Mädchen brennen heller - Shobha Rao - E-Book

Mädchen brennen heller E-Book

Shobha Rao

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Beschreibung

Purnima und Savita sind arm, sie sind ehrgeizig, und sie sind Mädchen – keine guten Voraussetzungen für ihre Zukunft. Nach dem Tod ihrer Mutter hat die 16-jährige Purnima wenig Trost in ihrem Leben. Sie muss sich um ihre Geschwister kümmern, während ihr Vater sie unbedingt verheiraten will. Als die ein Jahr ältere Savita in den Haushalt kommt, um an einem der Sari-Webstühle zu arbeiten, ist Purnima fasziniert von ihrer Leidenschaft und Unabhängigkeit und beginnt, sich ein Leben jenseits einer Zwangsehe vorzustellen. Doch Savita wird das Opfer einer verheerenden Gewalttat und flieht aus dem Dorf. Bald lässt auch Purnima alles hinter sich, um ihre Freundin wiederzufinden. Die Suche führt sie auf eine erschütternde Reise, in die dunkelsten Winkel der indischen Unterwelt, bis in die USA. Der Roman wechselt zwischen den Perspektiven der jungen Frauen, während die Wendungen des Schicksals unerbittlich scheinen. Allein die Freundschaft hilft ihnen, die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben aufrecht zu erhalten. In einer atemberaubenden Prosa erzählt Shobha Rao von den drängendsten Problemen, mit denen Frauen heute nicht nur in Indien konfrontiert sind: Armut, häuslicher Missbrauch, Misogynie, Zwangsehe. Ein Roman von tiefer Menschlichkeit und eine bewegende Meditation über die Freundschaft. Unvergesslich.

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Shobha Rao

Mädchen brennen heller

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Sabine Wolf

INHALT

INDRAVALLI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

PURNIMA

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

SAVITA

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

PURNIMA

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

SAVITA

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

PURNIMA

Kapitel 1

Kapitel 2

Dank

INDRAVALLI

Das Erstaunlichste am Tempel von Indravalli war leicht zu übersehen. Zuerst musste man den Berg hinauf, näher an den Tempel heran, und dann lange und aufmerksam dessen Eingang betrachten. Sein Tor. Nicht die geschnitzten Paneele oder die feine Maserung, sondern wie das Tor dort stand, unerschrocken, wie von innen leuchtend und einsam. Wie es scheinbar in den Himmel wuchs, als wäre es noch immer Baum. Es lag am Holz, geschlagen in einem Hain nordwestlich von Indravalli. Angelegt hatte diesen eine alte Frau – es hieß, sie sei über hundert Jahre alt –, die kinderlos geblieben war. Sie und ihr Mann waren Bauern gewesen, und als die Frau verstanden hatte, dass sie nie Kinder haben würde, hatte sie Bäume gepflanzt, um auf diese Weise etwas Zartes und Schönes aufzuziehen. Ihr Mann hatte um die Setzlinge herum Dornsträucher gegen wilde Tiere gepflanzt, und weil die Gegend trocken war, hatte die Frau das Gießwasser viele Kilometer weit tragen müssen. Mittlerweile bestand das Wäldchen der beiden aus Hunderten von Bäumen. Standhaft wiegten sie sich im trockenen Wind.

Eines Tages suchte ein Journalist einer Regionalzeitung die alte Frau auf. Er erreichte sie zur Teestunde, und die alte Frau setzte sich mit ihm in den Schatten unter einen der Bäume; die breiten Blätter rauschten hoch über ihnen. Schweigend nippten die beiden an dem Tee; der Journalist war von der ruhigen grünen Schönheit des Ortes erfasst und vergaß all seine vorbereiteten Fragen. Er wusste um die Kinderlosigkeit der alten Frau und den kürzlichen Tod ihres Ehemanns, und um feinfühlig zu sein, sagte er: »Sie müssen Ihnen Gesellschaft leisten. Die Bäume.«

Die alte Frau lächelte ihn aus grauen Augen an und sagte: »Oh ja. Ich bin niemals einsam. Ich habe Hunderte von Kindern.«

Der Journalist sah eine Gelegenheit. »Sie betrachten die Bäume also als Ihre Kinder?«

»Sie denn nicht?«

Stille trat ein. Der Journalist blickte lange und tief in den Hain, auf die dicken Stämme der Bäume, ihre Kraft trotz Dürre und Krankheit und Insekten und Hochwasser, und wie sie trotz alledem goldgrün leuchteten. Selbst in der schweren Hitze des Nachmittags strahlten die Bäume. »Sie können sich glücklich schätzen«, sagte er, »mit so vielen Söhnen.«

Die alte Frau blickte zu ihm auf, in ihren Augen und in ihrem faltigen Gesicht schimmerte etwas wie Jugendlichkeit auf. »Ich schätze mich glücklich«, sagte sie, »aber Sie irren sich, junger Mann. Das sind nicht meine Söhne. Kein Einziger von ihnen. Das sind meine Töchter.«

1

Purnima bemerkte das Tempeltor nie. Savita ebenso wenig. Doch der Tempel, hoch oben auf dem Berg über Indravalli, beobachtete die beiden aufmerksam. Ihr Dorf befand sich in der Nähe des Flusses Krishna, etwa einhundert Kilometer landeinwärts vom Golf von Bengalen. Obwohl der kleine Ort in einem ebenen Tal lag, wurde er von einem der höchsten Berge in Andhra Pradesh überragt, dem Indravalli Konda, an dessen östlichem Hang sich auf halber Höhe der Tempel befand. Der Tempel war strahlend weiß gestrichen und sah für Savita wie eine große Baumwollkapsel aus. Für Purnima sah der Tempel aus wie der Vollmond, umarmt vom Himmel und den umliegenden Bäumen.

