Machtschaffend -  - E-Book

Machtschaffend E-Book

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Da gegebene Machtverhältnisse immer auch symbolischer Macht bedürfen, um sich aufrechtzuerhalten, sind sie angewiesen auf die Verbreitung herrschaftsstabilisierender Bilder, Texte, Filme und Geschichten. Genauso kann Kunst aber auch zur Destabilisierung von Herrschaftsverhältnissen beitragen, zur kritischen Auseinandersetzung mit der Kolonialität von Macht, Wissen und Sein. In "Machtschaffend" gehen Theater-, Film-, Kunst- und Literaturschaffende der Frage nach, von wem welche Kunst verstanden werden will und mit welchen künstlerischen Mitteln sich hegemoniale Perspektiven im Theater, im Film, in der Literatur irritieren lassen. Den Essays ist jeweils ein kurzes Zitat bedeutender Vordenker*innen wie Angela Davis, Gayatri Chakravorty Spivak oder James Baldwin vorangestellt, von dem sich die Autor*innen in ihrem Nachdenken über die Beziehung von Kulturproduktionen und Herrschaftsverhältnissen haben inspirieren lassen. Mit Beiträgen von Elona Beqiraj, Cana Bilir-Meier, Semra Ertan, Carmen Mörsch, Necati Öziri, Ruben Sabel, Sasha Marianna Salzmann, Faraz Shariat, Nora Sternfeld, Deniz Utlu, Senthuran Varatharajah und Julia Wissert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 144

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna Sabel ist politische Bildnerin. Sie ist Regisseurin von Spendier mir einen Çay und ich erzähl dir alles (www.spendier-mir-einen-cay.de), Kuratorin der Ausstellung Re:Orient, Herausgeberin der Sammelbände Die Erfindung des muslimischen Anderen (Unrast 2021), P wie Protest. Ein Widerstandswörterbuch in Bildern (edition assemblage 2022), (K)ein Kopftuchbuch. Über race-, Religions- und Geschlechterkonstruktionen und das, wovon Kopftuchdebatten ablenken (transcript 2023) und Geschäftsführerin des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften, Leipzig.

Anna SabelVerband binationaler Familien und Partnerschaften (Hg.)

Machtschaffend

Texte über das Verhältnis von Kunst und Herrschaft

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.

Anna Sabel, Verband binationaler Familien und Partnerschaften (Hg.):

Machtschaffend

1. Auflage, Oktober 2023

eBook UNRAST Verlag, Januar 2024

ISBN 978-3-95405-186-1

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: © Ahmet Erdem Şentürk

Korrektorat: Nino Bautz und Mehmet Arbag

Satz: Unrast Verlag, Münster

Inhalt

Anna SabelEinleitung

May Ayimkünstlerische freiheit

Senthuran VaratharajahDie Sätze gehen weiter

Deniz UtluIdentität und Schreiben

Sasha Marianna SalzmannStörung

Elona BeqirajWände

Julia WissertSchluß mit ›Normal‹

Necati ÖziriGedanken zum White Gaze

Semra ErtanWarum schreibe ich, will ich schreiben?

Cana Bilir-Meier»Images in our head«

Faraz ShariatBILDER TRÄUMEN

Ruben SabelWenn ich auf der Bühne stehe, rede ich wie in den Filmen, denn das ist authentisch

Nora SternfeldSich anlegen mit dem Apparat der Wertekodierung

Carmen MörschKunstvermittlung und die Macht des Zeigens

Anmerkungen

Anna Sabel

Einleitung

»Dieses Empfinden, zu sein, was man sein soll, ist einer der absolutesten Profite der Herrschenden.« Pierre Bourdieu (zit. nach Brunner 2020: 196) 

Kunst ginge es nicht um Wissensproduktion, habe ich gehört. Kunst ginge es vielmehr um Abstandnahme vom und Infragestellung des Gegebenen. Für mich klingt das so, als könnten wir getrost auf Kunst bauen, wenn es um die Destabilisierung von Herrschaftsverhältnissen geht, um die kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialität von Macht, Wissen und Sein. Für mich klingt das, wie das, was ich durch Antke Antek Engel als queering verstanden habe: das Durchkreuzen gewohnter Wahrnehmungen und Normalitätsordnungen. Wenn es doch so einfach wäre.

Die gegebenen Machtverhältnisse sind eng verflochten mit der Durchsetzung symbolischer Macht, mit der Verbreitung herrschaftsstabilisierender Bilder, Texte, Filme und Geschichten. Benedict Anderson verbindet die Vorstellung von Nationen und Nationalstaaten mit dem Buchdruck. Edward Said verbindet die Durchsetzung britischer Kolonialherrschaft mit der Wirkkraft von Literatur. Durch beispielsweise bell hooks’ und Stuart Halls Filmanalysen wissen wir von der marginalisierenden Wirkung von Praktiken der Repräsentation.

Die Infragestellung der Normalitätsordnung fällt mir da am leichtesten, wo Normalität hergestellt wird, indem ich ausgeschlossen werde. Gerade erst hat mich ein Film mit der plumpen, beinah erotisierenden Darstellung des Verhältnisses einer jungen Mutter zu ihrem Sohn verletzt, die an mich herangetragen wird, seit ich mein erstes Kind mit 16 Jahren geboren habe (klassische Darstellungen: die Mutter als Kind ihres Kindes, das ein geregeltes Leben für sich und die Anfang 30-jährige Mutter sicherstellen muss; die Mutter als beste Freundin ihres Kindes, allzeit bereit zum gemeinsamen Drogenkonsum; auch der erotisierende Part in dem Film, den ich gesehen habe, war nur scheinbar originell: junge Mütter werden stets sexualisiert). Ich hätte über dieses Thema schreiben wollen, weil ich die Darstellung von Teenagermüttern vielsagend finde, was die machtvolle gesellschaftliche Verhandlung von Sexualität, Weiblichkeit und Mutterschaft betrifft. Aber zwischen mir und einer öffentlichen Auseinandersetzung steht die Scham. Stattdessen lese ich, wie immer in Momenten solcher Verletzungen, eine Stelle in Joan Nestles Buch A restricted country, die mich zugleich tröstet und verstört. Die 16-jährige lesbische Ich-Erzählerin verbringt eine Nacht in dem Auto und den Armen des müden und alternden Cowboys Bill und achtet darauf, dabei unentdeckt zu bleiben. Denn »He would be held responsible for breaking the boundaries between guests and workers, between young girls and old men, and I would never be able to convince them that I knew exactly what I was doing, that tenderness was my joy that night, that I danced in the moonlight knowing my body could be a home in the freezing desert air.« (Nestle 1987: 34) 

Ich glaube nicht, dass ich begreiflich machen kann, was diese Textstelle mir bedeutet oder warum. Gerade weil ich selbst keine Worte dafür habe, ist sie mir ja so wichtig. Sie hilft mir auf eine Weise, die ich nicht verstehe, die Gewalt zu spüren, mit der mir Gesellschaft einen Platz zugewiesen hat. Für mich ist auch das vorliegende Buch eine Annäherung an dieses Moment von Kunst, für das mir die Worte fehlen. 

Literatur

Brunner, Claudia (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.

Nestle, Joan (1987): A Restricted Country. Ann Arbor: Firebrand.

May Ayim

künstlerische freiheit

(Ayim 2021: 86)

alle worte in den mund nehmen

egal wo sie herkommen

und sie überall fallen lassen

ganz gleich wen es

trifft

Literatur

Ayim, May (2021): blues in schwarz weiß & nachtgesang. Münster: Unrast.

Senthuran Varatharajah

Die Sätze gehen weiter

»Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der Gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es darum geht, zu schreiben.« Michel Foucault (Foucault 1973: 30)

Die Sätze, die hinter uns liegen, liegen so weit zurück – bis ich wieder vor ihnen stehe.

9. November 1984. Berlin, Bahnhof Zoo. Gleis 2.

Im Tamilischen gibt es kein Wort für Schnee.

Es schneite nicht.

Was hinter uns liegt:

Die Form einer Küste, die ich nicht beschreiben kann. Der Sand, auf dem Amma saß, und der immer heller war als in meiner Vorstellung. Das Wasser, das genug Körper trägt. Eine andere Sonne. Was hinter uns liegt: Das Haus ihrer Eltern, das ich auf zwei schwarz-weiß Bildern gesehen habe. Sechs Einschusslöcher in der blauen Mauer, so groß wie ein Gesicht. Kugeln; Bombensplitter. Panzerspuren auf dieser warmen Erde, zwölf Jahre nach dem Krieg. Der Knochen eines linken Beines, unter einem Strauch. Was hinter uns liegt: 300.000 Tote. Die Dunkelziffern. Die Namen und der getrocknete Schweiß auf den Vermisstenanzeigen. Dreieinhalb Stunden Zeitunterschied. 7.754 Kilometer Luftlinie. Die Grenzen, über die wir gegangen sind, gehen auch durch uns. Und so

geht alles

weiter.

