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"Ich werde immer da sein." Seit jeher verbietet die Ausgangssperre allen Menschen, ihre Häuser nach Anbruch der Dunkelheit zu verlassen. Nur die achtzehnjährige Emilia wird von der Nacht wie magisch angezogen. Als dann aber ihr kleiner Bruder entführt wird, bleibt ihr keine Wahl: Sie muss raus in die Dunkelheit, um ihre Familie zu retten. Nur wird dieser Ausflug sie mehr verändern, als sie es je hätte ahnen können.
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Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Seit jeher verbietet die Ausgangssperre allen Menschen, ihre Häuser nach Anbruch der Dunkelheit zu verlassen. Nur die achtzehnjährige Emilia wird von der Nacht wie magisch angezogen. Als dann aber ihr kleiner Bruder entführt wird, bleibt ihr keine Wahl: Sie muss raus in die Dunkelheit, um ihre Familie zu retten. Nur wird dieser Ausflug sie mehr verändern, als sie es je hätte ahnen können.
Larissa Mücke wurde im Jahr 2000 in Papenburg geboren und veröffentlichte ihre ersten Bücher noch unter einem Pseudonym. Weitere Informationen zur Autorin gibt es auf musictothemoon.webnode.com
Larissa Mücke
©2021 Larissa Mücke
1. Auflage
Autor: Larissa Mücke, Hölderlinstr. 8, 26892 Dörpen
Umschlaggestaltung: Larissa Mücke
Druck und Veröffentlichung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin: Neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Prolog
Teil 1
1 • Eine leere Verpackung
2 • Die Frau im Schatten
3 • Im Licht einer Laterne
4 • Kreaturen der Nacht
5 • Mein Leben in ihre Hände
6 • In ihrem Griff
7 • Nur drei Regeln
8 • Ihr König
9 • Mein Schutzengel
10 • Über unsere Vergangenheit
11 • Ich kenne dich
12 • Eine Chance
13 • Schutz vor dem Bösen
Teil 2
14 • In einer Lache aus Blut
15 • Für den Rest deines Lebens
16 • Die Alte Sprache
17 • Ein stummes Versprechen
18 • Die geschlossene Tür
19 • Aus der Dunkelheit
20 • Vielleicht
Teil 3
21 • Traditionen
22 • Ein Wort für die Ewigkeit
23 • Doch du warst nicht da
24 • Die Bilder in meinem Kopf
25 • Familientreffen
26 • Der Käfig
27 • Verräter
28 • Ein Ort voller Magie
29 • Das unscheinbare Buch
Teil 4
30 • Am Ende der Treppe
31 • Sie waren glücklich
32 • Am Anfang seines Lebens
33 • Nur ein kleines Bündel
34 • Keinen Zentimeter
35 • In dunkelblauer Tinte
36 • Für immer
37 • In der Dunkelheit
38 • Alles in mir brannte
Epilog
Die Alte Sprache
Danksagung
Ich werde immer da sein.
Alles in mir brannte. Jeder einzelne Muskel, jede Faser meines Körpers stand in Flammen, während ich durch die eiskalte Nacht lief. Ich hörte meinen eigenen Atem, schnell und flach, und konnte nur daran denken, dass er mich verraten würde. Kein einziges Mal wagte ich es, mich umzudrehen. Zu groß war meine Angst, dass ich meinem Verfolger direkt in die dunklen Augen sehen würde. Ich wusste nicht, wohin ich rannte, oder vor wem ich floh. Mein Körper wurde nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht: Aus dieser Hölle zu kommen, bevor mir etwas passieren konnte.
Das Adrenalin schoss durch meinen Körper, meine Beine zitterten mit jedem weiteren Schritt, den sie zwischen mich und meinen Verfolger brachten. Mein Atem wurde immer hektischer, so wie auch mein Herzschlag. Wenn ich nicht auf der Stelle einen sicheren Ort finden würde, würde ich sterben, davon war ich überzeugt. Ich wusste nur nicht so genau, wer mich umbringen würde: der Mann hinter mir oder meine eigene Erschöpfung.
Dennoch verdrängte ich diesen Gedanken so gut es irgendwie ging und gab mir Mühe, an gar nichts mehr zu denken. Als ich aus den Augenwinkeln etwas bemerkte, wurde ich langsamer. Ich konnte nicht immer geradeaus laufen, dann würde ich ganz sicher eingeholt werden. Ich musste diesen Mann hinter mir irgendwie abschütteln, also schlitterte ich in eine dunkle Seitengasse, ohne zu wissen, wo sie hinführen würde. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, den heißen Atem meines Verfolgers im Nacken zu spüren, aber bevor ich darüber nachdenken konnte, rannte ich schon weiter. Bei jeder Kreuzung, die ich sah, wechselte ich meine Richtung, immer in der Hoffnung, nicht aus Versehen umzudrehen und dem Mann direkt in die Arme zu laufen.
Ich lief und lief, bis ich irgendwann unsanft gegen eine Mauer prellte. Hektisch sah ich mich um und zur Mauer hinauf. Sie war zu groß, um über sie zu klettern. Links und rechts von mir versperrten mir die Wände der kleinen, heruntergekommenen Häuser den Weg. Kein Fenster, keine Tür war zu sehen, nur einige Müllhaufen, die einen widerlichen Gestank verbreiteten. Ich war in eine Sackgasse gelaufen. Panisch drehte ich mich um, um wieder zurück zur Straße zu rennen, aber diesen Gedanken verwarf ich sofort wieder. Mein Verfolger war mir schon viel zu nahe, ich würde es nicht mehr schaffen, den ganzen Weg zurückzulaufen, ohne mich von ihm erwischen zu lassen. Also kletterte ich so schnell wie möglich über die stinkenden Müllhaufen, um mich zwischen ihnen zu verstecken.
Ich duckte mich zwischen einen leeren Benzinkanister und einen alten Pappkarton voll Knochen. Am besten dachte ich gar nicht erst darüber nach, wo die herkamen. Ich machte mich so klein wie möglich und spähte ans Ende der Gasse. Beinahe schrie ich auf, als ich direkt in leuchtend gelbe Augen sah, presste mir jedoch gerade eben noch die Hand vor den Mund, bevor ich bemerkte, dass es nur eine streunende Katze war. Ein Wunder, dass sie hier draußen so lange überlebt hatte.
Erleichterung machte sich in mir breit, als die Katze wenigstens nicht fauchend auf mich aufmerksam machte, sondern sich stattdessen nur neben den Benzinkanister setzte und mich langsam anblinzelte. Meine Erleichterung verschwand jedoch sofort wieder, als ich am Ende der Gasse Schritte hören konnte. Er hatte mich eingeholt. Er würde mich finden und dann würde er… Ich wollte es mir nicht einmal vorstellen. Immer noch zitternd hielt ich den Atem an, war mir jedoch sicher, dass mein lauter Herzschlag mich verraten würde. Für einen Moment konnte ich die Silhouette des Mannes erkennen. Er war an der Kreuzung stehen geblieben und schien sich zu orientieren. Er sah beinahe so aus, als ob er nach jemandem riechen würde. Nach mir.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich in meine Richtung drehte. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber die Art, wie er sich bewegte, hatte etwas Raubtierhaftes an sich. Ich spürte, wie mir Tränen der Angst in die Augen stiegen und drückte meine Hand immer fester auf meinen Mund, um ein Wimmern zu unterdrücken. Er würde mich finden. Langsam lief er in meine Richtung. Leichtfüßig, elegant, fast schon wie ein Tänzer. Er kam mir immer näher und meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Nur noch ein paar Schritte und er würde direkt neben mir stehen. Doch es kam anders.
