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Das Digital E-Book

Thomas Ramge

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Beschreibung

Wie entsteht ökonomischer Mehrwert im Kapitalismus? Und wie sollte er umverteilt werden? Das waren die zentralen Fragen, die Karl Marx am Übergang zum Industrie- Kapitalismus in »Das Kapital« auf radikale Weise beantwortete. Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge beantworten die gleichen Fragen am Übergang zum globalen Datenkapitalismus neu. Wir können mit Daten den Markt neu erfinden – und Wohlstand für alle schaffen. Dazu müssen Big Data, Automatisierung und Künstliche Intelligenz ihr Potenzial voll entfalten können. Den Effizienzgewinn dürfen nicht allein die großen Datenmonopolisten einstreichen. Nur wenn dieser allen zugute kommt, schaffen wir eine digitale soziale Marktwirtschaft. In der aber werden Geld und Banken eine untergeordnete Rolle spielen.

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Das Buch

Seit Karl Marx wissen wir: Im Kapitalismus werden Märkte von Unternehmen und Geld dominiert. Unternehmen koordinieren die Produktion, schöpfen den Mehrwert ab und bieten dafür Arbeitsplätze. Preise verdichten die wichtigen Informationen auf Märkten, weil Menschen von zu vielen Informationen überfordert sind. Big Data und Künstliche Intelligenz verändern das Spiel grundlegend.

Dank Datenreichtum und cleveren Algorithmen finden Angebot und Nachfrage künftig besser zusammen. Digitale Entscheidungsassistenten werten Informationen aus und geben Empfehlungen frei von menschlichen Fehleinschätzungen – und oft entscheiden Computer auch selbst. Damit entfaltet der Markt endlich sein volles Potenzial. Es wird weiter Firmen und Geld geben, aber sie werden nicht mehr die erste Geige spielen.

Daten koordinieren die Wirtschaft besser und schaffen mehr Wert.

Doch der digitale Fortschritt hat seinen Preis. Die Automatisierung von Entscheidungen wird vielen Menschen den Bürojob kosten. Das Digital gibt Antworten: Lohn und Arbeit entkoppeln, Steuern in Daten zahlen, Vielfalt der Entscheidungsassistenten sicherstellen. Der Staat muss digitaler Wettbewerbshüter sein, sonst übernehmen Datenkartelle die Macht.

Die Autoren

Viktor Mayer-Schönberger war zehn Jahre Professor in Harvard und hat heute den Lehrstuhl für Internet Governance in Oxford inne. Bekannt wurde er durch sein Engagement für das digitale Vergessen im Internet und seinen weltweiten Bestseller Big Data.

Thomas Ramge ist Technologie-Korrespondent bei brand eins und schreibt für The Economist. Er wurde mit zahlreichen Journalistenpreisen ausgezeichnet. Ramge hat elf Sachbücher veröffentlicht, darunter die Bestseller Die Flicks, Data Unser und Wirtschaft verstehen mit Infografiken.

VIKTOR MAYER-SCHÖNBERGERTHOMAS RAMGE

DAS DIGITAL

Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus

Econ

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ISBN: 978-3-8437-1609-3

© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, MünchenCovergestaltung: Brian Barth

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Über das Buch und die Autoren

Titelseite

Impressum

1 DATENKAPITALISMUS

Anmerkungen zum Kapitel

2 KOORDINATION

Anmerkungen zum Kapitel

3 MÄRKTE

Anmerkungen zum Kapitel

4 DATENREICHTUM

Anmerkungen zum Kapitel

5 UNTERNEHMEN

Anmerkungen zum Kapitel

6 AUTOMATISIERUNG

Anmerkungen zum Kapitel

7 GELD

Anmerkungen zum Kapitel

8 FEEDBACK

Anmerkungen zum Kapitel

9 ARBEIT

Anmerkungen zum Kapitel

10 FREIHEIT

Anmerkungen zum Kapitel

DANKSAGUNG

Feedback an den Verlag

Empfehlugen

1DATENKAPITALISMUS

EBays zwanzigster Geburtstag im September 20151 sollte eigentlich eine Siegesfeier werden. Seit der Gründung des Online-Marktplatzes hatten 160 Millionen Nutzer Waren im Wert von über 700 Milliarden US-Dollar auf eBay gehandelt.2 Doch als der neue Firmenchef Devin Wenig die Bühne betrat, wirkte er auf die anwesenden Journalisten eher wie ein »General, der seine umlagerten Truppen auf die Schlacht einschwört«3. Seine Rede fühlte sich an wie ein Motivationsseminar – und das aus gutem Grund. Dem weltgrößten Marktplatz war ein Stück weit die Luft ausgegangen: Während andere große Online-Händler von Umsatzrekord zu Umsatzrekord eilten, stagnierten bei eBay die Verkäuferzahlen. Der große Rivale Amazon baute sein »Marketplace«-Angebot mit unabhängigen Händlern in direkter Konkurrenz zu eBay sehr erfolgreich aus. Zudem wilderten immer mehr spezialisierte Plattformen wie Etsy – ein Marktplatz für Handgemachtes – im Revier des einstigen Platzhirschs. Wall-Street-Analysten bezeichneten eBay als »reif für den Neustart«4.

Pierre Omidyar hatte eBay 1995 als kleinen Testballon gestartet. Die ersten Auktionen liefen noch auf seiner persönlichen Website. Der Ballon flog hoch und weit. In den kommenden Jahren wurde eBay hochprofitabel. Omidyar hatte eine uralte, aber extrem erfolgreiche Idee in die Onlinewelt übertragen: den Marktplatz. Doch weil eBays Marktplatz kein physischer Ort mehr war, hatte er rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, geöffnet. Aufgrund der nahezu unbegrenzten Reichweite des Internets stand er weltweit vielen offen. EBays innovatives Bewertungssystem sorgte dafür, dass die Teilnehmer einander vertrauen konnten, obwohl sie sich nicht kannten. Das alles machte die neue Plattform außerordentlich attraktiv.

Wenn sich viele Käufer und Verkäufer an einem Ort tummeln, sprechen Ökonomen von einem »dichten« Markt. Dichte Märkte sind gute Märkte, denn sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass beide Seiten finden, was sie suchen. EBays Marktplatz war traditionellen Märkten in einem weiteren wichtigen Punkt überlegen: Statt zu Festpreisen wurden die Waren in den ersten Jahren ausschließlich in Auktionen verkauft. Dass dies ein deutlich besserer Weg ist, den passenden Preis zu finden, lernen Wirtschaftsstudenten im ersten Semester.