Weil wir aus dem Vergessen kommen.

Die erste Erzählung ist die Erzählung der Flucht. Ich wurde 1984 in Jaffna, im Norden Sri Lankas geboren, im ersten Jahr eines Krieges, der noch 25 Jahre anhalten wird. Als ich vier Monate alt war, konnte meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir über Colombo, Moskau und Ost-Berlin nach West-Berlin fliehen. Die ersten sieben Jahre lebten wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen: in West-Berlin, in Frankfurt am Main, in Nürnberg, Coburg und in einer bayerischen Kleinstadt, in der meine Eltern bis heute wohnen. Seit 38 Jahren leben sie in Deutschland; länger als in der Stadt, in der Amma und Appa zur Welt kamen; länger als in Yalppanam, wie Jaffna auf Tamil heißt, die einzige Stadt, die meine Mutter Zuhause nennt, auch 38 Jahre nach unserer Flucht. Aber ihre Hände bleiben: eine Geste, die immer nur in diese Richtung zeigt; dort, wohin sie nicht zurückkehren wird; dort, wo es einmal einen Sand gab, der heller gewesen sein muss, heller als in meiner Vorstellung. In diesen verbogenen Händen liegt der Umfang ihrer Trauer; sie tragen ihr Heimweh, so, wie sie uns getragen haben, und genug Sprache, um singen zu können, über die Dinge, die wir immer wieder verlieren, im singhalesischen Feuer. Wir werden nur eine Erzählung gewesen sein. Wir kommen aus dem Vergessen.

Ammas Stimme, nachts:

Mein Sohn. So oft habe ich daran gedacht, so oft habe ich davon geträumt, so oft musste ich davon erzählen, bis ich alles vergesse. Aber es gibt noch so so viel Sprache, noch genug Wörter; es gibt noch so vieles, was ich dir noch nicht gesagt habe, was ich dir sagen will, es gibt noch so viele Sätze in mir wie Regen, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Nicht einmal wir haben gesehen, was wir gesehen haben. Alles werde ich vergessen, bis auch du dich an nichts mehr erinnern wirst. Das ist unser Schicksal. Hier bleiben die Jahre

stehen.

Einmal

2016, ist es drei Uhr nachts gewesen, 32 Jahre später. Ich lag im Bett, seit zwei Stunden, eine Seite meines Oberkörpers: auf der Matratze, die andere über den Büchern, die verstreut auf dem Boden lagen, gebeugt, das iPhone in der linken Hand; das kalte Licht, das der Spiegel auf den Kleiderschrank warf, beleuchtete einen vagen Bereich des Zimmers, mit einem helleren blau, das auch weiß sein könnte. Ich hielt mein Handy nah am Boden, so flach, dass ich die dunkle Maserung auf dem Parkett erkennen konnte. Ich öffnete Facebook. Ich sah das Video, das mein jüngeres Geschwister vor einer halben Stunde gepostet hatte, unsere Mutter, vor einem Haus, sie trug ihre rote Brille. Ich wusste: Sie waren zum ersten Mal dort, in Jaffna, dort, wo wir seit unserer Flucht nicht mehr gewesen sind. Ich wusste: Ich werde play drücken. Ich drückte play. Ich sah unsere Mutter unter einer anderen Sonne, auf dem Sand, der auf der Straße lag, vor einem Haus, Palmen: hinter einer Mauer, die höher war als sie, und die Risse; frische Farbe, fast hellrosa. Dieses Haus gehörte meinen Eltern. Es ist nicht groß. Es sah kleiner aus als das, das ich auf den drei Fotos gesehen habe, mit meinem Vater darauf, links, neben seinem schwarzen Motorrad, gestreiftes Poloshirt, schwarze Schlaghose, mein älterer Bruder, der auf ihn gewartet hatte, rechts, rechts neben ihm. Dieses Haus gehört ihnen nicht mehr. Das Tor war verschlossen. Meine Mutter stand davor. Sie sah auf den Boden, vier oder fünf Sekunden lang, bevor sie in die Knie ging und die Erde berührte, und mit ihren Händen zupfte sie das Unkraut aus der Stelle, an der das Tor in der Mauer befestigt war.