Als der Mann an der streunenden Katze vorbeilief, sprang diese auf der Stelle fauchend auf und rannte an ihm vorbei in Richtung Straße. Es sah beinahe so aus, als wolle auch sie vor ihm fliehen, aber bevor ich sehen konnte, was geschah, war mein Verfolger schon verschwunden. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Ich wollte schon erleichtert aufatmen, bis ich plötzlich einen markerschütternden Schrei von der Straße hörte. Keinen menschlichen Schrei. Den Schrei eines Tieres in Todesangst. Ich spähte durch den Müll zur Straße und sah nur noch, wie der Mann etwas achtlos in die Ecke schleuderte und daraufhin verschwand.
Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass er so schnell dort hingekommen war, aber diese Frage war gerade zweitrangig. Was auch immer mit der streunenden Katze geschehen war, sie hatte mir wohl mein Leben gerettet. Einige Minuten harrte ich noch in der schmalen Gasse zwischen den Müllhaufen aus, bis ich mir sicher war, dass mein Verfolger nicht mehr zurückkommen würde. Meine Gelenke schmerzten, als ich endlich wieder aufstand, doch ich gönnte mir keine Pause. Ich rannte nur wieder los, um so schnell wie möglich von diesem Ort wegzukommen. Ich wollte nach Hause.
It is midnight, and time is passing, and I lie alone.
Sappho (630/612 – um 570 v. Chr.)
»Emilia, jetzt steh’ endlich auf!«, rief die Stimme meiner Mutter vorwurfsvoll. »Es ist schon fast Sonnenaufgang, du verschläfst noch den ganzen Tag!«
Mürrisch schob ich die Decke ein wenig von mir und widerstand dem Drang, mich sofort wieder in mein Bett zu kuscheln.
»Was? Schon so spät? Das kann doch unmöglich sein«, murmelte ich und unterdrückte ein Gähnen. Ich hatte mal wieder vergessen, mir abends noch meinen Wecker zu stellen. Meine Mutter wusste nicht, dass ich gestern Nacht draußen gewesen war und das sollte auch so bleiben. Sie hasste es, wenn ich die offizielle Ausgangssperre verletzte und ich hatte mir ihre Strafpredigt schon viel zu oft anhören müssen.
Ich wusste, dass sie eigentlich recht hatte. Es war zu gefährlich, nachts alleine durch die Straßen zu laufen, das hatte mir meine Nahtoderfahrung gestern deutlich gezeigt. Wenn ich auch nur ein klein wenig gesunden Menschenverstand hätte, würde ich wie alle anderen in der sicheren Wohnung bleiben. Aber wie es aussah, fehlte dieser Verstand bei mir. Oder vielleicht fehlte mir auch nur mein Selbsterhaltungstrieb.
Ich konnte es mir ja selbst nicht erklären, aber irgendetwas zog mich immer wieder nach draußen in die Dunkelheit. Ich konnte nicht widerstehen. Nirgendwo konnte ich so gut nachdenken wie im schwachen Licht der Sterne. Dort war ich völlig allein, aber einsam hatte ich mich in der Nacht noch nie gefühlt. Meistens lief ich nicht einmal durch die Stadt, sondern saß einfach nur auf unserem flachen Dach, um die Stille zu genießen, aber selbst das war eigentlich verboten. Was meine nächtlichen Ausflüge für mich bedauerlicherweise nur noch reizvoller machten, selbst wenn ich jedes Mal wieder mein Leben riskierte.
Das größte Problem war aber im Moment nicht, dass ich nachts von irgendeinem Typen umgebracht werden könnte, sondern viel eher, dass meine Mutter misstrauisch werden würde, wenn ich so müde war. Also stand ich widerwillig auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
»Ich bin schon wach, gib mir noch ein paar Minuten!«, rief ich also zurück. Schnell zog ich mir meine Klamotten über, die ich mir in weiser Voraussicht schon am Abend zusammengesucht hatte, und ging ins Bad. Für eine Dusche hatte ich keine Zeit mehr, also spritzte ich mir bloß ein wenig Wasser ins Gesicht und überdeckte meine Augenringe mit etwas Make-up. Das würde reichen müssen. Mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel vergewisserte ich mich, dass ich so aussah, als hätte ich die ganze Nacht lang friedlich geschlafen. Ich setzte noch ein fröhliches Lächeln auf und ging in den Flur, wo ich jedoch fast von einem kleinen Jungen umgerannt wurde.
»Felix, jetzt pass doch auf, wo du hinläufst!«
Sofort blieb mein Bruder stehen und drehte sich zu mir um. Einige Sekunden starrte er mich wortlos an.
»Du warst gestern schon wieder draußen«, flüsterte er dann wissend und ich verdrehte leicht die Augen. Ich wusste nicht, wie er es machte, aber im Gegensatz zu Mom bemerkte er es immer, wenn ich etwas Verbotenes tat.
»Ach Quatsch, wie kommst du denn auf so einen Unsinn?«
Abstreiten war noch immer die beste Möglichkeit, um mich da wieder rauszureden.
»Du trägst dein T-Shirt falsch rum«, antwortete er und zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass er recht hatte. Wie konnte mir nur so etwas Dummes passieren? Vielleicht sollte ich mir wirklich angewöhnen, mehr zu schlafen.
»Kein Wort zu Mom«, zischte ich Felix leise zu, aber er rannte schon in die Küche. Leise seufzend zog ich mich richtig an und folgte ihm dann. Ich musste wohl darauf vertrauen, dass er die Klappe hielt. Die letzten paar Male hatte er mich schließlich auch gedeckt. Mit einem extra fröhlichen Lächeln betrat ich die Küche und begrüßte meine Mutter mit einem kurzen Kuss auf die Wange.
»Morgen, Mom.«
»Guten Morgen, Emilia«, antwortete sie mir abwesend und ich sah sie sofort genauer an.
»Mom, was ist denn los?«
»Ach nichts, macht euch keine Gedanken.«
»Bist du dir sicher, Mom?«, fragte mein kleiner Bruder leise nach. Auch ich musterte sie aufmerksam und unsere Mutter setzte sofort wieder ein Lächeln auf.
»Natürlich, Liebling. Es ist nichts Schlimmes passiert.«
Mit einem kurzen Seitenblick auf Felix nickte ich leicht und setzte mich. Sie wollte wohl nicht darüber reden, solange er noch mit am Tisch saß. Mom tat immer alles, um ihn vor schlechten Nachrichten zu beschützen. Wenn sie wüsste, dass ich ihm eh immer alles erzählte, nachdem sie mit mir geredet hatte, würde sie vermutlich durchdrehen. Sie bemerkte nicht, dass Felix schon alt genug war, um mit schlechten Nachrichten klarzukommen und ich ließ sie lieber in diesem Glauben.