Als Purnima zehn Jahre alt war, stand sie vor der Hütte ihrer Familie und starrte hinauf zum Tempel; sie wandte sich zu ihrem Vater um, der auf der Pritsche aus Hanfseil saß, und fragte: »Warum haben Amma und du mich nach dem Vollmond benannt?«

Weil ihre Mutter gerade am Webstuhl arbeitete, wollte Purnima sie nicht stören. Doch vielleicht hätte sie ihre Mutter gestört – vielleicht hätte sie gar nichts dabei gefunden, sie zu stören, sich an ihren Hals zu klammern, ihren Duft bis zum Letzten einzuatmen –, wenn sie gewusst hätte, dass ihre Mutter fünf Jahre später tot sein würde.

Ihr Vater sah nicht einmal auf. Er drehte weiter seine Zigarette. Womöglich hatte er sie nicht gehört. Purnima setzte neu an: »Nanna, warum haben du und –«

»Ist das Essen fertig?«

»Fast.«

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es fertig sein soll, wenn ich mit der Arbeit fertig bin?«

»War es, weil ich bei Vollmond geboren wurde?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaub nicht.«

Purnima stellte sich das Gesicht eines Babys vor und fragte: »Hatte ich denn ein Mondgesicht?«

Er seufzte. Schließlich sagte er: »Deine Mutter hatte einen Traum, ein paar Tage nach deiner Geburt. Im Traum erschien ihr ein Sadhu und sagte, wenn wir dich Purnima nennen, bekämen wir danach einen Jungen.«

Purnima beobachtete ihn beim Anzünden der Zigarette, dann ging sie wieder in die Hütte. Nach ihrem Namen fragte sie nie wieder. In Vollmondnächten gab sie sich Mühe, gar nicht erst hinaufzuschauen. Es ist einfach nur ein Stein, beschloss sie, ein großer grauer Stein am Himmel. Aber das Gespräch war dann doch schwierig zu vergessen. Hin und wieder tauchte die Erinnerung daran wie aus dem Nichts auf. Wenn Purnima gerade einen Topf Sambar abschmeckte oder ihrem Vater den Tee brachte. Der Sadhu hatte natürlich recht behalten: Sie hatte ja drei kleine Brüder. Was gab es also für einen Grund zum Traurigsein? Keinen. Manchmal war Purnima sogar ein wenig stolz und sagte sich: Ich war ihre Hoffnung, und ich bin in Erfüllung gegangen. Stell dir vor, nicht in Erfüllung zu gehen. Stell dir vor, keine Hoffnung zu haben.

Mit fünfzehn kam Purnima ins heiratsfähige Alter und ging von der Klosterschule ab. Um die Familie zu unterstützen, begann sie, in ihrer freien Zeit an der Charkha, dem Spinnrad, zu arbeiten. Jede fertige Garnrolle – das Garn manchmal rot, manchmal blau, manchmal silbern – brachte ihr zwei Rupien ein, was ihr wie ein Vermögen erschien. Und das war es in gewisser Weise auch: Als sie mit dreizehn ihre erste Periode bekommen hatte, war ihr das teuerste Kleidungsstück geschenkt worden, das sie je getragen hatte, ein seidener Wickelrock für einhundert Rupien. So viel Geld kann ich in weniger als zwei Monaten verdienen, dachte sie aufgeregt. Dass sie, ein Mädchen, überhaupt etwas verdienen konnte, verlieh ihr ein so tiefes und bleibendes Gefühl von Bedeutung – von Wert –, dass sie sich an die Charkha setzte, sooft es nur ging. Sie stand frühmorgens auf, um zu spinnen, spann weiter, nachdem das Frühstücksgeschirr abgewaschen, das Mittagessen vorbereitet und aufgetragen war, und wieder nach dem Abendessen. In der Hütte gab es keinen Strom, und ihr Spinnen war ein Wettlauf mit der Sonne. Auch Vollmondnächte waren hell genug zum Weiterarbeiten, aber die gab es nur einmal im Monat. An den meisten Abenden räumte Purnima also, sowie die Sonne untergegangen war, ihre Charkha beiseite, sah ungeduldig zum Sichelmond oder Halbmond oder Dreiviertelmond hinauf und beschwerte sich: »Warum scheinst du nicht immer voll?«

Doch Sonnenlicht und Mondlicht waren nicht Purnimas einzige Sorgen. Die andere, die wichtigste, war die Krankheit ihrer Mutter. Krebs, soweit es der Arzt im amerikanischen Krankenhaus in Tenali hatte beurteilen können. Medikamente waren teuer, und als Ernährung verordnete der Arzt ihrer Mutter Obst und Nüsse; genauso teuer. Purnimas Vater, der von Hand die Baumwollsaris webte, für die die Gegend um Guntur berühmt war, konnte seine Frau und fünf Kinder kaum von den staatlichen Rationen Reis und Linsen ernähren, geschweige denn mit so etwas Extravagantem wie Früchten und Nüssen. Purnima machte das nichts aus. Sie genoss das Essen, das sie ihrer Mutter jeden Tag kaufte – nein, sie genoss es nicht nur, es entzückte sie, sie labte sich richtiggehend daran: zwei Bananen, ein winziger Apfel und eine Handvoll Cashewnüsse. Laben hieß nicht, dass sie jemals davon gegessen hätte. Sie nahm nie auch nur einen Bissen, obwohl ihre Mutter sie einmal zu einer Cashewnuss überredete, die Purnima, als sich ihre Mutter kurz umdrehte, wieder zurücklegte. Nein, wenn Purnima sich labte, dann daran, ihrer Mutter dabei zuzuschauen, wie sie langsam die Banane aß, angestrengt vom Kauen, sogar von etwas so Weichem. Doch Purnima betrachtete ihre Mutter mit solcher Überzeugung, solcher Hoffnung, dass sie dachte, sie könne tatsächlich sehen, wie ihre Mutter wieder kräftiger wurde. Als wäre Kraft ein Samenkorn. Und sie müsse lediglich Essen im Wert von zwei Rupien beifügen und dem Korn beim Keimen zusehen.