Ein weltweiter Marktplatz, der immer geöffnet hat und Transaktionen einfach und effizient macht – das war das Rezept für eBays kometenhaften Aufstieg. Die Plattform war dabei nicht nur wegweisend für die junge Internetwirtschaft, sondern schien auch die überragende Rolle zu bestätigen, die Märkte in unserem Wirtschaftssystem insgesamt spielen. Mit so vielen Vorteilen werden viele eBays Schwierigkeiten der letzten Jahre schlechtem Management zuschreiben.5 Für uns sind sie jedoch ein Anzeichen einer viel größeren, strukturellen Veränderung unserer Wirtschaft.

Nur wenige Monate vor eBays zwanzigstem Jubiläum passierte bei einem anderen Internetpionier etwas sehr Merkwürdiges. Der Aktienkurs von Yahoo rutschte de facto ins Minus. Der Hintergrund: Yahoo besaß einen erheblichen Anteil am chinesischen Online-Marktplatz Alibaba – und gemessen an Alibabas Aktienkurs waren Yahoos Alibaba-Aktien mehr wert als Yahoo selbst. Wer Yahoo-Aktien verkaufte, bezahlte also den Käufer dafür, dass der ihm die Aktien abnahm.6 Das ergab keinen Sinn, denn der Kurs einer Aktie kann niemals negativ sein. Gleichzeitig sollten Aktienkurse das gesamte Wissen eines Markts abbilden – so lehrt es uns zumindest die Wirtschaftswissenschaft. Irgendetwas lief also grundlegend falsch.

EBays überraschende Schwierigkeiten und der widersinnige Aktienkurs von Yahoo sind keine Verkettung unglücklicher Umstände. Sie zeigen vielmehr eine fundamentale Schwäche traditioneller Märkte auf: die Fixierung auf den Preis.

Ungefähr zur selben Zeit, als eBay und Yahoo in Schwierigkeiten gerieten, kamen die Geschäfte eines deutlich jüngeren Start-ups namens BlaBlaCar erst richtig in Fahrt. Die Firma war 2006 in Paris von einem jungen Franzosen gegründet worden, der sich während eines Studiums an der kalifornischen Stanford-Universität den Gründervirus eingefangen hatte. BlaBlaCar ist wie eBay eine Art Online-Marktplatz. Das Unternehmen hat sich allerdings spezialisiert: Es ist eine Mitfahrzentrale, und zwar eine sehr erfolgreiche. Jeden Monat finden mehrere Millionen von Autofahrern und Fahrgästen zusammen, die dasselbe Ziel haben. Und es werden immer mehr. Im Unterschied zu eBay spielt auf BlaBlaCars Marktplatz allerdings nicht der Preis die Hauptrolle, sondern vielfältige Daten. Mitfahrer können zum Beispiel die Angebote danach durchsuchen, wie gesprächig der Fahrer ist (daher der Name BlaBlaCar), welche Musik sie mögen oder ob Haustiere mitfahren dürfen – und somit das für sich perfekt geeignete Angebot auswählen. Der Preis spielt in dem Modell nur eine untergeordnete Rolle, denn die Fahrer können diesen nur innerhalb einer vorgegebenen Spanne festlegen.

Die digitale Mitfahrzentrale von BlaBlaCar ist nicht die einzige Plattform mit diesem Ansatz: Von der Internet-Reiseplattform Kayak über die Online-Investmentfirma SigFig bis zur digitalen Jobbörse Upwork entstehen immer mehr Märkte, die auf vielfältige Daten setzen und dadurch ihren Nutzern helfen, optimalere Transaktionspartner zu finden. Diese Sorte Marktplätze gewinnt – in der Sprache von Risikokapitalisten gesprochen – gerade mächtig an »Traktion«.

In diesem Buch weben wir den roten Faden, der diese drei Geschehnisse verbindet: Ein traditioneller Online-Marktplatz steckt in Schwierigkeiten, die eingespielten Preismechanismen der Wall Street spielen verrückt, datenreiche Märkte heben ab. Wir sind davon überzeugt, dass Märkten ein Neustart bevorsteht, der auf Datenreichtum basiert und unsere gesamte Wirtschaft ähnlich tiefgreifend verändern wird wie die industrielle Revolution. Der neue Datenreichtum wird Mehrwert für alle Marktteilnehmer schaffen. Und mit seiner Hilfe ersetzen wir den Industrie- und Finanzkapitalismus des letzten Jahrhunderts durch den Datenkapitalismus.

Der Markt ist eine erfolgreiche gesellschaftliche Innovation. Er erlaubt uns, begrenzte Ressourcen effizient zu verteilen. Märkte folgen einem einfachen Prinzip – und haben eine extrem große Wirkung. Sie ermöglichen es, sieben Milliarden Menschen zu ernähren, ein Dach über dem Kopf zu schaffen und sie mit Kleidung zu versorgen. Sie haben unsere Lebenserwartung und Lebensqualität drastisch erhöht. Transaktionen am Markt sind soziale Interaktionen – auch oder gerade weil sie der menschlichen Natur des sozialen Austauschs so gut entsprechen. Hierin liegt der Grund, dass Märkte sich für die meisten von uns so natürlich anfühlen und so tief in der DNA unserer Gesellschaft verankert sind, dass wir ihre Leistung kaum noch wahrnehmen. Sie sind das Fundament unseres Wirtschaftssystems.

Märkte entfalten ihre volle Kraft, wenn Informationen ungehindert fließen und Menschen wissen, wie sie diese in ihre Entscheidungen einbeziehen. Dank dieser Informationen können Märkte ohne zentrale Entscheidungsgewalt funktionieren. Umgekehrt heißt das auch: Damit Märkte stabil und belastbar sind, müssen alle Teilnehmer möglichst ungehindert auf die Informationen über die Angebote am Markt zugreifen können. Bis vor kurzem war es jedoch aufwendig und teuer, derartig umfassende Informationen anderen Marktteilnehmern mitzuteilen. Daher griffen wir zu einer raffinierten Notlösung und verdichteten die Vielzahl von Informationen zu einer einzigen Zahl: dem Preis. Und wir kommunizierten diese Information mit Hilfe von Geld.

