Machtmaschinen - Thomas Ramge - E-Book

Machtmaschinen E-Book

Thomas Ramge

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Beschreibung

Digitalen Superstarfirmen ist es in den vergangenen zwanzig Jahren gelungen, die meisten und relevantesten Daten auf ihren Servern zu zentralisieren. Diese Datenmonopole mögen zwar gut für die Aktionäre von Facebook, Amazon und Google sein, aber sie sind schlecht für den Fortschritt. Denn damit wir Alzheimer besiegen, die Bahn pünktlich machen und Armut erfolgreich bekämpfen können, müssen alle Zugriff auf Daten haben – vom Wissenschaftler über den innovativen Mittelständler bis zum Sozialarbeiter. Es wird also Zeit, die datenreichen Superstarfirmen zu verpflichten, ihre Datenschätze mit anderen zu teilen – und Datenschutz neu zu denken. Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger fordern eine Abkehr vom Datenschutz deutscher Prägung und machen sich stark für eine Datennutz-Grundverordnung, die für unseren Wohlstand so notwendig wie die Datenschutz-Grundverordnung für unsere bürgerlichen Rechte ist. "Machtmaschinen" ist ein ökonomisch kluges, technisch kompetentes und politisch streitbares Buch für eine neue Kultur des Daten-Teilens.

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Warum Datenmonopole unsere Zukunft gefährden und wie wir sie brechen

Thomas RamgeViktor Mayer-Schönberger

MACHTMASCHINEN

»Nichts im Leben ist zum Fürchten, wir müssen es nur verstehen. Jetzt ist die Zeit mehr zu verstehen, damit wir uns weniger fürchten.«

Marie Curie

Inhalt

Einleitung:

Informationsmacht

I

Datenalchemismus

II

Schumpeters Albtraum

III

Datenmonopolkapitalismus

IV

Ermächtigungsmaschinen

V

Datennutz-Grundverordnung

VI

Open Data reloaded

VII

Tech Cold War und Datenkolonialismus

Ausgewählte Quellen und weiterführende Literatur

Dank

Informationsmacht

Anfang der 1730er-Jahre übergab ein junger Drucker und Verleger aus Philadelphia den Postreitern der Stadt ­regelmäßig heimlich zwei Bündel: ein großes Bündel seiner Zeitung Penn­syl­vania Gazette und ein kleineres mit Geldscheinen. Die Scheine waren nicht etwa für das Porto. Sie waren Bestechungs­geld. Dem jungen Drucker blieb nichts anderes übrig. Sein Na­­me war Benjamin Franklin.

Das fünfzehnte Kind eines Seifen- und Kerzenmachers hatte die Gazette von Samuel Keimer übernommen, einem schil­lernden Verleger mit hohen Schulden, der nach kurzzeitiger Haft vor seinen Schuldnern in die Karibik floh. Der junge Frank­­lin war nicht nur ehrgeizig und geschäftstüchtig, sondern zudem ein brillanter Essayist mit Gespür für die Themen, die eine wachsende Schicht aufgeklärter Bürgerinnen und Bürger im vor­revolutionären Amerika interessierte. Die Zeitung unter sei­ner Führung galt bald als geistreich, unterhaltsam und politisch klug, ohne einen radikal aufrührerischen Ton gegen die bri­tische Kolonialmacht anzuschlagen. Doch zugleich war sie durch­­drungen von der Überzeugung, dass Pressefreiheit ­irgendwann den Weg zu einer amerikanischen Demokratie ebnen würde.

Die Qualität seiner Zeitung half dem talentierten Verleger wenig, sie groß und einflussreich zu machen. Denn der He­raus­ge­ber der größten Zeitung von Philadelphia, des American Weekly Mercury, war im Unterschied zu dem späteren Gründer­vater zwar kein brillanter Essayist. Er hatte aber ein Nebenamt im Auf­trag der britischen Krone inne. Der Mann hieß Andrew Brad­ford und war Postmeister der Stadt Philadelphia.

Ein kolonialer Postmeister in Amerika entschied seinerzeit nach Gutdünken, welche Zeitungen kostenlos mit der Post ver­schickt werden konnten und welche Publikationen gar nicht. Im Klartext: Die Kontrolle über Informationen und ihre wirtschaftliche Verwertung hatte ein von Eigeninteressen geleiteter Funktionsträger der Königin von England. Der Mercury wurde verschickt, die Gazette nicht. So einfach war das. Benjamin Frank­lin spielte das Spiel notgedrungen mit. Er bestach, wann immer er konnte, die Postboten und hielt die Gazette damit halb­wegs über Wasser. Doch 1736 wendete sich das Blatt.

