M.I.A. - Das Schneekind - Edgar Rai - E-Book
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M.I.A. - Das Schneekind E-Book

Edgar Rai

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Beschreibung

„Was ist der Mensch?“ Sandra hat eben die Affäre mit ihrem Chef beendet, als sie auf einer vereisten Straße in den Schweizer Bergen in einen Unfall verwickelt wird. Der Fahrer stirbt, doch ein Mädchen auf dem Rücksitz ist offenbar unverletzt: die neunjährige Mia. Von ihrer Adoptivmutter wird sie in ein Forschungsinstitut gebracht. Sandra darf das Mädchen fortan nicht mehr sehen – vielmehr geraten alle in Gefahr, die mit Mia zu tun hatten. Ein Haus geht in Flammen auf, eine Leiche wird gefunden – und Sandra wird plötzlich verfolgt... Ein atmosphärischer dichter Thriller um ein Mädchen mit besonderen Fähigkeiten.

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Über Edgar Rai/Kathrin Andres

Edgar Rai, 1967 geboren, hat Musikwissenschaften und Anglistik studiert. Nach und neben diversen Jobs seit 2000 freier Schriftsteller. Seit 2012 ist er Mitinhaber der Buchhandlung Uslar & Rai in Berlin.Von ihm sind als Aufbau Taschenbücher lieferbar: »Nächsten Sommer«, »Sonnenwende«, »Wenn nicht, dann jetzt« sowie »Homer für Eilige«.Mehr Informationen zum Autor unter www.edgarrai.de

Kathrin Andres, 1984 geboren, nach längeren Auslandsaufenthalten und dem Studium der Humanmedizin freie journalistische Tätigkeiten, Promotion zur Dr. med., derzeit in der Gesundheitssystemforschung tätig.

Informationen zum Buch

»Was ist der Mensch?«

Sandra hat eben die Affäre mit ihrem Chef beendet, als sie auf einer vereisten Straße in den Schweizer Bergen in einen Unfall verwickelt wird. Der Fahrer stirbt, doch ein Mädchen auf dem Rücksitz ist offenbar unverletzt: die neunjährige Mia. Von ihrer Adoptivmutter wird sie in ein Forschungsinstitut gebracht. Sandra darf das Mädchen fortan nicht mehr sehen – vielmehr geraten alle in Gefahr, die mit Mia zu tun hatten. Ein Haus geht in Flammen auf, eine Leiche wird gefunden – und Sandra wird plötzlich verfolgt.

Ein atmosphärischer dichter Thriller um ein Mädchen mit besonderen Fähigkeiten

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Edgar Rai Kathrin Andres

M.I.A.

Das Schneekind

Thriller

Inhaltsübersicht

Über Edgar Rai/Kathrin Andres

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Impressum

Leseprobe aus: Deon Meyer – Fever

Sehr geehrte Damen und Herren, werte Kollegen, liebe Freunde,

ich stehe auf diesem Podium, um Ihnen eine Frage zu stellen.

Diese Frage lautet:

WAS IST DER MENSCH?

(Pause)

Keine einfach zu beantwortende Frage, nicht wahr?

(Pause)

Nun, um uns dieser Frage anzunähern, schlage ich vor, wir tun zunächst etwas, das vielen von uns unzeitgemäß erscheinen mag: Ziehen wir die Bibel zu Rate. In der Genesis 1.27 ist zu lesen: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild. (…) Und Gott sprach (…): Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.«

Gott hat sich den Menschen also als ein sehr mächtiges Wesen gedacht. Allmächtig. Wie sich selbst. So steht es in der Bibel.

(Pause)

Doch verhält es sich auch so? Gleichen wir Gottes Abbild? Ist der Mensch im Jahre 2017 nach Christi Geburt wirklich die Krone der Schöpfung?

(Längere Pause)

Sehen wir uns zunächst, ganz banal, seine körperlichen Fähigkeiten an: Der Mensch hört Frequenzen zwischen 16 und 18000 Hertz. DasGehör einer Fledermaus hingegen kann Frequenzen bis zu 200000 Hertz wahrnehmen. Manche Hunde riechen zwanzig Mal besser als der Mensch. Seehunde können dank ihrer Tasthaare Bewegungen von in vierzig Meter Entfernung schwimmenden Fischen erspüren. Der Hammerhai nutzt Elektroortung bei der Jagd. Der Fangschreckenkrebs kann 100000 verschiedene Farben sehen. Die Grubenotter besitzt einen Infrarotsensor.

Was die sensorischen Fähigkeiten betrifft, ist der Mensch im Vergleich dazu ein taubstummes, blindes, nacktes, jämmerliches Kleinkind. Ein Statist im Film der Evolution.

(Sacken lassen)

Ich wiederhole meine Eingangsfrage: Was ist der Mensch?

Eins

Farbe bekennen! Sie lacht leise auf. Die Landschaft scheint sie zu verhöhnen. Alles weiß. Das nächtliche Schneegestöber, die Straße vor ihr, die schneebedeckten Zweige, die Berghänge. Sie erinnert sich an die Worte ihrer Klassenlehrerin zu Schulzeiten: Weiß ist keine Farbe, weiß ist unbunt! Sandra konnte die Frau nicht ausstehen. Weiß ist keine Farbe, und mein Leben ist kein Leben, denkt sie, während sie versucht, den Peugeot auf der vereisten Fahrbahn zu halten. Unbunter könnte es kaum sein, und mittendrin sie selbst: durchsichtig.