Die Kehrseite des Preises ist jedoch: Wenn Informationen komprimiert werden, gehen Details und Nuancen verloren. Das führt zu schlechteren Transaktionen – weil wir aufgrund der fehlenden Details das Angebot nicht mehr überblicken oder aufgrund der zu stark verdichteten Informationen Fehlentscheidungen treffen. Seit Jahrtausenden haben wir mit dieser Krücke gelebt, weil es keine bessere Alternative gab.

Genau das ändert sich gerade. Schon bald werden Märkte dominieren, auf denen umfassende Informationen über Angebot und Nachfrage schnell und kostengünstig verfügbar sind. Wir werden diese Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz (Ki) und modernen Matching-Algorithmen kombinieren – und so schnell und einfach den optimalen Transaktionspartner am Markt finden. Das wird so gut funktionieren, dass wir es selbst für scheinbar banale Transaktionen nutzen.

Nehmen wir an, Sie sind auf der Suche nach einer neuen Bratpfanne als Ersatz für die alte. Ein mit Daten lernendes System auf Ihrem Smartphone schaut sich ihre Einkaufshistorie an und sieht, dass Sie beim letzten Mal eine Pfanne für einen Induktionsherd gekauft haben. Allerdings haben Sie anschließend nur eine mittelmäßige Bewertung für die Pfanne abgegeben. Durch eine Textanalyse der Bewertung versteht das System, dass Ihnen die Beschichtung der Pfanne wichtig ist und Sie Keramikbeschichtungen für besonders hochwertig halten. Es erkennt auch, welches Material für den Griff Sie bevorzugen. Basierend auf diesen Vorlieben sucht das System in verschiedenen Online-Shops nach einem optimal passenden Angebot – und berücksichtigt dabei sogar die CO2-Bilanz des Versands, weil es erkennt, dass diese Ihnen wichtig ist. Es verhandelt schließlich automatisiert mit dem Verkäufer und erzielt dabei einen Rabatt – weil es weiß, dass Sie bereit sind, per Bankeinzug zu bezahlen und nicht per Kreditkarte. Am Ende müssen Sie nur einmal auf den Touchscreen tippen, und die Transaktion ist abgeschlossen.

Das klingt einfach und reibungslos – und das sollte es auch sein. Eine solche Transaktion ist einerseits schneller und bequemer, als wenn Sie sich selbst auf die Suche nach der perfekten Pfanne gemacht hätten. Gleichzeitig ist das Ergebnis besser, weil das System mehr Varianten berücksichtigt und mehr Angebote gesichtet hat, als Sie selbst es könnten. Das liegt zum einen daran, dass ein digitaler Shopping-Assistent (im Gegensatz zu uns Menschen) nicht ermüdet. Er lässt sich – sofern er neutral programmiert ist – auf seiner Suche nach dem perfekten Match auch nicht von einem angeblichen Schnäppchenpreis ablenken (»Nur heute 30 Prozent billiger!«), und er fällt weder seiner eigenen Voreingenommenheit noch einem cleveren Marketing zum Opfer.

Datenreichtum bedeutet nicht die Abschaffung des Geldes. Natürlich werden wir weiterhin Geld verwenden, um zu bezahlen. Aber Geld wird viel von seiner informationellen Rolle einbüßen. An seine Stelle werden vielfältige und umfassende Informationsflüsse treten. Sobald wir uns nicht mehr vor allem durch Preise auf Märkten informieren, erweitert das unsere Perspektive am Markt. Bessere Passgenauigkeit von Angebot und Nachfrage, effizientere Transaktionen und weniger Tricks auf den Marktplätzen werden die Folgen sein.

Aus Daten lernende Systeme (zurzeit oft mit dem Label »künstliche Intelligenz« versehen) können uns helfen, in diesen datenreichen Märkten optimale Transaktionspartner zu finden. Wir Menschen werden am Ende aber immer die Entscheidungshoheit behalten. Noch präziser: Wir werden immer das letzte Wort darüber haben, wie viel oder wie wenig unserer Entscheidungen wir an digitale Assistenten delegieren wollen. Die Frage, bei welchem Online-Dienst wir das Taxi bestellen, überlassen wir dann entspannt unserem lernenden System. Mit welchem Stellenangebot hingegen wir uns aus den Optionen näher beschäftigen wollen, die unser künstlich intelligenter Berater für uns zusammengestellt hat, werden wir auch in Zukunft selber entscheiden.

Gegen diese neuen datenreichen Märkte haben konventionelle, auf Preis fokussierte Märkte keine Chance. Umfassende Informationen bedeuten einfach zu viel an Verbesserung und Effizienzgewinn. Und datenreiche Märkte leisten endlich, was theoretisch schon immer die Stärke von Märkten war, aber in der Praxis oft an Informationsarmut oder Unfähigkeit im Umgang mit Informationen scheiterte: optimale Transaktionen.

Die Vorteile dieses Wandels werden sich auf jeden Markt auswirken. Wir werden sie im Einzelhandel und in der Reisebranche ebenso sehen wie im Bankwesen und im Investmentsektor. Datenreiche Märkte werden die Häufigkeit von irrationalen Entscheidungen stark verringern – wie beim verrücktspielenden Aktienkurs von Yahoo –, und der Markt wird seltener versagen – wie bei Investitionsblasen, die in traditionellen Märkten oft auf falschen oder falsch verstandenen Informationen basieren. Die verheerende Wirkung eines solchen Marktversagens durch falschen Umgang mit Informationen konnten wir in der Subprime-Immobilienkrise beobachten. Wir haben sie mit der Dotcom-Blase 2001 erlebt, aber auch schon zuvor bei unzähligen Katastrophen, von denen geldbasierte Märkte in den letzten Jahrhunderten heimgesucht wurden. Mit umfassenden Daten am Markt werden diese wirtschaftlichen Desaster seltener und geringeren Schaden anrichten.

Der Datenkapitalismus wird alle Märkte umkrempeln: sei es der Strommarkt, wo strukturelle Ineffizienzen die großen Versorger bereichern und die Verbraucher Milliarden kosten, seien es die Transport- oder Logistikbranche, das Gesundheitswesen oder die Arbeitsmärkte. Bei Letzteren ließe sich endlich das künstliche Konstrukt aus Aufgaben und Lohn aufbrechen, das sich heute Vollzeitstelle nennt. Stattdessen hätten Menschen die Möglichkeit, sich individuelle Pakete aus einzelnen Aufgaben und Vergütungen zu schnüren. Im Bildungswesen können wir datenreiche Märkte nutzen, um Lehrer, Schüler und Schulen besser zu »matchen«. Das übergeordnete Ziel ist bei all diesen Beispielen dasselbe: über das »gut genug« der konventionellen Märkte hinauszugehen und ganz bewusst auf Perfektion zu zielen, nicht nur weil wir mehr für das bekommen, was wir anbieten, sondern weil wir mit unseren Entscheidungen dann zufriedener sein werden und durch einen besseren Einsatz der Ressourcen nachhaltiger wirtschaften und leben. Das ist die Voraussetzung für eine gerechtere Verteilung von Chancen und Gütern.

Der Hauptunterschied zwischen konventionellen und datenreichen Märkten ist die Rolle der vorhandenen Informationen und wie Marktteilnehmer diese Informationen für ihre Entscheidungen nutzen. In datenreichen Märkten müssen wir unsere Vorlieben und Wünsche nicht länger zu einem Preis verdichten – eine Vereinfachung, die bislang aufgrund von kommunikativen und kognitiven Einschränkungen erforderlich war. Das wiederum erlaubt es, die großen Vorteile dezentraler Entscheidungen (nämlich Stabilität und Belastbarkeit) mit einer erheblich gesteigerten Effizienz zu verbinden. Hierfür müssen wir jedoch neue Wege finden, wie die Marktteilnehmer an Informationen gelangen und diese verarbeiten. Das ist der Hebel, der es uns ermöglicht, geldbasierte zu datenreichen Märkten aufzuwerten. Die Idee, dass freier Datenfluss eine Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Märkte ist, ist nicht neu. Der MIT-Professor Thomas Malone und seine Kollegen beschrieben sie bereits 1987 mit dem Schlagwort »elektronische Märkte«7, aber erst heute sind die technischen Voraussetzungen gegeben, diese frühe Vision zur ökonomischen Wirklichkeit werden zu lassen.

Die Einführung von datenreichen Märkten hängt dabei nicht allein vom Fortschritt und den Kapazitäten im Bereich der Datenverarbeitung und der Netzwerktechnologie ab. Natürlich nimmt die Menge an Informationen mit datenreichen Märkten erheblich zu. Der Netzwerkanbieter Cisco geht davon aus, dass der Internetverkehr noch bis mindestens 2021 über 20 Prozent jährlich wachsen wird. Das entspricht einer Steigerung von atemberaubenden 9300 Prozent in einem Zeitraum von etwas mehr als zehn Jahren.8Auch die Verarbeitungsleistung hat dramatisch zugenommen: Wir messen die Rechenleistung heutiger PCs in Billionen Rechenoperationen pro Sekunde.

Doch diese technischen Fortschritte sind bloß eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für datenreiche Märkte. Das Entscheidende ist nicht, die Dinge schneller zu erledigen, sondern sie grundlegend anders zu machen. In unserer datenreichen Zukunft kommt es weniger darauf an, wie schnell wir Informationen verarbeiten, sondern wie gut und wie tiefgreifend wir diese verstehen. Selbst wenn wir die Kommunikationsgeschwindigkeit eines traditionellen Markts auf Millisekunden erhöhen (wie wir es beim Hochfrequenzhandel von Aktien getan haben), gründen die Entscheidungen weiter auf der Vereinfachung des Preises. Den Durchbruch auf dem Weg zu datenreichen Märkten bringen Innovationen in drei Bereichen: das kostengünstige Teilen von vielseitigen, aber standardisierten Daten über Güter und Präferenzen mit Hilfe von Ontologien und Metadaten, die verbesserte Fähigkeit, optimale Transaktionen auf Grundlage zahlreicher Dimensionen zu erkennen, sowie eine anspruchsvolle, aber gleichzeitig einfache Methode, unsere Vorlieben und Bedürfnisse ausführlich zu erfassen.

Wenn wir Informationen auf einem Markt sammeln, müssen wir sicherstellen, dass wir alle relevanten Daten über ein bestimmtes Angebot bekommen und diese mit unseren Präferenzen abgleichen können, um so die bestmöglichen Transaktionspartner zu ermitteln. Die reinen Daten alleine reichen hierfür nicht. Wir müssen auch verstehen, was diese Daten beschreiben, sonst vergleichen wir Äpfel mit Birnen. Dank einer Reihe technischer Durchbrüche ist das inzwischen erheblich einfacher als früher. Denken Sie nur an die Funktion auf Ihrem Smartphone, mit der Sie Ihre Fotos danach durchsuchen können, was darauf zu sehen ist – etwa Personen, Strandfotos oder Hunde. Das Konzept dieser intelligenten Suchfunktionen in Ihrer Fotogalerie lässt sich auf Markttransaktionen übertragen und verfeinern.

Das beste Angebot zu finden ist einfach, wenn ein Käufer nur den Preis im Auge hat. Aber wenn wir eine Vielzahl von Dimensionen berücksichtigen wollen, wird der Vorgang sehr schnell komplex, und Menschen sind damit schnell überfordert. Deshalb brauchen wir kluge Algorithmen, die uns dabei helfen – und auch hier gab es in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte. Was allerdings immer noch eine Herausforderung darstellt: genau zu wissen, was wir wirklich wollen. Es kann zum Beispiel leicht passieren, dass wir eine wichtige Eigenschaft übersehen oder denken, sie spiele für unsere Entscheidung keine Rolle. Für uns Menschen ist es überraschend schwer, unsere vielfältigen Bedürfnisse auf eine einfache und strukturierte Weise auszudrücken. Dies ist der dritte Bereich, in dem der jüngste technische Fortschritt von großer Bedeutung ist. KI-Systeme können schon heute nach und nach unsere Bedürfnisse erfassen, indem sie unser Verhalten und unsere Entscheidungen beobachten.

In allen dreien dieser Bereiche haben hochentwickelte Datenanalytik und Künstliche Intelligenz wichtige Fortschritte ermöglicht. Das bedeutet: Uns stehen heute alle Bausteine für datenreiche Märkte zur Verfügung. Wir müssen sie nur noch richtig zusammensetzen.