Der britisch-koloniale Generalpostmeister war zunehmend unzufrieden mit Bradfords Diensten, vor allem mit dessen erwirtschafteten Gewinnen. Deshalb ernannte er den erkennbar fähigeren Verleger Benjamin Franklin zum regionalen Postfürs­ten. Dieser stellte die unfaire Wettbewerbsverzerrung bei der Zeitungsverbreitung umgehend ein. Nun wurden alle Zeitungen der Kolonie Pennsylvania zu gleichen Konditionen transportiert. Die Philadelphia Gazette steigerte fortan kontinuierlich ihre Auflage. Die Erfahrung von Machtmissbrauch beim wichtigsten Vertriebskanal von Information im Neuengland unter britischer Krone prägte Franklin wiederum für den Rest seines politischen Lebens. Und Post blieb ein Lebensthema für ihn. 1757 übernahm er das Amt des Co-Postmeisters der britischen Krone für alle amerikanischen Kolonien, das er kurz vor der Ame­rikanischen Revolution wegen zu großer Nähe zu den Rebel­­len wieder abgeben musste. Im Zweiten Kontinentalkon­gress trieb Benjamin Franklin die Einrichtung einer unabhängigen amerikanischen Post voran, des heutigen United States Postal Service. Diesem stand er ab 1775 dann wieder als erster Generalpostmeister vor. Ein unabhängiger Postdienst wurde als Bundesbehörde explizit in der Verfassung verankert. Das Postgesetz trug wieder Franklins Handschrift. Alle Zeitungen, die damals mit Abstand wichtigste Informationsquelle für Bür­­gerinnen und Bürger, mussten kostengünstig und zu gleichen Konditionen von der Post im ganzen Land transportiert werden. Die Post war endgültig Teil des Gründungsmythos der USA.

Für die Gründerväter war bereits klar, was heute, mehr als zwei Jahrhunderte Demokratiegeschichte später, selbstver­ständ­lich erscheint: Der Zugang zu Informationen ist die wich­tigste Grundlage demokratischer Willensbildung. Das Prinzip der Pressefreiheit schließt ein, dass Informationen, Einschätzungen und Meinungen nicht nur aufgeschrieben werden kön­nen, sondern auch ihren Weg zu den Nutzerinnen und Nutzern der Information finden.

Zeitsprung. In Europa stehen zeitgleich nach Aufhebung des ersten Lockdowns Politik und Gesellschaft, aber auch jede und jeder Einzelne vor wichtigen Entscheidungen: Wo ist was wieder möglich? Wie lassen sich weitere Wellen der Pandemie schneller, besser und vor allem gezielter in den Griff bekommen? Dafür braucht es Informationen – nicht bloß zum Virus, sondern zu seinen Verbreitungswegen und dem Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern. Telekommunikations- und Naviga­tionsanbieter stellen Daten zur regionalen Mobilität zur Verfügung. Vor allem aber setzen europäische Regierungen auf Tracing-Apps. Diese sollen einerseits Menschen informieren, wenn sie mit einem Infizierten Kontakt hatten. Eine Reihe von Staaten möchte aber auch in anonymisierter Form über die Tracing-App Informationen über eine mögliche regionale Ver­breitung der Infektion bekommen. So ließen sich unter Umständen neue umfassende Lockdowns vermeiden und durch gezielte, örtlich und zeitlich begrenzte Maßnahmen ersetzen.

Darum verhandeln europäische Regierungen mit den US-­Konzernen Google und Apple. Denn diese beiden Unternehmen dominieren den Markt der Smartphone-Systeme. Ihre Hil­fe und Unterstützung sind notwendig, um Tracing-Apps sinn­voll einsetzen zu können. Sonst funktioniert die Abstands­messung nicht und die App im App-Store kann nicht installiert und gefunden werden. Zur Überraschung der europäischen Re­gierungsbeauftragten lehnen die kalifornischen Duopolisten ab und übernehmen eine Rolle, in der sich üblicherweise der europäische Datenschutz wohlfühlt: als Missionar der Datensparsamkeit. Die Kehrtwende der kalifornischen Unternehmen Richtung Schutz von Privatheit vollzog sich ausgerechnet im Kontext einer Frage, deren Beantwortung in Demokratien bei gewählten und (hoffentlich) wissenschaftlich gut beratenen Ge­sundheitspolitikerinnen und -politikern liegt: Wie können wir in einer Pandemie mit den Möglichkeiten digitaler Technologie das Leben von Bürgerinnen und Bürgern schützen?

