Mächte und Throne - Dan Jones - E-Book

Mächte und Throne E-Book

Dan Jones

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Beschreibung

Als das einst mächtige Römische Reich zerfiel und neue, «barbarische» Herrscher an die Macht kamen, begann im Westen Eurasiens eine tausendjährige Phase der Transformation. Dan Jones schlägt souverän Schneisen durch die ferne Welt der Könige und Königinnen, Päpste, Bauern, Mönche und Kreuzfahrer, Kaufleute, Künstler und Gelehrten. Sein fesselndes Buch verdichtet die Geschichte des Mittelalters in all ihrer Komplexität und auf dem neuesten Forschungsstand zu einer großen epischen Erzählung: ein Meisterwerk. Das Mittelalter ist von Augustin und Attila über den Propheten Mohammed, Dschingis Khan und Eleonore von Aquitanien bis hin zu Kolumbus und Luther mit großen Namen verbunden, aber es wurde mindestens ebenso stark von anonymen Kräften geformt, die uns bis heute beschäftigen: Veränderungen des Klimas, Seuchen, Vertreibungen und Migrationen, technologischen Revolutionen und Entdeckungen. Es war die Zeit, in der die großen Nationen entstanden, Grundsätze des Rechts und der Regierung kodifiziert wurden, die Kirchen als politische und moralische Machtfaktoren auftrumpften und Kunst, Architektur, Philosophie und Wissenschaften neu erfunden wurden. Dan Jones erzählt mit klarem Blick für das Wesentliche und mit Sinn für das vielsagende Detail, wie sich die Veränderungen mal still und leise, mal laut und gewaltsam vollzogen, und wirft so neues Licht auch auf den großen Umbruch, den wir heute erleben.

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Jones, Dan: Mächte und Throne

Dan Jones

Mächte und Throne

Eine neue Geschichte des Mittelalters

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer

C.H.Beck

Zum Buch

Als das einst mächtige Römische Reich zerfiel und neue, «barbarische» Herrscher an die Macht kamen, begann im Westen Eurasiens eine tausendjährige Phase der Transformation. Dan Jones schlägt souverän Schneisen durch die ferne Welt der Könige und Königinnen, Päpste, Bauern, Mönche und Kreuzfahrer, Kaufleute, Künstler und Gelehrten. Sein fesselndes Buch verdichtet die Geschichte des Mittelalters in all ihrer Komplexität und auf dem neuesten Forschungsstand zu einer großen epischen Erzählung.

Das Mittelalter ist von Augustin und Attila über den Propheten Mohammed, Dschingis Khan und Eleonore von Aquitanien bis hin zu Kolumbus und Luther mit großen Namen verbunden, aber es wurde mindestens ebenso stark von anonymen Kräften geformt, die uns bis heute beschäftigen: Veränderungen des Klimas, Seuchen, Vertreibungen und Migrationen, technologischen Revolutionen und Entdeckungen. Es war die Zeit, in der die großen Nationen entstanden, Grundsätze des Rechts und der Regierung kodifiziert wurden, die Kirchen als politische und moralische Machtfaktoren auftrumpften und Kunst, Architektur, Philosophie und Wissenschaften neu erfunden wurden. Dan Jones erzählt mit klarem Blick für das Wesentliche und mit Sinn für das vielsagende Detail, wie sich die Veränderungen mal still und leise, mal laut und gewaltsam vollzogen, und wirft so neues Licht auf den großen Umbruch, der unser Leben bis heute prägt.

Über den Autor

Dan Jones, Historiker und Journalist, wurde in Großbritannien und den USA durch historische Bestseller und Fernsehdokumentationen zur Geschichte der Frühen Neuzeit und des Mittelalters bekannt. Bei C.H. Beck erschienen von ihm «Die Templer. Aufstieg und Untergang von Gottes heiligen Kriegern» (2019) sowie «Kampf der Könige. Das Haus Plantagenet und das blutige Spiel um Englands Thron» (Paperback, 2023).

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

ERSTER TEIL: Imperium – Ca. 410 bis 750

1. Römer

Klima und Eroberung

«Wo sie eine Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden»

Bürger und Fremde

Seelen zu verkaufen

Romanisierung

Von vielen Göttern zu einem Gott

Vermächtnis

2. Barbaren

«Der schrecklichste aller Krieger»

Das erste Blutvergießen

Der Sturm kehrt zurück

Ankunft der Tyrannen

Von Attila zu Odoaker

Endspiel

3. Byzantiner

Justinian und Theodora

Gesetze und Häretiker

Aufstände und Erneuerung

Die Vernichtung der Vandalen

«Gottes Prüfung»

Auflösungserscheinungen

Nach Justinian

4. Araber

Die Geburt einer Religion

Die «Rechtgeleiteten Kalifen»

Die Fitna

Die Umayyaden

Die schwarze Flagge wird gehisst

ZWEITER TEIL: Herrschaft – Ca. 750 bis 1215

5. Franken

Merowinger und Karolinger

«Der Vater Europas»

Von Königen zu Kaisern

Das Reich zerbricht

Die Ankunft der Nordmänner

Von den Wikingern zu den Normannen

6. Mönche

Von der Wüste auf den Berg

Auf dem Weg zu einem Goldenen Zeitalter

Wege in den Himmel

Compostela und Cluny III

Neue Puritaner

7. Ritter

Speere und Steigbügel

«El Cid»

Roland und Artus

Spannender als ein Roman

Das Vermächtnis des Rittertums

8. Kreuzfahrer

Urban II.

Der Erste Kreuzzug

Königreich des Himmels

Wiederkehr

«Ein Abscheu erregendes Unternehmen»

Feinde im Innern

Überall Kreuzfahrer

DRITTER TEIL: Wiedergeburt – Ca. 1215 bis 1347

9. Mongolen

Dschingis Khan

Marsch der Khane

Unter den «Tartaren»

Das Reich zerfällt

Der letzte Khan

10. Kaufleute

Ab- und Aufschwung

Aufstieg der Republiken

Weißes Gold

Geld und Macht

«Dick» Whittington

11. Gelehrte

Das Wort Gottes

Übersetzung und Renaissance

Der Aufstieg der Universitäten

«Wokeness» im Mittelalter

12. Baumeister

Die Eroberung von Wales

Festung Europa

Zwischen Himmel und Erde

Lincoln

Vom Turm zur Kuppel

VIERTER TEIL: Revolution – Ca. 1348 bis 1527

13. Überlebende

Eis und Keime

Nach der Flut

Würmer der Erde

Sommer des Blutes

«Weg mit den Verrätern, hinweg mit ihnen!»

14. Erneuerer

Der erste Humanist

The Good, the Bad and the Lovely

Das «Universalgenie»

Ein goldenes Zeitalter

15. Seefahrer

Heilige, Nordmänner und Seefahrer

Christoph Kolumbus

Nach Indien und darüber hinaus

Der vollendete Kreis

16. Protestanten

Der Skandal um den Ablasshandel

Die 95 Thesen

Das Urteil der Könige

«Mörderische und räuberische Rotten»

Der Sacco di Roma

Anhang

Anmerkungen

Einleitung

ERSTER TEIL: Imperium (ca. 410 bis 750)

1. Römer

2. Barbaren

3. Byzantiner

4. Araber

ZWEITER TEIL: Herrschaft (ca. 750 bis 1215)

5. Franken

6. Mönche

7. Ritter

8. Kreuzfahrer

DRITTER TEIL: Wiedergeburt (ca. 1215 bis 1347)

9. Mongolen

10. Kaufleute

11. Gelehrte

12. Baumeister

VIERTER TEIL: Revolution (ca. 1348 bis 1527)

13. Überlebende

14. Erneuerer

15. Seefahrer

16. Protestanten

Literatur

Primärquellen

Sekundärliteratur

Artikel und Dissertationen

Bild- und Kartennachweis

Personenregister

Für Anthony,der an alles denkt

Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: »Sieh, das ist neu«? Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.

PREDIGER SALOMO 1,9–10

Die Plünderung Roms im Jahr 410 n. Chr., dargestellt auf einem Gemälde von Thomas Cole aus dem 19. Jahrhundert. Rom war zwar 410 nicht mehr die Hauptstadt des Römischen Reichs, dennoch symbolisierte die Plünderung der Stadt durch Alarich und die Goten das Ende einer Supermacht.

Kein römischer Kaiser hinterließ dem Mittelalter ein so großes Vermächtnis wie Konstantin der Große (reg. 306–337). Seine Entscheidung, zum Christentum überzutreten, gab dem mittelalterlichen Abendland die dominierende Religion, noch dazu erhielt es mit der Neugründung Konstantinopels eine seiner wichtigsten Städte.

Der im 6. Jahrhundert lebende byzantinische Kaiser Justinian führte eine umfassende Reform des Römischen Rechts durch. Die hier gezeigte Manuskriptseite stammt aus einer Abschrift seiner Digesten, die Ende des 13. Jahrhunderts angefertigt wurde. Der Rechtstext in der Mitte des Blatts ist umgeben von eng geschriebenen Kommentaren, die zeigen, wie intensiv sich Generationen mittelalterlicher Juristen mit dem Römischen Recht auseinandersetzten.

Attila der Hunne (gest. 453) ist einer der berühmtesten Männer in der Geschichte des Abendlandes und kam an die Macht, als das Weströmische Reich zu bröckeln begann. Sein Name wurde zum Synonym für grausame Eroberungen, dabei war er weit mehr als nur ein blutrünstiger Warlord. Dieser Holzschnitt entstand in Deutschland über tausend Jahre nach seinem Tod.

Die beeindruckenden Mosaiken der Basilica di Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna stammen aus der Zeit Theoderichs des Großen, der im frühen 6. Jahrhundert als König der Ostgoten in Italien herrschte. Theoderich war in den Augen der Römer vielleicht ein Barbar, dennoch war er ein bedeutender Herrscher mit Weitblick und einer echt römischen Vorliebe für Kunst und Architektur.

Kaiser Justinian übergibt das Prunkstück seiner Wiederaufbau- und Verschönerungskampagne Konstantinopels, die Hagia Sophia, der Jungfrau Maria und dem Kind. Mosaik am Südwestportal der Hagia Sophia.

Die Hagia Sophia, die seit Kurzem wieder als Moschee genutzt wird, wurde ursprünglich als die größte Kirche im byzantinischen Konstantinopel gebaut. Ihre riesige Kuppel wurde von Justinian nach dem Nika-Aufstand von 532 in Auftrag gegeben, bei dem er fast gestürzt worden wäre und ein Großteil des Stadtzentrums zerstört wurde.

Eine Burlesque-Tänzerin, die Kaiserin von Byzanz wurde: Theodora ist eine der faszinierendsten Personen in der Frühzeit der mittelalterlichen Geschichte. Ihre Ehe mit Justinian war eine Partnerschaft unter Gleichgesinnten, zudem bewahrte ihn Theodora beim Nika-Aufstand vor einer Niederlage. Das Mosaikporträt befindet sich in der Basilica di San Vitale in Ravenna.

Der Felsendom in Jerusalem wurde vom Umayyadenkalifen Abd al-Malik im 7. Jahrhundert erbaut und unter den Osmanen umgestaltet. Er ist einer der ältesten Bauten der Welt mit einem hohen Wiedererkennungswert und ein Symbol für die Pracht- und Machtentfaltung islamischer Herrscher im Mittelalter.

Diese spätmittelalterliche persische Illustration zeigt die Kamelschlacht, die 656 n. Chr. in der Nähe von Basra im heutigen Irak stattfand. Ali, der Cousin des Propheten Mohammed, kämpfte gegen dessen Witwe Aisha, die links oben auf einem Kamel zu sehen ist. Der Ausgang der Schlacht zeigt sich auch heute noch in der Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten.

Karl der Große, wie ihn sich Albrecht Dürer lange nach dessen Tod vorstellte. Er gilt zu Recht als «Vater Europas». Seine Eroberungen, die das heutige Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg und Norditalien vereinten, haben die Träume europäischer Politiker von Napoleon bis zu den Architekten der Europäischen Union beflügelt.

Von der Eisernen Krone der Langobarden, die Karl 774 in seinen Besitz brachte, glaubte man, das Eisenband sei aus einem Nagel vom Kreuz Christi gefertigt worden, doch moderne Analysen haben ergeben, dass das ein Mythos ist.

Diese spätmittelalterliche Buchmalerei zeigt die Schlacht von Roncesvaux im Jahr 778 und den Tod Rolands. Das Rolandslied, das auf einem Feldzug Karls des Großen basiert, machte den titelgebenden Roland zum idealen ritterlichen Helden. Die Sage war eine der beliebtesten Erzählungen des Mittelalters.

Das Große Wikingerheer, das im 9. Jahrhundert in England einfiel, ermordete König Edmund von East Anglia, der später als Heiliger verehrt wurde. Die Legende, dass ihn die Wikinger an einen Baum fesselten und mit Pfeilen beschossen, kündet von der Angst, die Generationen von Menschen im Mittelalter vor den wilden skandinavischen Kriegern hatten.

Eleonore von Aquitanien (1124–1204) heiratet den französischen König Ludwig VII., während bereits ein Schiff wartet, um die beiden zum Zweiten Kreuzzug ins Heilige Land zu bringen. Eleonores Besuch dort war nicht sehr erfolgreich, und bei ihrer Rückkehr nach Europa wurde die Ehe geschieden.

Bernhard von Clairvaux – wie ihn sich der im 16. Jahrhundert lebende Maler El Greco vorstellte. Der Abt, der wenige Jahrzehnte nach seinem Tod heiliggesprochen wurde, war die treibende Kraft für den Aufstieg der Zisterzienser und spielte eine entscheidende Rolle bei der Genehmigung des Papstes zur Gründung des Templerordens im 12. Jahrhundert.

Nur noch ein Bruchteil der burgundischen Klosteranlage, die als Cluny III bezeichnet wird, ist heute noch erhalten. Doch im Hochmittelalter war die Abteikirche eines der höchsten Gebäude in Europa und ein Symbol für den immensen Reichtum und Einfluss des cluniazensischen Ordens.

Ein Eindruck vom opulenten Dekor, das einst Cluny III geschmückt haben muss: Diese Fresken, die von Abt Hugo von Cluny in Auftrag gegeben wurden, wurden Ende des 19. Jahrhunderts in der Chapelle des Moines von Berzé-la-Ville entdeckt. Die cluniazensische Reformbewegung inspirierte zu einigen der größten Kunstwerke und Musikstücke vor der Renaissance.

Die Familie Polo erhält von Kublai Khan, dem obersten Herrscher des Mongolenreichs, eine goldene Tafel. Marco Polo war als Kaufmann und Diplomat ein Wegbereiter für Reisen nach Asien. Sein Reisebericht war eines der bekanntesten Bücher des Mittelalters.

Die Mongolen praktizierten einen mittelalterlichen «totalen Krieg». Als Dschingis Khans Nachfahr Hülegü 1258 Bagdad belagerte, töteten seine Truppen den Abbasiden-Kalifen und warfen so viele unvorstellbar kostbare Manuskripte in den Tigris, dass der Fluss schwarz von Tinte war.

Der im 13. Jahrhundert lebende Kriegsherr Temüdschin, besser bekannt als Dschingis Khan, schuf mit seinen Eroberungen ein mittelalterliches Weltreich. Heute wird er als Nationalheld verehrt: Diese riesige Statue dominiert die Landschaft in der Umgebung von Ulaanbaatar.

William Marshal, 1. Earl of Pembroke, war nach seiner eigenen Einschätzung der größte aller Ritter. Er diente fünf Plantagenet-Königen in England und stürzte sich auch noch mit siebzig ins Schlachtgetümmel. Sein Grabmal befindet sich in der Temple Church in London.

Fliesen des ehemaligen Benediktinerklosters Chertsey Abbey in England zeigen Richard Löwenherz im Turnier mit Saladin während des Dritten Kreuzzugs. Ein derartiger Kampf fand nie statt, doch im Spätmittelalter war die Rivalität zwischen den beiden Herrschern legendär.

Die Sainte-Chapelle in Paris ist eines der atemberaubendsten Bauwerke der gotischen Architektur. Von Ludwig IX. in Auftrag gegeben, um seiner Reliquiensammlung (darunter die Dornenkrone Christi) den passenden Rahmen zu geben, erwecken die riesigen Buntglasfenster und hoch aufragenden Strebepfeiler den Eindruck, man käme von der Erde direkt in den Himmel.

Die Vernichtung des Templerordens fand in Paris im März 1314 mit der Verbrennung Jacques de Molays auf dem Scheiterhaufen ihren traurigen Höhepunkt. Die Illustration stammt aus den Fleurs des chroniques des Dominikaners Bernard Gui (gest. 1331), einer der mächtigsten Inquisitoren des Mittelalters.

Abaelard und Héloïse sind eines der berühmtesten Liebespaare des Mittelalters. Petrus Abaelardus war der größte Gelehrte seiner Zeit, doch seine Affäre mit Héloïse brachte Schande über beide. Abaelard wurde brutal kastriert, Héloïse in ein Nonnenkloster gesteckt.

Richard «Dick» Whittington (geb. um 1350) war ein talentierter Kaufmann und Lord Mayor von London. Sein gesamtes Erbe kam karitativen Zwecken zugute, unter anderem der Guildhall Library, wo ihm zu Ehren diese Statue errichtet wurde.

Nach der Zerstörung im Ersten Weltkrieg originalgetreu wiederaufgebaut, zeugen die Tuchhallen von Ypern vom enormen Reichtum der europäischen Kaufleute im Spätmittelalter – vor allem, wenn sie im englischen Wollhandel aktiv waren.

Caernarfon Castle im Norden von Wales wurde für den englischen König Eduard I. vom großen Master James of St. George errichtet. Die Burg verband den State of the Art im Festungsbau mit Anklängen an die berühmte Theodosianische Mauer von Konstantinopel und sollte die walisischen nationalen Mythen für die englische Krone vereinnahmen.

Die rekonstruierte Grabfigur Eleonores von Kastilien, Königin von England und Frau Eduards I., in der Westminster Abbey. Eleonore starb in der Nähe von Lincoln, daher wurden ihre Eingeweide entfernt und in der dortigen Kathedrale bestattet. Für eine mittelalterliche Kathedrale konnte eine Verbindung zum Königshaus enormen Wert haben, da sie nicht nur royale Unterstützung brachte, sondern auch Touristen zur Finanzierung der Baukosten motivierte.

Eines der berühmtesten Kunstwerke, die vom Schwarzen Tod inspiriert wurden, war das Decamerone, eine Sammlung von Geschichten, die sich eine Gruppe junger Leute erzählt, die vor der Pest aus Florenz geflohen sind. Ihr Autor war Giovanni Boccaccio, der hier mit einer im 19. Jahrhundert entstandenen Statue an der Fassade der Uffizien geehrt wird.

In England lösten Pestwellen, der lange Krieg mit Frankreich und eine überzogene Besteuerung den Bauernaufstand von 1381 aus. Während der Unruhen in London wurden der Erzbischof von Canterbury und der königliche Schatzkanzler getötet. Fast wäre auch die Regierung gestürzt worden.

Der italienische Dichter Petrarca wird oft als der erste Autor der Renaissance bezeichnet. Die Muse für seine Sonette war Laura de Noves. Dieses Porträt ist allerdings erst nach ihrem Tod entstanden, sie starb während der ersten europäischen Pestwelle.

Vier Millionen Ziegelsteine wurden im 15. Jahrhundert beim Bau des Duomo, der Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz, an Ort und Stelle gehievt. Der Bau der Kuppel war über mehrere Generationen eine architektonische Herausforderung, die schließlich von Filippo Brunelleschi gemeistert wurde.

In der ersten Welle des Schwarzen Todes starben zwischen 1347 und 1351 mindestens 40 Prozent der europäischen Bevölkerung. Die hohe Sterblichkeit zog Jahrzehnte der Unruhen und Aufstände nach sich, sie bereitete aber auch den Weg für ein neues Zeitalter der Erfindungen, Entdeckungen und Erkundungen.

Die Arnolfini-Hochzeit von Jan van Eyck zeigt einen reichen Kaufmann und seine Braut. Der spielerische Umgang mit Perspektive und Spiegelung zeigt van Eyck auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Ihm wird häufig nachgesagt, er habe die Ölmalerei erfunden.

Salvator Mundi war bei der Entstehung dieses Buchs das teuerste Gemälde, das je bei einer Auktion verkauft wurde. Sein enormer Wert ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass es Leonardo da Vinci zugeschrieben wird, dem Künstler und Universalgenie der Renaissance, der das Mittelalter mit unserer Zeit verbindet.

1453belagerte der osmanische Sultan Mehmed II. Konstantinopel. Die aus Frankreich stammende Darstellung zeigt die riesige Kanone, die er gegen die Mauern der antiken Stadt in Stellung brachte. Der Fall der Hauptstadt des Byzantinischen Reichs erschwerte den Handel im östlichen Mittelmeerraum und beflügelte so die Erkundungsfahrten über den Atlantik.

Christoph Kolumbus’ Reise in die Karibik 1492/93 gilt als entscheidender Moment in der Geschichte der mittelalterlichen transatlantischen Kontakte. Ohne die Unterstützung Isabellas von Kastilien, eine der beiden «Katholischen Könige», wäre er jedoch nicht in See gestochen, denn sie finanzierte Kolumbus, nachdem ihn andere Monarchen abgewiesen hatten.

Die Karte, die 1507 von einem deutschen Kartografen erstellt wurde, zeigt eine Landmasse im Westatlantik mit der Bezeichnung «Amerika». Außerdem zeigt sie, dass der Indische Ozean vom Süden erreichbar ist. Beide geografische Entdeckungen waren erst kurz zuvor gemacht worden und für die Europäer des Spätmittelalters noch relativ neu.

Martin Luther war der intellektuelle Architekt der aufkommenden protestantischen Reformation. Seine wortgewaltige Kritik an der katholischen Glaubenslehre und der kirchlichen Korruption fügte der mittelalterlichen römischen Kirche irreparablen Schaden zu.

Die Gutenberg-Bibel, die 1455 produziert wurde, war das erste große gedruckte Buch der abendländischen Geschichte. Die Erfindung des Buchdrucks veränderte die europäische Politik, Kultur und Religion. Sie trug maßgeblich dazu bei, die neuen Ideen der Reformation zu verbreiten.

1527 wurde Rom von einer Armee geplündert, die Karl V. aufgestellt hatte, der zukünftige Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Das Panorama von Pieter Bruegel deutet das furchtbare Blutvergießen nur an, das von Karls außer Rand und Band geratenen Truppen verübt wurde. Die mittelalterliche Welt war damit endgültig vorüber.

Vorbemerkung

Der Inhalt dieses Buches deckt über tausend Jahre ab und umfasst geografisch jeden Kontinent mit Ausnahme von Australien und der Antarktis. Beim Lesen werden Ihnen viele verschiedene Sprachen, Währungen und Kulturen begegnen. Einige werden Ihnen vertraut sein. Andere nicht. Um das Lesevergnügen nicht zu stören und nicht unnötig zu verwirren, habe ich auf ein strenges System der Währungsumrechnung oder Schreibweisen verzichtet. Stattdessen habe ich mich für das Vertraute entschieden, auch wenn das vielleicht nicht immer ganz korrekt oder stringent ist, und vor allem den gesunden Menschenverstand walten lassen. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinne.

Einleitung

Im 16. Jahrhundert blickte der Historiker John Foxe auf den großen Bogen zurück, den die nahe und ferne Vergangenheit beschrieben hatte. Die Geschichte (oder Kirchengeschichte, denn ihr galt sein Hauptinteresse) konnte, so dachte Foxe, in drei große Abschnitte unterteilt werden.

Sie begann mit der «primitiven Zeit», also der Antike, als sich Christen in Katakomben verstecken mussten, um der Verfolgung durch die bösen, heidnischen Römer zu entgehen, die sie kreuzigten oder ihnen womöglich noch Schlimmeres antaten. Und sie erreichte ihren Höhepunkt mit «unseren jüngsten Tagen», wie Foxe sie nannte – der Zeit der Reformation, als die Herrschaft der katholischen Kirche über das Leben der Menschen in Europa infrage gestellt wurde und westliche Seefahrer begannen, die Neue Welt zu erkunden.

Zwischen diesen zwei Perioden lag ein sperriger Brocken von etwa tausend Jahren. Foxe nannte diese Zeit «the Middle Age», das Mittelalter. Es war per Definition weder Fisch noch Fleisch.

Heute verwenden wir immer noch Foxes Bezeichnung, auch wenn sich im Englischen ein Plural-s dazugesellt hat. Für uns sind die Jahre zwischen dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert und der Protestantischen Reformation «das Mittelalter» beziehungsweise die «Middle Ages». Alles, was mit dieser Zeit zusammenhängt, ist «mittelalterlich» – ein Adjektiv aus dem 19. Jahrhundert, das sich im wörtlichen Sinn auf diesen Zeitraum bezieht.[1] Diese Einteilung ist praktisch unverändert geblieben. Das Mittelalter war (darin ist man sich allgemein einig) die Zeit, in der die antike Welt verschwunden war, die moderne Welt jedoch erst noch in die Gänge kommen musste; eine Zeit, in der die Menschen Burgen bauten und Männer in Ritterrüstungen und zu Pferd kämpften; als die Welt eine Scheibe war und weite Distanzen nur mühsam überwunden wurden. Im 21. Jahrhundert haben zwar einige global orientierte Historiker versucht, die Terminologie zu ändern und den Begriff «Middle Millennium» anstelle von Mittelalter einzuführen, sie konnten sich damit aber bislang nicht durchsetzen.[2]

Wörter sind häufig mit Bedeutungen überfrachtet. In dieser Hinsicht muss das Mittelalter viel aushalten, wird mit Herablassung und Spott bedacht. «Mittelalterlich» wird gern als negative Bezeichnung verwendet, vor allem von Zeitungsredakteuren, die den Begriff zusammenfassend für Dummheit, Barbarei und willkürliche Gewalt benutzen. (Eine ebenfalls beliebte Bezeichnung für diese Zeit ist «das Dunkle Zeitalter», die eine ähnliche Aufgabe erfüllt: die mittelalterliche Vergangenheit wird zur ewigen intellektuellen Nacht verkürzt.) Aus naheliegenden Gründen reagieren Historiker und Historikerinnen darauf ziemlich empfindlich. Verwenden Sie in ihrer Gegenwart «mittelalterlich» lieber nicht als Schimpfwort – es sei denn, Sie haben Lust auf einen Vortrag oder einen Schlagabtausch.

Das Buch, das Sie vor sich haben, erzählt die Geschichte des Mittelalters. Es ist ein umfangreiches Buch, weil die Darstellung eines so langen Zeitraums eine umfangreiche Aufgabe ist. Wir springen über Kontinente und durch die Jahrhunderte, und das oft mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Wir treffen Hunderte Frauen und Männer, von Attila dem Hunnen bis zu Jeanne d’Arc. Und wir stürzen uns bei mindestens einem Dutzend verschiedener Themenfelder mitten ins Getümmel – von Krieg und Recht bis zu Kunst und Literatur. Ich werde einige komplexe Fragen stellen – und hoffentlich auch beantworten. Was ist im Mittelalter passiert? Wer herrschte damals? Wie sah Macht in jener Zeit aus? Welche Kräfte wirkten auf das Leben der Menschen ein? Und wie prägte das Mittelalter (wenn überhaupt) die Welt, die wir heute kennen?

Das kann mitunter etwas überwältigend wirken.

Aber ich verspreche Ihnen, es wird auch jede Menge Spaß machen.

Das Buch ist in vier große chronologische Abschnitte unterteilt. Teil I beschäftigt sich mit dem, was ein brillanter Historiker als Inheritance of Rome, als das «Vermächtnis Roms» bezeichnet hat.[3] Der Abschnitt beginnt mit dem zerfallenden Römischen Reich im Westen, das sich in einem Zustand des Niedergangs befindet, erschüttert von klimatischen Veränderungen und mehreren Wellen der Völkerwanderung, die sich über einige Generationen hinzog. Dann beschäftigen wir uns mit den sekundären Supermächten, die in der Nachfolge Roms entstanden – den sogenannten «Barbarenreichen», die das Fundament für die europäischen Königreiche legten; mit dem oströmischen Superstaat Byzanz und den ersten islamischen Reichen – und gelangen so vom frühen 5. Jahrhundert bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts.

Teil II beginnt im Zeitalter der Franken, die im Westen ein christliches, pseudoromanisches Herrschaftsgebiet auf den Überresten des Römischen Reiches aufbauten. Die Geschichte ist hier größtenteils, aber nicht ausschließlich politisch: Wir verfolgen nicht nur den Aufstieg der Dynastien, die in Europa christliche Königreiche aufbauten, sondern betrachten auch neue Formen der Macht; kulturelle Formen von «soft power», die um die erste Jahrtausendwende aufkamen. In diesem Teil des Buches wird auch gefragt, wie es dazu kam, dass Mönche und Ritter eine so wichtige Rolle in der mittelalterlichen Gesellschaft des Abendlands spielten – und wie die Fusion ihrer beiden Denkhaltungen die Kreuzzüge hervorbrachte.

Teil III beginnt mit dem beeindruckenden Auftritt einer neuen globalen Supermacht. Der Aufstieg der Mongolen im 12. Jahrhundert war eine kurze, aber äußerst brutale Episode, in der ein östliches Reich – dessen Hauptstadt dort lag, wo sich heute Peking befindet – kurzzeitig die Hälfte der Welt beherrschte, auf Kosten von Millionen Menschenleben. Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Verschiebung der globalen geopolitischen Kräfteverhältnisse betrachten wir in Teil III auch den Aufstieg anderer Mächte in einer Zeit, die als «Hochmittelalter» bezeichnet wird. Wir treffen auf Kaufleute, die außergewöhnliche neue Finanzmethoden erfanden, um sich und die Welt reicher zu machen; Gelehrte, die das Wissen der Antike wiederbelebten und einige der größten Universitäten von heute gründeten; und Architekten und Baumeister, die die Städte, Kathedralen und Burgen errichteten, die auch noch nach fünfhundert Jahren stehen und als Tor in die mittelalterliche Welt fungieren.

Teil IV schließt das Mittelalter ab. Er beginnt mit einer globalen Pandemie, die die Welt heimsuchte und auf ihrem Weg von Ost nach West eine verheerende Zahl von Opfern forderte, Ökonomien neu gestaltete und die Art und Weise veränderte, wie die Menschen ihr Umfeld wahrnahmen. Anschließend sehen wir uns an, wie die Welt wiederaufgebaut wurde. Wir treffen die Genies der Renaissance und reisen mit den großen Seefahrern, die ins Unbekannte aufbrachen, um neue Welten zu suchen – und fanden. Und zuletzt werden wir sehen, wie eine veränderte religiöse Lehre im Verbund mit neuen Kommunikationsmitteln die protestantische Reformation vorantrieb – ein Umbruch, mit dem (wie Foxe erkannte) der Vorhang für «the Middle Age» endgültig gefallen war.

Das ist also die Grundstruktur meines Buches. Ich sollte jedoch noch einige Worte über seine thematischen Schwerpunkte verlieren. Wie der Titel schon sagt, geht es um Macht. Damit meine ich nicht nur politische Macht, sondern auch menschliche Macht. Wir werden vielen mächtigen Männern und Frauen begegnen (doch da es ums Mittelalter geht, werden es zwangsläufig mehr Männer als Frauen sein). Ich möchte jedoch auch Kräfte aufzeigen, die außerhalb des menschlichen Einflusses liegen. Klimawandel, Migration, Pandemien, technologischer Wandel und globale Netzwerke – das alles klingt sehr modern oder sogar postmodern. Doch diese Veränderungen formten auch die Welt des Mittelalters. Und da wir alle in gewisser Weise Kinder des Mittelalters sind, ist es wichtig zu erkennen, wie ähnlich wir den mittelalterlichen Menschen eigentlich sind – ohne dabei die sehr realen und profunden Unterschiede aus den Augen zu verlieren.

Mein Buch konzentriert sich hauptsächlich auf Europa und betrachtet die Geschichte anderer Teile der Welt aus einem westlichen Blickwinkel. Ich will das nicht entschuldigen. Ich bin fasziniert von der Geschichte Asiens und Afrikas und versuche immer wieder aufzuzeigen, wie eng der mittelalterliche Westen mit dem globalen Osten und Süden verwoben war. Doch bereits das «Mittelalter» an sich ist eine ureigene Vorstellung der westlichen Geschichtsschreibung. Zudem schreibe ich im Westen, wo ich studiert und den Großteil meines Lebens verbracht habe. Eines Tages werde ich – oder aller Wahrscheinlichkeit nach jemand anderes – eine ergänzende Geschichte des Mittelalters schreiben, die die bisherige Perspektive auf den Kopf stellen und die Epoche «von außen» betrachten wird.[4] Aber noch ist es nicht so weit.

Nun wissen Sie, was Sie erwartet. Und wie bereits erwähnt, ist es ein dickes Buch. Und doch ist es eigentlich viel zu kurz. Ich beschreibe über tausend Jahre Geschichte auf weniger als tausend Seiten. Jedes Kapitel ist einem kompletten Themenbereich gewidmet. (Die Anmerkungen und die Bibliografie werden Ihnen helfen, tiefer in die Bereiche einzutauchen, die Sie besonders interessieren.) Es gibt also viel zu erfahren, aber leider auch vieles, das nicht berücksichtigt werden konnte. Ich kann nur sagen, dass ich mit all meinen Büchern das Ziel verfolge, meine Leser nicht nur zu informieren, sondern auch zu unterhalten. Wenn dieses Buch ein bisschen von beidem schafft, würde mich das sehr freuen.

Dan Jones Staines-upon-Thames Im Frühjahr 2021

ERSTER TEIL

Imperium

Ca. 410 bis 750

1.

Römer

«Überall … geht der Name des römischen Volkes mit Bewunderung und Staunen einher»

Ammianus Marcellinus, römischer Historiker und Soldat

Sie ließen die sichere Straße hinter sich und marschierten in die Wildnis. Zu zweit schleppten sie die schwere Holztruhe. Vermutlich spürten sie die Anstrengung auf den 2 Meilen, die sie im unebenen Gelände zurücklegten, bei jedem Schritt – die Truhe maß zwar weniger als einen Meter in der Länge, war aber solide gebaut, bis zum Rand vollgepackt und mit einem großen silbernen Riegelschloss versehen. Zum Tragen benötigte man auch über kurze Strecken mindestens zwei Leute oder einen kleinen Karren, denn die Truhe wog samt Inhalt so viel wie ein halber Mensch.[1] Doch der Inhalt war weit mehr wert. Ein aus Gallien importierter Sklave, über die Britische See (Oceanus Britannicus – heute der Ärmelkanal) transportiert und auf dem Markt in London (Londinium) zu Geld gemacht, kostete damals um die 600 denarii – vorausgesetzt, er oder sie war körperlich fit, jung und entweder fleißig oder gut aussehend. Das war nicht wenig: etwa doppelt so viel wie der jährliche Sold eines gewöhnlichen Legionärs.[2] Also viel und dennoch verschwindend wenig für einen Angehörigen der römischen Elite im 5. Jahrhundert. In der Eichentruhe, die beim Transport durch das leicht ansteigende Gelände leise knarrte, befand sich ein Vermögen, das ausgereicht hätte, um einen ganzen Haushalt an Sklaven zu bezahlen.

Die kostbare Fracht umfasste fast 600 Goldmünzen, sogenannte solidi. Sie klirrten gegen 15.000 silberne siliquae und mehrere Handvoll Bronzemünzen. Auf den Münzen waren die Porträts verschiedener Kaiser aus drei Dynastien abgebildet, der aktuellste war Konstantin III. (reg. 407/409–411), der sich von seinen Truppen in Britannien zum Kaiser hatte ausrufen lassen, sich aber nicht lange halten konnte. Geborgen zwischen den Münzen lagen noch größere Schätze: prächtige goldene Halsketten, Ringe, Armreifen und modische Brustketten, die die Kurven einer schlanken jungen Frau schmücken sollten; Ohrringe mit geometrischen Mustern oder eingravierten Jagdszenen; silberne Teller und Löffel sowie Pfefferstreuer in Form wilder Tiere, antiker Helden und Kaiserinnen; elegante Artikel zur Körperpflege, wie silberne Ohrreiniger und Zahnstocher in Form langhalsiger Ibisse; Schalen, Becher und Krüge und ein Döschen aus Elfenbein – die Art von Schmuck, die reiche Männer wie Aurelius Ursicinus, dessen Name auf vielen Gegenständen eingraviert ist, für edle Damen wie Juliane (Iuliane) kauften. Ein hübsches goldenes Armband trägt eine liebevolle Inschrift, die Buchstaben bestehen aus schmalen gehämmerten Goldstreifen zwischen geschlungenen Ranken: VTERE FELIX DOMINA IVLIANE, also etwa «Der Herrin Juliane zum glücklichen Gebrauch». Zehn Silberlöffel künden vom Glauben ihrer Besitzer, einer jungen, aber in jener Zeit stark um sich greifenden Religion: Sie zeigen das Symbol Chi-Rho – das Christusmonogramm aus den beiden ersten griechischen Buchstaben im Wort «Christus». Ihre Glaubensbrüder und -schwestern – als Teil einer Gemeinschaft, die sich von Britannien und Irland (Hibernia) bis nach Nordafrika und in den Nahen Osten erstreckte – hätten das Symbol sofort erkannt.[3]

Der Schatz aus Münzen, Schmuck und Haushaltsgegenständen war keineswegs das Gesamtvermögen der Familie. Aurelius und Juliane waren Mitglieder einer kleinen, unglaublich reichen christlichen Elite in Britannien, einer High Society, die ähnlich komfortabel und prunkvoll lebte wie die übrigen Mitglieder der römischen Elite in ganz Europa und im Mittelmeerraum. Doch für einen «Notgroschen» war der Schatz sehr beachtlich – und die Familie hatte sich einige Mühe bei der Auswahl gemacht. Mit gutem Grund, denn der Schatz war als ihre Lebensversicherung gedacht.

Die Familie hatte die Anweisung erteilt, ihn an einem geheimen Ort zu vergraben, weil die politische Lage in Britannien immer instabiler wurde und zu befürchten war, dass es zum Zusammenbruch der Regierung, einem Aufstand in der Bevölkerung oder noch Schlimmerem kommen könnte. Nur die Zeit würde zeigen, was das Schicksal für die Provinz bereithielt. Einstweilen war das Vermögen einer wohlhabenden Familie am besten unter der Erde aufgehoben.

Das geschäftige Treiben der Straße – die die im Osten gelegene Stadt Caister-by-Norwich (Venta Icenorum) mit der Hauptroute von London nach Colchester (Camulodunum) verband – war längst in der Ferne verklungen, und die kleine Gruppe, die die Truhe schleppte, war allein und allen Blicken entzogen. Die Träger waren so weit gegangen, dass die nächste Stadt – Scole – über 3 Kilometer entfernt war. Zufrieden mit ihrem Standort setzten sie die Truhe ab. Vielleicht rasteten sie eine Weile, vielleicht warteten sie sogar bis zum Einbruch der Dunkelheit. Doch irgendwann stießen sie ihre Schaufeln in die Erde – eine Mischung aus Lehm und sandigem Schotter – und hoben eine Grube aus.[4] Sie mussten nicht allzu tief graben – kein Grund, sich unnötig zu verausgaben, damit würden sie sich später nur mehr Arbeit machen. Als das Loch etwa einen Meter tief war, ließen sie die Truhe vorsichtig hinab und bedeckten sie wieder mit Erde. Die massive Eichentruhe, die Aurelius’ Löffel und Silberschalen, Julianes kunstvollen Schmuck und viele wertvolle Münzen enthielt, verschwand im Boden: wie Grabbeigaben, kostbare Besitztümer der Toten, die vor vielen Generationen, an deren Zeit man sich nur dunkel erinnerte, zusammen mit ihren Eigentümern zur letzten Ruhe gebettet worden waren.

Die Grabenden prägten sich die Stelle gut ein und brachen dann auf, erleichtert im doppelten Wortsinn. Sie würden, so dachten sie wahrscheinlich, zurückkehren. Wann? Das war schwer zu sagen. Doch wenn die politischen Stürme, die über Britannien hinwegfegten, nachgelassen hatten, wenn die barbarischen Eindringlinge, die die Ostküste mit ermüdender Regelmäßigkeit attackierten, endgültig vertrieben waren und die römischen Soldaten von ihren Kriegen in Gallien zurückkehrten, dann würde ihr Herr Aurelius sie sicher wieder hierher schicken, um die Truhe mit ihrem kostbaren Inhalt auszugraben. Im Jahr 409 wussten sie nicht – und konnten es sich vermutlich auch nicht vorstellen –, dass der Schatz von Aurelius Ursicinus fast tausendsechshundert Jahre lang im Boden verborgen bleiben würde.[*1]

Zu Beginn des 5. Jahrhunderts war Britannien der äußerste nördliche Zipfel des Römischen Reiches, einer Supermacht mit einer über tausendjährigen ruhmreichen Geschichte. Rom begann als Monarchie in der Eisenzeit – laut Überlieferung wurde Rom 753 v. Chr. gegründet –, doch nach der Herrschaft von sieben Königen (die sich den römischen Sagen zufolge immer mehr zu Tyrannen entwickelten) wurde der letzte König 509 v. Chr. vom Volk vertrieben und Rom wurde zur Republik. Noch später, im 1. Jahrhundert n. Chr., wurde auch die Republik beseitigt, und Rom wurde fortan von Kaisern regiert: Zunächst herrschte ein einzelner Kaiser in Rom, doch später regierten bis zu vier Kaiser gleichzeitig in verschiedenen Hauptstädten, darunter Mailand, Ravenna und Konstantinopel. Der vierte römische Kaiser, Claudius (reg. 41–54 n. Chr.), begann im Jahr 43 mit der Eroberung Britanniens und griff die Einheimischen mit einer Armee von zwanzigtausend römischen Legionären und einer entsprechenden Kriegsmaschinerie an, zu der auch Kriegselefanten gehörten. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts war ein Großteil Südbritanniens erobert, das Gebiet der Römer reichte bis hinauf zu einer militarisierten Zone im Norden, die schließlich durch den Hadrianswall abgegrenzt wurde. Fortan war Britannien keine geheimnisumwobene Region mehr an den Grenzen der bekannten Welt, sondern ein Territorium, das weitgehend befriedet und einem mediterranen Superstaat einverleibt worden war. In den folgenden dreieinhalb Jahrhunderten wurde Britannien in das Römische Reich eingegliedert: ein politisches Monstrum, mit dessen Größe, Entwicklungsniveau, militärischer Stärke und Langlebigkeit es nur die persischen Reiche der Parther und Sassaniden und das Reich der chinesischen Han-Dynastie aufnehmen konnten. Ammianus Marcellinus, ein in Antiochia geborener Geschichtsschreiber, der im 4. Jahrhundert n. Chr. lebte und arbeitete, bezeichnete Rom als «eine Stadt, die vom Schicksal dazu erkoren wurde, fortzubestehen, solange es Menschen gibt». Derweil hatte die ehrwürdige Stadt «die stolzen Nacken wilder Stämme gebeugt, Gesetze erlassen und damit ewige Grundlagen und Stützen der Freiheit geschaffen».[5]

Das klingt nach Übertreibung – allerdings weniger, als man annehmen würde. Ammianus Marcellinus war keineswegs der einzige seriöse römische Geschichtsschreiber, der angesichts von Rom und dem Römischen Reich eine lange Reihe von Triumphen sah, die vom Dämmerlicht der Frühgeschichte bis in alle Ewigkeit reichten.[6] Dichter und Historiker wie Vergil, Horaz, Ovid und Livius betonten die Überlegenheit der römischen Bürger und beschrieben epochale Persönlichkeiten der kaiserlichen Geschichte. In Vergils Aeneis, die den Römern einen magischen Gründungsmythos gab, ist die Rede von einem Reich, dem «Herrschaft ohn End’ verliehn» wurde, und vom römischen Volk, «den Beherrschern der Welt, den toga-umwallten».[7] Livius wiederum schrieb: «Einen Römer bezeichnen große Thaten und große Leiden.»[8] Vier Jahrhunderte später konnte Marcellinus, obwohl das Reich zwischenzeitlich von Bürgerkriegen, Usurpatoren, Attentaten, Invasionen, politischen Spaltungen und Epidemien heimgesucht worden und beinahe bankrottgegangen war, immer noch behaupten: «Rom wird über alle Küsten und Erdteile hin als Herrin und Königin anerkannt, überall hält man das mit Würde gepaarte Greisenalter der Senatoren in Ehren, und des Römervolkes Name genießt Achtung und Auszeichnung.»[9]

Doch bereits eine Generation, nachdem Marcellinus diese Lobeshymnen verfasst hatte, stand das Reich kurz vor dem Zusammenbruch: Überall gaben römische Garnisonen und politische Herrscher Gebiete auf, die sie und ihre Vorfahren seit Beginn des Jahrtausends besetzt und beherrscht hatten. In Britannien verloren die Römer in den Jahren 409/410 die Kontrolle und konnten sie nie wieder herstellen. Der Schock über das abrupte Ausscheiden Britanniens aus dieser paneuropäischen Union war der Auslöser dafür, dass Angehörige der Elite wie Aurelius Ursicinus und Juliane ihre Reichtümer zusammenpackten und im Boden vergruben, eine finanzielle Absicherung, die unbeabsichtigt zur Zeitkapsel wurde, in der das Ende einer Ära erhalten blieb. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts war das Römische Reich im Westen Geschichte. Sein Zerfall und Untergang brachten, wie der große, im 18. Jahrhundert lebende Historiker Edward Gibbon schrieb, eine «Umwälzung, die immer im Gedächtnis der Nationen dieser Erde bleiben wird und dessen Einfluss sie noch heute spüren».[10]

Der Nieder- und Untergang des Weströmischen Reiches ist ein historisches Phänomen, das moderne Historiker seit Jahrhunderten beschäftigt, denn das Vermächtnis Roms ist auch heute noch jeden Tag präsent, in unserer Sprache, unserer Landschaft, im Recht und in der Kultur. Und wenn Rom noch im 21. Jahrhundert zu uns spricht, dann war seine Stimme im Mittelalter noch viel lauter zu hören – der Epoche, die wir in diesem Buch erkunden wollen. Im nächsten Kapitel werden wir das Ende des Römischen Reiches genauer betrachten. Doch zunächst sollten wir uns mit seinem Aufstieg (oder vielmehr seiner Verwandlung von der Republik zum Weltreich) im 1. Jahrhundert v. Chr. beschäftigen. Denn wenn wir die Geschichte des Abendlands im Mittelalter verstehen wollen, müssen wir zuerst fragen, wie und warum es dem Ewigen Rom (Roma aeterna) gelang, über ein Reich zu herrschen, das drei Kontinente miteinander verband und unzählige Völker mit ganz unterschiedlichen Religionen und Traditionen und einer ähnlichen Unzahl von Sprachen zusammenbrachte; ein Reich aus umherziehenden Stämmen, Bauern auf dem Land und Eliten in der Stadt; ein Reich, das sich von den pulsierenden Zentren der antiken Kultur bis zu den Rändern der bekannten Welt erstreckte.

Klima und Eroberung

DIE RÖMER ERZÄHLTEN EINANDER GERN, dass die Götter es besonders gut mit ihnen meinten. Tatsächlich waren sie über einen Großteil ihrer Geschichte mit gutem Wetter gesegnet. Von 200 v. Chr. bis 150 n. Chr. – der Blütezeit Roms als Republik und dann als Reich – herrschten im Westen sehr angenehme und für die Landwirtschaft günstige klimatische Verhältnisse. Fast vier Jahrhunderte lang gab es keine massiven Vulkanausbrüche, die von Zeit zu Zeit zu einem weltweiten Temperaturrückgang führen; auch die Sonnenaktivität war in jener Periode hoch und stabil.[11] Westeuropa und der Mittelmeerraum profitierten von einer Reihe ungewöhnlich warmer und angenehmer Jahrzehnte, die noch dazu ausreichend Niedersachlag boten.[12] Pflanzen und Tiere gediehen: Elefanten streiften durch die Wälder des Atlasgebirges, während Rebstöcke und Olivenbäume so weit im Norden kultiviert werden konnten, wie man es in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt hatte. Landstriche, die zu anderen Zeiten karg und kaum zu bewirtschaften waren, konnten unter den Pflug genommen werden; und die Ernten auf traditionell «gutem» Boden steigerten sich enorm. Diese segensreichen Jahre, in denen die Natur ihre Gaben großzügig all jenen schenkte, die bereit und in der Lage waren, die Gelegenheit zu nutzen, wird heute Klimaoptimum der Römerzeit (Roman Climate Optimum, RCO) oder Römische Warmzeit genannt.

Offiziell zum Kaiserreich wurde Rom am 16. Januar 27 v. Chr., als der Senat Octavian – einem Adoptivsohn Julius Cäsars – den Titel Augustus verlieh. Davor hatte die Republik zwei Jahrzehnte lang unter blutigen Bürgerkriegen gelitten, in deren Verlauf Cäsar 49 v. Chr. die Macht errungen und dann als militärischer Diktator geherrscht hatte. Doch Cäsar war als Autokrat zwar ein Geschöpf seiner Zeit, ihr aber auch gleichzeitig voraus. Am 15. März 44 v. Chr. – den Iden des März – wurde er ermordet, eine unmittelbare Folge, wie der römische Schriftsteller und Verwaltungsbeamte Sueton (um 70–130 n. Chr.) schreibt, seines grenzenlosen Ehrgeizes, in dem viele Römer den Wunsch sahen, die Monarchie wiederzubeleben. «Die ständige Ausübung der Macht gab Cäsar die Liebe dazu», schrieb Sueton und wiederholte ein Gerücht, das besagte, Cäsar habe als junger Mann davon geträumt, seiner eigenen Mutter Gewalt anzutun, was Wahrsager als eindeutiges Zeichen dafür interpretierten, dass damit «seine Herrschaft über die ganze Welt prophezeit werde».[13]

Cäsars Bestimmung war der Ruhm, doch wahre Größe erreichte erst Octavian. «Imperium» stand ihm quasi ins Gesicht geschrieben: Seine strahlenden Augen und sein gutes Aussehen wurden durch seine zerzauste und etwas ungepflegte Erscheinung sogar noch betont. Man könnte meinen, er sei gänzlich uneitel gewesen, allerdings trug er Schuhe mit hohen Sohlen, um größer als seine natürlichen 1,70 Meter zu wirken.[14] Octavian hatte dort Erfolg, wo Cäsar gescheitert war: Er rächte den Tod seines Vaters, besiegte seine Feinde in der Schlacht und wurde schließlich zum alleinigen, unangefochtenen Herrscher Roms. Als Augustus zog er die ursprünglich aus gutem Grund voneinander getrennten politischen Ämter der Republik auf sich und war Senator, Konsul und Tribun, pontifex maximus (Hohepriester) und oberster militärischer Befehlshaber in einer Person. Bei der Beurteilung seines Charakters waren sich schon die Römer nicht einig – war er ein Visionär mit den besten Absichten und ein unvergleichlicher Soldat und Politiker in Personalunion oder ein korrupter, blutrünstiger und verräterischer Tyrann, fragte etwa der Historiker Tacitus (um 58–116 n. Chr.), ohne sich selbst auf ein Urteil festzulegen.[15] Doch seine Leistungen als Kaiser – oder als «Erster Bürger» (princeps civitatis[*2]), wie er sich selbst gerne nannte – sind nicht von der Hand zu weisen. Mit seiner Machtübernahme beendete er den immer wieder aufflackernden kräftezehrenden Bürgerkrieg in der späten Republik. Dank grandioser Bauprojekte (einige davon waren bereits unter Cäsar in Auftrag gegeben worden) entwickelte sich Rom unter Augustus zu einer prächtigen Stadt. Das 250 Hektar große Marsfeld (Campus Martius), ein ehemaliges militärisches Übungsgelände, auf dem verstreut einige Tempel und Monumente standen, wurde radikal umstrukturiert. Neue Theater, Aquädukte und Straßen wurden in Auftrag gegeben. Nur die besten Baumaterialien waren gut genug: Auf seinem Totenbett soll Augustus sich gerühmt haben, er habe eine Stadt aus Ziegeln vorgefunden, aber eine Stadt aus Marmor hinterlassen.[16] Er führte grundlegende Reformen durch, entzog dem Senat Macht, um sie in seinen eigenen Händen zu konzentrieren, und förderte einen Personenkult von imperialer Pracht, der sich unter seinen Nachfolgern weiterentwickelte, bis einige Kaiser als Halbgötter verehrt wurden.

ALS AUGUSTUS AM 19. AUGUST 14 N. CHR. im hohen Alter von 75 Jahren starb, hatte sich das Römische Reich enorm ausgedehnt, war befriedet und reformiert worden. Britannien war immer noch eine unerschlossene Wildnis (Cäsar war bei seinem Besuch 55 bis 54 v. Chr. vor einer vollständigen Eroberung zurückgeschreckt, und auch sein Adoptivsohn ließ die Britannier in Ruhe). Das frühe Römische Reich umfasste ganz Italien und die Iberische Halbinsel, Gallien (das heutige Frankreich), Südosteuropa bis zur Donau, einen Großteil des Balkans und Kleinasiens, einen breiten Abschnitt der Levantinischen Küste von Antiochia im Norden bis nach Gaza im Süden, die immens reiche Provinz Ägypten (Aegyptus), die Augustus im berühmten Krieg gegen die letzte Herrscherin des Ptolemäerreiches Kleopatra und ihren Geliebten Marcus Antonius erobert hatte, und einen weiteren Teil der Küste Nordafrikas Richtung Westen bis Numidien (das heutige Algerien). Darüber hinaus war der Boden bereitet für eine noch größere Expansion im darauffolgenden Jahrhundert.

Rom war die einzige Macht in der Geschichte, die über jede Küste des Mittelmeers herrschte und dieses Gebiet zusätzlich um einen breiten Saum erweiterte, der viele Kilometer weit ins Inland reichte. Auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung unter Kaiser Trajan (um 98–117 n. Chr.), der Dacia eroberte (das heutige Rumänien), erstreckte sich das Römische Reich über 5 Millionen Quadratkilometer, vom Hadrianswall im Norden Englands bis zu den Ufern des Flusses Tigris. Ein Viertel der Weltbevölkerung lebte unter römischer Herrschaft. Dieses riesige Gebiet wurde nicht nur erobert, sondern neu organisiert und mit den entscheidenden Merkmalen der römischen Zivilisation versehen. Ein kolossales Gebilde, zentral gelenkt, an den Rändern erbittert verteidigt und innerhalb seiner Grenzen akkurat verwaltet, technisch fortschrittlich und mit effizienten Verbindungen innerhalb des Reiches und zur übrigen Welt ausgestattet (wenn auch nicht gerade tolerant und frei) – das war Rom auf dem Höhepunkt seiner Macht.

«Wo sie eine Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden»

WAS WAREN NUN die charakteristischen Merkmale des Römischen Reiches? Außenstehenden fiel zunächst Roms außergewöhnliche und anhaltende militärische Stärke auf. Die Kriegerkultur prägte auch die Politik. Zur Zeit der Republik war die Wahl in ein Amt mehr oder weniger vom geleisteten Militärdienst abhängig; umgekehrt musste man, um ein militärisches Kommando zu erhalten, zuvor ein politisches Amt innegehabt haben. Es überrascht daher kaum, dass viele der größten historischen Leistungen Roms auf dem Schlachtfeld errungen wurden. Der Staatsapparat stützte sich auf ein professionelles stehendes Heer (und bestand nicht zuletzt auch wegen des Militärs). Dieses Heer zählte am Ende der Regierungszeit des Kaisers Augustus etwa eine Viertelmillion Mann und konnte zu seinen Glanzzeiten im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. vierhundertfünfzigtausend Soldaten im gesamten Reich aufbieten. Die Legionen, die jeweils aus fünftausend Soldaten der schweren Infanterie bestanden und aus der römischen Bürgerschaft rekrutiert wurden, wurden von Hilfstruppen (auxilia) der großen nichtrömischen Bevölkerung in den Provinzen und von Söldnern (numeri) unterstützt, die bei den «Barbaren» außerhalb der Reichsgrenzen angeworben wurden. (In der Spätzeit des Reiches sollten diese barbarischen Kontingente dann das römische Heer dominieren.) Die römische Flotte umfasste weitere fünfzigtausend Mann. Der Unterhalt der Truppen, die über Millionen Quadratkilometer von der Nordsee bis zum Kaspischen Meer stationiert waren, verschlang jedes Jahr zwischen 2 und 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; über die Hälfte des Staatshaushalts wurde für das Militär ausgegeben.[*3] Es gab Zeiten – in den letzten Tagen der Republik im 1. Jahrhundert v. Chr. und unter den vielen unrühmlichen Kaisern, die während der sogenannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts regierten –, in denen das römische Militär gegen das Prinzip der imperialen Harmonie arbeitete. Doch ohne das römische Militär hätte es überhaupt kein Reich gegeben.

«DEIN SEI, RÖMER», schrieb Vergil (70–19 v. Chr.), «das Amt, als Herrscher die Völker zu zügeln. Dies ist die Kunst, die dir ziemt, die Gesetze des Friedens zu schreiben, dem, der gehorcht, zu verzeihn, Hoffärtige niederzukämpfen!»[17] Mit der Größe des römischen Militärs, seiner Schnelligkeit, technischen Überlegenheit, seinem taktischen Geschick und seiner gefürchteten Disziplin konnte keine andere Macht der damaligen Zeit mithalten, weshalb Vergils hochgesteckte Ziele durchaus möglich schienen.

Der typische römische Soldat verpflichtete sich für mindestens zehn Jahre zum Militärdienst; vor dem 3. Jahrhundert n. Chr. erhielt man, wenn man fünfundzwanzig Jahre bei den Hilfstruppen gedient hatte, das volle römische Bürgerrecht. Der Sold war angemessen, die möglichen Aufgaben zahlreich und vielseitig. Neben der Infanterie, die für den Kampf mit dem Kurzschwert, dem langen, gebogenen Schild und dem Speer ausgebildet war, verfügte das römische Militär auch über Reiter, Artillerie, Sanitäter, Musiker, Verwaltungsbeamte und Ingenieure. Es herrschte eine ausgeprägte Kultur der Belohnungen und Ehrungen für herausragende Leistungen, aber auch eine brutale, strenge Disziplin, die mit Prügelstrafen, Hungern und gelegentlichen Hinrichtungen aufrechterhalten wurde. Der griechische Geschichtsschreiber Polybios, der im 2. Jahrhundert v. Chr. eine detaillierte Geschichte Roms verfasste, berichtete, dass Soldaten, die in der Schlacht die Flucht ergriffen, mit einem fustuarium supplicum bestraft werden konnten: dabei wurde ein Soldat von den Kameraden seiner Einheit mit Knüppeln zu Tode geprügelt oder gesteinigt.[18] Wenn eine ganze Einheit der Feigheit oder des Ungehorsams bezichtigt wurde, drohte die sogenannte Dezimierung (decimatio): Dabei wurde jeder zehnte Soldat ausgewählt und von seinen Kameraden mit Knüppeln erschlagen.

In republikanischer Zeit hatten die Legionen die römische Hegemonie im Mittelmeerraum mit einer Reihe von Kriegen für die kommenden Jahrhunderte dauerhaft gesichert – sie hatten die Makedonier, die Seleukiden und (in den vermutlich berühmtesten Schlachten) die Karthager besiegt, deren großer General Hannibal 218 v. Chr. mit Elefanten über die Alpen gezogen war und der größten Armee, die Rom je aufgeboten hatte, 216 v. Chr. in der Schlacht von Cannae eine vernichtende Niederlage beigebracht hatte. Die Republik konnte er am Ende aber trotzdem nicht besiegen. Später sollten die Karthager Hannibals Vorstoß noch bitter bereuen: Dafür, dass sie es gewagt hatten, Rom die Stirn zu bieten, wurde ihre geschichtsträchtige Hauptstadt Karthago nach dem Dritten Punischen Krieg 146 v. Chr. dem Erdboden gleichgemacht. (Im gleichen Jahr wurde auf einem anderen Kriegsschauplatz die antike griechische Stadt Korinth geplündert und geschleift.) Zusammengenommen zeigen diese Kriege die langfristige Überlegenheit des römischen Militärs, die auch während der Kaiserzeit fortbestand. Einer römischen Armee im Feld gegenüberzustehen, erforderte auf jeden Fall Mut – wie ein Beispiel aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. zeigt, als die römische Armee bei der Invasion und Unterwerfung Britanniens ihre Schlagkraft unter Beweis stellte.

JULIUS CÄSAR UNTERNAHM 55 und 54 v. Chr. die ersten militärischen Vorstöße zur Erkundung der Britischen Inseln. Britannien war für die Römer ein attraktives Ziel, das im Südosten fruchtbaren Ackerboden und im Westen reiche Zinn-, Kupfer-, Blei-, Silber- und Goldvorkommen versprach. Die Insel bot jedoch auch rebellischen Galliern Zuflucht, die sich der römischen Herrschaft entziehen wollten; außerdem war allein schon die Aussicht, eine Inselgruppe zu erobern, die damals am Rand der navigierbaren Welt lag, mit großem Prestige verbunden. Cäsars Vorstöße wurden von der Kampfbereitschaft der Einheimischen und dem schlechten Wetter vereitelt, doch ein Jahrhundert später, im Jahr 43 n. Chr. unter der Herrschaft des Kaisers Claudius, führten vier Legionen eine Invasion zu Lande und zu Wasser durch und brachen damit einen Besatzungskrieg vom Zaun, der immer wieder aufflackerte und fast ein halbes Jahrhundert andauerte. Stämme wie die Icener, die unter Führung der Kriegerkönigin Boudicca 60 und 61 n. Chr. rebellierten, wurden nach ihrer Niederlage mit extrem harten Vergeltungsmaßnahmen bestraft und praktisch ausgelöscht. Andere konnten mit den Römern verhandeln und schlossen Abkommen. Für Britannien und seine Bewohner brach nun eine neue Zeit an. Die Unbarmherzigkeit, mit der das römische Militär Britannien eroberte und befriedete, machte die Römer stolz. Tacitus fasste ihre Haltung lakonisch in einer berühmten Rede zusammen, die er dem kaledonischen Heerführer Calgacus vor einer Schlacht gegen eine römische Armee unter Gnaeus Julius Agricola (der zufällig auch Tacitus’ Schwiegervater war) in den Mund legte:

Plünderer des Erdballs, durchstöbern sie, nachdem den alles Verwüstenden die Länder fehlten, jetzt auch noch das Meer: Ist der Feind begütert, sind sie habgierig, ist er arm, sind sie ehrsüchtig; sie, die nicht der Orient, nicht der Okzident gesättigt hat. Als einzige von allen begehren sie Schätze und Mangel mit der gleichen Leidenschaft. Stehlen, Morden, Rauben nennen sie mit falschem Namen Herrschaft, und wo sie Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden.[19]

Kurz nachdem Calgacus’ Männer diese Ansprache gehört hatten, flohen sie Hals über Kopf vor Agricolas Legionären, Hilfstruppen und Reitern – «ein großartiges und blutiges Schauspiel», wie Tacitus schrieb. «Scharen von Bewaffneten» hätten dem Feind den Rücken gekehrt. «Überall Waffen, Leichen, zerfetzte Gliedmaßen, blutiger Boden.» In der Nacht zogen die römischen Soldaten ab, doch: «Die Britannier, umherstreifend, schleppten unter dem vermischten Wehklagen von Männern und Frauen die Verwundeten weg, riefen die Unversehrten, verließen ihre Häuser … Der nächste Tag legte den Anblick des Sieges in voller Breite offen: Stille und Wüste überall, verlassene Hügel, in der Ferne rauchende Häuser …»[20] Calgacus hatte das Schicksal seiner Kampfgefährten präzise vorhergesagt und dabei die Erfahrungen gemacht, die im Laufe der Jahrhunderte schon unzählige andere Anführer am Rand des Römischen Reiches gemacht hatten. Selbst wenn die Legionen in einen Hinterhalt gerieten oder besiegt wurden – was gelegentlich vorkam, ob in Britannien, Gallien, Germanien, Dacia, Palästina oder anderswo –, reichten die Verluste selten aus, um die Römer komplett zu vertreiben. Die militärische Hegemonie der Römer basierte nicht zuletzt auch auf der Fähigkeit, Niederlagen wegzustecken, Konflikte zu eskalieren und gnadenlos Rache zu nehmen; Rom verlor viele Schlachten, aber sehr wenige Kriege.

ZUSÄTZLICH ERRANG DAS RÖMISCHE MILITÄR viele Siege, bei denen kein Schwert geführt, kein Speer geschleudert und kein Blut vergossen wurde. Der Vorteil einer unerreichbaren Übermacht auf dem Schlachtfeld lag damals – wie so häufig in der Geschichte – in einem kampflosen Sieg. Die Stärke des römischen Militärs basierte nicht nur auf seiner aktiven Kampfkraft, sondern auch auf der abschreckenden Wirkung; da es keine andere Macht in der westlichen Welt mit den Ressourcen der römischen Truppen aufnehmen konnte, genügte bereits die bloße militärische Stärke als politisches Instrument, damit sich potenzielle Gegner unterwarfen.[21] Diese Lektion haben die meisten Supermächte im Lauf der Weltgeschichte verinnerlicht.

Das Goldene Zeitalter der militärischen Überlegenheit Roms begann mit Augustus’ Aufstieg zum Princeps 27 v. Chr. Die darauffolgenden zweihundert Jahre sind auch als Pax Romana bekannt – eine Zeit, in der Rom (nach den damaligen Maßstäben) außergewöhnliche Stabilität, Frieden und Chancen auf Wohlstand für all diejenigen bieten konnte, die unter römischer Herrschaft lebten. Das war möglich, weil die Römer ihren Schutz durch eine der schlagkräftigsten Armeen der Welt kollektiv finanzierten. Nach dem Tod des Philosophenkaisers Marcus Aurelius 180 n. Chr. begann die Pax Romana zu bröckeln und sich aufzulösen. Die Krise des 3. Jahrhunderts hielt das Reich mehrere Jahrzehnte lang in Atem, in denen es sich zeitweise in drei Blöcke aufspaltete, sich Dutzende Kaiser abwechselten und die staatliche Ordnung fast zusammengebrochen wäre – eine bedrohliche Situation, in der die Entschlossenheit und die Fähigkeiten des römischen Militärs auf eine harte Probe gestellt wurden. Dennoch konnten die Römer im 4. und frühen 5. Jahrhundert immer noch mit Stolz auf ihre bewaffneten Truppen blicken. Sie waren mittlerweile professionalisiert und hielten an den Grenzen des Reiches (dem «Limes») die Stellung, um die Ränder der Zivilisation vor den Einfällen barbarischer Stämme zu schützen und so dafür zu sorgen, dass das Reich trotz seiner Teilungen und Zersplitterung, seiner Machtkämpfe und internen Fehden weitgehend standhielt.

In seiner Blütezeit war Rom also ein Kriegsstaat, der seinesgleichen suchte und jeden Gegner in seinem Einflussbereich zunichtemachen konnte. Selbst während der Krise des 3. Jahrhunderts, als die Sassaniden im Osten und die Barbaren im Westen dem Reich schwer zu schaffen machten, stellte Rom eine beeindruckende Macht dar. Doch es waren nicht allein die überwältigende militärische Stärke und Reichweite, die Rom von anderen Supermächten der damaligen Zeit abhoben. Im 4. Jahrhundert v. Chr. hatte sich das makedonische Imperium Alexanders des Großen von den Ionischen Inseln im Mittelmeer bis zum Himalaja erstreckt. Die verschiedenen persischen Reiche der Antike umfassten ein ähnliches Gebiet. Um das Jahr 100 n. Chr. herrschte die Östliche Han-Dynastie in China über 6,5 Millionen Quadratkilometer Land und 60 Millionen Menschen. Was Rom im Mittelmeerraum und darüber hinaus so dominant machte, war die Tatsache, dass seine überwältigende militärische Macht mit einem ausgeklügelten Verwaltungsapparat einherging: einem Geflecht hochmoderner gesellschaftlicher, kultureller und rechtlicher Systeme, die von den Römern als Zeichen ihrer überlegenen Moral gewertet wurden. Heute hätten wir daran durchaus unsere Zweifel, immerhin sprechen wir von einer Gesellschaft, die die Rechte von Millionen Frauen und Armen beschnitt und Menschen, die von der Norm abwichen, brutal verfolgte, die blutigen Sport und andere Formen der Gewalt verherrlichte und auf die massenhafte Versklavung von Menschen angewiesen war. Dennoch muss man anerkennen, dass die römische Lebensweise in den eroberten oder verbündeten Gebieten sehr schnell übernommen wurde und überall, wo sie praktiziert wurde, tiefe und oft dauerhafte Spuren hinterließ.

Bürger und Fremde

EINIGE JAHRE, nachdem Kaiser Claudius seine Kriegselefanten nach Britannien geführt hatte, um die Stämme am Ende der Welt zu unterwerfen, stand er vor dem Senat und sprach vor einer lärmenden Gruppe der führenden Würdenträger Roms über die beiden eng miteinander verflochtenen Themen Bürgerrecht und politische Macht. Man schrieb das Jahr 48 n. Chr., und die Frage, über die debattiert wurde, lautete ganz konkret: Sollten die reichsten und angesehensten Bürger aus den römischen Provinzen Galliens in den Senat gewählt werden können? Claudius – ein gelehrter, wenn auch körperlich schwächlicher und kurzsichtiger Enkel von Augustus, der zufällig in Gallien geboren war, genauer gesagt in Lyon (Lugdunum) – war dafür. Um seinen Standpunkt zu unterstreichen, erinnerte er seine Zuhörer an die Frühgeschichte Roms, denn bereits damals war auf den Gründer und ersten König Romulus ein Anführer von außen gefolgt: Numa der Sabiner. Rom, so argumentierte Claudius, sei stets ein Ort gewesen, der Außenstehende mit besonderen Qualitäten integriert habe. «Ich bin der Meinung, dass die Männer aus der Provinz nicht abgelehnt werden sollten, solange sie ein Gewinn für den Senat sind», erklärte er.

Nicht alle Senatoren teilten diese Ansicht. Einige argumentierten, es sei eine Schande für Rom, sich «Ausländer in ganzen Scharen» aufzwingen zu lassen, vor allem, da sich die fraglichen Ausländer – Gallier – einst erbittert und in blutigen Kämpfen gegen die Eroberung durch die Römer gewehrt hätten.[22] Diese Debatte war nicht neu, in Rom wurde sie seit zwei Jahrhunderten geführt, generell beschäftigt sie die Herrscher mächtiger Reiche seit Beginn der Zeit und ist auch heute noch Thema: Wie geht ein Staat mit seinen früheren Feinden um? Und stärkt oder verwässert die Aufnahme von Nicht-Einheimischen das Wesen und den Charakter eines Staates oder einer Gesellschaft? Die Diskussion zog sich durch all die Jahrhunderte, in denen das Römische Reich bestand, und war in ihren Auswirkungen auch noch im Mittelalter und darüber hinaus zu spüren.

Claudius hatte sich auf seine Rede vor dem Senat 48 n. Chr. gut vorbereitet. Denjenigen, die die Loyalität der Gallier anzweifelten, sagte er: «Wenn jemand sich auf die Tatsache konzentriert, dass die Gallier dem göttlichen Julius [Cäsar] zehn Jahre lang im Krieg widerstanden, sollte er bedenken, dass sie hundert Jahre lang loyal und vertrauenswürdig waren und diese Loyalität, als wir in Gefahr waren, aufs Äußerste strapaziert wurde.» Gegen die allgemeineren Einwände, Nicht-Italiker als Römer zu klassifizieren, führte er Beispiele aus dem antiken Griechenland an: «Was war denn trotz ihrer kriegerischen Erfolge das Verhängnis der Lazedämonier [Spartaner] und Athener? Nichts anderes, als dass sie die Unterworfenen als Ausländer sich fernhielten.» Der leidenschaftliche Vortrag hatte die Senatoren entweder überzeugt oder eingeschüchtert, jedenfalls gaben sie ihre Zustimmung. Von da an konnten Gallier nicht nur das römische Bürgerrecht erlangen, sondern auch die höchsten politischen Ämter im Reich anstreben.

Einer der wichtigsten sozialen Unterschiede in Rom – in der Stadt selbst, auf der Italienischen Halbinsel und (schließlich) auch in den eroberten Gebieten – war der zwischen den römischen Bürgern (cives romani) und der restlichen Bevölkerung. Die römische Gesellschaft war besessen von Rang und Ordnung, und die Unterschiede zwischen der Oberschicht der Senatoren (senatores) und Ritter (equites), dem mittleren Stand der Plebejer und den landlosen Armen, den sogenannten proletarii, wurden sehr ernst genommen. Doch am wichtigsten war das Bürgerrecht. Ein Bürger Roms zu sein bedeutete im Grunde Freiheit. Für Männer war damit ein ganzes Paket beneidenswerter Rechte (aber auch Pflichten) verbunden: Als Bürger durfte man wählen, politische Ämter bekleiden, die Gerichte nutzen, um sich selbst und den eigenen Besitz zu verteidigen, bei Zeremonien und offiziellen Anlässen die Toga tragen und seinen Militärdienst in den Legionen und nicht bei den Hilfstruppen ableisten, außerdem war man vor den meisten Formen körperlicher Strafen und vor Hinrichtungen geschützt, darunter Auspeitschen, Folter und Kreuzigung. Das Bürgerrecht war nicht auf Männer beschränkt: Frauen blieben zwar viele Rechte verwehrt, sie konnten den Bürgerrechtsstatus jedoch an ihre Kinder weitergeben, zudem war das Leben einer Bürgerin meist angenehmer und zeichnete sich durch höheren Wohlstand aus. Das Bürgerrecht war sehr geschätzt, weshalb der römische Staat es auch den Hilfstruppen, die ein Vierteljahrhundert in der römischen Armee dienten, als Belohnung in Aussicht stellen konnte. Und Sklaven leisteten ihre Arbeit in dem Wissen, dass sie, falls sie von ihrem Herrn freigelassen wurden, das eingeschränkte Bürgerrecht erhielten. Der Verlust des Bürgerrechts – als Strafe für sehr schwere Verbrechen wie Mord oder Fälschung – kam einer rechtlichen Enthauptung gleich: für die Gesellschaft war man damit praktisch tot.

Rom war keineswegs das einzige Reich, das dieses Konzept der rechtlichen und sozialen Privilegien pflegte; auch im antiken Griechenland, in Karthago und zahlreichen anderen Staaten im Mittelmeerraum gab es in jener Zeit das Bürgerrecht. Einzigartig war nur, dass das Konzept des römischen Bürgerrechts im Laufe seiner langen Geschichte weiterentwickelt und ausgedehnt wurde, um die Vorherrschaft des Reiches zu bewahren. Der eigentliche Zweck des Reiches bestand darin, den Reichtum aus den eroberten Gebieten nach Rom zu leiten. Es ging also im Grunde um hemmungslose Ausbeutung. Doch durch das Versprechen des Bürgerrechts – und damit die Aussicht, einen Teil der Beute zu bekommen – konnte die Oberschicht in den eroberten Gebieten in der Regel auf die Seite Roms gebracht werden. Dementsprechend wurde das Bürgerrecht in den ersten beiden Jahrhunderten des Römischen Reiches mit der Ausdehnung der Provinzen nach und nach auch außerhalb Italiens an die Angehörigen höherer Schichten vergeben. Aristokraten und Amtsträger, Soldaten, die ihren Dienst bei den Hilfstruppen geleistet hatten, Beamte im Ruhestand und ihre freigelassenen Sklaven, sie alle konnten das Bürgerrecht erlangen – entweder in seiner vollen Form oder in einer der zahlreichen Varianten, die eine begrenzte, aber immer noch begehrte Auswahl an Rechten boten.[23] Und schließlich brachte Kaiser Caracalla 212 n. Chr. zum Abschluss, was Claudius begonnen hatte, und verfügte, dass alle Freien in den Provinzen eine Form des Bürgerrechts für sich beanspruchen konnten. Die gesamte Bevölkerung, verkündete Caracalla, solle «an diesem Sieg teilhaben. Dieses Edikt wird die Würde des römischen Volkes vergrößern.»[24]

Viele Historiker betrachten Caracallas Verordnung (auch Constitutio Antoniniana genannt) als Wendepunkt in der Geschichte des Römischen Reiches, weil diese Entscheidung das imperiale System im Kern betraf, die Motivation von Nicht-Römern, den Hilfstruppen beizutreten, schwächte, und weil sie dem Bürgerrecht das Prestige nahm. Das mag sein. Andererseits waren Offenheit und die Bereitschaft, andere Völker zu integrieren, wesentliche historische Vorzüge des Römischen Reiches,[*4] denn dadurch wurden die Werte des römischen Systems über alles andere gestellt und es wurde offen und ohne Einschränkungen erklärt, dass Menschen mehr als eine einzige kulturelle Identität haben können. Wer sich Römer nannte, musste nicht mit Blick auf die sieben Hügel der Ewigen Stadt geboren worden sein: Er oder sie konnten Nordafrikaner oder Griechen, Gallier, Germanen oder Britannier sein, Spanier oder Slaven. Nicht einmal die Kaiser mussten ethnische «Römer» sein. Trajan und Hadrian stammten aus Spanien. Caracallas Vater Septimius Severus, der 193 n. Chr. die Macht ergriff und sich bis 211 halten konnte, wurde in Libyen (Leptis Magna) geboren und hatte einen nordafrikanischen Vater und eine syrisch-arabische Mutter; seine Nachfolger (bekannt als die Dynastie der Severer) waren demnach ebenfalls afrikanisch-arabischer Herkunft. Caracalla mag gute politische Gründe für sein Edikt von 212 gehabt haben – wer das Bürgerrecht hatte, musste auch Steuern zahlen: In einer für die öffentlichen Finanzen schwierigen Zeit war daher eine Erhöhung der Zahl der Steuerpflichtigen höchst willkommen. Doch es ist wohl nicht allzu anachronistisch, zu vermuten, dass sich seine Erfahrungen als Kaiser mit nordafrikanischen Wurzeln auf seine Haltung auswirkten.

Seelen zu verkaufen

CARACALLA WAR NICHT DER EINZIGE, dessen Herkunft seine Herrschaft prägte. Ein gutes Jahrhundert vor seiner Geburt wurde Rom zehn Jahre lang von Vespasian regiert, dem Begründer der flavischen Dynastie. Vespasian kam 69 n. Chr. an die Macht, er hatte sich nach einem kurzen, aber hässlichen Bürgerkrieg durchgesetzt, in dem vier Männer in einem einzigen Jahr[*5] Anspruch auf die Kaiserwürde erhoben hatten. Doch bevor Vespasian Kaiser wurde, hatte er sich in Nordafrika für kurze Zeit als sogenannter «Maultiertreiber» betätigt, wie man damals Sklavenhändler euphemistisch nannte. Es heißt, Vespasian habe Knaben die Hoden abschneiden lassen, um sie zu einem besseren Preis als Eunuchen verkaufen zu können.[25] Er hatte deshalb einen gewissen Ruf, der allerdings in einer anderen historischen Epoche deutlich schlechter ausgefallen wäre. Denn in Rom waren Sklaverei und die brutale Behandlung versklavter Menschen nicht nur weitverbreitet, sondern allgegenwärtig.

Sklaverei war in der gesamten Antike ein fester Bestandteil des Alltags. Sklaven – Menschen, die als Eigentum betrachtet, zur Arbeit gezwungen und ihrer Rechte beraubt wurden und die damit gesellschaftlich «tot» waren – fand man praktisch in jedem bedeutenden Reich der damaligen Zeit. In China setzten die Qin-, Han- und Xin-Dynastie verschiedene Formen der Sklaverei durch, ebenso wie die Herrscher in Ägypten, Assyrien, Babylonien und Indien.[26] «Willst du aber Sklaven und Sklavinnen haben, so sollst du sie kaufen von den Völkern, die um euch her sind», sagte Gott den Israeliten und verlangte von ihnen nur, sich nicht gegenseitig zu versklaven.[27