Inzwischen verdiente Purnima fast so viel wie ihr Vater. Ihre Arbeit war folgende: Sie musste dicke Stränge loser Baumwolle mit der Charkha so zu Garn verspinnen, dass sich der Faden dabei um eine Konservendose wickelte. Sie sah zu, wie sich das Garn um die Dose wickelte, und dachte, dass es einem winzigen Holzfass ähnelte, fast so groß wie der Kopf ihres kleinsten Bruders. Das Garn landete auf dem Webstuhl, an dem ihr Vater die Saris herstellte. Vorher wurde es noch weiter behandelt, doch Purnima dachte immer, sie könne die von ihr gesponnenen Fäden erkennen – an den Dosen, um die sie sie gewickelt hatte. Hätte sie das gesagt, wäre sie ausgelacht worden – Fäden sehen alle gleich aus, hätten sie gesagt –, aber das stimmte nicht. Sie hatte jede Dose in den Händen gespürt und kannte ihre Beulen, Umfänge und Rostmuster. Sie hatte sie in den Händen gehalten und glaubte, dass man alles, was man je gehalten hat, niemals wirklich wieder loslasse. Wie die kleine aufziehbare Uhr, die ihre Lehrerin ihr geschenkt hatte, als Purnima die Schule verlassen hatte. Die Uhr hatte ein blaues Ziffernblatt, vier Füßchen und zwei Glöckchen, die zu jeder vollen Stunde läuteten. Als die Lehrerin, eine verhärmte alte Nonne, ihr die Uhr gab, hatte sie gesagt: »Ich nehme an, dass sie dich jetzt verheiraten. Mit einem Kind pro Jahr für die nächsten zehn Jahre. Halte das hier. Halt dich daran fest. Jetzt weißt du nicht, was ich meine, vielleicht aber eines Tages.« Die Lehrerin hatte die Uhr aufgezogen und sie läuten lassen. »Dieser Klang«, hatte sie gesagt. »Vergiss das nicht: Dieser Klang gehört dir. Nur dir.« Purnima hatte keine Ahnung, wovon die alte Nonne gesprochen hatte, doch das Läuten der kleinen Uhr war ihr der kostbarste Klang, den sie je gehört hatte.

Sie nahm die kleine Uhr überallhin mit. Bei der Arbeit stellte sie die Uhr neben ihre Charkha. Beim Essen stellte sie die Uhr neben ihren Teller. Zum Schlafen stellte sie die Uhr neben ihre Matte. Bis die Uhr eines Tages, einfach so, nicht mehr läutete, und ihr Vater rief: »Endlich! Ich dachte schon, das würde nie aufhören.«

Einige Monate, nachdem die Uhr aufgehört hatte zu läuten, starb Purnimas Mutter. Purnima war gerade sechzehn geworden – sie war das älteste der fünf Kinder –, und zu erleben, wie ihre Mutter starb, war, als würde ein blauer Morgenhimmel plötzlich bleiern. Am meisten vermisste sie ihre Stimme. Zwischen den von Ratten angenagten Wänden der kleinen Hütte war die Stimme ihrer Mutter weich und süß und warm gewesen. Purnima war beglückt gewesen, wenn eine so schöne Stimme ausgerechnet nach ihr rief und ihre langen Arbeitsstunden unterbrach, wo doch all diese Stunden letztlich ohnehin nur auf zwei Bananen, einen Apfel und eine Handvoll Cashewnüsse hinausliefen. Die Stimme ihrer Mutter hatte selbst diese geringen Dinge zu einem Schatz gemacht. Und nun hatte Purnima sowohl ihre Mutter als auch die Uhr verloren.

Nach dem Tod ihrer Mutter wurde Purnima langsamer an der Charkha; manchmal stellte sie das Spinnrad schon mitten am Tag beiseite, starrte die Wände der Hütte an und dachte: Ich werde ihre Stimme vergessen. Vielleicht hatte die alte Nonne das gemeint; dass man einen Ton vergisst, wenn man ihn nicht jeden Tag hört. Ich glaube nicht, dass ich diesen Ton bald vergesse, doch eines Tages werde ich ihn vergessen haben. Und dann werde ich alles verloren haben.

Sowie Purnima dieser Gedanke gekommen war, wusste sie, dass sie sich an mehr als die Stimme würde erinnern müssen, sie musste einen Augenblick erinnern, und ihr fiel dieser ein: Ihrer Mutter ging es während ihrer Krankheit eines Morgens gut genug, um Purnima die Haare zu kämmen. Draußen war es hell und sonnig, und die Bürstenstriche waren so sanft und leicht, dass es Purnima vorkam, als hielte gar kein Mensch die Bürste, sondern als säße ein Vögelchen auf dem Bürstengriff. Nach drei oder vier Bürstenstrichen hörte ihre Mutter plötzlich auf. Eine Weile hielt sie die Hand auf dem Kopf der Tochter, und als Purnima sich zu ihr umdrehte, hatte ihre Mutter Tränen in den Augen. Ihre Mutter erwiderte ihren Blick, und mit einer Traurigkeit, die alt und endlos erschien, sagte sie: »Purnima, ich bin so müde. Ich bin so müde.«

Wie lange danach war sie gestorben?