Im Mai 2020 war klar, dass europäische Regierungen keinen Zugang zu den Informationen bekamen, mit denen sie diese wichtigen Entscheidungen treffen wollen. Amerikanische Unternehmen untersagten faktisch demokratisch legitimierte Informationsflüsse in Europa. Vereinfacht gesagt: Nicht Emma­nuel Macron oder Angela Merkel entscheiden darüber, welche Informationen von wem wie zur Bekämpfung der Pandemie in Europa genutzt werden können. Diese Entscheidung treffen stattdessen die Manager Tim Cook und Sundar Pichai.

Dies ist ein Buch über Informationsmacht. Die Frustration des jungen Verlegers Benjamin Franklin erinnert uns daran: Ungleiche Verteilung von Information, die Kontrolle über ­Informationswege und die sich daraus ergebenden ungleichen Machtbeziehungen sind kein Phänomen des digitalen Zeital­ters. Zugleich zeigt das Verhalten von Big Tech im Fall der Corona-Tracing-Apps auf besonders eindrückliche Weise, wie sich Informationsherrschaft in einer Welt der Daten zugunsten jener verschoben hat, die digitale Informationsströme auf ihren digitalen Plattformen erzeugen, speichern und auswerten. Seit Franklin hat sich koloniale Informationsmacht verkehrt. Heute regieren Datenkolonialisten in Amerika und Asien über den Rest der Welt.

Maschinenlesbare Informationen, der Datenreichtum, den uns das Internet und Smartphones gebracht haben, die digita­le Vernetzung physischer Objekte zum Internet der Dinge, der Aufstieg der großen digitalen Plattformen und jener Superstar­firmen, die die Plattformen schaffen und kontrollieren, die ­digitalen Kollaborationstools, die wir nutzen, und die Datenspuren, die wir mit ihnen hinterlassen, dies alles stellt eine alte Frage auf neue Weise: Wie legitimieren und wie begrenzen wir die Macht durch Wissen?

Spoiler alert! Auf den folgenden rund 200 Seiten werden wir auf diese alte Frage eine einfache, klare und aus unserer Sicht zwin­gende Antwort geben. Wir müssen die Zugänge zu Da­ten, Infor­mationen und Wissen radikal öffnen, um Infor­ma­­­tions­asymmetrien und Herrschaftswissen durch Digita­lisie­­rung zu brechen. Wir brauchen Daten und relevante Informationen für alle, die wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung voran­brin­­gen können. Denn konzentrierte Datenmacht ist gut für wenige, aber schlecht für Innovation, Kooperation und für jede und jeden Einzelnen von uns.

Wir hoffen, mit der Forderung nach mehr Informationszugang für alle den Diskurs über die notwendigen Kurswechsel bei der Steuerung digitaler Veränderungsprozesse zu be­rei­chern. In den vielen öffentlichen und nicht öffentlichen Dis­kus­sionen fällt immer wieder auf, dass die Frage der Informationsmacht selten diskutiert wird, und wenn doch, dann einseitig aus einer vor allem defensiven Haltung, so als wäre die Antwort auf Informationsmacht die Ignoranz der Menschen und nicht deren informationelle Er- und Bemächtigung. Meist aber fällt die Frage nach der Informationsmacht vollkommen unter den Tisch. Das empfinden wir in dreifacher Hinsicht als überraschend: erstens, weil es von einem Unverständnis von Macht zeugt, zweitens, weil es der Bedeutung der Informationstechnologien für Macht nicht gerecht wird, und drittens, weil damit die politischen Antworten auf die tech­no­logisch verstärkte Ungleichverteilung von Informationsmacht fehlen.

Nach Max Weber bedeutet Macht »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Wi­der­streben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance ­beruht«. Dazu gehört auch Information. Die gesamte Innovationstheorie seit Joseph Schumpeter wiederum kreist im Kern um die Frage, wie Informations- und Wissensvorsprünge in Marktmacht gewandelt werden können. Manuel Castells nennt das Zeitalter nach der Industrialisierung »Informationalismus«, weil es so stark von der Rolle der Information und der sich daraus ableitenden Macht geprägt ist. 1999 schrieben die US-ame­rikanischen Ökonomen Carl Shapiro und Hal Varian ihre Anleitung für digitale Unternehmen des 21. Jahrhunderts und darüber, wie sie mithilfe von Plattformen und den in ihnen wirkenden Netzwerkeffekten ökonomische Macht erobern. Der Buchtitel sagt es in zwei Worten: Information Rules. Die kalifor­nischen und zunehmend auch asiatischen Superstarfirmen folg­ten der Anleitung – Hal Varian wurde 2007 übrigens Chefökonom von Google – und herrschen mit Informationen.

Bei der Wirkung von Informationstechnologie auf die Macht­beziehungen im Spannungsfeld von Organisationen/Fir­men, Individuen/Kunden und Gesellschaften/Staaten haben Digitalisierung und Datafizierung der Welt wiederum dialek­ti­sche Entwicklungen in Serie produziert. Wann immer in den letzten Jahrzehnten digitale Innovationen zu einem großen technologischen Sprung ansetzten, waren sie mit einem Versprechen auf informationelle Bemächtigung des Einzelnen oder kleiner Organisationen verbunden. Der PC demokratisierte Re­chenkraft, Software und damit elektronische Datenverarbeitung, zu der zuvor nur Konzerne und Regierungen Zugang hat­ten. Das Internet öffnete die Tür zum Wissen der Welt für al­le, die Zugang zu einem vernetzten Computer hatten. Googles Gründungsmission lautete: die Informationen der Welt neu or­ganisieren und allen zugänglich machen. Und schließlich schie­nen die sozialen Medien, stark gefördert durch das mobile Internet und Smartphones, endlich den alten Türstehern der Informationsmacht ihre Schlüssel zu entreißen. Der Arabische Frühling wirkte wie eine optimistische Vorausdeutung, dass der Austausch von Informationen den demokratischen Diskurs be­­fördern kann und Diktatoren zu Fall bringt.

In mancher Hinsicht wurde jedes dieser Versprechen erfüllt. Und zugleich schlug jeder Gewinn an Information mit Bra­chialgewalt zurück. Die digitale Revolution hat Informations­asymmetrien verschärft, wie es die Pioniere der Technologie von Alan Turing über Vinton Cerf bis Tim Berners-Lee mit ih­rem Anspruch auf Weltverbesserung durch Technik nicht voraussehen konnten – und erst recht nicht beabsichtigten. Auf den Punkt gebracht heißt das: Seit der Erfindung des PC trat Informationstechnologie in jeder neuen Welle an, um soziale und wirtschaftliche Strukturen im Sinne partizipatorischer Er­mächtigung von Individuen zu verändern. Ein halbes Jahr­hun­dert später wissen wir, dass sich diese Machtstrukturen im Sinne der Zentralisierung verfestigt haben. Die Namen der Mäch­­tigen haben sich geändert. Nicht Ölbarone oder Banker stehen an der Spitze der ökonomischen Machtpyramide, sondern Tim Cook und Satya Nadella, Jeff Bezos und Mark Zucker­berg, Larry Page und Sergey Brin, Robin Li und Pony Ma.

Deren Macht erwächst aus der Fähigkeit, maschinenlesbare Informationen zu sammeln und auszuwerten, exklusiv zu halten oder nach eigenen Interessen geleitet situativ zu teilen. In Worten Max Webers können sie dank ihrer Datenmacht ihre Interessen auch gegen das Widerstreben anderer durchsetzen. Mit Blick auf den jungen Verleger Benjamin Franklin und seinen Kampf, seine Zeitung gegen staatlich sanktionierte Willkür in Umlauf zu bringen, wirkt es wie ein Treppenwitz der Tech­nikgeschichte, dass die Informationshändler von Big Tech den Verlegern heute einen so großen Teil des Werbemarktes streitig machen und damit Qualitätsjournalismus kaum noch finanzierbar ist. Das ist legal und unterminiert zugleich die Verbreitung von und den Zugang zu Informationen, von de­nen technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationen leben.

Die Verschiebung von ökonomischer, medialer und damit auch politischer Macht hin zu den datenreichen Plattformen ist in den letzten Jahren umfangreich beschrieben und kritisiert wor­den. In den USA waren es vor allem Shoshana Zuboff mit ihrer Interpretation des »Überwachungskapitalismus«, Tim Wu mit seinen Arbeiten zu Netzneutralität, Eli Pariser mit der For­mulierung der Filterblasen oder Roger McNamees General­ab­rechnung mit dem Informationsmanagement durch Facebook in seinem Buch Zucked, die die kritische Auseinandersetzung vorantrieben. Adrian Wooldridge, Kolumnist beim britischen Economist, verdichtete das wachsende Unbehagen gegenüber der Informationsübermacht der großen Tech-Unternehmen in dem Begriff »tech-lash«, einer emotionalen Gegenreaktion von Verbraucherinnen und Verbrauchern wie auch von Regulatoren gegen die Steuerungsmacht der digitalen Superstars über Menschen und Märkte. Doch die Schlussfolgerungen aus der Status-quo-Analyse ungleich verteilter In­formationsmacht fallen heute genauso einseitig aus wie in der gesamten Geschichte der Digitalisierungskritik. Die Antwort ist defensiv.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben Gesetzgeber in west­lichen Demokratien versucht, die Informationsmacht der ent­stehenden Digitalunternehmen mit einer Anpassung in­divi­dueller und kollektiver Schutzrechte einzuhegen. Sie haben un­ter anderem im Arbeitsrecht, Verbraucherschutz, Ver­wal­tungs­recht, Urheberrecht und Medienrecht immer mehr Klau­seln verankert, die den Zugriff der Champions des Daten­ka­pitalismus auf Daten begrenzen sollten. Die europäische Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO) sollte schließlich zur großen Fußfessel der Datenmächtigen werden – und Europas Bürgerinnen und Bürgern Souveränität bringen über Informationen, die sie persönlich betrafen.

Der Begriff »Datenschutz« taugt bei jeder Podiumsdiskus­sion in Europa, um sich moralisch korrekt zu inszenieren. Doch ausgerechnet die Mechanismen des Datenschutzes haben den digitalen Superstars geholfen, ihre Informationsmacht aufzubauen und ihre digitalen Planwirtschaften in privater Hand zu errichten. Das hehre Ziel, dass Daten nur mit Zustimmung der Betroffenen verarbeitet werden dürfen, schlug im Daten­ka­­pitalismus leider auf der Butterseite auf. Wir sind nicht informationell selbstbestimmt, haben aber die Nutzungsrechte an ma­schinenlesbaren Informationen an US-Unternehmen ab­ge­­­geben. Wir sind hoffnungslos überfordert, unsere Daten­schutz­­­einstellungen bei der Vielzahl der digitalen Dienste sinn­voll zu managen. Wir nutzen sie dennoch, weil sie bequem und nützlich sind. Der Preis ist individuelle und ökonomische Abhängig­keit trotz, zum Teil gar wegen der DSGVO, weil sie die Verantwortung auf den Schultern der Nutzerinnen und Nut­zer ablädt.

Die Informationsasymmetrien wachsen weiter zugunsten der digitalen Superstars und europäische Regulierungsversuche verstärken dies. Das Ergebnis ist ernüchternd: Informations­mächtige kommen mit den komplizierten Regelungen zu­recht, beherrschen sie technisch und rechtlich, während digitale Nach­züglerunternehmen an ihnen verzweifeln und ihre begrenzten Datensätze noch weniger nutzen. Die DSGVO, auf die europäi­sche Datenschützer so stolz sind, ist nüchtern betrachtet eine Machtdemonstration der Informationsmächtigen. Wer hinter verschlossenen Türen mit den Mächtigen in Kalifornien und China spricht, hört oft den Satz: »Seltsam, dass die Europäer nicht einmal merken, wie sie sich selbst lähmen.«

Auf die Schwächen der amerikanischen Nichtregulierung und den selbstverständlich wichtigen wie notwendigen Schutz von Privatheit im digitalen Zeitalter werden wir im dritten Kapitel zu sprechen kommen. Aber die zentrale Botschaft dieses Buchs lautet: Wir müssen in Europa endlich eine offensive Antwort auf die Machtkonzentration durch Informationsasym­metrien finden. Wir müssen die Informationsmächtigen verpflichten, ihre Informationsschätze mit anderen zu teilen – und zwar alle Informationsmächtigen, egal ob sie aus den USA, China oder Europa kommen. Wir müssen den Zugang zu Informationen für alle öffnen: für Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Start-ups und innovative Mittelständler, Gesundheitsbehörden und Umweltschützende.

Ein weltweit offener Zugang zu Daten ist aus heutiger Sicht, in Zeiten eines Tech Cold War zwischen den digitalen Supermächten USA und China und hybrider Cyber-Kriegsführung aus Russland eine hübsche Utopie ohne realistische Umsetzungschance. Ein offener europäischer Datenraum, dem sich die innovativen Volkswirtschaften Asiens und des globalen Sü­dens anschließen können, hingegen ist eine ökonomische und gesellschaftliche Großchance. Im ersten und zweiten Kapitel dieses Buchs werden wir beschreiben, warum Daten heute der wichtigste Rohstoff für Innovation sind und wie die herrschenden Datenmonopole entgegen ihrem Ruf als digitale Vor­reiter Innovation verlangsamen – zugunsten ihrer Aktionäre und auf Kosten von Kunden, Volkswirtschaften und gesell­schaft­lichem Fortschritt. Ein offener europäischer Datenraum bietet die Chance auf einen digitalen Befreiungsschlag. Aus Machtmaschinen in den Händen weniger würden Ermächti­gungs­maschinen für alle, die mit Informationstechnologie kom­­petent umgehen können.

Europa könnte sich dann – in bester Gedankentradition des österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter – als innovativster Kontinent der Welt neu erfinden, weil eben dank geteiltem Datenreichtum die wichtigste Ressource der Welt im Überfluss für alle vorhanden wäre. Europa würde nicht mehr seine klügsten Datenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an US-Unternehmen verlieren, es würde die klügsten Talente aus aller Welt anziehen, weil sein Angebot für innovative Menschen kaum schlagbar wäre: kulturelle Vielfalt, Demo­kratie, sozialer Zusammenhalt und obendrauf noch die bes­ten Bedingungen, mit Daten das Neue in die Welt zu bringen.

Zugegeben, die von uns in diesem Buch beschriebene Selbst­disruption ist kein einfaches Unterfangen, weder mental noch technisch. Und dennoch ist sie nur eine Frage des po­litischen Willens. Juristisch ist sie leichter umsetzbar, als es auf den ersten Blick scheint. Jedes Unternehmen, das auf dem europäischen Markt tätig ist, muss allen Zugang zu seinen Daten gewähren. Wer das nicht möchte, darf in Europa weder Geschäfte machen, noch bekommt er oder sie legalen Zugriff auf den europäischen Datenraum. Die in Europa zu teilenden Daten müssen natürlich von persönlichen Merkmalen befreit werden. Selbstverständlich sind Informationen ausgenommen, die ausdrücklichen gesetzlichen Geheimhaltungspflichten un­terliegen. Dazu zählen etwa Daten, aus denen sich Geschäftsgeheimnisse oder direkte Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Situation des datenteilenden Unternehmens ziehen lassen. Forschungs- und anonymisierte Gesundheitsdaten müssen grundsätzlich frei fließen. Der Staat muss seine Server ebenfalls öffnen. Im vierten Kapitel werden wir detailliert beschreiben, warum ein offener europäischer Datenraum zwar auch für einige europäische Unternehmen kurzfristig Verluste an Informations- und Marktmacht bedeuten wird, der Gewinn für Europa aber in Summe enorm ist, wenn wir die Informationsmonopole aufbrechen und Machtmaschinen in Ermächti­gungs­werkzeuge wandeln. Der Wille dazu bildet sich langsam, aber stetig.

Als wir 2017 in unserem Buch Das Digital für die Idee des Daten-Sharings warben, hielten uns einige für Spinner. Heute wird in Brüssel mit zunehmender Intensität über eine Öffnung der Zugänge zu Daten diskutiert. Zugleich mehren sich die Signale aus Schwellenändern, dass eine europäische Pflicht zum Daten-Sharing nur die Vorhut einer weltweiten Auseinan­dersetzung über den Zugang zu Daten ist. Die digitalpolitisch Verantwortlichen in bevölkerungs- und damit datenreichen Län­dern wie Indien, Pakistan und Nigeria erkennen immer stär­ker, dass der postkoloniale Nord-Süd-Konflikt durch asymme­tri­sche Informationsmacht eine Neuauflage erlebt. Die Abhängigkeit von digitalen Diensten aus den USA und China wächst täglich. Am Ende dieses Buchs werden wir beschreiben, wie die Bürgerinnen und Bürger der Schwellenländer Daten in Masse liefern, auch mit schlecht bezahlter Klickarbeit. Und wie Big Tech in unfair asymmetrischer Machtbeziehung den ökonomischen Mehrwert abschöpft. Dabei fällt auf: Erstmals in der Geschichte sitzen die ehemaligen Kolonien des Südens mit den ehemaligen Kolonialmächten Europas in einem Boot und werden von amerikanischen und chinesischen »Datenkolonialisten« beherrscht. Und erstmals in der Geschichte des Postkolonialismus könnten die großen Schwellenländer im Ver­gleich zu Europa über eine stärkere Ausgangsposition und eine klare Haltung diese Machtbeziehung neu gestalten.

Die Datenmacht bereitet sich derweil auf einen langen und zähen Abwehrkampf vor. Ein zuverlässiger Indikator hier­für ist, dass Apple, Google, Facebook und Amazon gerade ihre Lobbyarmeen in Berlin, Brüssel und Washington mit Hochdruck auf­rüsten. In Europa ist das zentrale Thema nicht mehr der Da­ten­schutz. Die Superstarfirmen wissen, dass sie damit gut zurechtkommen. Ihre Lobbyagenda wird jetzt bestimmt von dem Ziel, ihnen die exklusive Nutzung der Daten zu sichern, die europäische Nutzerinnen und Nutzer auf ihren Ser­­vern erzeugen. Sie sagen es nicht laut, aber sie wissen: Der Da­tenschutz in seiner jetzigen Interpretation hilft ihnen dabei.

Ein Zugang zu Daten für alle ist keine Utopie. Er ist eine machbare Vision. Damit die Vision Wirklichkeit wird, braucht es nur den Mut zur Umsetzung und eine politische Strategie. Es ist höchste Zeit, dass Europa diese Strategie erarbeitet, denn weder der amerikanische Datenmonopolkapitalismus noch der halbstaatliche Datenmerkantilismus Asiens ist mit unseren In­te­ressen und Werten vereinbar. Dafür müssen wir uns in Eu­ropa endlich von der Illusion der individuellen Hoheit über unsere Daten und dem Prinzip der Datensparsamkeit verab­schie­den. Wir müssen endlich begreifen: Eine Daten­nutz-Grund­­­verordnung ist für unseren Wohlstand und unsere Demokratie so notwendig wie eine Datenschutz-Grundverord­nung für unsere bürgerlichen Rechte. Beide sind zwei Seiten derselben Medaille.

Daten haben wie Wissen eine wunderbare Eigenschaft. Sie sind ökonomisch gesprochen ein »nicht rivalisierendes Gut«. Sie eignen sich daher als öffentliches Gut wie kaum eine wichtige wirtschaftliche Ressource zuvor. Die Idee »Daten für alle« wird nicht daran scheitern, dass alle ihre Kühe dort weiden lassen und alles Gras bald aufgefressen ist. Daten als digitales öffentlich zugängliches Gut verschwinden ja nicht, wenn meh­rere sie nutzen. Denn Daten werden erst durch ihre Nutzung wertvoll. In Summe steigt der Wert der Daten bei mehrmaligem Gebrauch. Es ist schlicht dumm, die Nutzung von Daten durch die Verfügungsmacht weniger Datenkonzerne einzu­schrän­ken. Um dies zu ändern, müssen wir die Konzerne nicht einmal enteignen, denn die Juristen kennen bei Daten keinen Eigentumsbegriff. Die EU muss nur die Zugangsrechte neu regeln. Das wird in den kommenden Jahren geschehen. Studien sagen: 85 Prozent aller in Europa erzeugten Daten werden nicht ein einziges Mal genutzt. Der Hauptgrund ist: Diejenigen, die sie wertschöpfend nutzen könnten, haben keinen Zugang. Da­ten­monopole sind Diebstahl am Fortschritt. Datennutz ist Dienst für das Gemeinwohl.

Die Zeit ist reif für die Entmachtung der Informationsmächtigen, die erst durch unsere Informationen groß wurden. Der Druck gegen Big Tech hat sich im letzten Jahrzehnt immer weiter aufgebaut. Aber vielleicht braucht es ein disruptives Er­eignis wie die Corona-Krise, um ein Umdenken beim Zugang zu Informationen herbeizuführen. Die Pandemie hat uns in doppelter Hinsicht die Augen geöffnet. Erstens sind unsere Sys­teme deutlich weniger resilient, als wir dachten. Zweitens haben wir – sieht man von der Tracing-App ab – nur durch den ungewöhnlich freien Austausch von Informationen das Virus (halbwegs) in den Griff bekommen können.

Im Angesicht der tödlichen Bedrohung wurde möglich, was vorher für unmöglich gehalten wurde. Wissenschaftler­innen und Wissenschaftler teilten ihr Wissen schneller und groß­­zügiger als je zuvor in der Wissenschaftsgeschichte. Kon­kur­rierende Pharmaunternehmen schlossen neue Wissensallianzen auf ihrer Suche nach Tests, Therapiemöglichkeiten und Impfstoffen, weil sie spürten: Nur durch informationelle Koope­ration können sie die notwendige Geschwindigkeit ent­wi­ckeln, von der schließlich alle profitieren werden – sie natürlich auch betriebswirtschaftlich.

Selbst Big-Tech-Unternehmen halfen mit. Amazon machte mit seiner gigantischen Liefermaschine alles in allem einen gu­ten Job bei der Grundversorgung vieler Menschen, die ihre Häuser und Wohnungen nicht mehr verlassen konnten. Apple und Google veröffentlichten anonymisierte Bewegungsdaten geografisch feingranular heruntergebrochen, damit Gesundheitspolitikerinnen und -politiker die Wirkung ihrer Regelungen zur Kontakteinschränkung besser einschätzen konnten. Im April startete Microsoft eine Open-Data-Initiative mit dem expliziten Ziel, Innovationen zu fördern, von denen alle profitieren sollen.

Knapp ein Jahr, nachdem Ärzte in Wuhan erstmals die Symp­tome einer unbekannten Lungeninfektion diagnostizier­ten, im Auge des Sturms einer Weltwirtschaftskrise, ist offenkundiger denn je seit dem Zweiten Weltkrieg: Wir werden unsere Welt nur durch bessere informationelle Kooperation re­silienter gegen die nächsten großen Krisen machen. Die Grund­lage dafür ist der freie und vielfältige Austausch von Daten, Informationen und Wissen. Die Zeit der Informationsmonopole ist vorbei. Dieses Buch beschreibt den Weg in ein neues Zeitalter der Informationen für alle. In diesem werden die Men­schen in aller Welt jederzeit mit digitalen Werkzeugen auf Da­ten und Wissen Zugriff haben, um Lösungen für die großen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und ­gesundheitlichen Herausforderungen zu finden, vor denen wir stehen. In diesem Zeitalter werden europäische Gesellschaften nicht mehr Datenschutz wie eine Religion der Erleuchteten praktizieren, die anderen ihren Glauben aufzwingen. Europa wird Daten nicht mehr durch komplizierte Regulierung künstlich verknap­pen, sondern verstanden haben, dass der Nutzen von Daten durch die Nutzung entsteht. Je öfter wir sie nutzen, je vielfältiger die Nutzungszwecke, desto größer kann der wirtschaftliche und gesellschaftliche Mehrwert sein. Die amerikanische Gesellschaft wird erkennen, dass Datenmonopole den Wettbewerb auf Kosten von Kunden und Staat aushöhlen. Die Welt wird zuerst spüren und dann messen: Daten für alle sind gut für alle.

Datenalchemismus

Im März 2004 trifft sich eine bunte Truppe von Technikstudenten und Autofricklern, Ingenieuren und Programmierern auf einem abgesperrten Militärgelände der Mojave-Wüste. Stolz führen sie sich gegenseitig ihre futuristischen Konstruktionen autonomer Fahrzeuge vor. Einige davon sehen wie Klone von Star-Wars-Raumschiffen auf sechs Rädern aus. Andere wie klei­­ne Panzer, bei denen die Kanonen durch klobige Lasersensoren ausgetauscht worden sind. Ein selbstfahrendes Motorrad ist dabei, vollgepackt mit Elektronikelementen und Balancege­wich­ten. Viele Konstrukteurteams sind allerdings mit konven­tionellen Pick-up-Trucks von Ford, Dodge oder Toyota in die Wüste gekommen, auf deren Dach und an deren Frontpartien Kameras montiert sind. Klobige Computer in der Fahrgastzelle machen Insassen den Platz streitig.

Wie fast immer in der Grenzregion von Kalifornien und Nevada scheint die Sonne. Die Mehrzahl der Teilnehmenden trägt Nerd-Uniform, kurze Hosen oder Khakis, T-Shirt oder Po­loshirt mit den Logos von Tech-Firmen oder Universitäten. Doch auch auffällig viele Soldaten tummeln sich im Konstruk­teurlager. Zu dem Event eingeladen hat die Defence Advanced Research Projects Agency, DARPA, der wichtigste Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums. Auch wenn die Stimmung unter den Teams kollegial ist, sie sind als Konkurrenten in die Mojave-Wüste gekommen. Die Veranstalter haben ei­nen rund 240 Kilometer langen Kurs für die DARPA Grand Challenge abgesteckt. Sollte eines der Roboterfahrzeuge diesen ohne menschlichen Eingriff abfahren, erhalten seine Erfinder einen Scheck über eine Million Dollar.

Beim Start des großen Rennens feuern Zuschauer und Zu­schauerinnen die autonomen Fahrzeuge an wie Marathon­läu­fer. Die Technik entpuppt sich jedoch als wenig fit. Das selbst­­fah­rende Motorrad kippt nach zwei Metern Fahrt um. Viele Fahr­­zeuge schaffen es nicht, aus Sichtweite der Zuschauer und Zuschauerinnen zu kommen. Am weitesten fährt ein umge­­bau­ter Humvee-Truck der Carnegie Mellon University. Das »Sandstorm« genannte Fahrzeug bleibt nach nicht einmal zwölf Kilometern in einer Kurve an einem größeren Stein hängen. Der Traum vom autonomen Fahren scheint damals unendlich weit entfernt.