»Kannst du deinen Bruder heute zur Schule bringen, Emilia?«, bat meine Mutter mich dann, ganz offensichtlich um das Thema zu wechseln. »Ich muss heute wieder früher arbeiten.«
»Klar, kann ich machen.«
Besorgt bemerkte ich, wie Moms Lächeln verschwand, als sie von ihrer Arbeit sprach. Sie hatte einen der schlimmsten Arbeitsplätze, die es in der Stadt gab: Die Frühschicht in der Reinigungskolonne. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang zogen sie und einige weitere Frauen durch die Straßen und räumten den Dreck von der vergangenen Nacht weg. Niemand wusste, wer oder was das war, das jede Nacht bei Einbruch der Dunkelheit unsere Stadt verwüstete, aber es war allgemein bekannt, dass es dort draußen gefährlich war. Nicht umsonst war es schon seit Jahrhunderten verboten, nach Sonnenuntergang aus dem Haus zu gehen.
Trotzdem kam es immer wieder vor, dass jemand in der Nacht verschwand und nie wieder auftauchte. Niemand wusste, wo diese Menschen landeten, aber ich hatte den nagenden Verdacht, dass die Reinigungskolonne auch für die Entsorgung dieser Menschen zuständig war. Oder das, was von ihnen übrig geblieben war. Anders konnte ich mir den stumpfen Ausdruck in Moms ansonsten so fröhlich blickenden Augen nicht erklären.
»Felix, geh dir doch schon mal die Zähne putzen«, sagte ich zu meinem Bruder, als er endlich aufgegessen hatte. Ich wollte endlich wissen, weshalb Mom die ganze Zeit so abgelenkt war, und sie würde es mir nicht erzählen, solange er dabei war. Es hing bestimmt damit zusammen, dass sie heute früher anfangen musste zu arbeiten. Normalerweise reichte es, wenn sie eine halbe Stunde nach dem Sonnenaufgang losging und nicht schon bei den ersten Strahlen. Irgendetwas musste passiert sein.
Erst wollte mein Bruder noch protestieren, aber er wusste, dass ich ihm eh alles Wichtige erzählen würde, sobald Mom weg war, also stand er widerwillig auf und ließ uns alleine.
»Also, Mom, was ist passiert?«
»Es wird wieder jemand vermisst«, flüsterte sie nur leise. Eigentlich war sie viel zu sensibel für diese Arbeit, und es war mir ein Rätsel, wieso sie sich nicht einen anderen Job suchte. »Wir sollen früher anfangen, damit wir nach ihr suchen können. Sie ist noch ein ganz junges Mädchen, nur zwei Jahre jünger als du.«
Leise seufzte meine Mutter auf und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. »Was bringt solche Menschen nur dazu, nachts nach draußen zu gehen? Sie war 16 Jahre alt, sie hätte es besser wissen müssen. Wir wissen doch alle, wie gefährlich es nachts ist.«
Schuldbewusst wich ich ihrem Blick aus. Ja, das wussten wir alle. Aber ich war genau wie dieses Mädchen. Ich wollte trotzdem nach draußen, in die kühle Dunkelheit der Nacht, wo ich das Gefühl hatte, ganz allein zu sein und doch geborgen. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie knapp ich gestern dem Schicksal dieses Mädchens entronnen war. Es hätte nicht viel gefehlt und Mom würde nicht um eine völlig Fremde trauern müssen, sondern um ihre eigene Tochter. Ich sollte wirklich mit diesen nächtlichen Ausflügen aufhören, für sie. Aber das hatte ich mir schon so häufig vorgenommen.
Mom schien zu bemerken, wie angespannt ich war, denn sie sah mir ernst in die Augen.
»Du tust das doch nicht mehr, oder? Nachts das Haus verlassen? So etwas würdest du nicht tun, nicht wahr?«
Sofort zwang ich mir ein Lächeln auf die Lippen, während ich meine Schuldgefühle verdrängte. Es fiel mir leicht, ihr etwas zu verheimlichen, aber ihr ins Gesicht zu lügen war etwas vollkommen anderes. Trotzdem konnte ich ihr auch schlecht die Wahrheit sagen. Sie würde vermutlich Gitter an meinem Fenster anbringen und dennoch nie wieder ruhig schlafen. Also entschied ich mich dafür, ihrer Frage auszuweichen.
»Nur Wahnsinnige gehen nachts nach draußen. Sehe ich für dich aus wie eine Wahnsinnige?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete meine Mutter sofort und atmete erleichtert aus. Wenn sie doch nur recht damit hätte. »Tut mir leid, ich sollte wohl nicht so emotional reagieren. Ich kannte dieses Mädchen ja gar nicht. So etwas kommt vor. Aber diese Situation erinnert mich einfach an Nik, wie er damals…«
Sofort hielt ich meinen Atem an, in der Hoffnung, sie würde weiterreden. Vor zehn Jahren war mein Vater verschwunden und auch wenn ich damals selbst dabei gewesen war, wusste ich kaum etwas darüber.
Nik und Celine, das war immer das Traumpaar gewesen, das alle beneidet hatten. Bis mein Vater von einer Nacht auf die andere spurlos verschwunden war. Ich war damals gerade erst acht Jahre alt gewesen und Felix noch ein Baby. So konnte ich mich zwar wenigstens an Dad erinnern, aber ich hatte keine Ahnung, was mit ihm passiert war. Ich hatte zum Zeitpunkt seines Verschwindens schon geschlafen und Mom hatte mir nie erzählt, was passiert war.
Vermutlich war auch er nachts draußen gewesen und danach nie wieder aufgetaucht, wie es mit so vielen vor ihm geschehen war. Aber sicher konnte ich es nicht wissen. Seit mein Vater fort war, hatte Mom kein einziges Mal mehr über ihn gesprochen, egal wie oft ich nach ihm gefragt hatte. Also hatte ich es irgendwann aufgegeben. Momente wie diesen, in denen sie von selbst anfing, über Dad zu sprechen, waren unfassbar selten und umso kostbarer.
Unglücklicherweise bemerkte sie aber selbst, was sie da gesagt hatte, denn sie stand seufzend auf und zog sich ihre Jacke an.
»Ich muss jetzt los. Räumst du hier noch ein bisschen auf? Danke, Emilia. Und denk an deinen Bruder!«
Und damit war das Gespräch auch schon beendet. Ich hatte kaum noch Gelegenheit, mich von ihr zu verabschieden, da hatte sie auch schon unsere Wohnung verlassen. Kurz sah ich ihr noch nachdenklich hinterher, wurde jedoch aus meinen Gedanken gerissen, als Felix wieder zu mir kam und neugierig wissen wollte, was Mom mir denn jetzt erzählt hatte.
»Ein Mädchen wird vermisst und das nimmt Mom ziemlich mit«, erklärte ich ihm leise und er antwortete darauf nur mit einem Nicken. Er verhielt sich unglaublich erwachsen für sein Alter. Einerseits war ich stolz, dass mein kleiner Bruder das so gut aufnahm, andererseits fragte ich mich aber auch, ob es wirklich gut war, wenn solche Nachrichten ihn nicht mehr schockieren konnten.
»Okay. Kann ich noch wieder in mein Zimmer gehen?«
»Ja, du kannst ruhig noch etwas spielen. Ich rufe dich, wenn wir losmüssen.«
Lächelnd sah ich Felix hinterher und wandte mich dann schnell unserem dreckigen Geschirr zu. Klar, manchmal nervte er mich, aber im Grunde war er ein guter Bruder. Mom konnte sich glücklich schätzen, dass wenigstens eines ihrer Kinder ihr nicht nur Kummer bereitete. Wenn es Felix nicht geben würde, wäre sie mit Sicherheit schon längst durchgedreht. Ich an ihrer Stelle wäre es zumindest.
Leise summte ich vor mich hin, während ich in unserer kleinen Küche wieder Ordnung schaffte. Aufzuräumen beruhigte mich immer. Nicht so sehr wie meine nächtlichen Ausflüge, aber die Ablenkung tat mir dennoch gut. Und da ich mir vorgenommen hatte, in der nächsten Zeit das Haus nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen, würde ich vermutlich äußerst viel Zeit damit verbringen, das Haus aufzuräumen. Irgendwann fiel mein Blick auf die Uhr und ich griff erschrocken nach meiner Tasche.
»Felix, beeil dich, wir müssen los! Wir kommen noch zu spät!« Hektisch stopfte ich all meine Sachen in die Tasche und betete nur, dass ich nichts vergessen hatte. Wieso musste ich auch immer die Zeit aus den Augen verlieren?
»Wo bleibst du denn, Felix?« Ich rannte in den Flur, während ich mir meine Jacke überzog.
»Ich bin doch schon hier.«
Überrascht drehte ich mich zu meinem kleinen Bruder um, der tatsächlich fertig angezogen und mit seiner gepackten Schultasche vor der Tür stand.
»Du bist der Beste«, murmelte ich leicht grinsend und schob ihn vor mir her durch unsere Eingangstür. »Was würde ich nur ohne dich tun?«
»Zu spät kommen vermutlich«, antwortete er grinsend, während ich mit ihm schon die Treppen hinuntereilte.
»Hey, jetzt werd’ mal nicht so frech, sonst muss ich…«
Ich erstarrte, als ich plötzlich etwas neben der Straße liegen sah. Ich hatte gar nicht gemerkt, wo wir langgelaufen waren, aber ich erkannte diese Gasse. Unwillkürlich zog ich Felix näher an mich und hielt ihn dabei so, dass er den kleinen Körper an der Straßenecke nicht erkennen konnte. Ich wollte mich umdrehen, damit ich mir das nicht ansehen musste, aber ich konnte meinen Blick nicht losreißen. Es war, als würde ich wie magisch von dem grausamen Anblick angezogen werden.
Langsam ging ich auf den leblosen Körper der Katze zu. Genau die Katze, die mir gestern Nacht noch vermutlich das Leben gerettet hatte. Ich hatte gesehen, dass ihr irgendetwas Grausames angetan worden war. Ich hatte gewusst, dass sie tot sein musste. Trotzdem war es etwas anderes, sie jetzt vor mir liegen zu sehen. Die Reinigungskolonne musste dieses besondere Opfer übersehen haben. Was machte eine tote Katze mehr oder weniger schon aus? Niemand würde ahnen, was mit ihr geschehen war. Aber ich wusste, wer ihr das angetan hatte.
Ihr schmaler Körper war komplett verdreht worden, als wäre kein einziger Knochen mehr an der richtigen Stelle. Sie hatte Wunden an ihrem ganzen Körper und sie war mager, so unglaublich mager. Ich hatte diese streunende Katze gesehen, als sie noch am Leben war. Ja, sie war dünn gewesen, aber nicht so schlimm. Sie sah aus, als hätte jemand ihr Inneres aus ihr entfernt und sie wie eine leere Verpackung zurückgelassen.
»Emilia, was soll das?« Ich hörte die verärgerte Stimme meines Bruders, wie von weit weg, während er versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien. Er war es nicht gewohnt, dass ich so schockiert war. Ich durfte mir meine Gefühle nicht mehr so offensichtlich anmerken lassen, ich musste mich zusammenreißen. »Was ist denn los?«
»Alles in Ordnung, Felix«, log ich und zwang mich, einfach weiterzugehen, bevor mein Bruder den Körper auch entdecken konnte. Es war nur eine tote Katze, kein Grund, jetzt durchzudrehen. »Komm schon, wir müssen uns beeilen.«
»Emilia, ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte mein kleiner Bruder mich noch einmal leise, als wir endlich vor seiner Schule standen. Es hatte gerade geklingelt, trotzdem kniete ich mich hin, um Felix in die Augen sehen zu können.
»Ja, es ist alles in Ordnung. Du musst dir keine Sorgen machen, versprochen. Es ist nichts Schlimmes passiert«, flüsterte ich und lächelte ihn aufmunternd an.
»Ach ja? Das hat Mom heute Morgen auch gesagt«, bemerkte Felix, aber ich ignorierte diese Aussage einfach. Er hatte ja recht damit, aber ich würde ihm sicher nicht von der Katze erzählen, und noch weniger würde ich ihm von meinen Erlebnissen der letzten Nacht berichten. Es mochte ja sein, dass er für sein Alter viel ertragen konnte, aber ich wollte ihn nicht unnötig beunruhigen. Also stand ich wieder auf und lächelte ihn an, als wäre nichts gewesen.
»Mom holt dich heute Mittag wieder ab, wir sehen uns dann zu Hause. Viel Spaß, Kleiner.«
Ich merkte, dass er noch einmal nachfragen wollte, aber bevor er protestieren konnte, schob ich ihn mit seinen Mitschülern in die Schule. Er sollte nicht so viel über eine Kleinigkeit nachdenken und ich sollte das auch nicht tun. Also verdrängte ich all meine negativen Gedanken und machte mich auf den Weg zu meiner Arbeit. Ich würde jetzt nicht mehr in der Dunkelheit nach draußen gehen, also musste ich auch nie wieder darüber nachdenken. Das war Vergangenheit.
Als ich das kleine Café verließ, in dem ich arbeitete, war mein traumatisches Erlebnis schon fast wieder vergessen. Leise summte ich vor mich hin und ließ die Strahlen der tief stehenden Sonne auf mein Gesicht scheinen. Nicht mehr lange, dann würde sie untergehen und die Nacht anbrechen.
Heute würde ich mich wirklich zusammenreißen und in der Wohnung bleiben. Auf noch so eine Nahtoderfahrung konnte ich eigentlich gut verzichten und ich wusste, dass auch Felix sich jedes Mal Sorgen um mich machte. Es wäre verantwortungslos von mir, nach diesem Erlebnis gestern wieder mein Leben zu riskieren. Der Schreck der letzten Nacht steckte mir noch immer in den Knochen.
Aber während ich hier im Tageslicht stand und mich umsah, wirkten die Straßen gar nicht mehr so bedrohlich. Ich konnte mir sogar fast einreden, dass ich die tote Katze nie gesehen hatte und mein Verfolger in der letzten Nacht nichts als Einbildung gewesen war. Wie würde auch etwas derart Grausames in diese scheinbar perfekte Welt passen? Es schien beinahe unmöglich zu sein.
Dann fiel mein Blick jedoch auf eine dunkelhäutige Frau, die nah bei mir im Schatten einer Hauswand stand. Erst verstand ich nicht, warum sie mir auffiel. Klar, sie war wirklich hübsch und ihr Lächeln ließ mich fragen, woran sie gerade wohl dachte, aber das war nicht alles, was mich so faszinierte. Nachdenklich musterte ich sie und dann bemerkte ich, was an ihr so außergewöhnlich war. Sie tat nichts.
Jeder, der hier auf den Straßen unterwegs war, hatte irgendeine Aufgabe, ein Ziel. Einige beschäftigten sich mit ihrer Arbeit, andere waren wie ich zügigen Schrittes auf dem Heimweg und eine Gruppe Kinder unterhielt sich laut, während sie kichernd an mir vorbeiliefen. Diese Frau jedoch tat absolut gar nichts. Ihre Hände in den Taschen ihrer Lederjacke vergraben stand sie nur da, an die Hauswand gelehnt, den Blick in die Ferne gerichtet. Oder vielleicht auch nicht?
Sie trug eine Sonnenbrille, die ihre Augen vollständig verdeckte. Könnte es sein, dass sie mich vielleicht beobachtete? Bei diesem Gedanken wandte ich schnell meinen Blick ab und griff meine Tasche fester. Irgendetwas an ihrem Auftreten irritierte mich. Sie hatte etwas Mysteriöses an sich, das ich nicht so recht in Worte fassen konnte. Vielleicht lag es daran, dass sie mich an den Mann erinnerte, der mich gestern Abend noch verfolgt hatte. Nur dass ich nicht das Gefühl hatte, dass sie jede Sekunde auf mich zuspringen würde, um mich anzugreifen. Sie wirkte ungefährlich. Trotzdem, irgendetwas an ihr war anders. So etwas hatte ich noch nie gespürt.
Genug. Diese Frau war mit Sicherheit vollkommen normal und ich bildete mir dieses merkwürdige Gefühl nur ein. Sie hatte mir ja nichts getan und eigentlich wirkte sie auch ganz harmlos. Ich sollte nicht sofort von jedem fremden Menschen das Schlechteste denken. Dennoch drehte ich mich in die andere Richtung, um loszulaufen. Ich würde lieber einen Umweg in Kauf nehmen, als direkt an ihr vorbeizugehen. Nur zur Sicherheit, ich musste ja kein unnötiges Risiko eingehen. Auch wenn ich nur zu gerne mehr über sie erfahren hätte.
Als ich jedoch noch einmal verstohlen aus den Augenwinkeln in ihre Richtung spähte, war sie wie vom Erdboden verschluckt. Verwundert rieb ich mir meine Augen, um noch einmal genauer hinzusehen, doch es änderte sich nichts. Sie war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Hatte ich sie mir etwa doch nur eingebildet? Konnte es sein, dass mein Gehirn mir solche Streiche spielte? Vielleicht entwickelte mein Verstand ja diese Paranoia als Selbstschutz, damit ich nicht mehr so dumme Sachen tat wie bei Dunkelheit das Haus zu verlassen. Was auch immer es war, die Frau blieb verschwunden, also musste ich mir auch keine Gedanken mehr um sie machen. Das würde mich eh nicht gerade weiterbringen. Stattdessen atmete ich tief durch, lockerte bewusst meine Schultern und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich würde diese Frau mit Sicherheit in wenigen Minuten vergessen haben, wenn ich einfach nicht mehr über sie nachdachte. Und trotzdem blieb das Gefühl eines stechenden Blickes, der sich in meinen Rücken bohrte und mich bis nach Hause verfolgte.
Meine Hände zitterten, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschloss, und ich ärgerte mich selbst darüber. Auf dem ganzen Weg war nichts Außergewöhnliches passiert. Ich hatte keinen Grund, so aufgewühlt zu sein. Aber ich konnte erst erleichtert aufatmen, als ich sicher über die Schwelle trat und die Tür hinter mir schloss. Mein Verhalten war albern, das sagte ich mir immer und immer wieder. Albern und kindisch. Ich war längst aus dem Alter raus, in dem man noch vor Schatten und Fremden Angst hatte. Ich sollte es besser wissen.
Schnell setzte ich ein Lächeln auf, als ich die schnellen Schritte von Felix hörte und nur kurz darauf rannte er mir auch schon entgegen, um mich fest zu umarmen.
»Emilia, da bist du ja endlich!!«
Sofort wurde mein Lächeln ehrlicher, während ich meinen kleinen Bruder an mich drückte und ihm die Haare verstrubbelte.
»Was ist, hast du mich etwa vermisst? Du weißt doch, dass ich immer so lange arbeite.«
Vertrauensvoll beugte er sich vor, als wolle er mir ein Geheimnis ins Ohr flüstern. »Aber heute hatte ich so ein ungutes Gefühl. Genauso wie gestern Nacht, als du weg warst.«
Mein Lächeln verblasste schlagartig. Er hatte ein ungutes Gefühl gehabt? Normalerweise sollte mir so eine Aussage von einem Zehnjährigen nicht viele Sorgen bereiten. Es waren nur die Gedanken eines kleinen Jungen, der meine innere Unruhe bemerkt hatte. Aber besonders in den letzten Monaten war mir aufgefallen, dass sein Bauchgefühl ihn fast nie täuschte. Er wusste immer, wann ich wieder nachts das Haus verlassen hatte, egal, wie vorsichtig ich auch war. Und nach jeder Nacht, in der er sich von Albträumen geplagt in mein Bett geschlichen hatte, erzählte Mom mir am nächsten Morgen von einem weiteren Vermissten.
Ich erinnerte mich noch genau, wie laut Felix vor einigen Jahren den ganzen Tag geschrien hatte und sich einfach nicht beruhigen ließ. Das war der letzte Tag gewesen, an dem ich meinen Dad gesehen hatte.
Je älter Felix wurde, desto schwerer fiel es mir, das alles noch für Zufälle zu halten. Als ich aber den nachdenklichen Blick meines Bruders auf mir bemerkte, zwang ich mir sofort wieder ein Lächeln ins Gesicht. Ich wollte und würde mich nicht schon wieder in irgendetwas reinsteigern, zumindest nicht heute. Ich war bestimmt nur übermüdet, kein Wunder, dass mein Gehirn nicht mehr richtig funktionierte.
Wenn ich darüber nachdachte, machte diese Erklärung durchaus Sinn. Mein Gefühl, beobachtet zu werden, die Frau im Schatten, sogar die tote Katze… Das könnten alles nur Hirngespinste gewesen sein, die sich in meinen Kopf geschlichen hatten, weil ich zu wenig Schlaf bekommen hatte.
Glücklicherweise musste ich Felix keine Antwort mehr geben, weil unsere Mutter uns genau in diesem Moment fragte, ob sie schon etwas zu essen machen sollte.
»Nein, Mom, für mich nicht«, antwortete ich, während ich meinen kleinen Bruder wieder losließ und herzhaft gähnte. »Ich wollte mich noch ein oder zwei Stunden hinlegen und etwas schlafen. Die Kunden heute waren wirklich anstrengend.«
Das war immerhin nur halb gelogen. Ich war furchtbar müde, aber die Arbeit im Café war definitiv nicht der Grund dafür.