Drei, allenfalls vier Monate später, dachte Purnima. Eines Morgens waren sie aufgewacht, und die Augen ihrer Mutter waren leer und weit und reglos gewesen. Doch Purnima hatte nicht weinen können. Nicht, als sie dabei half, ihre Mutter zu waschen und anzukleiden. Nicht, als ihr Vater und ihre Brüder sie, jasminbeladen, durch die Straßen des Dorfes getragen hatten. Nicht einmal, als der Scheiterhaufen bis auf die kalte Asche heruntergebrannt war. Nicht, als Purnima die letzte Chrysantheme in die Girlande um das Porträt ihrer Mutter gebunden hatte. Erst später, als sie in den ersten kühlen Herbstmorgen hinausgegangen war, hatte sie geweint. Oder hatte weinen wollen. Sie erinnerte sich, wie spärlich ihre Tränen gewesen waren. Sie hatte sich wie eine schlechte Tochter gefühlt, weil sie nicht geweint hatte, nicht bitterlich geweint hatte, doch obwohl sie traurig war, ihr Kummer tief, kamen ihr nur ein, zwei Tränen. Gerötete Augen. »Amma«, hatte sie gesagt und in den Himmel hinaufgeblickt, »vergib mir. Es ist nicht so, als würde ich dich nicht lieben. Oder dich nicht vermissen. Ich verstehe es selbst nicht; alle anderen weinen. Eimerweise. Aber Tränen sind nicht das einzige Maß, oder?«

Und doch, was sie sich ausgemalt hatte, trat ein: Die Monate vergingen, und sie vergaß die Stimme ihrer Mutter. Doch sie erinnerte sich weiter daran – es war das Einzige, was ihr wirklich blieb –, wie ihre Mutter beim Haarekämmen einen Augenblick lang eine Hand auf ihren Kopf gelegt hatte. Es war nur der Hauch einer Berührung, und doch spürte Purnima es immer: das Gewicht der Hand ihrer Mutter. Ein Gewicht so zart und fein wie die Sprenkel der Regentropfen nach einem heißen Sommertag. Ein Gewicht so klein und müde, doch mit genügend Kraft, um das Blut in ihren Adern leichter fließen zu lassen.

Am Ende, so beschloss Purnima, war es das schönste Gewicht.

Einmal im Monat ging Purnima zum Tempel auf dem Indravalli Konda, um für ihre Mutter zu beten. Im Vorraum stand sie im Dunst der Räucherstäbchen und beobachtete den Priester, in der Hoffnung, dass die Götter zu ihr sprächen, ihr sagten, ihre Amma sei bei ihnen; doch in ihrem Innersten sehnte Purnima sich nach dem Dipa, einer kleinen Laterne auf dem Berggipfel. Manchmal, an einem Sonntag oder Feiertag, stand Purnima vor der Hütte und blickte dort hinauf, wo das kleine Tempellicht leuchtete, fern und gelb und flimmernd wie ein Stern. Eines Tages fragte sie ihren Vater: »Wer zündet es an?«

»Zündet was an?«

»Das Tempellicht, auf der Bergspitze.«

Ihr Vater, der nach dem Abendessen vor der Hütte saß, die Arme müde und der Rücken krumm, blickte kurz zum Indravalli Konda auf und sagte: »Wahrscheinlich irgendein Priester. Oder ein Kind.«

Purnima schwieg einen Augenblick und sagte: »Ich glaube, Amma zündet es an.«

Ihr Vater schaute sie an. Er sah dunkel aus, verwüstet, als wäre er gerade aus einem brennenden Gebäude herausgelaufen. Dann verlangte er seinen Tee. Als Purnima ihn brachte, sagte er: »Noch zehn Monate.«

»Noch zehn Monate?«

»Bis zur Gedenkfeier.«

Jetzt verstand Purnima, wovon er sprach. Nach einem Tod in der Familie brachte es ein Jahr lang Pech, eine Feier abzuhalten, geschweige denn eine Hochzeit. Seit dem Tod ihrer Mutter waren zwei Monate vergangen. In weiteren zehn Monaten, hatte ihr Vater ihr sagen wollen, würde sie verheiratet sein.

»Ich hab schon mit Ramayya gesprochen. Es gibt einen Bauern hier in der Nähe. Besitzt ein paar Morgen und ist ein guter Arbeiter. Zwei Büffel, eine Kuh, ein paar Ziegen. Will aber nicht warten. Er braucht das Geld jetzt sofort. Und er hat Zweifel, ob dir das Bauernleben gefallen würde. Ich hab Ramayya gesagt, er soll ihm sagen: ›Schau sie dir doch mal an. Guck sie dir doch mal an. Stark wie ein Ochse, ach was, sie ist ein Ochse. Vergiss die Ochsen, sie könnte sogar selbst die Felder pflügen.‹«

Purnima nickte und ging zurück in die Hütte.

Der einzige Spiegel, den sie besaßen, war ein kleiner Handspiegel; nur wenn sie ihn mit ausgestrecktem Arm von sich hielt, konnte sie ihr ganzes Gesicht sehen, doch nun hielt sie ihn sich direkt vors Gesicht, sah ein Auge, eine Nase, dann bewegte sie ihn hinunter zu Hals und Brüsten und Hüften. Ein Ochse? Sie wurde traurig. Sie hätte nicht sagen können, warum. Das Warum war aber auch egal. Es war kindisch, grundlos traurig zu sein. Sie wusste nur, hätte ihre Mutter noch gelebt, wäre sie selbst wahrscheinlich bereits verheiratet. Vielleicht sogar schon schwanger, oder sie hätte bereits ein Baby. Auch das war kein Grund zur Traurigkeit. Aber dieser Bauer bereitete ihr Sorgen. Was, wenn er sie tatsächlich vor den Pflug spannen würde? Was, wenn ihre Schwiegermutter gemein wäre? Was, wenn sie nur Mädchen zur Welt bringen würde? Da hörte sie die Stimme ihrer Amma. »Nichts von alledem ist geschehen«, sagte sie. Und: »Purnima, alles ist bereits in den Sternen festgeschrieben. Von den Göttern. Wir können nichts ändern. Was macht es also schon? Warum sich sorgen?«

Natürlich hatte sie recht.

Doch als Purnima nachts auf ihrer Matte lag, dachte sie über den Bauern nach, über das Tempellicht auf dem Gipfel des Indravalli Konda, über Schönheit. Wäre ihre Haut heller gewesen, ihr Haar dicker oder ihre Augen größer, hätte ihr Vater vielleicht eine bessere Partie für sie finden können: jemanden, der eine Ehefrau und keinen Ochsen wollte.

Einmal hatte sie gehört, wie Ramayya bei einem seiner Besuche zu ihrem Vater gesagt hatte: »Deine Purnima ist eine gute Arbeiterin, aber du weißt ja, wie die Jungs heutzutage sind, die wollen ein modernes Mädchen. Die wollen Fashion.«

Fashion? Purnima dachte an ihre Mutter; sie dachte an die letzten Tage ihrer Mutter, damit verbracht, sich vor Schmerz zu krümmen; sie dachte an das Gewicht der Hand ihrer Mutter auf ihrem Kopf; dann dachte sie an die zwei Bananen, den Apfel und die Handvoll Cashewnüsse, und als wäre dies der Augenblick, auf den ihr Herz gewartet hatte, brach es entzwei und hinaus flossen Tränen, dass sie glaubte, sie würden niemals versiegen. Sie weinte leise, in der Hoffnung, dass ihr Vater und ihre Geschwister nicht aufwachen würden. Ihre Matte wurde so durchnässt, dass sie die feuchte Erde darunter riechen konnte, wie nach einem Regenguss, und am Ende war sie so vom Schluchzen gerüttelt, so von Gefühl erschöpft, so herrlich leer, dass sie tatsächlich lächelte und in einen tiefen und traumlosen Schlaf fiel.

2

Etwa zu der Zeit, als Purnimas Mutter starb, gestand Savitas Mutter – vermutlich um einiges älter als Purnimas Mutter, sehr viel ärmer und trotzdem keinen einzigen Tag ihres Lebens krank – ihrer ältesten, etwa siebzehnjährigen Tochter Savita, dass sie am Abend nichts zu essen haben würden.

»Nichts zu essen?«, fragte Savita erstaunt. »Und was ist mit den zwanzig Rupien, die ich gestern für die Bündel bekommen habe?« Sie meinte den Papier- und Plastikmüll, den sie auf den Halden vor der Stadt gesammelt hatte, neben dem Christenfriedhof. Für diese zwanzig Rupien hatte sie drei Tage lang über stinkende und rottende und faulende Abfälle kriechen und außer Schweinen und Hunden die anderen Müllsammler abwehren müssen.

»Bhima hat sie sich genommen.«

»Er hat sie sich genommen?«

»Wir schulden ihm immer noch dreißig.«

Savita seufzte langsam und unschlüssig, doch ihre Gedanken waren wach und schnell. Sie dachte an ihre drei jüngeren Schwestern, die auch die Müllhalden durchsuchten; an ihre Mutter, die putzen ging; an ihren Vater, der nach Jahren des Trinkens damit aufgehört hatte, als seine Arthritis schließlich so schlimm geworden war, dass er kein Glas mehr halten konnte. Vielleicht würden ihm die Priester des Tempels, wo er an den meisten Tagen bettelte, ein Almosen geben, aber es würde kaum für ihn selbst reichen, geschweige denn für seine Frau und die vier Töchter. Savita hatte auch noch zwei ältere Brüder, die auf der Suche nach Arbeit nach Hyderabad gegangen waren und versprochen hatten, Geld zu schicken, doch in den zwei Jahren, die sie nun fort waren, hatten sie nicht einmal einen Brief geschrieben.

Sie stand in der Mitte der dürftigen Hütte und überlegte, wie sie Geld verdienen könnte: Sie könnte weiterhin Müll sammeln, das brachte jedoch offenkundig nicht genug ein; sie könnte wie ihre Mutter kochen und putzen gehen, wobei es in Indravalli kaum genügend reiche Familien gab, um auch nur ihre Mutter anzustellen; sie könnte an der Charkha und am Webstuhl arbeiten – schließlich gehörten sie zur Weberkaste –, aber mit Baumwollsaris ließ sich von Jahr zu Jahr immer weniger Geld verdienen, und bei dem wenigen Geld, das ein Sari einbrachte, behielt jeder mit einer Charkha oder einem Webstuhl die Arbeit in der Familie, um auch das Geld dort zu behalten. Savita warf einen Blick auf die Charkha ihrer Familie, kaputt und voller Spinnweben, in eine Ecke geschoben wie ein Haufen Feuerholz, der auf ein Streichholz wartete. Seit fünf Jahren hatten sie nicht genügend Geld, um das Spinnrad reparieren zu lassen. Wenn es doch nur repariert wäre, dachte sie, ich könnte mehr Geld für uns verdienen. Der Absurdität des Gedankens war sie sich bewusst: Sie brauchte Geld, um Geld zu verdienen.

Aber Garn! Wieder Garn zwischen den Fingern zu halten!

Noch immer erinnerte sie sich, wie sie als kleines Mädchen einen Bausch Baumwollfasern mit ihren Händchen umklammert hatte, erstaunt, wie ein solches bisschen Flaum voller dunkler störrischer Samen zu etwas so Zauberhaftem und Glattem und Flachem und Weichem wie einem Sari werden konnte.

Vom Samen zum Webstuhl zum Tuch zum Sari, dachte sie.