Das war es also. Acht Jahre hat sie geträumt, gewartet und gehofft. Immer wieder. Hat sich an die Idee geklammert, dass er sich endlich für sie entscheiden, endlich Farbe bekennen würde. Um bei der Wahrheit zu bleiben: Geträumt hat sie in den letzten Jahren nur noch selten, und Erwartungen hatte sie gar keine mehr. Was für eine Energieverschwendung! Sie hat mit Trauer gerechnet, mit Wut, Zorn, vielleicht sogar Hass. Nein, Hass nicht. Im Hassen war sie nie gut gewesen. Aber solche Gefühle sollte man doch haben, wenn man feststellt, dass man sich acht Jahre lang an eine fixe Idee geklammert hat. Doch sie spürt weder Zorn noch Erleichterung, im Grunde spürt sie nur Müdigkeit. Das hat sie auch Anwar gesagt, vorhin in der Berghütte. Sie sei müde, sich zu verstecken, sei müde, im Hotel so zu tun, als hätten sie ein rein geschäftliches Verhältnis. Wo doch außer seiner Frau ohnehin jeder Bescheid wisse. Zu Beginn ihrer Affäre hatte sich Sandra noch heulend auf der Personaltoilette eingeschlossen, wenn seine Frau auf einem der Hotelempfänge aufgetaucht war. Ist lange her. Hoffentlich hält die Erkenntnis diesmal länger an.

Sie schließt die Augen, als könnte das den Gedanken an frühere Trennungsversuche vertreiben. Als sie sie wieder öffnet, blickt sie in das blendende Licht zweier Scheinwerfer. Mit einem Aufschrei tritt sie das Bremspedal durch, das Heck bricht aus, der Peugeot kommt ins Schleudern, sie sieht den anderen Wagen ausscheren. Links der Abhang, rechts die Bergwand. Sie hört den eigenen Schrei, dann kommt der Aufprall, Metall auf Metall, splitterndes Glas, ein weiterer Aufprall, der ihren Peugeot rotieren lässt wie einen Kreisel. Das war es also, denkt sie noch, dann Dunkelheit.

*

Wer atmet, kann nicht tot sein. Zumindest sollte das Atmen dann nicht so schwerfallen. Im Wageninneren ist es dunkel, eine feine Schneeschicht bedeckt die Windschutzscheibe. Lange kann sie nicht bewusstlos gewesen sein. Mit zitternden Fingern löst Sandra den Sicherheitsgurt, Luft strömt in ihre Lunge, der Druck lässt nach. Durch die zerbrochene Scheibe des Beifahrerfensters ist nichts zu sehen als dunkle Nacht. Und Schnee. Links von ihr die Bergwand. Sie muss sich noch auf der Straße befinden. Die Fahrertür lässt sich erst öffnen, als Sandra sich mit beiden Beinen dagegenstemmt, und auch dann nur zwei Handbreit. Sie zwängt sich aus dem Wagen, besser gesagt aus dem, was einmal ihr Wagen gewesen ist. Ihre Beine können ihr Gewicht kaum tragen, die Straße beginnt erneut, sich zu drehen. Sie schmeckt Magensäure und sinkt neben dem Auto auf die Knie. Denk an etwas Schönes, sagt sie sich. Dann denkt sie an Anwar und erbricht sich in den Schnee.

Nach wenigen Minuten ist ihr so kalt, dass sie ihre Hände und Füße nicht mehr spürt, doch der Schwindel hat nachgelassen.

Aufstehen, Krone richten, weitermachen. Der Wagen hängt in der Leitplanke, die Motorhaube ist eingedrückt. Eigentlich gibt es nichts mehr an ihm, das nicht eingedrückt ist. Ein Baum hat den Absturz verhindert. Der einzige Baum im Umkreis von … zweihundert Metern? Sie bleibt wackelig neben dem Auto stehen und betrachtet den Schaden, dann bemerkt sie die zerborstene Leitplanke einige Meter weiter, die Reifenspuren, die an der Kante enden. Sie tritt an den Fahrbahnrand und sieht den Wagen am Fuß des Abhangs im Schnee liegen. Den hat kein Baum gestoppt.

»Hallo!« Sie starrt ins Schneegestöber. Das Stöhnen des Windes bleibt die einzige Antwort. Sie tastet ihre Taschen ab. Wo zum Teufel ist ihr Smartphone? Vermutlich irgendwo im Wagen. Hat sie es überhaupt mitgenommen, als sie von der Hütte aufgebrochen ist? Im Grunde egal, Empfang gibt es hier oben ohnehin keinen. Und zu warten, bringt ebenso wenig. Seit vor zwei Jahren der Tunnel freigegeben wurde, benutzt kaum noch jemand die alte Serpentinenstraße. Schon gar nicht mitten in der Nacht und bei diesem Wetter. Sie muss in Bewegung bleiben. Tod durch Erfrieren – nicht nach allem, was sie hinter sich hat.

Der Weg den Abhang hinab ist mühsam, der Schnee reicht ihr bis zu den Knien, darunter loses Geröll und Eis. Sie stolpert die Schräge hinunter, Steine rutschen unter ihren Sohlen weg. Immer wieder verliert sie den Halt, zweimal findet sie sich kopfüber im Schnee wieder. Ihre Finger sind starr vor Kälte, ihre Füße taub, doch das Adrenalin pumpt weiter durch den Körper, lässt ihr Herz rasen und versorgt sie mit Wärme. Es rauscht in ihren Ohren, als sie endlich den Wagen erreicht. Halb von Schnee bedeckt liegt er in der Senke. Die eisige Nachtluft brennt in ihren Bronchien. Aus dem Wagen dringt kein Lebenszeichen. Der Sturm hat sich gelegt, die Stille, die er hinterlässt, ist lauter als sein Heulen. Der Mond kommt hinter einer Wolke hervor. Langsam streckt sie die Hand nach dem Türgriff aus.

Während des Abstiegs hat sie versucht, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Als sich die Fahrertür öffnet, weicht sie dennoch zurück. Notdürftig vom Gurt gehalten, hängt ein Mann auf dem Sitz. Dem Airbag ist inzwischen die Luft ausgegangen. Der einst beigefarbene Mantel schimmert an den Schultern dunkelrot. Sein Gesicht ist unnatürlich farblos, und daran ist nicht nur das fahle Mondlicht schuld. Sandras Blick wandert über blutverschmierte Haare und ein Ohr, das sonderbar verrutscht aussieht. Sie beugt sich vor, dann sieht sie etwas Helles zwischen dem Braun, wundert sich, wie lange sie braucht, um zu begreifen, was sie da sieht. Aus einem Brei aus Haaren, Blut und Hirnmasse ragt ein Stück Knochen hervor – die Türstrebe hat dem Mann den Schädel gespalten.

Sandra klammert sich an den Türrahmen, als der Mann plötzlich die Augen aufschlägt.

»Ich habe doch gesagt, wir haben das nicht zu entscheiden.« Er lallt wie ein Betrunkener, sein Blick irrt umher, als suchte er nach einem Halt. Ein seltsames Gurgeln dringt aus seiner Brust. »Wir haben das nicht in der Hand. Den Anfang nicht. Und schon gar nicht das Ende.« Er muss husten, während er das sagt. Ein Schwall Blut quillt zwischen den Zähnen hervor, ergießt sich über Kinn und Hals und versickert im Stoff des Mantelkragens.

»Bringen Sie sie weg von hier«, sagt er und versucht, in Sandras Richtung zu greifen. Seine Hand hebt sich nur wenige Zentimeter, dann fällt sie in den Schoß zurück.

Sandra ist zu keiner Regung in der Lage.

»Weg!« Es ist mehr ein Keuchen als ein Wort, dann sackt er in sich zusammen, und sein Blick verliert sich.

*

Dass Sandra überhaupt atmet, empfindet sie als sonderbar. Noch immer steht sie halb über den Fahrer gebeugt neben dem Wagen. Die Schmerzen in ihren Fingern und Füßen lassen sie wieder zu sich kommen. Sie durchsucht den Mantel des Mannes. Weder Handy noch Portemonnaie, nur ein Parkschein, ein zerdrücktes Päckchen Kaugummi und ein Umschlag, mehr ist in den Taschen nicht zu finden. Als sie sich über den Toten hinweg zum Handschuhfach beugt, hört sie plötzlich eine Stimme: »Was ist mit Papa?«

Ihr Kopf fährt herum. Aus dem Fond blicken ihr zwei angstgeweitete Kinderaugen entgegen.

Zwei

Wie in Zeitlupe tritt sie vom Wagen zurück, zählt die Schritte, die Atemzüge, während sie um das Auto herumgeht. Zählen hat schon immer geholfen, Zählen beruhigt. Die nächtlichen Gebirgszüge kommen ihr kulissenhaft vor. Alles scheint unecht.

Doch das Mädchen ist da. Stocksteif, mit einer blauen Pudelmütze über den dunklen Locken sitzt es da und starrt aus dem Fenster.

»Ich bin Sandra«, sagt Sandra und wundert sich über den fremden Klang der eigenen Stimme.

Keine Reaktion.

»Dein Papa …« Sandra bricht ab. Sie ist Hotelfachwirtin, keine Psychologin. Wenn ihre Mutter hier wäre – die hat Erfahrung im Überbringen schlechter Nachrichten. Das Mädchen wendet sich ihr zu. Mit seinen großen, dunklen Augen sieht es wie eine Figur aus einem Manga-Comic aus. Sandra unternimmt einen erneuten Versuch: »Wir – also dein Papa und ich –, wir hatten einen Unfall. Oben auf der Straße.«

»Ich weiß«, sagt das Mädchen.

Sandra nickt. »Hast du Schmerzen?«

Das Mädchen macht ein Gesicht, als wisse es das nicht.

»Sagst du mir, wie du heißt?«

»Mia.«

»Gut, Mia, ich mach jetzt mal deinen Gurt ab, und dann versuchst du auszusteigen, in Ordnung?«

Das Mädchen sieht sie an. Wieder dieser Blick.

»Ist Papa tot?«

Sandra sucht nach Worten, einer Formulierung, einer Idee. Am Ende bleibt ihr nichts, als zu nicken.

Das Kind mustert sie ausdruckslos. »Warum ist er tot und du nicht?«

»Mein Wagen ist oben auf der Straße geblieben, eurer nicht.«

Eine Weile schweigen sie, dann fragt Sandra: »Glaubst du, du kannst jetzt aussteigen?«

Das Mädchen drückt sich mit der rechten Hand vom Kindersitz ab. Der Winkel, in dem ihr Zeige- und ihr Mittelfinger von der Hand abstehen, sieht alles andere als gesund aus. Auch Mia scheint das zu bemerken. Sie hält in der Bewegung inne und betrachtet die eigene Hand. »Vorher war das nicht.«

»Das muss weh tun«, sagt Sandra und will sich gar nicht vorstellen wie sehr. Die Finger sind ausgekugelt, wenn nicht gebrochen.

Doch Mia schüttelt den Kopf. »Nicht so schlimm«, meint sie, während Sandra ihr beim Aussteigen hilft. »Wohin gehen wir?«

Gute Frage, denkt Sandra, nimmt ihren Schal und wickelt ihn dem Mädchen um den Hals. Bis auf den Schock und die gebrochenen Finger scheint die Kleine unversehrt zu sein. Den Abhang zur Straße hoch werden sie trotzdem nicht schaffen. Außerdem hat Sandras Peugeot, eingekeilt zwischen Baum und Leitplanke, nicht den Anschein gemacht, als würde er sie jemals wieder irgendwo hinbringen. Der Weg bis zum nächsten Dorf ist viel zu weit. Hier bleiben können sie auf keinen Fall. Mias Mantel ist bestimmt teuer gewesen, sonderlich warm sieht er jedoch nicht aus. Wie lange werden sie durchhalten bei minus sechs Grad, mitten in der Nacht? Drei Stunden, vielleicht vier?

Sandra spürt, wie Mias Blick den ihren sucht, und sieht ausweichend über die glitzernde Fläche zum Wald hinüber. Letzten Sommer – oder vorletzten? – haben Anwar und sie nicht weit von hier ein Picknick gemacht. Fruchtsalat und Prosecco. Der Fruchtsalat ist unangetastet geblieben, den Prosecco haben sie geleert, Stunden später, Arm in Arm, während die Augustsonne ihre Haut verbrannt hat. Sie sieht ihn vor sich, sein stolzes Lächeln, als er ihr die neue Mikrofaser-Picknickdecke präsentierte. Die statische Aufladung hatte er beim Kauf nicht bedacht. Immer wieder wurden ihre nackten Körper unter Strom gesetzt. Wie ein Kind hatte er gequietscht und geschrien, und Sandra hatte gelacht, bis ihr die Tränen kamen. Wie kostbar ihr diese gestohlenen Momente damals erschienen sind und wie sinnlos heute. Sinnlos und eine Ewigkeit her.

»Ich weiß, wo wir hingehen«, sagt sie.

Mia scheint sie nicht gehört zu haben. Sandra folgt ihrem Blick zum vorderen Teil des Wagens. Schnee bedeckt die eingedrückte Windschutzscheibe, verbirgt das Grauen dahinter. Sie berührt Mia am Arm.

»Er wollte, dass ich dich in Sicherheit bringe.«

»Das hat er mir auch gesagt.« Nun zeigen sich erstmals Tränen in den Augen des Mädchens. »Du bist das Wichtigste, hat er gesagt.«

Sandra nimmt die unverletzte Hand der Kleinen und zieht sie sanft mit sich. »Komm.«

Mia wischt sich die Nase am Ärmel ihrer Jacke ab, setzt sich zögerlich in Bewegung. Nach ein paar Schritten bleibt sie noch einmal stehen, glänzende Tränen auf den Wangen. »Papa«, sagt sie mit leiser Stimme, »wir gehen jetzt.« Dann schließen sich die kleinen Finger um Sandras Hand.

*

Der Schneefall hat wieder eingesetzt. Sandra geht vor Mia her, versucht, ihr einen Weg durch den Schnee zu bahnen. Wann immer der Mond zwischen den Wolken hervortritt, blickt sie suchend die Berge hinauf, meint den einen oder anderen Felsen wiederzuerkennen, ansonsten stolpert sie durch die Dunkelheit. Zweimal glaubt sie, sich verlaufen zu haben. Immer wieder dreht sie sich um, aus Angst, Mia könnte in der Dunkelheit gestürzt und verlorengegangen sein. Doch wann immer sie den Kopf wendet, sieht sie in die wachsamen, großen Augen des Mädchens.

»Wohin wolltet ihr denn?«

»Weiß nicht«, hört sie Mias Stimme. »Papa hat nur gesagt, dass wir uns beeilen müssen.«

Das hat man gemerkt, denkt Sandra und erinnert sich, wie die blaue Limousine aus dem Waldweg auf sie zugeschossen kam.

»Wo wohnt ihr denn?« Sandra bemüht sich, das Gespräch am Laufen zu halten. In den Mulden und Senken versinkt sie bis zu den Oberschenkeln im Schnee.

»Mia?« Sie dreht sich um. Der Weg hinter ihr ist verwaist, das Mädchen nirgends zu sehen. »Verdammt!«

Sie bahnt sich den Weg zurück, eine eisige Böe schlägt ihr entgegen, das Schneegestöber nimmt ihr die Sicht. Sie rutscht weg, läuft weiter, sieht die dunkle Gestalt am Boden kauern.

»Mensch, Mia!« Sie hört das Würgen und ändert ihre Tonlage. »Alles in Ordnung. Das geht vorbei.« Sie kniet sich hinter das Mädchen und hält den schmalen Körper, der sich immer wieder aufbäumt, bis nichts mehr kommt als galliger Schleim.

»Entschuldigung.« Mia schwankt beim Aufstehen, wischt sich über den Mund. Ihre Bewegungen wirken mit einem Mal langsam und ungelenk. Es wird Zeit, dass sie die verdammte Hütte erreichen.

»Komm«, sagt Sandra, »ich nehme dich huckepack.«

Schon nach wenigen Metern keucht Sandra schwer. »So ein Fliegengewicht bist du gar nicht«, stellt sie fest, als Mia ihr von hinten plötzlich die Hand auf den Mund legt.

»Wölfe«, flüstert sie.

Sandra richtet sich so abrupt auf, dass Mia von ihrem Rücken in den Schnee rutscht. »Wo?«

Sandra hat in der Zeitung gelesen, dass aus Tschechien zugewanderte Wölfe in der Region gesichtet wurden, in all den Monaten hat sie aber nie welche gesehen. In den Nachrichten wurde zwar betont, dass Wölfe Menschen normalerweise aus dem Weg gehen, aber was ist in ihrer Situation schon normal?

Sie starrt in die Dunkelheit. Rechts von ihr Wald, links eine schneebedeckte Weide, im Hintergrund die Appenzeller Alpen.

»Ich sehe keine Wölfe«, flüstert Sandra und schaut Mia an, die mit zusammengekniffenen Augen und schiefgelegtem Kopf in Richtung des Waldes blickt.

»Sie kommen.«

»Als ich in deinem Alter war, dachte ich auch immer …« Sandra sieht eine Bewegung zwischen den Bäumen. »Scheiße.«

Sie packt Mias Hand, stellt sich instinktiv vor sie. Der Wolf tritt aus dem Dickicht, seine Gestalt setzt sich gegen das Dunkel der Stämme ab. Hoch aufgerichtet steht er da, den Blick auf sie gerichtet. Er ist groß. Sehr groß.

»Ganz ruhig«, sagt Sandra mehr zu sich selbst als zu Mia, die sich ohnehin nicht bewegt.

»Sie beobachten uns schon länger. Sie wissen, dass wir da sind.«

»Sie?«

In diesem Moment kommt ein zweiter Wolf zwischen den Bäumen hervor. Seite an Seite stehen ihnen die beiden gegenüber. Sandra bricht kalter Schweiß aus. Die Sekunden verstreichen. Sobald sie ihr Gewicht auch nur ein klein wenig verlagert, knirscht der Schnee unter ihren Sohlen. Endlich wendet sich der größere der beiden Wölfe ab. Der zweite sieht noch eine Weile zu ihnen herüber, dann verschwindet auch er langsam im Dunkel des Waldes.

»Sie gehen weiter«, hört Sandra die Stimme des Mädchens.

Sie mustert Mia, die blass, aber gefasst neben ihr steht. »Kannst du laufen?«

Das Mädchen nickt.

»Dann nichts wie weg!«

*

»Warte, ich helfe dir.« Sandra geht vor Mia auf die Knie, löst mit gefühllosen Fingern die vereisten Knoten ihrer Schnürsenkel und zieht ihr die Winterstiefel von den Füßen. Zum Vorschein kommen rosa Söckchen mit tanzenden Pinguinen.

»Setz dich aufs Sofa«, sagt sie mit einem Blick auf die bläulich verfärbten Lippen des Kindes. »Neben dem Kamin liegen ein paar Decken.«

»Gehst du weg?«

Sandra dreht sich um. »Ich hole nur etwas Holz aus dem Schuppen. Bin sofort wieder da.«

»Ist gut«, murmelt das Mädchen unter einer Decke hervor. »Aber du musst keine Angst haben. Die Wölfe sind nicht mehr da. Außerdem tun die nichts.«

Wenigstens eine von uns beiden, die keine Angst hat, denkt Sandra und tritt ein weiteres Mal in die Kälte hinaus.

Schritt für Schritt tasten sich ihre Füße durch das Dunkel des Schuppens – bis ihre Fingerspitzen den Holzstapel berühren. Anwar hat vorgesorgt, Holz haben sie mehr als genug. Sie klemmt sich vier Scheite unter den Arm. Im Vorsorgen war er schon immer spitze. Vorsichtig öffnet sie die Tür des Schuppens. Kein Wolf, kein Geräusch, nichts als weißer Schnee in der Dunkelheit. Mit schnellen Schritten läuft sie zur Hütte zurück.

Mia blickt unter einem Berg aus Wolldecken hervor. In der Hütte hängt noch der Geruch von Anwars Rasierwasser, sein Brillenetui und sein Feuerzeug hat er auf der Kommode vergessen. In der Spüle steht sein Weinglas. Ansonsten ist alles ordentlich und sauber wie immer. Die Wanderführer und Landkarten im Regal stehen in Reih und Glied, auf den Holzdielen findet sich kein Staubkorn, die Beschläge an Türen und Fenstern glänzen. Anwars Sauberkeitswahn war ihr von Anfang an suspekt gewesen. Nie wieder, hat sie sich gesagt, nie wieder würde sie einen Fuß in diese Hütte setzen. Und jetzt ist sogar noch Glut im Kamin.

»Schon wärmer?« Sandra legt Holzscheite ins Feuer.

Mia nickt. Sie hat tiefe Ringe unter den Augen.

»Ich mach uns Tee.«

Während das Wasser zu sieden beginnt, zieht Sandra ihren nassen Pullover aus, rückt die Stühle ans Feuer und breitet darauf Mias und ihre Kleidung aus. Mias Stiefel stellt sie neben ihre eigenen vor den Kamin.

Als sie mit zwei Bechern dampfenden Tees zurückkommt, ist Mia eingeschlafen. Zusammengerollt wie ein Welpe liegt das Mädchen unter einem Berg aus Decken. Noch im Schlaf sind ihr die Strapazen anzusehen.

Drei

Sandra hat es sich auf dem Sessel bequem gemacht, als ein Geräusch sie die Augen öffnen lässt. Mia sitzt aufrecht auf dem Sofa.

»Mia?«

Das Mädchen blickt wie durch sie hindurch, das Gesicht aschfahl.

»Du bist in Sicherheit. Keine Angst.« Sandra erhebt sich vom Sessel und macht einen Schritt auf das Sofa zu, als Mia plötzlich die Decken zurückschlägt. Ihr Blick irrt durch den Raum.

»Ich bin hier.«

Ihre Blicke treffen sich, dann springt das Mädchen auf und rennt zur Küchenzeile hinüber. In buchstäblich letzter Sekunde schafft sie es zur Spüle und erbricht sich ins Becken.

Es scheint kein Ende zu nehmen. Fünf weitere Male muss sich Mia übergeben, fünf Mal wischt ihr Sandra Tränen und Speichel aus dem Gesicht, hält ihren Körper, der sich wieder und wieder über den Eimer für die Kaminasche krümmt. Dann geht sie nach draußen, wo sie den Eimer leert, ihn mit Schnee säubert, um ihn erneut neben das Sofa zu stellen. Innerhalb weniger Stunden wirkt Mia um Jahre gealtert. Tiefe Schatten liegen unter ihren Augen, an Hals und Gesicht haben sich rote Flecken gebildet, ihr Blick ist trüb vor Müdigkeit. Sobald sie sich vorbeugt, bohren sich die Wirbel ihres Rückgrats durch die Haut. Sie hat kaum genug Kraft, ihr durchnässtes T-Shirt gegen einen von Anwars Pullovern zu tauschen.

Über dem Bergkamm zieht bereits die Dämmerung herauf, als sie Sandra um ihre Jacke bittet.

»Die ist aber noch nicht ganz trocken.«

»Egal.« Mit fahrigen Bewegungen sucht das Mädchen die Taschen ab, nestelt am Reißverschluss der Innentasche.

»Gib mal her.« Sandra nimmt ihr die Jacke ab und ertastet in der Innentasche einen rechteckigen Gegenstand. Sie zieht eine kleine weiße Dose hervor. »Hast du das gesucht?«

Mia nickt, nimmt ihr die Dose ab und schiebt den Deckel zurück. »Ich hab das öfter. Wenn es schlimm wird, soll ich eine davon nehmen. Im Notfall zwei.«

Fragend betrachtet Sandra die kleinen gelben Tabletten im Innern der Dose.

»Ist mein Medikament«, erklärt Mia.

»Und wogegen ist das?«

»Weiß nicht. Vom Professor.«

»Ist das dein Hausarzt?«

»Das ist der Arzt im Institut. Da muss ich öfter hin. Immer, wenn mir so schlecht wird.«

Sie schiebt sich eine Tablette in den Mund. Sandra reicht ihr die Tasse mit dem abgekühlten Tee. »Hier.«

Mia trinkt mit angewidertem Gesicht, dann rollt sie sich auf dem Sofa zusammen.

»Und weshalb wird dir schlecht?«

Mia legt die Stirn in Falten und öffnet langsam den Mund. Doch bevor sie etwas sagen kann, schläft sie ein. Sandra bleibt noch einen Moment bei ihr sitzen, fühlt ihre Stirn. Keine Ahnung, was ihr das sagt. Sie hat einfach keinerlei Erfahrung mit Kindern. Langsam erhebt sie sich und geht zu dem Küchenschrank hinüber, von dem sie weiß, dass noch mindestens eine Flasche Wein darin lagert. Ich kann das nicht, denkt sie. Ich bin die Falsche für so etwas.

Während sie mit einem Glas Rotwein in der Hand an den Kamin zurückkehrt, muss sie an ihre Großmutter denken. Die alte Dame hatte oft an Sandras Bett gewacht. Auch damals, als sie wegen Scharlach zu Hause bleiben musste und nicht mit ins Ferienlager durfte. »Du hast allen Grund, traurig zu sein«, hatte sie Sandra gesagt. »Aber wenn du mal groß bist, wirst du sehen, dass alles im Leben seinen Sinn hat.« Das war ihr Lieblingsspruch. Oma Gerda war eine einfache, aber kluge Frau und für Sandra mehr Mutter, als es ihre eigene jemals hätte sein können. Ihr Mantra hat sie damals trotzdem nicht verstanden, mehr noch: Sie erinnert sich, wie wütend sie wurde. Wenige Tage danach lernte sie ihre spätere beste Freundin Marie kennen, die ein paar Häuser weiter mit ihren Eltern Freunde besuchte.

Sandra tritt ans Fenster. Draußen ist es still, der Wind hat sich gelegt. Die Dämmerung taucht den Morgen in zartes Rosa, pastellfarbene Schneedünen vor dem Fenster, darüber silbrig-blau die Berge. Eine Fototapete könnte nicht kitschiger sein. Fröstelnd schlingt sie die Arme um den Körper. Es ist nur noch wenig Glut im Kamin. Auf dem Sofa ein Wirrwarr dunkler Locken und ein Stück Pinguin-Socke, das unter den Decken hervorlugt. Sandras Blick wandert weiter, über Mias zum Trocknen aufgehängte Anziehsachen, ihre kleinen Stiefel neben dem Feuer, die Tassen auf dem Tisch. Wie anders der Ort plötzlich wirkt.

Am Sofa vorbei geht sie zum Kamin und legt Holz nach. In ihren Schläfen pulsiert das Blut. Beim Herunterbeugen fährt ihr ein dumpfer Schmerz in den Rücken. Auf dem Sofa dreht sich Mia seufzend zur Seite, die Augen geschlossen, murmelt sie ein paar unverständliche Worte.

Sandra wickelt sich in eine Decke und nimmt wieder auf dem Sessel Platz. In Mias Leben, denkt sie, während sie die Augen schließt, wird es niemals den Moment geben, in dem die Ereignisse der heutigen Nacht einen tieferen Sinn ergeben.

*

»Sandra?«

Eine leise Kinderstimme dringt an ihr Ohr. Vorsichtig öffnet Sandra die Augen, schließt sie aber gleich wieder. Blendendes Sonnenlicht flutet den Raum. Sie spürt ein Zupfen am Ärmel, erst vorsichtig, dann rabiater. Irgendwann wird ihr die Decke weggezogen.

»Wie lange willst du denn noch schlafen?«

Mia ist kaum wiederzuerkennen. Barfuß und in Anwars weitem Pullover steht sie vor ihr, die Decke in der linken Hand.

»Kennst du Momo?«, fragt Sandra und streckt sich. Die Bewegungen schmerzen, aber das Pochen in den Schläfen hat aufgehört. Mia runzelt die Stirn, dann schüttelt sie den Kopf.

»Das ist ein Mädchen aus einer Geschichte. Sie sieht ein bisschen aus wie du.«

»Was für eine Geschichte?«

Während Sandra ihren noch immer klammen Pullover über die Bluse zieht, versucht sie, sich zu erinnern. Es ist lange her, dass sie das Buch gelesen hat.

»Es ist die Geschichte eines sehr mutigen, kleinen Mädchens, das zusammen mit einer Schildkröte gegen eine Gruppe böser Männer kämpft. Sie nennen sich die grauen Herren.« Sie geht zur Küchenzeile hinüber. Mia trottet hinter ihr her wie ein Entenjunges.

»Und was machen die?«

»Das erzähle ich dir ein anderes Mal.« Sandra inspiziert den Inhalt der Schränke.

»Warum nicht jetzt?«

Sandra muss lachen. »Weil ich mich jetzt um unser Frühstück kümmere.«

Unschlüssig tritt Mia von einem Fuß auf den anderen. »Und was mache ich?«

»Du ziehst dir Socken an!«

*

»Uuuargh – Spargelcremesuppe?« Mia rührt in ihrem Becher. »Glaubst du, man kann da Kekse reintunken?«

»Du kannst es ja ausprobieren.« Sandra betrachtet besorgt Mias Hand. Die beiden abstehenden Finger sind dick angeschwollen und violett verfärbt.

Dem Mädchen scheint es wenig auszumachen. Neugierig taucht es einen Schokoladenkeks in die Suppe, beißt ab und verzieht das Gesicht. »Voll eklig!« Angewidert legt es den Keks neben ihren Teller. »Mama tunkt manchmal Kekse in ihren Kaffee. Das schmeckt noch schlimmer.«

»Wie heißt deine Mama?«, fragt Sandra und nippt an ihrem Becher. Nie zuvor hat ihr Instant-Kaffee so gut geschmeckt.

»Corinne«, nuschelt Mia mit vollem Mund. Sie ist dazu übergegangen, abwechselnd Kekse zu essen und Suppe zu löffeln. »Aber eigentlich ist sie nicht meine richtige Mama. Die hat Karin geheißen. Und mein richtiger Papa Raimund.« Sie angelt sich einen weiteren Keks aus der Packung. Von der nächtlichen Übelkeit ist nichts mehr zu merken. »Karin und Raimund sind gestorben. Deshalb lebe ich bei Corinne und Urs. Die sind jetzt meine Mama und mein Papa.« Sie betrachtet eine Weile den Keks in ihrer Hand, dann legt sie ihn in die Packung zurück. »Und jetzt ist Urs auch tot.«

In der letzten halben Stunde konnte man den Eindruck haben, Mia hätte die Erlebnisse des Vortages erfolgreich verdrängt, doch nun rinnen erste Tränen über ihr Gesicht.

»Mein Vater ist auch gestorben«, sagt Sandra. »Da war ich zwar älter als du jetzt, aber ich weiß, wie es sich anfühlt.«

Mia hebt den Blick. Eine Träne tropft in die Spargelcremesuppe. »Hat er auch einen Unfall gehabt?«

»Nein, er war sehr krank«, antwortet Sandra und verzichtet darauf, einer Neunjährigen zu erklären, was es bedeutet, an metastasiertem Darmkrebs zu sterben. Fast zwei Jahre lang hatte ihr Vater um jeden weiteren Tag gekämpft, bis zuletzt. Er war qualvoll verstorben, sein Tod hatte sich über Tage hingezogen. Bis zum Schluss hatte er Schmerzmittel verweigert. »Wenn ich schon gehen muss, dann bei klarem Verstand«, hatte er gesagt. Er hätte es besser wissen sollen, schließlich war er selbst Arzt gewesen. Am Ende hatte ihre Mutter ihm die Medikamente heimlich über die Magensonde verabreicht.

»Glaubst du, ich muss auch bald sterben?« Mias Stimme holt sie in die Gegenwart zurück.

»Wie kommst du denn darauf?«

Mia schiebt den Teller von sich weg. »Ich bin doch auch krank.«

Über den Tisch hinweg streicht Sandra ihr über die unverletzte Hand. »Hattest du mal Windpocken? Oder Masern? Oder Scharlach oder so etwas?«

»Weiß nicht.«

»Aber erkältet warst du schon mal, oder?«

Mia nickt.

»Siehst du. Wenn man erkältet ist, bekommt man Schnupfen und Husten, und manchmal ist einem schlecht, so wie dir gestern. Das ist normal, wenn man krank ist. Dann fühlt man sich ein paar Tage nicht gut, und dann ist man wieder gesund. Ich bin sicher, bei dir wird es genauso sein.«

»Und warum machen die dann so viele Untersuchungen? Dauernd muss ich ins Institut. Dann nehmen die mein Blut. Oder ich muss in so eine Maschine, in der es ganz laut ist.« Sie nimmt den Löffel und beginnt mit der Rückseite auf den Tisch zu klopfen. Tack und noch mal tack und noch mal. Der Rhythmus wird schneller. Sie schluchzt. Tack. Tack. Tack.

Sandra nickt. »Ist gut, Mia«, sagt sie.

Doch Mia hört nicht auf. Tacktacktacktacktack! Den Löffel in der linken Hand, schlägt sie in rasender Geschwindigkeit auf den Tisch ein, die Wucht lässt die Löffel in den Bechern zittern, hinterlässt Abdrücke im Holz.

Sandra legt ihre Hand auf die des Kindes. »Ich weiß, was du meinst. Vor ein paar Jahren musste ich da auch mal rein.«

Mias Schluchzen ist in ein Wimmern übergegangen. Sandra spürt, wie sich die verkrampfte Hand des Mädchens unter ihren Fingern löst.

»Es ist furchtbar in dieser Maschine, das stimmt. Aber ich lebe immer noch, siehst du.«

Mia sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Woher willst du denn wissen, dass du nicht längst tot bist?«

Sandra übergeht den plötzlichen Druck auf der Brust und fordert Mia auf, ihr in den Arm zu kneifen. Mia tut es, wenn auch sehr zaghaft. Sandra schreit so laut sie kann. Sofort zieht das Mädchen die Hand weg.

»Siehst du? Tote zu kneifen bringt nichts. Denen tut das nicht weh.«

Mia wirkt nicht überzeugt.

Sandra überlegt, dann fragt sie: »Glaubst du, Tote sind kitzelig?«

Im nächsten Moment jagen die beiden durch den Raum, über Stühle und Tische hinweg, bis Mia auf dem Sofa liegt, sich windet und strampelt, die Arme und Beine in der Luft, während Sandra ihr die Finger in die kleinen Rippen und Fußsohlen piekt und erleichtert beobachtet, wie das Lächeln auf Mias Gesicht zurückkehrt.

Vier

Vor der Tür empfängt sie strahlender Sonnenschein. Alles um sie herum glitzert und glänzt. Eine vom Schnee schwer beladene Tanne verbeugt sich zum Morgengruß, und zwei Lerchen trällern ihre Lieder. Eins von Anwars Hemden sowie ihren Pullover hat sie Mia unter ihren Mantel ziehen lassen, die nun vor ihr durch den Schnee hüpft wie ein junger Hund, den man seit Tagen das erste Mal von der Leine gelassen hat.

Der Weg zur Straße zurück würde am Unglücksort vorbeiführen. Nach den Strapazen der Nacht will sie Mia das unbedingt ersparen. Also bleibt ihnen nur die Wetterstation. Anfangs zweifelt Sandra, ob Mia den Aufstieg bewältigen wird, bald aber belehrt sie die Ausdauer des Mädchens eines Besseren.

»Du brauchst wohl nie eine Pause«, ruft sie kopfschüttelnd.

»Nur, wenn ich krank bin. So wie gestern«, antwortet Mia und klettert über einen umgestürzten Baumstamm.

»Sport ist sicher dein Lieblingsfach, oder?«