Digitale Vordenker und viele datengetriebene Start-ups haben das bereits erkannt. Der nächste Goldrausch der Datenökonomie setzt gerade ein. Durch ihre höhere Effizienz werden die datenreichen Märkte ihren Teilnehmern erhebliche Vorteile verschaffen. Und diejenigen, die diese Märkte bereitstellen oder anderen helfen, sich auf diesen zu bewegen, werden sich einen erheblichen Anteil am erzielten Mehrwert sichern.

Das weiß freilich auch die Führung von eBay. Kurz nachdem der kriselnde Online-Marktplatz erster Generation seinen zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, stellte der neue CEO ein ambitioniertes Sofortprogramm vor und tätigte einige wichtige Unternehmenszukäufe. Das Ziel: auf dem Online-Marktplatz dafür zu sorgen, dass komplexe Informationen auf allen Ebenen ungehindert fließen können. Nutzer sollen schneller und einfacher passgenauere Angebote finden und erhalten bessere Unterstützung bei ihrer Kaufentscheidung.

Aber nicht nur bei eBay wird umgedacht. Digitale Handelsriesen wie Amazon und Zalando, Fahrdienstanbieter wie BlaBlaCar und Uber oder Jobbörsen wie Stepstone oder Monster gehen mit jeder Verbesserung von Angebot und Funktionalität konsequent ihren Weg in die datenreiche Zukunft. Weil datenreiche Märkte so viel besser darin sind, uns mit dem zu versorgen, was wir wirklich brauchen, werden wir sie auch deutlich häufiger und intensiver nutzen als traditionelle Märkte – was den Wandel noch zusätzlich beschleunigen wird. Doch die Wirkung von datenreichen Märkten ist noch viel weitreichender, und die Folgen sind noch viel dramatischer.

Märkte sind nicht nur dazu da, um Handel zu treiben. Wenn wir uns in Märkten bewegen, koordinieren wir uns miteinander. Märkte versetzen uns in die Lage, gemeinsam mehr zu erreichen, als es jeder Einzelne von uns könnte. Indem wir Märkte einer Generalüberholung unterziehen, verändern und verbessern wir auch die Art und Weise, wie Menschen zusammenarbeiten. Eine gut umgesetzte, marktgetriebene Zusammenarbeit, angereichert mit vielfältigen Daten, wird uns ermöglichen, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Der datenreiche Markt wird Lösungen für Probleme finden, die über eine reine Markttransaktion hinausgehen und auf die wir heute keine Antwort haben: bei der Bildung, im Gesundheitssystem, beim Klimawandel. Und er wird große Veränderungen in den anderen Organisationsformen hervorrufen, in denen wir bisher zusammengearbeitet und Mehrwert erzeugt haben. Das klassische Modell dafür war bislang das Unternehmen.

Werden die Märkte durch Daten besser, werden immer öfter Märkte menschliche Zusammenarbeit koordinieren und nicht die klassische Firma. Markt und Unternehmen stehen als Koordinationsmechanismen miteinander in Konkurrenz. Datenreichtum verschafft Märkten in diesem Wettbewerb einen strukturellen Vorteil. Das wird nicht das Ende von Unternehmen als Organisationsform bedeuten, aber es stellt sie vor die größte Herausforderung seit vielen Jahrzehnten.

Wie können Unternehmen auf den Aufstieg datenreicher Märkte reagieren? Der nächstliegende Weg scheint, die technischen Durchbrüche zu nutzen, die wir in diesem Buch beschreiben. Unternehmen könnten mit Hilfe der neuen technischen Werkzeuge den internen Informationsfluss neu strukturieren, um wie Märkte von Effizienzgewinnen zu profitieren. Das ist zwar grundsätzlich möglich, aber es gelingt Unternehmen aufgrund ihrer Informationsarchitektur nur in eingeschränktem Maße.

Langfristig erfolgversprechender ist es, wenn Unternehmen versuchen, sich neu zu erfinden. Wir schlagen dafür zwei Strategien vor. Die erste hat die Automatisierung von Entscheidungsprozessen zum Kern. Bei Option zwei bilden Firmen grundsätzliche Funktionen und Eigenschaften von Märkten in ihren Organisationen intern nach. Beide Strategien bringen mittelfristig Vorteile, und wir sehen bereits jetzt, dass eine wachsende Zahl von Unternehmen dabei ist, sie umzusetzen. Doch beide Strategien haben ihre eigenen Schwachpunkte. Sie sind pragmatische Antworten auf den technischen Wandel, aber sie werden den Bedeutungsverlust von Unternehmen langfristig nicht aufhalten können. Der bestimmende Koordinierungsmechanismus im Datenkapitalismus wird der Markt sein.

Weder Firmen noch Geld werden in der Zukunft verschwinden, aber anders als im Industrie- und im Finanzkapitalismus werden sie nicht mehr die erste Geige spielen. Banken und andere Dienstleister der alten Finanzwelt trifft dies doppelt: Die Firmen des Geldes werden einen Großteil ihrer Geschäftsfelder neu ausrichten müssen. Dabei dürfen sie keine Zeit verlieren, denn eine neue Generation von datengetriebenen Finanzdienstleistern, sogenannten Fintechs, wissen datenreiche Märkte zu nutzen. Es mag paradox klingen: Die Fintechs drängen mit neuen Dienstleitungen auf den Markt, aber sie beschleunigen gleichzeitig den Bedeutungsverlust von Geld, weil sie mit ihren Technologien reiche Daten schaffen.

Die Tragweite dieser Entwicklung geht weit über den Verlust von Marktanteilen von Banken hinaus: Wenn Finanzkapital am Markt kein starkes Signal für Vertrauen mehr ist, wird auch die Bedeutung von Finanzkapital abnehmen – und damit die Macht, die heute mit Kapital verbunden ist und die dem Konzept des Finanzkapitalismus zugrunde liegt. Datenreichtum erlaubt es uns, den Markt aus den Fängen des Finanzkapitalismus zu lösen, indem er Märkte stärkt und Kapital schwächt. Wir stehen also vor einer unmittelbaren Veränderung des Banken- und Finanzsektors, aber auch einer langfristigen, dafür umso tiefgreifenden Entwertung der Rolle des Finanzkapitals. Daten sind in diesem Zusammenhang nicht das neue Öl, wie oft in windschiefer Metaphorik behauptet, sondern das neue Geld: Sie übernehmen zu einem großen Teil die informationelle Funktion des Geldes. Und wir beginnen zu begreifen, dass die Wirtschaft sich vom Finanz- zum Datenkapitalismus verändert.

Aufgrund ihrer vielen Vorteile werden datenreiche Märkte traditionelle Märkte ablösen. Aber jeder Fortschritt hat leider seinen Preis: Mit Daten lernende Systeme verbessern zwar die Entscheidungsfindung auf datenreichen Märkten, sie machen diese aber auch anfällig für Systemversagen und Konzentrationsprozesse. Diese strukturelle Schwäche (verstärkt durch »Feedbackeffekte«, auf die wir in Kapitel 4 und 8 eingehen) könnten skrupellose Firmen oder radikale Regierungen missbrauchen und damit nicht nur den Wettbewerb gefährden, sondern auch die Demokratie. Das Grundproblem ist dabei die mangelnde Vielfalt der Daten und Algorithmen.

Der Datenkapitalismus braucht neue Formen der Regulierung, die fairen Wettbewerb bei Daten und Datenanalytik sicherstellen. Hierzu schlagen wir eine gesetzliche Innovation vor: die »progressive Daten-Sharing-Pflicht«. Diese sorgt für einen umfangreichen, aber differenzierten Zugang zu Feedbackdaten – natürlich unter Beachtung des Datenschutzes – und garantiert dadurch Wahlfreiheit und Vielfalt in der datengestützten Entscheidungsfindung. Sie ist nicht nur die geeignete Kartellrechtsmaßnahme für das Datenzeitalter, sondern auch ein Schutz gegen Entwicklungen, die unsere Gesellschaft als Ganzes bedrohen könnten. Weiter gedacht kann diese Pflicht in eine Datensteuer münden, die von datenreichen Firmen nicht in Geld gezahlt wird, sondern in Daten.

Der Aufstieg von Märkten, in denen ein großer Teil der Transaktionsentscheidungen von KI-Systemen unterstützt oder sogar getroffen werden, verbunden mit dem Niedergang der Firma als vorherrschende Organisationsstruktur für Wertschöpfung, wird Arbeitsmärkte auf der ganzen Welt auf den Kopf stellen. Unsere Gesellschaft muss sich diesem massiven wirtschaftlichen Wandel stellen. Er bedroht überall auf der Welt Millionen von Arbeitsplätzen und befördert populistische politische Strömungen. Viele der arbeitsmarktpolitischen Werkzeuge des 20. Jahrhunderts werden an Wirkung einbüßen. Schlimmer noch: Schon die Analyse der Ausgangslage ist gefährlich unvollständig. Denn die sinkende Lohnquote, über die sich viele Politiker im Zuge der laufenden Automatisierungsdebatte Sorgen machen, erfasst nur eine Seite des Wandels. Nicht die Investoren und ihr Kapital sind die primären Nutznießer dieser Entwicklung, wie so oft behauptet, sondern die Margen der Unternehmen gehen durch die Decke, was sich durch geschickte Strategien, aber nicht als Bilanzgewinn abbildet. Gleichzeitig verlangsamt sich die Innovation entgegen der allgemeinen Wahrnehmung über alle Branchen hinweg.

Um dieser Dynamik zu begegnen, müssen wir traditionelle Überzeugungen in Frage stellen: beispielsweise jene von Arbeit als fest geschnürtes Paket aus Pflichten und Entlohnung. Dieses Paket aufzulösen wird eine herausfordernde, aber auch lohnende Aufgabe sein. Dies liegt im Interesse der Unternehmen auf der Suche nach neuen Talenten, der Gesellschaft, die sich vor Massenarbeitslosigkeit fürchtet, und jedes Einzelnen, der nicht nur einen Job will, sondern gute Arbeit, die Sinn und Identität stiftet. Gleichwohl gilt auch weiterhin: Von Zufriedenheit und Selbstverwirklichung bei der Arbeit allein wird niemand satt. Wir müssen die Selbstbestimmung über Arbeit und Lohn mit Freiheit vom Mangel verbinden. Elemente eines Grundeinkommens können hier helfen, aber das auf beiden Seiten des Atlantiks vieldiskutierte bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist keine Zauberformel. Und es wäre ein Anachronismus im Zeitalter reicher und umfassender Daten, ausschließlich auf monetäre Maßnahmen und Anreize zu setzen. Deshalb denken wir in diesem Buch über eine digitale soziale Marktwirtschaft nach, deren Steuerungsmechanismen jedenfalls teilweise auf Informationen beruhen und die Firmen unter bestimmten Umständen Steuervorteile gewährt, wenn sie Menschen beschäftigen und nicht Maschinen.

Seit den Anfangstagen geldbasierter Märkte weisen Kritiker auf die Lücke hin, die zwischen dem für Märkte zentralen Konzept der Entscheidungsfreiheit und unseren beschränkten kognitiven Fähigkeiten klafft, die gute Entscheidungen zu treffen so schwierig machten. Jahrhundertelang standen sich zwei Ansichten diametral gegenüber: Die eine Seite wollte es einer Zentralgewalt überlassen, den schutzbedürftigen Menschen möglichst viele Entscheidungen abzunehmen. Die andere Seite verteidigte die Rolle der Märkte, ihres Informationsflusses und ihrer dezentralen Entscheidungsfindung mit dem Argument, dass mitunter auch fehlerhaft zu entscheiden immer noch besser sei, als gar nicht selbst entscheiden zu dürfen. Spätestens seit Karl Marx wurde diese Diskussion weit über ein Jahrhundert lang in Schwarz und Weiß geführt.

In letzter Zeit kam es rund um den Globus zu einer Art Waffenstillstand: Man einigte sich darauf, dass geldbasierte Märkte durchaus funktionieren – aber nur vor dem Hintergrund angemessener Regulierungsmaßnahmen. (Darauf, was »angemessene Regulierung« genau bedeutet, konnte man sich freilich nicht einigen.) Wenn wir auch an den kognitiven Einschränkungen, die zu falschen Entscheidungen führen, nichts ändern können, so die Logik, können wir immerhin Regeln festlegen und Verfahren verankern, die den schlimmsten Schaden verhindern. Es war eine sehr pragmatische Art, mit den realen Verhältnissen geldbasierter Märkte umzugehen, verbunden mit der Einsicht, dass es für den Moment keine bessere Lösung gab. Es kam jedoch auch dem Eingeständnis einer Niederlage gleich. Ein wirklicher Fortschritt – der bedeutet hätte, dass man das Funktionieren des Markts an sich verbessert – schien undenkbar. Der Markt war fehlerbehaftet, aber die Alternativen viel schlechter. Also fanden wir uns damit ab.

Die Kernaussage dieses Buchs lautet: Der Markt kann endlich sein volles Potential entfalten. Mit Datenreichtum werden wir die größten Hürden nehmen, mit denen wir uns bei der Entscheidungsfindung so lange herumschlagen mussten. Dies ist keine vage Vision, wie sich die Schwächen des Markts mildern lassen, sondern ein konstruktiver Plan. Datenreiche Märkte erlauben es uns, individuelle Entscheidungen zu treffen, ohne dabei unter unseren kognitiven Beschränkungen leiden zu müssen.

Natürlich werden wir nicht alle menschlichen Fehlurteile und verzerrte Wahrnehmungen hinter uns lassen können. Wir werden auch nicht jeden cleveren Marketingmenschen daran hindern, diese Schwächen auszunutzen. Auch wenn Menschen gut programmierte lernende Systeme benutzen, um in datenreichen Märkten Entscheidungen zu treffen – die Wahl hat am Ende immer noch der Mensch. Wir werden die Freiheit haben, über den Grad der Entscheidungsassistenz zu entscheiden. Oder direkter formuliert: Wir entscheiden, worüber wir entscheiden wollen – und worüber nicht. Aber indem wir diese letzte Entscheidungshoheit behalten, erhalten wir auch den menschlichen Irrtum. Auch mit vielfältigen Daten werden Märkte nicht perfekt sein – aber preisfixierten Märkten weit überlegen. Wir werden uns immer noch falsch entscheiden – aber nicht mehr so oft.

Datenreiche Märkte werden die Rolle verändern, die Märkte und Geld spielen. Sie stellen abgenutzte Konzepte von Wettbewerb und Lohnarbeit ebenso in Frage wie den Finanzkapitalismus. Sie werden eine andere Rolle bei der Koordination von Menschen untereinander spielen und dadurch einen großen Einfluss darauf haben, wie wir gemeinsam leben und arbeiten.

Manche werden mit der Rolle hadern, die der Mensch dabei spielt – die des letztendlichen Entscheiders –, und dafür eintreten, dass eine angeblich rationalere Zentralgewalt diese Entscheidungen zum Wohle des großen Ganzen treffen möge. Wir aber sind davon überzeugt: Entscheiden bleibt die Aufgabe des Einzelnen. So wichtig es auch sein mag, effizienter, nachhaltiger und rationaler zu entscheiden – und unsere Entscheidungen müssen definitiv besser werden! –, so sehr müssen wir uns auch immer daran erinnern, das zu bewahren und zu lieben, was uns menschlich macht. Das übergeordnete Ziel datenreicher Märkte ist deshalb nicht Perfektion, sondern individuelle Erfüllung. Mit all der Vielfalt und dem gelegentlichen Irrsinn, die uns zu Menschen machen.

Weiter zu Kapitel »2 Koordination»

Anmerkungen zum Kapitel

1. Marco della Cava, »EBay Turns 20 with Sales Plan Aimed at Rivals Like Amazon«, USA Today, 16. September 2015, www.usatoday.com/story/tech/2015/09/16/eBay-turns-20-sales-plan-aimed-rivals-like-amazon/72317234.

2. Leena Ro, »For EBay, a new chapter begins«, Fortune, 19. Juli 2015, fortune.com/2015/07/19/eBay-independence.

3. Marco della Cava, »EBay Turns 20 with Sales Plan Aimed at Rivals Like Amazon«.

4. Ebenda.

5. Nicole Perlroth, »EBay Urges New Passwords After Breach«, New York Times, 21. Mai 2014, www.nytimes.com/2014/05/22/technology/eBay-reports-attack-on-its-computer-network.html?_r=0.

6. Matt Levine, »How Can Yahoo Be Worth Less Than Zero?«, Bloomberg, 17. April 2014, www.bloomberg.com/view/articles/2014-04-17/how-can-yahoo-be-worth-less-than-zero; grundsätzlicher auch in: Richard H. Thaler, Misbehaving: The Making of Behavioural Economics (Allen Lane, 2015), S. 244–253.

7. Thomas W. Malone, Joanne Yates, Robert I. Benjamin, »Electronic Markets and Electronic Hierarchies«, Communications of the ACM, Juni 1987, www.researchgate.net/publication/220425850.

8. »The Zettabyte Era: Trends and Analysis«, Cisco White Paper1465272001812119, 7. Juni 2017, www.cisco.com/c/en/us/solutions/collateral/service-provider/visual-networking-index-vni/vni-hyperconnectivity-wp.html.

2KOORDINATION

Die Minyons de Terrassa hatten ein ehrgeiziges Ziel: die größte Menschenpyramide aller Zeiten. Ein Turm aus hunderten Menschen, der zehn Ebenen in die Höhe ragt. Menschenpyramiden sind eine alte Tradition in der spanischen Region Katalonien. Schon oft hatten sich Gruppen an einem sogenannten Castell mit zehn Ebenen versucht, aber bislang waren alle an der Komplexität der Struktur gescheitert.