Sie verließ die dunkle Hütte, darin die kaputte Charkha und ihre Mutter, die apathisch auf die leeren Töpfe und Pfannen starrte, und machte sich auf den Weg in den Ort. Sie ging an den Hütten der Wäscherinnen vorbei und am Bahnhof und am Tabakgeschäft und am Lebensmittelgeschäft und dem Sari-Laden und der Schneiderei und schließlich am Hanuman-Tempel im Zentrum von Indravalli, bis sie vor dem kleinen Tor des Weberverbands stand. Von drinnen kamen Stimmen und das Surren eines Ventilators. Wenn sie das Gesicht an das Tor hielt, konnte sie den schwachen Duft von neuem Tuch riechen, eine Mischung aus frisch gekochtem Reis und Frühlingsregen und Teakholz, darin auch etwas von den harten Samen, die sich so schwer herauslösen ließen. Dieser zarte Geruch, der sich so schnell im Wind verlor, berührte Savita mehr als der stärkste Blumenduft.

Da öffnete sie ohne einen weiteren Gedanken das quietschende Tor und ging hinein.

Purnimas Vater besaß zwei Webstühle. An einem arbeitete er selbst, an dem anderen hatte ihre Mutter gearbeitet. Sie hatten beide jeweils zwei oder drei Tage gebraucht, um einen Sari fertigzustellen, aber jetzt, da nur eine Person am Webstuhl saß, gab es auch nur halb so viele Saris. Was wiederum halb so viel Geld bedeutete. Purnima hatte schon mit ihrer Charkha und der restlichen Hausarbeit zu viel zu tun, als dass sie den zweiten Webstuhl hätte übernehmen können, ihre Geschwister waren noch zu klein, um die Pedale zu erreichen, und so machte sich ihr Vater auf die Suche nach einer Aushilfe. Er fragte jeden, den er kannte, er erkundigte sich in dem Teeladen, den er abends besuchte, er ließ den Weberverband wissen, dass er ein Viertel des Gewinns aus jedem fertigen Sari anbiete, dazu Mahlzeiten. Es gab keine Interessenten.

Indravalli bestand größtenteils aus Sari-Webern, und die meisten jungen Männer arbeiteten bereits für die eigenen Familien. Es hieß, das Dorf sei zu Zeiten der Ikshvakus gegründet worden und habe seit jeher Tuch gewebt – in den alten Zeiten Kleider für die Königshöfe, mittlerweile jedoch nur noch Baumwollsaris, wie sie die Landbevölkerung und manchmal auch Intellektuelle trugen. Gemeinsam mit dem Bild von Gandhi am Spinnrad und seiner Idealisierung der Hausweberei hatte die Quit-India-Bewegung Indravallis Aussichten erheblich verbessert, besonders in den Jahren vor der Unabhängigkeit. Aber nun schrieb man 2001, ein neues Jahrtausend, und die jungen Männer von Indravalli, die wie Purnimas Familie zur Weberkaste gehörten, konnten kaum ihre Familien ernähren. Viele hatten die Weberei ganz aufgegeben und andere Arbeiten aufgenommen.

»Weben heißt sterben. Es ist der Tod«, sagte ihr Vater. »Ich hab gehört, dass sie unglaubliche Maschinen entwickelt haben.« Purnima wusste, dass ihr Vater sie deshalb mit dem Bauern verheiraten wollte. Er lachte bitter und sagte: »Eine Maschine zum Tuchmachen haben sie wohl erfunden, aber eine fürs Essen müssen sie sich noch ausdenken.«

Auch Purnima lachte. Doch sie hörte kaum zu. Sie dachte, wenn sie ihren Vater dazu bringen könnte, mehr Kerosin zu kaufen, dann könnte sie nachts weben, beim Licht einer Laterne, und er müsste niemanden einstellen.

In der Woche darauf stand ein Mädchen im Hütteneingang. Purnima blickte vom Kochen auf. Sie konnte das Gesicht der anderen nicht sehen – die Sonne stand hinter der Gestalt –, doch anhand ihrer Silhouette, der Art, wie sie sich durch die niedrige Türöffnung beugte, wusste sie, dass es eine junge Frau war. Auch ihre Stimme verriet es, wenngleich sie sanfter und älter klang, als Purnima erwartet hatte: »Dein Vater?«

Das Mädchen konnte Purnima anscheinend gut sehen. »Komm heute Abend wieder«, sagte Purnima und blinzelte. »Vor Einbruch der Dunkelheit ist er wieder zu Hause.«

Sie drehte sich um, griff nach dem Deckel des Reistopfes und verbrannte sich am Deckelrand. Schnell zog sie ihre Hand zurück, der verbrannte Finger wurde schon rot, und hielt sie an den Mund. Als sie wieder aufsah, stand das Mädchen noch immer da. Die andere zögerte, und Purnima dachte an eine Palme; das Mädchen erschien ihr wie ein junger Baum, ein Schössling erst, noch unsicher, wohin er sich neigen sollte, wo die Sonne auf- und wieder untergehen würde, wie er wachsen sollte.

»Ja?«, fragte Purnima überrascht.

Die andere schüttelte den Kopf, vielleicht bildete Purnima es sich aber auch bloß ein, und verschwand. Purnima starrte auf den Fleck, an dem die andere gerade noch gestanden hatte. Wo war sie hin? Fast wäre sie aufgesprungen und ihr nachgelaufen. Ihr Verschwinden hatte eine Leere hinterlassen – im Türrahmen und in der Hütte selbst. Aber warum? Wer war sie? Purnima wusste es nicht; sie kannte sie nicht vom Brunnen, an dem sie Wasser holte, auch nicht aus der Nachbarschaft. Sie dachte, dass sie wohl aus dem Tempel sein müsse und Spenden hatte sammeln wollen, oder eine Straßenhändlerin, die Gemüse verkaufen wollte. Da roch sie angebrannten Reis und vergaß das Mädchen augenblicklich.

Wieder eine Woche später saß das Mädchen am Webstuhl von Purnimas Mutter. Purnima wusste, dass sie es war, weil der Raum wieder erfüllt war. Sie hatte vergessen, dass er überhaupt leer gewesen war. Erfüllt, nicht durch Körper oder Geruch oder Anwesenheit – denn dort war schon ihr Vater, der an dem anderen Webstuhl saß. Nein, das Mädchen füllte den Raum mit einem plötzlichen Bewusstsein, einem Gefühl des Erwachens, obgleich die Sonne schon vor Stunden aufgegangen war. Purnima stellte eine Tasse Tee neben den Webstuhl ihres Vaters.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und sagte: »Richte zum Mittagessen einen zusätzlichen Teller.«

Purnima wandte sich zum Gehen. Sie stand jetzt hinter dem Mädchen. Die andere trug einen billigen Baumwollsari; ihre Bluse war abgetragen, aber immer noch leuchtend blau, die Farbe der Krishna zur Dämmerstunde. Auf dem rechten Unterarm hatte sie ein großes rundes Muttermal, auf der Innenseite des Handgelenks. Das Mal fiel auf, weil es genau an der Stelle lag, wo die Adern scheinbar zusammenliefen, um sich dann in der Hand zu verästeln. Fast schien es die Adern zu bündeln wie ein Band einen Blumenstrauß. Ein Strauß? Ein Muttermal? Purnima wandte verlegen den Blick ab. Als sie am Webstuhl vorbeiging, zog das fremde Mädchen dort gerade einen Stab heraus, und Purnimas Blick fiel unwillkürlich auf die Hand der anderen. Viel zu groß für ihren schmächtigen Körper, fast eine Männerhand, aber sanft, wie auch ihre Stimme sanft gewesen war; doch am meisten beeindruckte Purnima, wie das Mädchen den Stab mit solcher Kraft umfasste, solcher Entschlossenheit, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Sie schien daran mit ihrem gesamten Körper zu ziehen. Um ihn festzuhalten. Purnima staunte. Sie hatte nicht gewusst, dass eine Hand das konnte; so viel Bestimmtheit enthalten.

Am Abend, nach dem Essen, erwähnte ihr Vater sie zum ersten Mal. Das Tempellicht auf dem Indravalli Konda brannte noch nicht, und Purnima brachte gerade ihre Geschwister zu Bett. Ihr kleinster Bruder war erst sieben Jahre alt, ihre Schwester elf und ihre Zwillingsbrüder waren zwölf. Es waren brave Kinder, dennoch fragte sich Purnima manchmal, ob ihre Mutter vielleicht an Müdigkeit gestorben war. Sie rollte gerade ihre Schlafmatten aus und schimpfte mit einem der Zwillinge, er solle seine Schwester nicht an den Haaren ziehen, als ihr Vater, der sich gerade eine Zigarette drehte, sagte: »Du isst mit ihr. Stell sicher, dass sie nicht mehr nimmt, als ihr zusteht.«

Purnima drehte sich um. »Wer?«

»Savita.«

So hieß sie also. Purnima hielt inne, eine Matte halb ausgerollt.

»Ich hab sonst niemanden gefunden«, sagte ihr Vater und legte sich rauchend auf seine Hanfseilpritsche. »Die vom Weberverband meinten, ich hätte Glück gehabt – als würde ich ihr wenig bezahlen. Außerdem sollte sie dankbar sein, bei dem Vater, dem alten Subbudu, der sich selbst kaum ernähren kann, geschweige denn diese elende Ehefrau und die vier Töchter.« Er gähnte. »Ich hoffe, sie ist nicht so schwach, wie sie aussieht.«

Purnima lächelte in der Dunkelheit und wusste, dass er sich irrte.

Anfangs war Savita Purnima gegenüber schweigsam. Sie war ein oder zwei Jahre älter, schätzte Purnima, obwohl keine von beiden ihr genaues Alter kannte. Im Dorf wurden nur die Geburtsdaten der Jungen aufgezeichnet. Und doch, als Purnima sie beim Mittagessen eines Tages danach fragte, erzählte Savita, was ihre Mutter ihr erzählt hatte.

Savita war am Tag der Sonnenfinsternis geboren worden. In den Wehen liegend hatte ihre Mutter aus dem Fenster geblickt und gesehen, wie sich der Himmel am helllichten Tag verdunkelte, und sie war vor Angst gelähmt gewesen. Sie war überzeugt, dass sie einen Rakshasa zur Welt bringen würde. In diesem Augenblick waren die Wehen verebbt, und Angst war an ihre Stelle getreten. Was, wenn sie einen Dämon zur Welt bringen würde? Ihre Mutter betete und betete, und schließlich fing sie an zu zittern und wünschte sich, ihr Baby würde tot sein. Fragte sich, ob sie es selbst töten sollte. Das wäre besser gewesen, hatte sie zu Savita gesagt, als einen Dämon auf die Welt loszulassen. Das würde jeder tun, hatte sie gesagt. Aber dann war die Sonnenfinsternis vorübergegangen und das Baby war auf die Welt gekommen und es war nur ein normales, krähendes kleines Baby.

»Deine Mutter muss erleichtert gewesen sein«, sagte Purnima.

»Eigentlich nicht. Ich war ja immer noch ein Mädchen.«

Purnima nickte. Sie betrachtete Savita beim Essen. Savita hatte großen Appetit, nichts Außergewöhnliches für jemanden, der täglich zwölf Stunden am Webstuhl saß.

»Darum hat sie mich Savita genannt.«

»Was bedeutet das?«

»Was glaubst du denn? Sie dachte, wenn sie mich nach der Sonne benennt, würde die Sonne nicht noch einmal verschwinden.«

Sie leckte sich Essensreste von den Fingern, wobei das Muttermal auf ihrem Handgelenk wie auf einer Hängematte zwischen Mund und Teller hin- und herschwang, und bat um eine weitere Portion Joghurtreis.

»Möchtest du Salz dazu?«, fragte Purnima.

»Ich esse den gerne süß. Um ehrlich zu sein: Am liebsten esse ich zum Joghurtreis eine Banane. Ich zermansche sie und mische sie unter den Reis. Mach nicht so ein Gesicht. Nicht, solange du das nicht probiert hast. Es schmeckt wie der süßeste, herrlichste Sonnenaufgang. Und das sag ich nicht nur, weil ich so heiße. Es schmeckt wirklich so. Solltest du mal probieren.«

»Aber Bananen …«, sagte Purnima und dachte nun an ihre eigene Mutter und an die zwei Bananen, die sie jeden Tag für sie gekauft hatte, und daran, wie sie am Ende nicht das kleinste bisschen geändert hatten.

»Ich weiß. Teuer. Aber darum geht es ja, Puri – darf ich dich so nennen? –, du sollst das ja gar nicht zu jeder Mahlzeit essen. Dafür wäre es zu gut. Zu perfekt. Willst du denn jeden Morgen die Sonne aufgehen sehen? Dann würdest du dich dran gewöhnen, an die Farben, meine ich. Du würdest dich so sehr dran gewöhnen, dass du irgendwann gar nicht mehr drauf achten würdest.«

»Und mit zu viel Joghurtreis und Bananen wäre das auch so? Ich würde einfach nicht mehr drauf achten?«

»Nein. Du würdest es immer noch essen. Du würdest nur nicht darüber nachdenken.«

»Darüber nachdenken?«

Nein, still war sie jetzt nicht mehr, dachte Purnima. Überhaupt nicht. Und von Essen zeigte sie sich seltsam besessen: die Sache mit den Bananen und dem Joghurtreis, dass sie sie Puri nannte, wie sie sich die Finger leckte, als würde sie nie wieder etwas zu essen bekommen.

Purnimas Vater hatte gesagt, Savitas Familie sei arm, noch ärmer als sie selbst, was schwer vorstellbar war. »Insgesamt sechs Kinder«, hatte ihr Vater erzählt, »und der alte Subbudu so schwach, dass er das Weben schon lange aufgegeben hat. Die Mutter geht putzen und kocht für andere Familien, wie eine einfache Bedienstete«, hatte er verächtlich gesagt, »und die älteren Brüder sind nach Hyderabad gegangen und haben versprochen, Geld zu schicken, aber die Familie habe bis heute keine einzige Paisa erhalten.« Und das mit vier unverheirateten Töchtern. »Vier!«, hatte ihr Vater gerufen und den Kopf geschüttelt. »Der alte Mann ist erledigt. Er sollte wohl besser vier große Steine und ein Seil finden und sie zum nächsten Brunnen führen.«

»Und welche von ihnen ist Savita?«

»Die Älteste. Von den Mädchen. Nicht mal für ihre Aussteuer ist genug da.« Also wurde auch Savitas Hochzeit hinausgezögert – genau wie Purnimas. Da kniff ihr Vater die Augen zusammen. »Und isst sie auch nicht zu viel? Steckt nicht etwa noch was für die Schwestern ein?«

»Nein«, sagte Purnima. »Sie isst eigentlich so gut wie gar nichts.«

Abgesehen von ihren Händen mochte Purnima an Savita am meisten ihre Sicherheit. Niemand sonst – nicht ihr Vater, kein Lehrer, nicht der Tempelpriester – strahlte für sie so viel Sicherheit aus. Aber Sicherheit worin?, fragte sie sich. Gegenüber Bananen mit Joghurtreis? Sonnenaufgängen? Ja, aber das war nicht alles. Sicherheit darin, wie sie den Webstuhl bediente, wie sie ging, wie sie den Sari um ihre Taille knotete. Sicherheit in allem, erkannte Purnima, bei dem sie selbst unsicher war.

Allmählich nahm sich Savita immer etwas mehr Zeit beim Mittagessen; sie kam morgens früher, um bei den Hausarbeiten zu helfen, obwohl sie zuvor schon im eigenen Haushalt gearbeitet haben musste. Immer häufiger ging sie mit Purnima auch gemeinsam zum Brunnen.

Eines Tages, als die beiden gerade vom Brunnen zurückkamen, Tonkrüge voller Wasser auf der Hüfte, begegneten sie einer Gruppe junger Männer. Insgesamt waren es vier, die vor dem Beedie-Laden herumhingen und rauchten, als einer von ihnen, ein Junge von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren, dünn wie ein Streichholz und mit einem dicken Haarschopf, Purnima und Savita bemerkte und auf sie zeigte.

»Schaut mal da drüben«, rief er den anderen zu. »Seht euch mal diese Hüften an. Diese Kurven. Was für Prachtexemplare der indischen Landschaft.«

Daraufhin pfiff einer der Männer, und ein anderer, vielleicht war es auch derselbe, rief: »Da hätte ja nicht mal Gandhi widerstehen können.« Die Männer lachten. »Welche wollt ihr, Jungs, die Gelbe oder die Blaue?«

Purnima begriff, dass sie die Farben ihrer Saris meinten.

»Die Blaue!«

»Die Gelbe!«

»Ich will der Tonkrug sein«, rief ein anderer, und wieder lachten alle.

Den Mädchen wurde klar, dass sie der Gruppe nicht aus dem Weg gehen konnten. Die Männer kamen nun langsam näher und kreisten sie drohend ein.

Purnima sah zu Savita, doch die blickte geradeaus an den Männern vorbei, als wären sie gar nicht da. »Was tun wir jetzt?«, flüsterte Purnima.

»Geh weiter«, sagte Savita mit fester Stimme und hielt den Blick auf den Tempel auf dem Indravalli Konda geheftet.

Purnima sah sie noch einmal kurz an und dann auf ihre Füße.

»Guck nicht auf den Boden«, sagte Savita. »Schau hoch.«

Langsam hob Purnima den Blick. Die Männer hatten sich enger um sie geschart. