Machtkampf am Mittelmeer - Thomas Seibert - E-Book

Machtkampf am Mittelmeer E-Book

Thomas Seibert

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Beschreibung

Stehen wir kurz vor einem Krieg innerhalb der NATO? Werden Terrororganisationen wie der IS wieder an Boden gewinnen? Ist eine ähnlich große Migrationsbewegung zu erwarten wie 2015? Am östlichen Mittelmeer findet derzeit ein internationales Kräftemessen statt, bei dem es ebenso um regional- wie um geopolitische Rivalitäten geht. Konflikte zwischen der Türkei und Griechenland oder Russland überlagern sich mit anderen und befeuern sich gegenseitig. Thomas Seibert macht klar: Eskaliert auch nur einer dieser Konflikte, kann dies schnell eine Kettenreaktion auslösen. Die Konsequenzen wären weltweit zu spüren. »Das östliche Mittelmeer ist zu meinem Erstaunen wieder ein Konfliktgebiet ... Es ist wirklich eine starke Rückkehr der Muster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.« (Christopher Clark)

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Seitenzahl: 264

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Thomas SeibertMachtkampf am Mittelmeer

Thomas Seibert

MACHTKAMPF AM MITTELMEER

Neue Kriege um Gas, Einfluss und Migration

Ch. Links Verlag

Für Susanne und Julia

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Der Ch. Links Verlag ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

1. Auflage, Februar 2021

entspricht der 1. Druckauflage vom Februar 2021

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

www.christoph-links-verlag.de

Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel. (030) 44 02 32-0

Lektorat: Hinnerk Berlekamp, Berlin

Karten: Peter Palm, Berlin

Umschlag: Hannah Kolling, Kuzin & Kolling –

Büro für Gestaltung, Hamburg, unter Verwendung eines Bildes

von picture alliance /AA /Evren Atalay

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-111-4

eISBN 978-3-86284-491-3

Inhalt

Machtkampf am Mittelmeer

I ANATOMIE EINER KRISENREGION

Völker und Reiche: Dreitausend Jahre Weltgeschichte

Arabischer Frühling: Eine Region erbebt

Migration: Alte und neue Völkerwanderungen

Türkei: Sehnsucht nach alter Größe

USA: Rückzug einer Supermacht

Russland: Ein Schwergewicht meldet sich zurück

II BRANDHERDE AM MITTELMEER

Türkei und Griechenland: Nachbarn und Erzfeinde

Zypern: Wiedervereinigung in weiter Ferne

Erdgas: Reichtum unter dem Meeresboden

Syrien: Krieg gegen das eigene Volk

Libanon: Ein gescheiterter Staat

Israel und Palästina: Kampf um Land, Macht und Anerkennung

Ägypten: Im eisernen Griff der Militärs

Libyen: Gespaltenes Land

Terrorismus: Gewalt in der Levante

Türkei und Russland: Ein Paar im Beziehungsstress

EU: Zerstritten und ohne Konzept

Wegschauen hilft nicht

ANHANG

Literatur

Karten

Der Autor

Machtkampf am Mittelmeer

Als der amerikanische Zerstörer »USS Porter« im August 2020 den Bosporus passierte, erregte das wenig Aufsehen. Mehr als 40 000 Schiffe durchfahren die Meerenge in der türkischen Metropole Istanbul jedes Jahr, darunter viele Kriegsschiffe. Die Istanbuler interessieren sich kaum dafür, wenn ein moderner Zerstörer mitten durch ihre Stadt fährt. Dabei sollte man genau hinschauen, wenn die »Porter« unterwegs ist, denn das Schiff hat schon mehrere Kriegseinsätze im östlichen Mittelmeer hinter sich. Die »Porter«, die zur 6. US-Flotte gehört, feuerte im Jahr 2003 aus dem Mittelmeer ihre Tomahawk-Raketen auf den Irak, um die US-Invasion zur Entmachtung von Saddam Hussein zu unterstützen. Im April 2017 war sie erneut im östlichen Mittelmeer im Kriegseinsatz: Damals schoss sie Raketen auf einen Luftwaffenstützpunkt in Syrien ab, nachdem syrische Regierungstruppen im Kampf gegen Rebellen offenbar Giftgas eingesetzt hatten.

Diesmal nahm die »Porter« nur gemeinsam mit Schiffen aus sieben anderen Ländern an einem Manöver im Schwarzen Meer teil. Doch sie schickte damit ein Signal an Russland, das seit einigen Jahren aus dem Schwarzen Meer heraus seine Marine-Verbände im östlichen Mittelmeer verstärkt. Russland unterhält einen Marinestützpunkt an der syrischen Küste, keine 200 Kilometer vom EU-Staat Zypern entfernt, und könnte sich in den kommenden Jahren auch in Libyen militärisch etablieren. Mit ihren Marine-Missionen im Schwarzen Meer wollen die USA demonstrieren, dass sie sehr genau darauf achten, was Russland tut, und dass sie ihre Verbündeten schützen.

Die Fahrt der »Porter«, so alltäglich sie auf den ersten Blick auch schien, war Teil eines internationalen Kräftemessens in einer Region, in der sich mehrere Konflikte überlagern und gegenseitig anfachen. Im östlichen Mittelmeer geht es um Macht, um Öl und Gas und um regional- wie geopolitische Rivalitäten. Die Streitigkeiten zwischen einem Dutzend Staaten haben lange Vorgeschichten. Diese historischen Vorbelastungen beeinflussen das Verhalten der Politiker und die öffentliche Meinung und erschweren oft Lösungen. In Europa mögen »Erbfeindschaften« zwischen Nachbarländern der Vergangenheit angehören – am Ostufer des Mittelmeeres sind sie lebendig.

Ererbte Feindschaften

Rings um das östliche Mittelmeer, am Berührungspunkt der drei Kontinente Europa, Afrika und Asien, prallen seit Jahrtausenden Weltreiche, Kulturen, Völker und Armeen aufeinander. Sie handeln miteinander, kämpfen gegeneinander, vermischen sich und schaffen Neues. Die Region hat Glanzpunkte der Menschheitsgeschichte wie die sieben Weltwunder der Antike und die griechische Klassik hervorgebracht. Von Gebieten, die heute zu Israel, Palästina, Libanon, Syrien und der Türkei gehören, zog das Christentum aus, um die Welt zu verändern. Das östliche Mittelmeer war der Anfangspunkt der Seidenstraße nach China und später die Heimat des islamischen Osmanenreiches. Der Bosporus und der Suezkanal, zwei der wichtigsten Wasserstraßen der Welt, liegen ebenso in der Region wie das antike Olympia und die Stadt Sardes in Kleinasien, in der das Geld erfunden wurde.

Heute macht das östliche Mittelmeer vor allem als Krisenregion weltweit Schlagzeilen: Kriege in Syrien und Libyen, Gasstreit zwischen der Türkei und Griechenland, Konflikt um Zypern, Dauerkrach zwischen der Türkei und der EU, Kollaps staatlicher Institutionen im Libanon, der israelischpalästinensische Konflikt, Militärherrschaft in Ägypten. Die Region exportiert Instabilität: Im Jahr 2015 wurde Europa von einem Migrationsschub aus dem östlichen Mittelmeerraum erschüttert, der in etlichen Staaten der EU rechtspopulistische Kräfte stärkte und zum Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union beitrug.

Lange ordnete sich das östliche Mittelmeer in das globale Muster des Kalten Krieges ein, das mit seinen klar umrissenen Einflusssphären viele regionale Konflikte kalkulierbar und beherrschbar machte. Nie wäre es den USA in dieser Zeit in den Sinn gekommen, Truppen in den sowjetischen Partnerstaat Syrien zu schicken – heute sind dort mehrere tausend US-Soldaten stationiert.

Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991 herrschte in den ersten Jahren noch weitgehende Stabilität in der Region, weil die USA als unangefochtene Supermacht allein auf der Bühne zurückgeblieben waren, während Russland als Weltmacht ausfiel. Doch heute meldet sich Russland zurück und versucht, seinen Einfluss in der Region wieder auszuweiten. Das hat Folgen für alle Staaten und alle Konflikte im östlichen Mittelmeer.

Die wiedererwachte Konkurrenz der Supermächte schafft neue Streitfälle, heizt bestehende an und verschafft beteiligten Regierungen und Autokraten mehr Möglichkeiten zur Profilierung und Bündnisbildung. Das Ergebnis ist eine Vielzahl von verblüffenden und verwirrenden Konstellationen, bei denen die Politiker wie Jongleure immer mehr Bälle in der Luft zu halten versuchen. So arbeiten die Türkei und Russland in Syrien eng zusammen, obwohl sie im Bürgerkrieg dort verschiedene Seiten unterstützen. Russland verkauft der Türkei ein milliardenschweres Flugabwehrsystem, bemüht sich aber gleichzeitig um gute Beziehungen zu Zypern, das mit der Türkei im Streit liegt, und unterstützt im Libyen-Konflikt den Rebellengeneral Khalifa Haftar, einen Gegner Ankaras. Zu den Ad-hoc-Allianzen, wechselnden Loyalitäten und historischen Rivalitäten kommen divergierende wirtschaftliche Interessen und konkurrierende Ansprüche auf Energiequellen: Im Osten Syriens geht es um Erdöl, unter dem Meeresboden zwischen Zypern, Ägypten und Israel um Erdgas, und in Libyen geht es um beides.

Dieses an sich schon brandgefährliche Konfliktgemisch breitet sich in einer Region aus, in der mehrere Staaten schon »gescheitert« sind und wo Institutionen und die legitime Autorität einer Regierung über ihr Land zusammenbrechen. Syrien und Libyen gehören dazu, doch auch der Libanon steht am Abgrund. Andere Länder werden von Autokraten regiert. Die Europäische Union hat mit Griechenland und Zypern zwei Mitgliedsländer im östlichen Mittelmeer, versagt aber bei der Aufgabe, die Region mit einer einheitlichen Politik mitzugestalten. Diese Instabilität gibt entschlosseneren – oder rücksichtsloseren – Akteuren die Chance, ihren eigenen Einfluss auszuweiten.

Der französische Präsident Emmanuel Macron zählte in einem Video-Grußwort für eine Konferenz im schweizerischen Lugano im September 2020 die Gefahren auf, die Europa aus dieser Region drohen. Vor einer europäischen und einer französischen Fahne stehend, warnte Macron, das Gleichgewicht der Kräfte im Mittelmeer sei ins Wanken geraten. Der Schutzschirm der USA und der NATO sei so gut wie verschwunden. Syrien und Libyen würden von »permanenten Kriegen« zerrissen, während mit Russland und der Türkei zwei regionale Großmächte ihren Einfluss geltend machten. Der Terror des Islamischen Staates (IS) sei trotz der Erfolge in den vergangenen Jahren noch nicht besiegt, die Flüchtlingskrise nicht bewältigt.

Macron forderte insbesondere wegen des Streites um Gasvorräte unter dem Meeresboden eine neue Friedensordnung für die Weltgegend – eine »Pax Mediterranea«, wie er es formulierte. Wie diese Ordnung aussehen soll, deutete der Präsident nur an. Mit Blick auf den Streit um Gebietsansprüche und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer gehört für ihn eine europäische Reaktion auf das offensive Auftreten der Türkei und die russischen Ambitionen in der Region auf jeden Fall dazu.

Die Gewichte verschieben sich

Dieses Buch will erklären, was hinter den diversen Konflikten steckt, was die Akteure antreibt und warum es so schwer ist, Lösungen für die Probleme zu finden. Es beleuchtet die Verbindungen und die gefährliche Dynamik zwischen den einzelnen Krisenherden sowie den historischen Ballast, den die beteiligten Länder und Politiker mit sich herumschleppen. Geschrieben in der Türkei, einem der wichtigsten Machtzentren in diesen Entwicklungen, soll das Buch einen Überblick über die Vielzahl von Konflikten und Kriegen bieten, die das Geschehen in dieser Region prägen. Es erhebt keinen Anspruch auf eine umfassende Darstellung jeder Facette – wenn Leserinnen und Leser nach der Lektüre das Gefühl haben, dass sie die Ereignisse im östlichen Mittelmeer besser einordnen und verstehen können, dann hat das Buch seinen Zweck erfüllt. Es ist so angelegt, dass jedes Kapitel für sich alleine steht und der Leser einzelne Themen überspringen kann, ohne dass der Gesamtzusammenhang verloren geht.

Um Ordnung ins Chaos zu bringen, ist das Buch folgendermaßen gegliedert: Teil I beschreibt die verschiedenen Wurzeln der vielen Probleme in dieser Weltgegend. Am Anfang steht ein historischer Überblick, der die wichtigsten Trends von der Antike bis zur Neuzeit beschreibt. Dabei soll deutlich werden, dass regionale Rivalitäten und die Einmischung von Großmächten aus anderen Weltgegenden im östlichen Mittelmeer keine modernen Erfindungen sind. So geht die Grenzziehung zwischen etlichen Staaten der Region auf Entscheidungen von Staaten zurück, die Tausende Kilometer vom östlichen Mittelmeer entfernt liegen.

Um den sogenannten Arabischen Frühling, der die heutige Lage maßgeblich mit herbeigeführt hat, geht es in einem eigenen Kapitel. Die Kriege in Syrien und Libyen sind Folgen der Volksaufstände des Jahres 2011, die von Tunesien bis Jemen langjährige Herrscher hinwegfegten, dem östlichen Mittelmeer aber letzten Endes keinen Frieden bringen konnten.

Der Migration ist ein weiteres Grundsatzkapitel gewidmet. Es befasst sich mit der Flüchtlingskrise von 2015 und der Fluchtbewegung aus Libyen über das Mittelmeer nach Südeuropa.

Zu der Verschiebung der Kräfteverhältnisse im östlichen Mittelmeer hat zudem ein neues Selbstverständnis der Türkei beigetragen, die sich unter Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht mehr als treue Verbündete des Westens sieht, sondern als eigenständige Regionalmacht, die bereit ist, ihre Interessen politisch, wirtschaftlich und auch militärisch durchzusetzen – auch gegen Europa und die USA. Diese neue Außenpolitik Ankaras ist Thema des anschließenden Kapitels.

Mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der Türkei geht ein Rückzug der USA aus dieser Weltgegend einher, der ebenfalls in einem eigenen Kapitel betrachtet wird. Schließlich schauen wir uns die Rückkehr Russlands in den Nahen Osten an, die ein weiterer entscheidender Faktor hinter den Entwicklungen der vergangenen Jahre war.

Teil II des Buches geht zunächst auf die verschiedenen Konflikte ein, die heute das östliche Mittelmeer aufwühlen. Dazu gehören der Dauerstreit zwischen der Türkei und dem Nachbarn Griechenland, der Zypern-Konflikt und der Streit um die Erdgasvorkommen unter dem Meeresboden. Der Syrien-Krieg und die Krise im Libanon werden ebenso beleuchtet wie der israelisch-palästinensische Konflikt, die Herrschaft der Generäle in Ägypten und der Konflikt in Libyen. Der Terrorismus spielt ebenfalls eine wichtige Rolle für die Entwicklung in dieser Weltgegend – und für ihren Ruf im Westen. Als Beispiele nimmt das Buch den IS und die PKK unter die Lupe. Eine Betrachtung des türkisch-russischen Bündnisses und ein Blick auf die Rolle der EU schließen das Buch ab.

Kein Zweifel ist möglich: Diese faszinierende und problembeladene Weltgegend wird Europa auch in den kommenden Jahren noch viel beschäftigen. Manche Experten halten den gesamten Nahen Osten, zu dem viele der hier betrachteten Länder gehören, für verloren. Die Region schlage sich schon lange mit ausländischen Interventionen, autokratischen Politikern, wirtschaftlicher Ungleichheit, Extremismus, Krieg und Bürgerkrieg herum, schrieb Stephen Cook von der Denkfabrik Council on Foreign Relations im September 2020. »Aber dieses Jahr kommen noch eine globale Pandemie und eine schlimme globale Rezession hinzu, und das lässt die Krise auf ein noch nie dagewesenes Maß anwachsen.« Cook kam zu dem Schluss, es sei an der Zeit, alle Hoffnung für den Nahen Osten fahren zu lassen.

Selbst wenn man Cooks pessimistischer Schlussfolgerung nicht zustimmt, ist doch offensichtlich, dass die Kollision von Konflikten im östlichen Mittelmeer neue Verhältnisse und Machtkonstellationen hervorbringen wird, die Europas Interessen berühren. Eine Türkei, die ihren Machtanspruch bis nach Libyen ausdehnt, gehört ebenso zu den neuen Realitäten wie eine russische Politik, die den Rückzug der USA für sich zu nutzen weiß. Noch steht nicht fest, ob sich Europa zu einer gemeinsamen und wirksamen Reaktion auf diese Entwicklungen durchringen kann. Die bisherigen Erfahrungen machen wenig Hoffnung. Allerdings zeigten einige Politiker wie Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich im Jahr 2020 als Vermittlerin in den Libyen-Konflikt und in den Streit zwischen der Türkei und Griechenland einschaltete, dass sie das Ausmaß der Herausforderungen erkannt haben, vor denen die EU steht. Wird Europa nun auch entsprechend handeln?

I

ANATOMIE EINER KRISENREGION

VÖLKER UND REICHE

Dreitausend Jahre Weltgeschichte

Im Mai des Jahres 1274 vor Christus trafen bei der Stadt Kadesch die Heere des ägyptischen Pharaos Ramses II. und des Hethither-Königs Muwattali II. aufeinander. Es war eine gewaltige Schlacht. Bis zu 6000 Streitwagen, mehr als 50 000 Soldaten und zwei der mächtigsten Herrscher ihrer Zeit standen sich am Fluss Orontes gegenüber, dort, wo heute die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien verläuft. Es ging um Macht, Einfluss und das Gleichgewicht zwischen den Großmächten in der gesamten Region.

Muwattalis Soldaten konnten Ramses zunächst überraschen, am Ende aber keinen entscheidenden Sieg erringen. Ramses zog sich nach Ägypten zurück und ließ sich trotz der durchwachsenen Ergebnisse des Feldzugs als Held feiern – ein frühes Beispiel für die Bedeutung einer guten Propaganda. Anschließend begannen beide Seiten mit langwierigen Verhandlungen, die erst 16 Jahre nach der Schlacht zum Erfolg führten. Doch das lange Warten lohnte sich: Am Ende stand ein Friedensvertrag zwischen Ägyptern und Hethithern, der eine Nichtangriffsvereinbarung und eine gegenseitige militärische Beistandsverpflichtung enthielt und in den Versionen der beiden Verhandlungspartner erhalten geblieben ist. Eine der ersten Friedensvereinbarungen der Weltgeschichte.

Der östliche Mittelmeerraum ist jedoch nicht nur einer der Ursprungsorte der Kunst der Diplomatie. Er ist ganz allgemein eine Wiege unserer Zivilisation. Hier entstanden Jahrtausende vor Christus die ersten Städte, hier wurden die Schrift und das Geld erfunden. Hier wurde der biblische Garten Eden verortet, hier erfand der Mensch die Landwirtschaft, hier wurde der erste Wein gekeltert und das erste Bier gebraut. Hier standen die sieben Weltwunder der Antike – die Pyramiden von Gizeh, der Leuchtturm von Alexandria, die Hängenden Gärten von Babylon, der Koloss von Rhodos, das Mausoleum von Halikarnassos, der Artemistempel von Ephesus und die Zeus-Statue von Olympia. Und hier spielten sich Aufstieg und Niedergang von mächtigen Reichen ab, von den Ägyptern bis zu den Osmanen.

Das Meer selbst spielt in dieser Geschichte seit jeher eine Hauptrolle. Schon 2500 Jahre vor Christus kauften die Ägypter im Libanon wertvolles Zedernholz, das sie mit Schiffen über das östliche Mittelmeer an den Nil bringen ließen. Auch mit Gold, Silber, Kupfer, Öl und Wein wurde gehandelt. Von ihrer Heimat im heutigen Libanon aus segelten die Phönizier bis ins heutige Spanien, sie gründeten Städte wie Marseille und stießen durch die Straße von Gibraltar bis zu den Azoren vor.

Fast 1000 Jahre nach der Schlacht von Kadesch begann Alexander der Große vom heutigen Griechenland aus seine Eroberungszüge durch die Länder an der Ostküste des Mittelmeeres und darüber hinaus. Sie führten ihn durch die heutige Türkei, den Nahen Osten und den Iran bis ins heutige Pakistan. Alexanders Hauptgegner, die Perser, blieben noch lange Rivalen für alle anderen Mächte im östlichen Mittelmeerraum.

In römischer Zeit war die Region die Geburtsstätte des Christentums. Im Jahr 330 nach Christus machte Kaiser Konstantin die nach ihm benannte Stadt Konstantinopel, das heutige Istanbul, zur Hauptstadt des Römischen Reiches. Das von Konstantin zur Staatsreligion erhobene Christentum war lange eine vom östlichen Mittelmeer aus geführte Religion: Die im sechsten Jahrhundert gebaute Hagia Sophia von Konstantinopel war bis zum Bau des Petersdoms in Rom die größte Kirche des Christentums. In sieben Ökumenischen Konzilen in Konstantinopel, Chalkedon (dem heutigen Istanbuler Stadtteil Kadiköy), Nicäa (heute: Iznik) und Ephesus wurden zwischen dem vierten und dem achten Jahrhundert die Grundlagen des heutigen christlichen Glaubens gelegt. Alle Tagungsstätten liegen in der heutigen Türkei.

Im Juli 1054 zerbrach in Konstantinopel die Einheit der Kirche: Ein Abgesandter des Papstes in Rom, Kardinal Humbert von Silva Candida, präsentierte bei einem Besuch am Bosporus dem Patriarchen von Konstantinopel, Michael Kerullarios, am Altar der Hagia Sophia eine Bulle, mit der Kerullarios exkommuniziert wurde. Das war der Moment der Spaltung zwischen westlichen und östlichen Kirchen, die bis heute besteht. Im 13. Jahrhundert wurde Konstantinopel von Kreuzrittern aus Westeuropa geplündert.

Vom siebten Jahrhundert an tauchte eine neue Religion und eine neue Macht in der Region auf: der Islam. Nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 begannen seine Nachfolger, die Kalifen, mit Feldzügen, die zunächst der Unterwerfung abtrünniger Stämme auf der arabischen Halbinsel galten, aber wegen der Schwäche des Byzantinischen Reiches rasch an Fahrt gewannen. Schon zehn Jahre nach Mohammeds Tod standen die Araber im heutigen Syrien. Kurz darauf stießen sie nach Ägypten vor, marschierten weiter bis nach Marokko und setzten nach Spanien über. Zum Wendepunkt wurde aus westlicher Sicht erst die legendenumwobene Schlacht von Tours im Jahr 732, in der Karl Martell ein islamisches Heer besiegte. Die tatsächliche militärische Bedeutung der Schlacht ist durchaus umstritten, aber zumindest nach Meinung seiner Bewunderer rettete Karl Martell damals das christliche Abendland vor der Eroberung durch die Muslime.

Das Byzantinische Reich als östlicher Nachfolger des römischen Imperiums musste schon bald nach Beginn der arabischen Feldzüge die ersten Belagerungen von Konstantinopel abwehren. Das gelang mit Hilfe starker Stadtmauern und mit dem Einsatz des »Griechischen Feuers«, einer Art Napalm. Doch der Druck aus dem Osten wurde stärker. Im August 1071 unterlag der byzantinische Kaiser Romanos IV. in Malazgirt im Osten der heutigen Türkei dem Seldschukenfürsten Alp Arslan. Die Schlacht wird in der heutigen Türkei als Beginn der islamischen Herrschaft über Anatolien gefeiert. Die Minarette der von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2019 eingeweihten riesigen Camlica-Moschee in Istanbul sind zum Gedenken an die Schlacht genau 107,1 Meter hoch.

Aus den Reihen der Seldschuken ging eine Fürstenfamilie hervor, die einem Weltreich ihren Namen geben sollte: die Osmanen. Die Dynastie, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges herrschte, hatte ein Gebiet unter ihrer Kontrolle, das zeitweise von den Toren Wiens über den Balkan bis nach Arabien, Ägypten und Nordafrika reichte. In den heutigen Konflikten im östlichen Mittelmeer spielt die Erinnerung an die 600-jährige Geschichte des Osmanenreiches eine wichtige Rolle. Während türkische Politiker die osmanische Zeit als Ära eines friedlichen Zusammenlebens verschiedener Völker und Religionen verklären und mit dieser Geschichte heutige Interventionen wie in Libyen rechtfertigen, blicken Länder wie Griechenland auf die osmanische Vergangenheit als Zeit der Zwangsherrschaft zurück und haben die Türkei im Verdacht, Großmachtträumen nachzuhängen.

Nach spektakulären Erfolgen und Expansionen – Einnahme von Konstantinopel 1453, Eroberung von Kairo und Mekka 1517 – war das Osmanenreich unter Sultan Süleyman dem Prächtigen, der von 1520 bis 1566 regierte, auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Türkei kennt Süleyman bis heute als »Kanuni«, den Gesetzgeber. Sein Hofarchitekt Mimar Sinan baute unter anderem die Süleymaniye-Moschee in Istanbul und wurde für Generationen zum richtungsweisenden Gestalter.

Der lange Niedergang des Osmanischen Reiches

Der Tod von Sultan Süleyman wird häufig als Beginn des langen Niedergangs des Osmanischen Reiches bis zu seiner Auflösung nach dem Ersten Weltkrieg gesehen. Obwohl dies eine verkürzte Darstellung ist, steckt ein Kern Wahrheit in ihr. Die Osmanen, die dem Westen lange überlegen waren, fielen zurück. Ein entscheidendes Ereignis war dabei die Entdeckung des Seeweges nach Indien und China durch die Europäer: Der Portugiese Vasco da Gama segelte im Jahr 1497 von Lissabon zum Kap der Guten Hoffnung und weiter nach Kalkutta, das er 1498 erreichte. Die Folgen davon bekam das Osmanische Reich schnell zu spüren. Lange hatten die Osmanen vom Handelsaustausch auf der Seidenstraße zwischen China und Indien auf der einen und Europa – vor allem reichen italienischen Stadtstaaten wie Venedig – auf der anderen Seite profitiert. Doch dank der neuen Route um Afrika herum sicherten sich nun die Europäer ein immer größeres Stück vom Handel mit Asien. Das schwächte zwangsläufig die Stellung der Osmanen.

Die vielen Kriege des Osmanischen Reiches gegen Österreich, Russland und Persien sowie innere Spannungen durch Aufstände der Elitetruppe der Janitscharen und die Schwäche einer Reihe von Sultanen forderten ihren Tribut. Im Jahr 1683 scheiterte Sultan Mehmed IV. bei dem Versuch, Wien einzunehmen. Ungarn und Kroatien gingen für die Osmanen verloren, das Reich geriet in die Defensive.

In den Konflikten und wechselnden Allianzen der folgenden Jahrhunderte wirkten viele Mächte mit, deren Erben auch heute die Entwicklungen in der Region mitbestimmen. Russland erkämpfte sich im 18. Jahrhundert die südliche Ukraine. Nach dem Türkisch-Russischen Krieg in den Jahren 1768 bis 1774 mussten die Osmanen den Landstrich an Russland abgeben. Das hatte Folgen für den östlichen Mittelmeerraum: Das Schwarze Meer war nun kein osmanisches Gewässer mehr. Russland erhielt das Recht, Schiffe durch den Bosporus und die Dardanellen ins Mittelmeer zu schicken. Außerdem wurde Moskau zum Beschützer orthodoxer Christen im Osmanischen Reich erklärt. Russland erhielt damit das Recht, sich in innerosmanische Angelegenheiten einzumischen.

Auch andere europäische Mächte sicherten sich im Laufe der Jahrhunderte solche Sonderrechte, die als »Kapitulationen« bezeichnet werden und in der Türkei bis heute als Symbole des westlichen Imperialismus gelten. Zu diesen Akteuren gehörten die Briten, die seit dem 16. Jahrhundert mit den Osmanen Handel trieben. Im frühen 19. Jahrhundert weitete die britische Politik ihren Einfluss im östlichen Mittelmeer erheblich aus. Bis zum Ende der Kolonialzeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das Vereinigte Königreich eine der wichtigsten Mächte in der Region.

Für das britische Empire war der östliche Mittelmeerraum vor allem wegen der wachsenden Bedeutung Indiens interessant. Um Handels- und Kommunikationswege zwischen London und den Gebieten der East India Company möglichst kurz und sicher zu halten, übernahmen die Briten unter anderem Gibraltar und Malta. Weil es damals noch keinen Suezkanal gab, mussten Reisende und Güter auf dem Weg von und nach Indien entweder um Afrika herum transportiert werden oder über das Mittelmeer mit einer Etappe über Land bis zum Persischen Golf oder zum Roten Meer. Der Persische Golf, die Region der heutigen Länder Iran, Irak, Syrien und Libanon sowie Ägypten waren deshalb von großer Bedeutung für die britische Politik. Der Nahe Osten wurde zudem zu einem wichtigen Markt für britische Exporteure, die zum Beispiel billige Textilien in die Region lieferten.

Die britische Rivalität mit Frankreich und Russland wurde zur Triebfeder für eine Zusammenarbeit zwischen London und dem Osmanischen Reich. Napoleon, damals ein ehrgeiziger französischer General, kam Ende des 18. Jahrhunderts mit einer Armee nach Ägypten, das zum Osmanischen Reich gehörte, um die britischen Handelswege zu stören und Handelsvorteile für Frankreich zu sichern. Sein Sieg in der Schlacht an den Pyramiden im Jahr 1798 war deshalb eine erhebliche Bedrohung für Großbritannien. Drei Jahre später wurden die Franzosen von der britischen Armee wieder aus Ägypten vertrieben. Weiter östlich befürchtete das britische Empire einen wachsenden Einfluss Russlands auf Persien und Afghanistan. Diese als »Großes Spiel« bekannte Konkurrenz drehte sich ebenfalls um die Sicherung Indiens für das britische Weltreich.

Das im Niedergang begriffene Osmanische Reich wurde für Großbritannien in diesem Zusammenhang ein wichtiger Verbündeter. London stand zum Beispiel im Krimkrieg der Osmanen gegen Russland in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Seite des Sultans. Kurze Zeit später erhielten die Briten die Erlaubnis zur Truppenstationierung auf der damals osmanischen Insel Zypern. Auch hier stand für London die Sicherung des östlichen Mittelmeeres und damit der Verbindungswege nach Indien im Mittelpunkt. Erst im Jahr 1960 entließ Großbritannien die Insel in die Unabhängigkeit.

Auch in Ägypten griffen die Briten zugunsten der Osmanen ein. Nach der Vertreibung der Franzosen riss in Kairo der Osmanen-General Mohammed Ali die Macht an sich, vergrößerte sein Herrschaftsgebiet mit der Eroberung Syriens und ließ Truppen unter dem Befehl seines Sohnes Ibrahim in Richtung Anatolien marschieren. Nur ein Not-Bündnis des Sultans mit Russland verhinderte 1833 die Einnahme der Hauptstadt Konstantinopel durch ägyptische Truppen. Anschließend intervenierten Großbritannien und Frankreich, um Mohammed Ali zum Rückzug aus Anatolien zu zwingen – wieder befürchtete London eine Erweiterung des russischen Einflusses. In den 1880er-Jahren wurde Ägypten zu einem britischen Protektorat.

Der fortschreitende Verfall der osmanischen Herrschaft – die Bezeichnung des Reiches als »kranker Mann Europas« geht auf diese Zeit zurück – veränderte auch die Gleichgewichte im nördlichen Teil des östlichen Mittelmeeres. Mit dem Scheitern der Belagerung von Wien hatte eine langsame Rückwärtsbewegung begonnen, die die Osmanen im Laufe der Zeit ihre Herrschaftsgebiete auf dem Balkan kostete. Wie im Nahen Osten griffen auch hier die wichtigen europäischen Mächte ein. Serben, Bulgaren und Griechen erhielten bei ihren Unabhängigkeitsbestrebungen Unterstützung von Russland, Großbritannien und Frankreich. Das wachsende Nationalbewusstsein, der religiöse Gegensatz zwischen den orthodoxen Christen auf dem Balkan und den islamischen Osmanen und das damit verbundene Misstrauen gegenüber der Türkei wirken bis heute fort und bilden einen wichtigen Faktor in den aktuellen Spannungen in der Region. Die Kriege auf dem Balkan und im Kaukasus trieben Millionen von muslimischen Flüchtlingen in die heutige Türkei, was ebenfalls die Politik bis heute beeinflusst.

Wegen der anhaltenden Krise musste das Osmanische Reich immer mehr Kredite bei westlichen Staaten aufnehmen. Am Ende stand der Staatsbankrott: 1875 war das ehemalige Weltreich pleite. Die westlichen Gläubiger schufen eine eigene Institution, um nach einer Neustrukturierung die Rückzahlung der osmanischen Schulden zu organisieren. Zusammen mit den »Kapitulationen« und der Macht westlicher Banken im Osmanischen Reich schränkte dies die Handlungsfähigkeit des Reiches stark ein. Zwar konnte so in den Folgejahren die Kreditwürdigkeit des osmanischen Staates wiederhergestellt werden. Doch der Staatsbankrott verdeutlichte, wie sehr das Reich vom Wohlwollen der Europäer abhängig war.

Während das Osmanische Reich immer tiefer in militärischen, politischen und finanziellen Problemen versank, wurde die geostrategische Bedeutung des östlichen Mittelmeeres durch ein Jahrhundertbauwerk weiter gesteigert: den 1869 eingeweihten Suezkanal. Die Wasserstraße verkürzte die weltweiten Handelswege, weil bei Reisen zwischen der amerikanischen Ostküste oder Europa und Asien der afrikanische Kontinent nicht mehr umfahren werden musste. Heute passieren rund zwölf Prozent des Welthandelsvolumens den Kanal. Die Durchfahrtgebühren bringen Ägypten jedes Jahr Milliardensummen ein. Zunächst aber sicherte sich das britische Weltreich die Kontrolle über den für die Verbindung nach Indien wichtigen Kanal und zementierte diese Kontrolle noch einmal in einem Vertrag mit Ägypten im Jahr 1936.

Der Erste Weltkrieg wurde zum Todesstoß für das Osmanenreich. Der Sultan verbündete sich mit Deutschland und machte sich damit Großbritannien, Frankreich und Russland zu Kriegsgegnern. Nach anfänglichen Erfolgen wie in der Schlacht von Gallipoli 1915, als osmanische Soldaten einen Angriff von britischen, australischen und neuseeländischen Soldaten auf die Meerenge der Dardanellen in verlustreichen Kämpfen zurückschlugen, gerieten die Osmanen in die Defensive. Libyen war schon fünf Jahre vor dem Krieg an Italien verloren gegangen. Nun fiel der Nahe Osten ebenfalls an die Gegner. Großbritannien und Frankreich teilten im sogenannten Sykes-Picot-Abkommen von 1916 das heutige Gebiet von Libanon, Syrien und Irak unter sich auf, der britische General Edmund Allenby nahm ein Jahr später Jerusalem ein. Rund 400 Jahre nach ihren ersten Eroberungen in Arabien wurden die Osmanen aus dem Nahen Osten vertrieben.

Wende nach dem Ersten Weltkrieg

Angesichts der absehbaren Niederlage des Osmanischen Reiches machten sich die künftigen Siegermächte des Ersten Weltkrieges daran, die Reste des osmanischen Territoriums unter sich aufzuteilen. Griechen, Italiener, Franzosen und Briten besetzten Teile der heutigen Türkei – Ereignisse, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Türken eingegraben haben und die bis heute ein weitverbreitetes Misstrauen gegen das westliche Ausland und die Furcht vor einer Einkreisung begründen. Unter dem späteren Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, schlugen die Türken die griechische Besatzungsarmee in Westanatolien im Jahr 1922 zurück. Auch die Besatzung Istanbuls durch westliche Truppen endete. Ein Jahr später rief Atatürk die Republik aus.

Im Friedensvertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 musste sich die Türkei mit dem Verlust vieler wichtiger Gebiete im östlichen Mittelmeer abfinden. So gingen die meisten Ägäis-Inseln an Griechenland. Die genaue Grenzziehung zwischen den beiden Staaten wurde damals nicht endgültig geklärt – ein Versäumnis, das bis heute nachwirkt. Atatürk verpflichtete die Außenpolitik des neuen Staates zwar auf die Formel »Frieden der Heimat, Frieden der Welt«; im Zweiten Weltkrieg bewahrte die Türkei ihre Neutralität. Doch die ungelösten Konflikte aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rückten nur in den Hintergrund, sie verschwanden nicht. Heute denken türkische Nationalisten hin und wieder laut über türkische Ansprüche auf die erdölreiche Stadt Mossul im Nordirak oder im östlichen Mittelmeer nach.

Für die Dauer des Kalten Krieges gerieten diese Fragen erst einmal in Vergessenheit. Die USA wurden zum bestimmenden Partner der Türkei. Zusammen mit Griechenland sicherte die Türkei nach dem NATO-Beitritt beider Länder im Jahr 1952 die Südostflanke des Bündnisses. Die Türkei schickte sogar Soldaten in den Koreakrieg, um ihre Bündnistreue zu beweisen. Gleichzeitig entwickelten sich enge Beziehungen zwischen der Türkei und Israel – 1949 war die Türkei das erste muslimische Land, das den jüdischen Staat anerkannte. Ermuntert von den USA, bauten die beiden Länder vor allem ihre militärische Zusammenarbeit aus.

Der Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn prägte die Entwicklung im östlichen Mittelmeer ebenfalls. Gleich nach der Staatsgründung wurde Israel von Staaten der Arabischen Liga angegriffen, konnte die Angreifer aber schlagen. Hunderttausende Palästinenser wurden zu Flüchtlingen. Auch der Sechstagekrieg im Jahr 1967 endete mit einer Demütigung der Araber. Israel eroberte Ost-Jerusalem und das Westjordanland, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel. Dagegen erlitt der jüdische Staat im Jom-Kippur-Krieg 1973 schwere Verluste. Gleichzeitig nahm die Gewalt militanter Palästinenser zu. Lange hatte Israel nur mit zwei arabischen Staaten Friedensverträge: Ägypten und Jordanien. Erst 2020 folgten nach amerikanischer Vermittlung weitere Grundsatzvereinbarungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Bahrain, Sudan und Marokko. Die Palästinenser-Frage bleibt trotz vorübergehender Einigung auf eine Zwei-Staaten-Lösung für das friedliche Zusammenleben von Israel und Palästina bis heute ungelöst.

Dass Großbritannien und Frankreich nicht mehr die entscheidenden ausländischen Akteure im Nahen Osten waren und von den USA abgelöst wurden, zeigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Rückzug der Sykes-Picot-Mandatsmächte aus der Region. 1946 erhielten Syrien, Libanon und Jordanien die Unabhängigkeit von Frankreich und Großbritannien. Libyen wurde 1951 ein eigener Staat. Ägypten war schon seit 1922 nominell unabhängig, blieb aber bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges unter britischem Einfluss.

Die Suezkrise 1956 markierte den Machtverlust von Großbritannien und Frankreich und gleichzeitig die wachsende Bedeutung der USA und der Sowjetunion. Nach der Verstaatlichung des Suezkanals durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser wollten Israelis, Briten und Franzosen zusammen in Ägypten angreifen, doch die Aktion begann wegen einer zweitägigen Verspätung der Europäer mit einem alleinigen Vorstoß Israels. Nachdem britische und französische Truppen angekommen waren, konnten die Angreifer die Gegend um den weltwirtschaftlich wichtigen Kanal unter ihre Kontrolle bringen, doch als Verbündeter von Nasser drohte Moskau mit Atomangriffen in Europa. Auch die USA setzten Großbritannien, Frankeich und Israel unter starken Druck und drohten ihnen mit Wirtschaftssanktionen. Die Truppen mussten sich zurückziehen – eine Demütigung für die früheren Weltmächte Großbritannien und Frankreich.

In manchen Ländern des östlichen Mittelmeeres kamen autokratische Herrscher an die Macht, die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen aus Eigeninteresse bremsten. Sie hinterließen eine Erbschaft von Spannungen und ungelösten Problemen, die bis heute nachwirkt. In Syrien gewannen nach der Unabhängigkeit die Anhänger panarabischer Ideen an Einfluss. Von 1958 bis 1961 bildete Syrien zusammen mit Nassers Ägypten einen gemeinsamen Staat, die Vereinigte Arabische Republik. Schon 1956 begann mit einer Vereinbarung zwischen Damaskus und Moskau zudem der russische Einfluss im Land. Im Jahr 1970 putschte sich der damalige Verteidigungsminister Hafez al-Assad an die Macht und errichtete eine Dynastie: Seit dem Tod des älteren Assad im Jahr 2000 wird das Land von seinem Sohn Baschar regiert, seit zehn Jahren herrscht Bürgerkrieg. Der jüngere Assad hat den alten Verbündeten Russland zur Hilfe gerufen, um seine Macht zu retten.

Auch in Ägypten verfestigte sich die Herrschaft autokratischer Präsidenten. Nach Nassers Tod an einem Herzinfarkt im Jahr 1970 übernahm sein Vizepräsident Anwar al-Sadat die Macht. In seinen elf Jahren als Staatschef richtete er die ägyptische Politik neu aus, schlug einen entschiedenen Westkurs ein und unterzeichnete den bereits erwähnten Friedensvertrag mit Israel. Sadat wurde 1981 von islamistischen Extremisten ermordet, sein Stellvertreter Hosni Mubarak beerbte ihn. Mubarak regierte das Land 30 Jahre lang, bis er im Arabischen Frühling von 2011 entmachtet wurde. Nach einem kurzen Zwischenspiel des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi, der schon ein Jahr nach seinem Amtsantritt im Jahr 2013 gestürzt wurde, kehrte das Land unter Präsident Abdel Fattah el-Sisi zur Tradition der säkulären Autokratie zurück.