Niemand kam, und niemand ist vor uns da gewesen. Durch die Sprache des Vergessens müssen wir kommen. Die Sätze verändern sich: nach der Ordnung der Zeit, und durch die zuverlässigen Hände der Stunden. Sie verschieben die Details, erst: kaum, um wenige Millimeter, die Farbe des Tages und den Geruch der Straße; das Geräusch von Wasser, das kalt war und schwer geworden ist, als es das Schlauchboot füllte; die Form des Hämatoms auf der weichen Haut, rot, und dann violett, so groß wie die Faust des Grenzbeamten. Die Sätze verändern sich, weil das Ereignis, das sie beschreiben, das sie meinen, immer gleich geblieben sein wird: Auch nach den Routen, den Abwegen, den Kadenzen, nach einer anderen Nacht. Beides ist wahr: Wir können über das, was wir gesehen haben, sprechen. Und: Wir können davon nicht erzählen. Kein Wort sagt etwas, und jedes Wort sagt alles, was wir nicht sagen werden; auf einem Umweg, auf einem Abweg, auf einem falschen Weg; nach seinem Willen, und auf un-verständliche Weise. Das Licht teilt eine Hand. Diese Hand teilt das Licht. Wir sind in den Erfahrungen eingeschlossen. Das, was uns widerfahren ist, wird uns überdauern; überschatten; überleben: Das, was abseits der Sprache, das, was unter ihr und auch in ihrem schwachen Herz ist, bleibt; auch ohne ein Wort: der Bruch, und das Brechen, das Brechende, und das Gebrochene, das Zerbrechen selbst. Diese Einsamkeit. Diese Angst. Das Warten, das nicht aufhört. Das Geheimnis des Lichts liegt nicht im Licht, sondern in den Dingen, die das Licht teilen. Aber Amma weiß: Am 9. November war es kalt in Berlin. Neben ihr: standen zehn Koffer.

Die erste Erzählung kenne ich nur in der Stimme meiner Mutter, und nach dem Gesetz ihres Mundes. In ihr werden die Dinge so betrachtet, wie sie sich vom Standpunkt einer gescheiterten Erlösung aus wieder darstellen; und vielleicht kann nur so von jedem Krieg, der alles ordnet, weil er allem vorausgegangen sein wird, gesprochen werden. Wir sind das Zeichen der Vernichtung, der wir entkommen sind. Die Geschichte, die davon erzählt, ist nicht identisch: weder mit sich selbst, noch mit anderen Geschichten der Flucht. Wir sprechen von Flucht im Singular. Aber wir müssen damit meinen: die Gründe, die verschiedenen, die einen Menschen gezwungen haben, die einen Menschen zwingen, und einen anderen noch zwingen werden, aufzubrechen, im doppelten Sinn: Eine Sache, die verschlossen war, gewaltsam zu öffnen. Und einen Ort zu verlassen, d.h.: sich auf den prekären Weg, sich auf die Ungewissheit und Brutalität einer Strecke zu machen. Wir sprechen von Flucht im Singular. Und wir meinen damit jede Richtung, aus der Menschen, die Schutz an einer anderen Stelle, die Zuflucht hier, hier und woanders suchen, kamen und immer wieder kommen; auch in dieses Land, und in diese Sprache; in diesen Kontinent und in dieses Alphabet. Wir meinen damit die Linien, die messbar sind, auch mit dem Maßstab eines Fingers, und die nachvollzogen werden können, als eine objektive Bewegung im Raum, von einem Namen zu einem anderen, auf den grünen und blauen Karten, die die Nachrichten abends zeigen. Die Grenzen, über die wir gegangen sind, gehen auch durch uns. Und so

geht alles

weiter.

In den Zeitungen steht:

Flucht nach Europa. Mindestens 44 Geflüchtete vor der Küste der Westsahara etrunken.

In den Zeitungen stand:

Mehr als 20.000 Tote auf Mittelmeehr-Fluchtroute seit 2014.

Die Sätze, die hinter uns liegen, liegen so weit zurück – weil ich wieder vor ihnen stehe.

In Ammas linker Hand: die rechte Hand meines älteren Bruders. In ihrem anderen Arm, an ihrer Brust: der Säugling, der ich einmal war, in einer hellblauen Decke.

Der 9. November ist ein Freitag gewesen.

Was hinter uns liegt:

Der Bus, den meine Mutter genommen hatte, vom Norden der Insel Richtung Südwesten, während wir auf ihrem Schoß lagen, in dieser Variation einer Nacht. Der weiße Schalter am Flughafen Colombo, morgens, und der Beamte, der Ammas Pass auf den Boden warf. Was hinter uns liegt: Alles, was sie kannte. Ihre Freundin, die sich vor ihrem Abitur den Liberation Tigers of Tamil Eelam, unserer Befreiungsarmee anschloß, nach der Ermordung ihrer Familie durch das sri-lankische Militär, mit einer Zyankalikapsel um ihren Hals. Die Kugel in der Mitte der Stirn eines singhalesischen Offiziers, der sie im dichten Dschungel nicht kommen sah. Der Tiger, der sich über seine Leiche beugt. Was hinter uns liegt: Ein Völkermord. Alle nutzlosen Gebete. Kein Gedicht. An unserer Stelle ist ein anderer gestorben. Und so

geht alles

weiter.

Weil wir aus dem Verdrängen kommen.

Die erste Erzählung ist die Erzählung der Flucht. Ich erinnere mich nicht an das Ereignis, aber an die Geschichten, die von ihr erzählen, die sich in einem Monat ergänzen und in derselben Woche widersprechen können, die sich überschneiden und kaum miteinander zusammenhängen, abhängig davon, wem sie wann erzählt wurden, erinnere ich mich. Ich erinnere mich; daran, dass alle Geschichten gleichzeitig existieren, alle Geschichten habe ich: gehört; alle Geschichten bleiben: wahr. Alle Geschichten: stimmen nicht, stimmen nicht überein. Alle Wörter liegen abseits unserer Erfahrung. Alle Wörter erfinden eine Erfahrung, die es nicht gibt. So, wie die Geschichte, die meine Eltern den Behörden erzählt haben, so, wie die Geschichte, die meine Eltern ihren Bekannten erzählt haben, so, wie die Geschichte, die meine Eltern ihren Freund*innen erzählt haben, so, wie die Geschichte, die meine Eltern den Verwandten mütterlicherseits erzählt haben, so, wie die Geschichte, die meine Eltern den Verwandten väterlicherseits erzählt haben, so, wie die Geschichte, die sie mir erzählen. So, wie diese Geschichte, die sie nicht erzählen können, und nie erzählt haben werden. Wir ordnen unser Leben, und es zerfällt. Ich erinnere mich an Ammas Anthologie eines viertägigen Entkommens, die auch ich weiterschreibe, umschreibe, abschreibe, jedes Mal, wie jetzt; ich erinnere mich an ihr Zögern, an ihr Abwarten, an ihre Unterbrechungen und an die Sätze ohne Ende; ich erinnere mich an das gesammelte Schweigen nach den Sekunden ihres Mundes. Eine Linie besteht aus einer unendlichen Anzahl von Punkten. Sie verbindet nicht nur einen Punkt mit mindestens einem anderen, in gerader, gekrümmter oder in mehrfach gebrochener Form, eine Linie streicht auch durch: das, worüber, und das, wodurch sie verläuft; durch die Karten und ihr ganzes gleichmäßiges Grün, durch ihre flache Masse an Blau. So sind wir gekommen. In dieses Land, und in diese Sprache; auf diesen Kontinent, und in 29 Buchstaben. Wir hießen Dahergeschleifte, Asylantenschweine, Affen, alle N-Wörter. Ich kannte den Hunger, den ich früher paci nannte, und auch den zwischen Ammas von Wasser und Reinigungsmitteln, von drei Schichten aufgequollenen Fingern, ich kannte das Geräusch von feuchtem Basmati-Reis, und ich wusste: wie weit man einen Mund öffnen darf, aber ich öffnete ihn nicht. Ich konnte ihn nicht öffnen. Wir kommen aus dem Verdrängen.

Ammas Stimme, nachts:

Mein Sohn. Ich habe nicht darüber nachgedacht, nicht über die Fahrt, nicht über den Flug, nicht über diese Strecke, die vor uns lag, die ich noch nie gesehen habe, die ich nicht kannte. Alles, was ich wusste, war dort. Ich wusste nur, dass ich mit euch gehen muss, und so sind wir

gegangen.