen Augen nicht mehr sehen konnte. »Der wahre Grund für mein Auftreten ist jedoch, dass ich damit auf die meisten Menschen abschreckend wirke. Dadurch ist das Reisen sicherer. Und wenn ich tatsächlich nur eine Berührung bräuchte, damit derjenige tot umfällt… Bei allem Respekt, Eure Majestät, aber wieso hätte ich mich dann verhaften lassen sollen?«
Einige Sekunden schwieg der König und fing dann an zu lachen. Ich brauchte meine ganze Selbstbeherrschung, um bei diesem plötzlichen Geräusch nicht zusammenzuzucken. Mit leichter Genugtuung bemerkte ich, dass Málek dies neben mir nicht gelang.
»Ihr seid eine kluge Frau, Lyenna«, bemerkte der König und wurde dann ernst. »Aber denkt nicht, dass es mir nicht auffallen würde, wenn Ihr meine Frage so geschickt umgeht. Ihr könnt gut sprechen, das gebe ich zu, aber ich fürchte, ich muss auf eine klare Antwort bestehen. Und bevor Ihr antwortet, solltet Ihr bedenken, in welcher Situation Ihr Euch gerade befindet. Ich werde es wissen, ob Ihr ehrlich seid oder mich belügt, und dementsprechend wird meine Entscheidung ausfallen, ob ich Euch gehen lasse oder ob Ihr die nächsten Nächte im Kerker verbringt. Also frage ich noch einmal. Ein einfaches Ja oder Nein genügt. Ist es wahr, dass jeder, der Euch auch nur ein einziges Mal berührt, sterben wird?«
Ich wusste nicht, wieso, aber irgendetwas sagte mir, dass dieser König die Wahrheit sagte. Er würde es merken, wenn ich ihn belog, und ich müsste die Konsequenzen dafür tragen. Wahrscheinlich wusste er schon längst, dass er mit seiner Vermutung recht hatte und wartete nur auf eine Bestätigung von mir. Wenn ich lügen würde, würde er mich in den Kerker sperren lassen und ich musste mir Gedanken über eine nervenaufreibende Flucht machen. Wenn ich hingegen die Wahrheit sagte… Das Schlimmste, das mir passieren könnte, wäre, dass er meine sofortige Hinrichtung befahl, aber gegen die wenigen Männer im Thronsaal könnte ich mich ohne Probleme wehren, erst recht, wenn sie Angst vor meiner Berührung hatten. Und im besten Fall würde er mich aus seinem Königreich verbannen und ich könnte in Frieden das Land verlassen, wie ich es von Anfang an geplant hatte. Ich hatte nichts zu verlieren. Also seufzte ich leise auf und sah wieder zu dem König auf, direkt in seine blassblauen Augen. Es gab keinen Grund mehr, die Rolle der untertänigen Frau zu spielen. »Ja«, antwortete ich mit klarer Stimme. »Diese Gerüchte über mich entsprechen der Wahrheit.«
Cale und der andere Soldat links von mir traten bei dieser Antwort unwillkürlich einen Schritt von mir weg, als ihnen klar wurde, dass ich nur meine Hand nach ihnen ausstrecken müsste, um sie umzubringen. Dass meine schwarzen Handschuhe dies verhindern würden, schienen sie nicht zu bemerken.
Málek hingegen wagte es sogar, noch ein wenig näher zu mir zu treten und mir wie zufällig den direkten Weg zum König zu versperren. Ein mutiges und vor allem loyales Verhalten, für das er meinen Respekt verdiente.
Ich dachte nicht, dass der König mich noch ein weiteres Mal überraschen könnte, und doch gelang es ihm, als er sich zufrieden in seinen Thron zurücklehnte und mich leicht anlächelte. »Gut.«
Dem Gesicht von Málek nach war ich nicht die Einzige, die nicht verstand, was das zu bedeuten hatte. Das beruhigte mich ein klein wenig. Ich hasste es, wenn ich in einem Raum diejenige war, die am wenigsten wusste.
»Darf ich fragen, wieso genau das für Euch von Interesse ist?«, fragte ich den König vorsichtig. Einige Sekunden überlegte ich, ob es eine kluge Idee wäre, dieses Thema anzusprechen, fuhr dann aber fort: »Wenn es um diesen Soldaten geht, den ich in der letzten Nacht-«
Der König hob die Hand und brachte mich damit sofort zum Verstummen. »Nein, es geht nicht um den Soldaten. Er ist bereits gestorben, nur wenige Minuten, nachdem er mir von Eurer Begegnung berichtet hatte. Ich weiß, dass es ein Unfall war und mache Euch deshalb keinen Vorwurf.«
Meine Schultern entspannten sich ein wenig, da zumindest dieser Fehler mir nicht mehr zum Verhängnis werden konnte. Dennoch hatte ich keine Ahnung, weshalb der König mich dann hergebracht hatte.
»Nun, wenn es nicht um den Soldaten geht, was wollt Ihr dann von mir?«
Wieder einige Sekunden des unerträglichen Schweigens, bis der König wieder das Wort ergriff. »Ich habe schon vor einer ganzen Weile von Eurer Fähigkeit gehört.« Es lief mir kalt den Rücken herunter, als er den Fluch, der mein Leben zerstört hatte, eine Fähigkeit nannte, doch das ließ ich mir nicht anmerken. »Ihr könnt Euch vorstellen, wie überrascht ich war, von Eurem Einbruch hier zu hören. Ich würde gerne mehr über Euch erfahren.«
»Ihr wollt mich als Euren privaten Auftragsmörder«, stellte ich leise das Offensichtliche fest und ignorierte es, dass Málek neben mir zusammenzuckte. Zumindest erklärte das, wieso der König darauf bestanden hatte, mich nur mit geringster Bewachung zu empfangen, obwohl er von der Bedrohung wusste, die von mir ausging. Er wollte nicht, dass irgendjemand außerhalb dieses Saals von seinen Plänen erfuhr. Er war nicht der erste, der versuchte, mich zu bezahlen, um die Drecksarbeit zu erledigen, aber er würde die gleiche Antwort erhalten wie alle vor ihm.
»So kann man es ausdrücken, ja«, gab König Dólay zu und musterte mich genau, um meine Reaktion abschätzen zu können. »Ihr würdet mir mit… gewissen Problemen helfen und ich würde Euch dafür das Leben bieten, das Ihr verdient. Ihr müsstet nicht mehr von einer Stadt zur nächsten ziehen, müsstet Euer Essen nicht auf den verschiedensten Märkten stehlen, wenn Euch das Geld ausgeht. Ihr hättet ein sicheres Zuhause in diesem Palast und darüber hinaus genug Geld, um all Eure Wünsche zu erfüllen.«
Ich zwang mich, meinen Atem zu beruhigen, als er dieses Angebot aussprach. Es war untypisch für einen König, so offen zu sprechen und seine Worte berührten etwas tief in meinem Inneren. Ein sicheres Zuhause. Das war alles, was ich mir jemals gewünscht hatte. Nun ja, fast alles. Nur gab es da ein winziges, und doch unüberwindbares Problem… »Ich töte nicht für Geld.«
Sobald ich diese Worte ausgesprochen hatte, ohne jegliche Emotionen in meiner Stimme, hob der König eine Augenbraue.
»Tatsächlich? Dann sind die Gerüchte über Eure Ausbildung bei den Assassinen also nichts mehr als das? Nur Gerüchte?«
»Ich töte nicht für Geld«, wiederholte ich statt einer Antwort. Auch wenn er erschreckend viel über mein Leben wusste, musste ich seine Vermutungen ja nicht auch noch bestätigen. Es war nicht nötig, dass er erfuhr, dass ich schon vor Jahren aus der Gemeinschaft der Assassinen ausgetreten war. Und nur ihren Mitgliedern war es erlaubt, diesem speziellen Beruf nachzukommen. Würde ich jetzt dennoch das Geld des Königs annehmen, um seine Feinde zu beseitigen, würde ich mir jeden angesehenen Assassinen des Kontinents zum Feind machen. Daran hatte ich bestimmt kein Interesse. Und das war nur ein Grund, weshalb es auf das Angebot des Königs nur eine Antwort geben konnte. »Es tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen, aber ich muss ablehnen.«
Für einen Moment dachte ich, der König würde mir widersprechen, mir vielleicht sogar drohen, aber er atmete nur tief durch und nickte.
»Ich werde Euch nicht dazu drängen, zumindest nicht heute. Aber es ist bereits spät geworden.« Ein Blick aus den hohen Fenstern zeigte mir, dass er recht hatte. Mittlerweile war es fast dunkel geworden und ich würde wetten, dass die ersten Nachtwandler sich bereits an die Oberfläche wagten, um nach ihrer nächsten Mahlzeit zu suchen. Wenn ich jetzt dort rausgehen würde, würde ich vor ernsthaften Problemen stehen.
»Erlaubt mir, Euch eines unserer Gästezimmer anzubieten«, meinte der König und lächelte mich freundlich an. Er gab sich nicht besonders viel Mühe, es zu verbergen, dass er sich über den Zeitpunkt dieses Gesprächs freute. »Nur für diese Nacht. Zumindest vorerst. Vielleicht wird es mir ja doch noch möglich sein, Euch von den Vorzügen einer Anstellung bei mir zu überzeugen.«
Ich öffnete schon meinen Mund, um ihn darauf hinzuweisen, dass ich meine Meinung nicht ändern würde, doch dann fiel mein Blick wieder auf die Prinzessin, die bislang schweigend auf ihrem Thron gesessen hatte und mich reglos musterte. Für einen Moment trafen meine Augen auf ihre, orange auf blau, und ich vergaß alles, was ich hatte sagen wollen.
Es war ein Gefühl des Wiedererkennens, das ich bisher noch nie auf diese Art erlebt hatte. Als wäre sie ein Teil von mir, den ich vor langer Zeit verloren und vergessen hatte. Und auch in ihren Augen spiegelte sich das Erkennen wider. Erkennen und eine Menge Fragen. Offenbar war ich nicht die Einzige, die eine Verbindung zwischen uns spüren konnte. Was auch immer das war, sie fühlte es ebenso. Mein Herz raste in meiner Brust, während das Adrenalin durch meine Adern schoss, als mache sich mein Körper bereit für einen schwierigen Kampf. Ich sollte auf der Stelle umdrehen. Lieber nahm ich es mit den ersten Nachtwandlern dort draußen auf, als weiter in der Nähe dieser verwirrenden Frau zu sein.
Ich wusste jedoch, dass diese Gedanken absurd waren. Ich konnte das Angebot des Königs nicht ausschlagen, nicht während des Sonnenuntergangs. Für diese Nacht würde ich hierbleiben müssen und da war es besser, ein Gästezimmer anzunehmen, als mich wieder einmal in den Gängen zu verstecken. Das hatte schließlich schon beim ersten Mal nicht besonders gut funktioniert.
Auch wenn ich nicht plante, mich lange in diesem Palast aufzuhalten, nahm ich mir dennoch vor, der Tochter des Königs in dieser Zeit so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Es war mit Sicherheit das Beste, wenn ich diese Verbindung, die ich zwischen uns zu spüren glaubte, einfach ignorierte und keinen weiteren Gedanken an sie verschwendete. Egal, wie gerne ich mehr darüber erfahren hätte, wer die Prinzessin war und woher diese Verbundenheit zu ihr kam. Ich spürte, dass die Nähe zu ihr mich in Schwierigkeiten bringen würde, also sollte ich so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Trotz dieser Entscheidung konnte ich meinen Blick nicht von ihren blauen Augen losreißen, die mich so sehr an meine schlimmsten Albträume erinnerten, und doch vollkommen anders waren. Sie hatte mich ganz in ihren Bann gezogen und für einen Moment vergaß ich, dass wir nicht allein im Thronsaal waren.
Ich wusste nicht, wie lange ich die Prinzessin wortlos angestarrt hatte, aber ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Málek neben mir nervös sein Gewicht verlagerte und sich kaum hörbar räusperte. Ihm gefiel es wohl nicht, wie ich seine Prinzessin ansah. Und ich musste zugeben, dass ich beinahe vergessen hatte, dass der König mir gerade eines seiner Gästezimmer angeboten hatte. Also wandte ich meinen Blick wieder ab, was mich mehr Anstrengung kostete, als ich zugeben wollte, und neigte leicht meinen Kopf vor ihm.