»In Ordnung, ruh’ dich nur aus. Ich wecke dich, wenn wir essen wollen.«
»Danke, Mom.«
Noch bevor mein Kopf das weiche Kissen in meinem Bett berührte, war ich bereits eingeschlafen.
• • • • •
Sie war alleine und es war dunkel. Das war alles, was Emilia wusste. Angestrengt versuchte sie zu erkennen, wo sie war, und sich daran zu erinnern, wie sie hergekommen war, aber es fiel ihr nicht ein, egal, wie sehr sie es auch versuchte.
Wände, Wände aus dunklem Stein. Emilia streckte eine Hand aus, um sie zu berühren, und erst dabei bemerkte sie es. Das hier waren nicht ihre Hände. Sie war nicht Emilia. Es war nicht echt. Das alles, die Dunkelheit, dieser merkwürdige Ort. Es war alles nicht echt. Ihr wurde klar, dass sie vermutlich noch immer in ihrem Bett lag und tief und fest schlief. Normalerweise wachte sie immer auf, wenn sie so etwas dachte. Sie träumte, sie bemerkte, dass es ein Traum war und dann hörte der Traum auf. Aber dieses Mal war irgendetwas anders, denn wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht aufwachen. Emilia blickte an sich herunter und erkannte endlich, in wessen Körper sie gerade steckte. Felix. Plötzlich erklangen laute Stimmen und Emilia drehte sich panisch um. Oder drehte Felix sich um? Sie wusste es nicht.
An der Wand flackerte eine Kerze, aber Emilia konnte kaum weiter als zwei Meter gucken. Diese Dunkelheit war finsterer als alles, was sie bisher gesehen hatte.
»Hallo?«, erklang die zittrige Stimme eines verängstigten kleinen Jungen. Ihre Stimme.
Es war, als würde sie wieder aus ihrem Körper herausgerissen werden. Von einer Sekunde auf die andere war sie nicht mehr Felix. Sie schwebte über ihm, nicht mehr als ein körperloser Beobachter. Hinter ihrem Bruder eine Gestalt, die sich im Schatten verbarg. Verzweifelt versuchte Emilia, eine Warnung zu rufen, aber aus ihrem Mund entfloh kein einziger Ton. Niemand konnte sie hören. Sie konnte nur auf die Gestalt hinter ihrem Bruder sehen, unfähig, den Blick abzuwenden.
Es war kaum möglich, in der Dunkelheit etwas von dem Mann zu erkennen, aber trotzdem war Emilia sich sicher, dass sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Gestern Nacht, in einer dunklen Gasse ohne Ausweg. Wie könnte sie diesen Anblick vergessen, auch wenn es nur ein Schatten gewesen war?
»Bleib stehen!« Emilia schrie, als der Mann einen Schritt auf ihren kleinen Bruder zuging. Wieder kam kein Laut aus ihrem Mund und doch hielt der Mann tatsächlich inne. Jedoch nicht wegen des lautlosen Schreis. Ein anderer Mann hatte sich neben ihn gestellt und bedeutete ihm nun, wegzugehen. Höflich, fast schon demütig, senkte der Verfolger aus der Nacht den Kopf vor der anderen Gestalt und verschwand in die Dunkelheit. Emilia war versucht, erleichtert aufzuatmen, doch dann bewegte sich dieser neue Mann selbst auf Felix zu, welcher sich immer noch verwirrt im Kreis drehte. Er konnte die Gestalten in der Schwärze der Schatten nicht erkennen, spürte nur, dass irgendjemand dort war.
Und dann passierte es. Die Gestalt trat vor, direkt in das Licht der kleinen Kerze und Emilia konnte das Gesicht des Mannes klar und deutlich sehen. Sie erstarrte vor Schreck, und für einen Moment hörte die ganze Welt auf sich zu bewegen. Denn nach zehn Jahren blickte Emilia zum ersten Mal wieder in das Gesicht ihres Vaters.
Schwer atmend schlug ich die Augen auf und brauchte einige Sekunden, um mich zurechtzufinden. Erst als ich realisierte, dass ich tatsächlich noch immer in meinem Bett lag, beruhigte sich mein Herzschlag ein wenig und ich atmete tief durch. Erschöpft richtete ich mich auf und fuhr mir durch die Haare. Ich war zwar gerade eben erst aufgewacht, aber fühlte mich genauso müde wie vorher. Vielleicht war ich sogar noch ausgelaugter als zuvor. Nie war Schlaf so wenig erholsam gewesen. Und zu allem Überfluss wollte mir mein Traum einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Ich konnte mich nur selten an meine Träume erinnern, meist verblassten sie schon beim Aufwachen, doch das gerade war anders gewesen. Es hatte sich so viel realer angefühlt als all meine Träume bisher und ich konnte mich an jedes noch so kleine Detail erinnern. Nur wieso träumte ich von meinem Vater? Er war seit zehn Jahren verschwunden und ich hatte in den letzten Jahren kein einziges Mal von ihm geträumt. Wieso also jetzt? Und wie kam mein Unterbewusstsein auf die absurde Idee, dass mein kleiner Bruder alleine irgendwo bei diesen gruseligen Männern aus der Dunkelheit sein könnte? So viele Fragen, auf die ich keine Antwort finden konnte, egal wie sehr ich darüber nachdachte. Das alles machte einfach keinen Sinn.
Ich wusste ja nicht einmal, wieso ich mir überhaupt so viele Gedanken deshalb machte. Es war nur ein Traum, nichts weiter. Menschen träumten andauernd und nur selten war es etwas Sinnvolles. Ich sollte das nicht hinterfragen. Es wäre auf jeden Fall das Beste, wenn ich es nicht weiter hinterfragen würde. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas an diesem Traum mir etwas sagen wollte. Als ob es eine tiefere Botschaft geben würde, die ich einfach nur übersah. Ein Rätsel, das ich nicht fähig war zu lösen.
Frustriert seufzte ich auf und fuhr durch meine Haare, während ich mich langsam aufsetzte. Dieser Traum hatte eine Bedeutung, das spürte ich tief in meinem Inneren. Ich hatte nur keine Ahnung, welche Bedeutung das sein könnte. Die einzig logische Erklärung, die mir im Moment einfiel, war, dass ich wirklich verrückt geworden war und mir das nagende Gefühl, etwas zu übersehen, nur einbildete. Es wäre nicht die schlechteste Erklärung. Zumindest deutlich logischer als die Möglichkeit, dass meine Träume mir irgendetwas mitteilen wollten.
Seufzend stand ich auf und richtete meine Kleidung. Ich hatte es nicht einmal mehr geschafft, mir etwas anderes anzuziehen, bevor ich eingeschlafen war. Mein neuer persönlicher Tiefpunkt. Ich wollte gerade in die Küche gehen, um zu sehen, wie weit Mom schon mit dem Essen war, als ich plötzlich einen gellenden Schrei hörte.
Für eine Sekunde erstarrte ich, als ich die Stimme meiner Mutter erkannte. Sie hatte sich sonst immer unter Kontrolle, so panisch hatte ich sie noch nie gehört.
Nein, das war nicht wahr. So panisch hatte ich sie schon einmal gehört, aber erst ein einziges Mal in meinem Leben. Und zwar an dem Tag, an dem mein Vater verschwunden war.
Sobald ich mich wieder bewegen konnte, rannte ich los und bemerkte zu meinem Entsetzen, dass der Schrei aus dem Zimmer meines Bruders gekommen war. Die Tür war nur ein wenig angelehnt und ich schob sie vorsichtig ein Stück weit auf.
»Mom?«, flüsterte ich und betrat langsam das Zimmer. »Mom, was ist los?«
Im Licht einer Laterne, das von der Straße durch das offene Fenster fiel, erkannte ich meine Mutter, die vor dem Kinderbett kniete, den Kopf gesenkt. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht und ihre Schultern bebten. Außer ihrem erstickten Schluchzen war kein Laut zu hören. Vorsichtig ging ich einige Schritte auf sie zu und legte sanft meine Hand auf ihren Rücken.
»Mom, sag mir, was los ist«, forderte ich und sie wandte mir langsam ihr Gesicht zu. In der Sekunde, in der ich in ihre vor Schreck geweiteten Augen blickte, wurde es mir klar. Noch bevor sie die grausamen Worte aussprechen konnte, wusste ich, was geschehen war.
»Sie haben Felix geholt.«
Ich sah meiner Mutter in die Augen und schüttelte den Kopf, auch wenn ich diese Antwort bereits erwartet hatte.
»Nein, das kann nicht sein!« Mein Blick fiel auf das unberührte Bett meines Bruders und ich sank neben meiner Mutter auf die Knie. Die Last auf meiner Brust wurde einfach zu groß. Er konnte nicht entführt worden sein, das durfte einfach nicht wahr sein. Aber meine Mutter antwortete mir nicht, sie starrte nur weiter wie betäubt auf seine Bettdecke, als könnte ihn das zurückholen. Fast erwartete ich, dass sie sich zu mir umdrehte und Felix lachend ins Zimmer kam, um mir zu erzählen, dass sie mich nur reingelegt hatten. Aber nichts dergleichen geschah, und meine Mutter starrte nur an den Ort, an dem Felix eigentlich sein sollte. Das hier war kein misslungener Streich, das hier geschah wirklich.
»Wer hat ihn geholt, Mom?«, fragte ich sie eindringlich, während ich mich aufrichtete. »Wer sind sie? Wer hat Felix geholt?«
Langsam riss meine Mutter ihren Blick vom leeren Kinderbett los und sah in meine Augen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber nur ein Schluchzen heraus.
Tief atmete ich durch, um sie nicht anzubrüllen und legte dann vorsichtig meinen Arm um sie, während ich beruhigend auf sie einredete. »Okay, ist schon gut. Wir gehen jetzt in die Küche und ich mache dir einen Tee. Und dann verrätst du mir, was du weißt. Du musst mir alles erzählen, damit ich Felix zurückholen kann.«
Die Entscheidung hatte ich bereits in dem Moment getroffen, in dem mir klar geworden war, dass mein Bruder verschwunden war. Es war mir egal, dass ich keinen einzigen Anhaltspunkt hatte. Es war mir egal, dass es draußen dunkel war. Es war mir egal, dass ich mich dadurch in Gefahr brachte. Das hatte mich noch nie abhalten können. Es hatte endlich einen Sinn, dass ich mich in der Nacht so gut auskannte. Als hätte ich mein Leben lang gewusst, dass dieser Moment kommen würde.
»Nein, das kannst du nicht tun!«, rief meine Mutter überraschend fest. »Das ist viel zu gefährlich!«
»Mom, du weißt, dass ich schon häufig auch nach der Ausgangssperre draußen war. Häufiger als du es vielleicht vermutest. Und ich wurde noch nicht ein einziges Mal dabei erwischt. Die Dunkelheit wird mich nicht aufhalten.«
»Das ist es nicht, worum ich mir Sorgen mache. Da draußen sind… Da geschehen Dinge, von denen du keine Ahnung hast. Die vielen Vermissten, die vielen Toten. Das ist alles kein Zufall, das wirst du doch gemerkt haben. Sie haben ihn geholt. Ich habe schon deinen Vater an sie verloren und jetzt deinen Bruder. Ich werde nicht zulassen, dass ich auch noch dich verliere.«
Überrascht weiteten sich meine Augen. Was meinte sie damit, sie hätte meinen Vater an »sie« verloren? Wenn mein Vater im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Felix stand… Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was das über meinen Traum aussagen könnte. Hätte ich das alles verhindern können? Mir war klar, dass selbst der Gedanke schon absurd war, aber vielleicht war dieser Traum doch mehr als nur ein Traum gewesen.
»Was soll das heißen?«, fragte ich leise. »Was weißt du über diese Wesen da draußen? Weißt du, was sie sind? Weißt du, warum sie diese Fähigkeiten haben?«
Dieser Mann, der mich letzte Nacht verfolgt hatte, war definitiv kein Mensch gewesen. Und so wie meine Mutter über die Wesen in der Dunkelheit sprach, schien auch sie genau zu wissen, dass sie alles andere als menschlich waren. Sie wusste mehr, als sie bislang immer zugegeben hatte. Aber jetzt gerade beunruhigte sie etwas anderes an meinen Fragen.
»Woher weißt du, was für Fähigkeiten sie haben? Hast du etwa einen von ihnen gesehen?« Meine Mutter wurde immer panischer, aber darauf konnte ich keine Rücksicht mehr nehmen. Nicht jetzt.
»Ja, das habe ich. Aber bitte, Mom, du musst dich jetzt konzentrieren. Erzähl mir, was du weißt. Und zwar alles. Für Felix.«
Ich spürte, wie meine letzten Worte etwas in ihr auslösten. Klar, sie liebte mich, aber ihre Beziehung zu ihrem jüngsten Kind war noch etwas anderes. Etwas, was ich nie mit ihr haben würde. Was ich nie auch nur verstehen würde. Sie würde ausnahmslos alles für ihren Sohn tun, auch wenn sie dafür stark sein musste, in dem Moment, in dem sie es am wenigsten konnte.
»Ich weiß selbst nicht sehr viel«, fing sie leise an, ohne mich ansehen zu können. »Die Regierung will nicht, dass wir etwas erfahren. Vermutlich um eine Massenhysterie zu vermeiden, deshalb gibt es auch die Ausgangssperre. Die meisten stellen keine Fragen darüber, aber in meinem Job höre ich immer wieder Gerüchte. Geflüster über die Geschöpfe der Nacht. Ich selbst habe sie nie geglaubt, habe sie immer für Ammenmärchen gehalten, bis dein Vater eines Nachts verschwand. Ich habe es gesehen, ich habe alles mit angesehen. Er stand am offenen Fenster, wollte nur ein wenig frische Luft schnappen, und plötzlich hat ihn jemand nach draußen gezogen. Was auch immer das war, es ist drei Stockwerke hoch gesprungen, nur um Nik aus unserer Wohnung zu ziehen. Ich bin sofort hingerannt, aber da waren sie schon weg. So schnell kann kein Mensch rennen. Seitdem habe ich deutlicher hingehört, wenn ich Geschichten gehört habe. Ich weiß nicht, was wahr ist und was nicht, aber ich habe mir meinen Teil zusammengereimt. Es sind mehrere von ihnen und sie zeigen sich nur in der Dunkelheit, deswegen sind wir am Tag meistens sicher. Aber in der Nacht regieren sie auf den Straßen und wenn sie einen Menschen finden, ist er für sie Freiwild. Sie tun ihm unaussprechliche Dinge an. Die Leichen, die wir bei unserer Arbeit gefunden haben, waren immer vollkommen entstellt und bis auf den letzten Tropfen blutleer. Sie waren nur noch leblose Hüllen.« Ihre Stimme brach, während sie mich mit Tränen in den Augen ansah. Ich habe sie noch nie mit so viel Hass in ihrer Stimme sprechen hören. »Und nun haben sie sich Felix geholt.«
»Ich kann ihn zurückholen.«, antwortete ich leise, aber fest. Meine Mutter öffnete sofort den Mund, um mir zu widersprechen, aber ich ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Mom, es hat endlich einen Sinn, dass ich so häufig nachts draußen war. Ich kenne mich dort draußen aus, ich weiß, wo ich nach Hinweisen suchen muss. Du wirst mich nicht aufhalten können. Ich kann und werde Felix zurückholen. Vielleicht weiß ich sogar, wo er sein wird, zumindest habe ich eine Vermutung.«
Meine Mutter sah mich überrascht an, nickte dann aber stumm mit dem Kopf. Sie wollte nicht, dass ich mich in Gefahr brachte, aber die Hoffnung, dass ich Felix wirklich zurückbringen könnte, siegte schließlich über ihre Angst um mich. Und ich war mir sicher, dass ich wirklich wusste, wo ich anfangen musste, nach meinem Bruder zu suchen.
Es gab ein Gebäude in der Stadt, das ich schon immer gemieden hatte, seit ich das erste Mal nachts nach draußen gegangen war. Eine alte Lagerhalle, am Rande der Stadt. Äußerlich unterschied sie sich nicht sonderlich von anderen Lagerhallen, aber wann immer ich auch nur in die Nähe dieses Ortes gekommen war, hatte mein Bauchgefühl mich stets dazu gebracht, sofort wieder umzukehren. Ich hatte es mir nie erklären können, aber jetzt machte es für mich sogar fast Sinn. Ich musste unbewusst die Anwesenheit dieser Wesen bemerkt haben. Ich hatte gespürt, dass irgendetwas an diesem Ort falsch war, so wie ich heute gespürt hatte, dass die Frau auf der Straße nicht normal sein konnte. Mein Gefühl war natürlich noch lange kein Grund, warum Felix wirklich an diesem Ort sein sollte, aber es war ein guter Ort, um mit meiner Suche nach ihm anzufangen. Vielleicht war Felix nicht der einzige in der Familie, der sich auf sein Bauchgefühl verlassen konnte.
»Versprich mir, dass du auf dich aufpassen wirst«, flüsterte meine Mutter und sah mir in die Augen. »Versprich mir, dass du gesund zu mir zurückkommen wirst.«
Zögernd sah ich meine Mutter an. Ich gab eigentlich nie Versprechen, von denen ich mir nicht sicher war, dass ich sie halten konnte. Aber wahrscheinlich würde sie mich gar nicht erst gehen lassen, wenn ich sie jetzt nicht beruhigen konnte.
»Ich verspreche dir, ich werde alles dafür tun, dass Felix schon bald wieder bei dir sein wird. Uns beiden wird nichts passieren.«
»Du klingst wie dein Vater, er war auch immer so unglaublich mutig«, flüsterte sie leise und sah mich mit einem so traurigen Lächeln an, dass ich sie schnell umarmte, bevor ich mir das Ganze doch noch einmal überlegte.
»Ich hab dich lieb, Mom«, murmelte ich und sie drückte mich so fest an sich, dass ich mir für einen Moment sicher war, sie würde mich nie wieder loslassen.
»Pass auf dich auf, Emilia.«
Tief atmete ich durch und löste mich dann von ihr. Ich wollte noch etwas sagen, aber ich fand keine Worte. Es war alles gesagt worden, jedes weitere Wort wäre nur eine leere Phrase. Also drehte ich mich um und griff nach meiner Jacke, bevor ich unsere Wohnung verließ. Ich würde meinen Bruder zurück nach Hause bringen, und nichts würde mich davon abhalten.
Es fühlte sich merkwürdig an, die Stufen nach unten zu laufen. Bislang hatte ich das Haus nachts ausschließlich durch mein Fenster verlassen, um meine Mutter nicht zu wecken. Aber heute musste ich mich nicht verstecken, nicht vor ihr jedenfalls. Ich hatte eine Aufgabe, einen Grund, heute Nacht draußen zu sein.
Leise schlich ich die Stufen hinunter, doch noch bevor ich die Haustür erreichte, hörte ich, wie hinter mir eine der Wohnungstüren geöffnet wurde. Ertappt drehte ich mich um und sah in das Gesicht unserer Nachbarin, Mrs. Doosewell. Die alte Dame war eine der wenigen, die ich in unserem Haus kannte. Sie hatte früher häufig auf Felix und mich aufgepasst, während Mom arbeiten war. Ich hatte nicht mehr viele Erinnerungen an sie, aber ich wusste noch, dass ich es immer gemocht hatte, bei ihr zu sein.
»Emilia, was machst du hier?« Nervös versuchte ich, ihrem stechenden Blick auszuweichen. Es war immerhin verboten, im Dunkeln das Haus zu verlassen.
»Ich… ich muss meinen Bruder finden.« Ich wusste nicht, wieso ich nicht einfach irgendeine Ausrede erfand. Vielleicht kam es mir falsch vor, sie anzulügen. Sie wirkte immer so freundlich auf mich.
»Warte einen Augenblick hier«, forderte sie und ließ mich dann irritiert im Flur zurück. Ich hatte mit vielen Reaktionen gerechnet, von Unverständnis bis zu Ignoranz, aber das hatte ich definitiv nicht erwartet. Dennoch hatte ich nicht lange Zeit, um über ihr Verhalten nachzudenken, denn nur kurz darauf kehrte sie zurück.
Wortlos reichte sie mir eine Kette, ein einfaches Lederband mit einem kleinen Anhänger aus Holz, in dem ein funkelnd blauer Stein eingearbeitet war. Es sah aus, als wäre die Kette in mühsamer Handarbeit selbst geschnitzt worden. Ich konnte nicht erkennen, was es darstellen sollte, aber es erinnerte mich an eine Art Schriftzeichen.
Mrs. Doosewell musste meinen verwirrten Blick bemerkt haben, denn sie sah mich mit einem freundlichen Lächeln an. »Das Böse dort draußen kann dir damit nichts anhaben. Pass auf dich auf, Emilia.«
Ich öffnete meinen Mund, um mich bei ihr zu bedanken, doch bevor ich irgendetwas sagen konnte, ging sie bereits wieder zurück und schloss die Tür hinter sich. So langsam war ich mir nicht mehr sicher, ob ich Mrs. Doosewell tatsächlich kannte. Was wusste sie über diese Wesen aus der Dunkelheit? Wusste sie überhaupt etwas? Schnell legte ich mir die Kette um und ging nach draußen. Ich bezweifelte zwar, dass eine alte Kette wie diese mich vor den Kreaturen der Nacht beschützen könnte, aber sie gab mir dennoch ein sichereres Gefühl. Es würde bestimmt alles gut werden. Ich musste nur optimistisch bleiben.