Am 22. November 2015 unternahmen die Castelleres der katalanischen Industriestadt Terrassa ihren Rekordversuch. Auf den Schultern von Hunderten bildeten 96Castelleres die zweite Ebene. Darauf folgte die dritte aus vierzig Personen. Diese drei Ebenen waren das Fundament des eigentlichen Turms. Die vier Castelleres der vierten Ebene stiegen hinauf, und während die Turmbauer der nächsten Ebene sich mit ihren Armen stützten, stimmte die Band eine traditionelle katalanische Weise an. Das war der Taktgeber für die noch verbliebenen Castelleres, die ihren strikt choreographierten Aufstieg mit dem Tempo des Lieds koordinierten. Je höher der Turm aufragte, umso mehr erinnerte er an den Schiefen Turm von Pisa. Doch dieser Turm wurde von menschlicher Willensstärke und Kooperation gehalten.1

Schließlich waren die Kinder dran. Sie sollten an die Spitze der Konstruktion klettern und ihr die Krone aufsetzen. Die Enxaneta, das Mädchen, das für die letzte Ebene ausgewählt war, musste den Zuschauern von ganz oben kurz zuwinken. Erst danach durften sie und alle anderen in exakt umgekehrter Reihenfolge wieder hinabsteigen. So sieht es das Reglement vor, denn ein Castell gilt erst dann als vollendet, wenn es auch beim Wiederabbau nicht einstürzt. Es war ein Moment höchster Spannung: Der Turm konnte jeden Augenblick umfallen, und damit wäre der Rekordversuch gescheitert. Doch es stand mehr auf dem Spiel: Neun Jahre zuvor war ein Mädchen von einem Turm mit neun Ebenen in den Tod gestürzt.2

Nichts durfte deshalb dem Zufall überlassen werden. Die Minyons de Terrassa hatten acht Monate trainiert, sich zweimal pro Woche getroffen, an ihrer Kraft und ihrem Mut gearbeitet, geübt, wie sie am besten Halt fanden auf den Schultern der unter ihnen Stehenden. Denn wer in den unteren Ebenen steht, muss nahezu vier Minuten lang das sich ständig verlagernde Gewicht der oberen Ebenen mit tragen, eine Tonne und mehr. Die Minyons de Terrassa stellten einen neuen Weltrekord auf – eine Leistung, die das Ergebnis sorgfältiger Koordination war und mal wieder zeigte, »dass es keine Grenzen außer dem Himmel gibt«3.

Bei den alle zwei Jahre stattfindenden Castell-Wettbewerben gewinnt nicht zwingend das Team, das den höchsten Turm baut: Was vor allem zählt, ist die Schwierigkeit der Struktur und die dafür erforderliche menschliche Koordination. Ein Turm mit elf Ebenen mit einem Casteller pro Ebene ist weniger schwierig als ein zehnstöckiger Turm mit drei oder vier Personen pro Ebene.4 Je mehr Menschen beteiligt sind, desto beeindruckender ist das Spektakel. Weil so viel davon abhängt, den Turm von der untersten bis zur obersten Ebene zu koordinieren, ist die Wendung fer pinya – der katalanische Ausdruck für »das Fundament bilden« – zum Synonym für »zusammenarbeiten« geworden.5

Die katalanischen Castells sind ein beeindruckendes Beispiel menschlicher Zusammenarbeit – ein Beweis dafür, wie stark unser Wunsch, aber auch unsere Fähigkeit ist, gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten. Das Training ist hart, die Konstruktion verlangt kreatives Denken. Die Umsetzung erfordert vor allem aber eine fehlerfreie Kommunikation. Der Cap de colla, der Leiter und Koordinator der Gruppe, erteilt vom Boden aus seine Kommandos, doch bei der Errichtung des Castells müssen weitaus mehr Informationen den Turm hinauf- und hinabfließen. Alle Castelleres kommunizieren kontinuierlich mit den Leuten neben ihnen, ob sie das Gewicht noch tragen können oder ob sie dabei sind, die Balance zu verlieren. Eine allzu große Gewichtsverlagerung kann andere aus dem Gleichgewicht bringen und den Zusammenbruch des Turms auslösen. Schon eine kleine Anpassung hingegen kann die gesamte Struktur retten – oder zumindest sicherstellen, dass die, die stürzen, sicher von den Armen der vielen Leute der Pinya aufgefangen werden. Dieses Ziel zu erreichen erfordert ein fein abgestimmtes Geben und Nehmen – nicht anders, als wir Menschen es seit Jahrtausenden und über zahllose Generationen hinweg tun.

Unsere Vorfahren haben das Feuer gezähmt, das Rad erfunden und die Dampfmaschine entwickelt. Darüber wurde viel geschrieben, doch diese Innovationen verblassen im Vergleich zu unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Ohne sie würde ein Feuer nur einen Menschen wärmen, transportierte eine Karre nicht mehr als eine Person und gäbe es für Dampfmaschinen keine Gleise, auf denen sie rollen, und keine Fabriken, in denen sie produzieren könnten. Kurz gesagt: Ohne die Fähigkeit zur Koordination hätte die Menschheit in den vergangenen Jahrtausenden keine Fortschritte erzielt.

Der Erfolg unserer Spezies gründet auf unserer Fähigkeit, unsere Aktivitäten aufeinander abzustimmen, um ein Castell zu errichten oder eine Nation zu gründen. Kooperation war von entscheidender Bedeutung in unserer Evolution, mehr noch, das Überleben der Menschheit hing von dieser Fähigkeit ab. Nachdem die frühen Hominiden aufrecht zu gehen begannen, blieben sie leichte Beute für die großen Raubtiere der afrikanischen Savannen. Sie konnten nur überleben, indem sie sich zu Gruppen zusammenschlossen, einander bei Gefahr warnten und voneinander lernten, Werkzeuge anzufertigen und die Umwelt zu ihrem Nutzen zu gestalten. Indem sie durch Kooperation ihre jeweiligen Stärken verbanden, konnten unsere Vorfahren – Generation um Generation – länger leben, sich mehren, ihren Kindern Schutz bieten und ihre kognitiven Fähigkeiten Schritt für Schritt ausbauen.6

Je besser die Menschen ihre Aktivitäten auch im großen Maßstab zu koordinieren lernten, desto eher konnten sie Leistungen vollbringen, die weit über das hinausreichten, was ihren Vorfahren möglich war. Die Pyramiden von Gizeh, die Maya-Tempel in Chichén Itzá, die gewaltige Tempelanlage von Angkor Wat, der Petersdom und das Tadsch Mahal sind bekannte Beispiele dafür, was Menschen gemeinsam leisten können. Und sie beeinflussten das Leben der Menschen, indem sie festlegten, wer mit wem kooperieren konnte und wer nicht. Die »Große Mauer« sicherte China nicht nur gegen die anstürmenden Mongolenhorden ab: Sie verhinderte auch, dass sich Fortschritte in der Metallverarbeitung und der Landwirtschaft rasch ausbreiteten. Die Inbetriebnahme des Sueskanals im Jahr 1869 hingegen verkürzte den Seeweg von Europa nach Asien um nahezu ein Drittel und öffnete die Schleusentore der Globalisierung.7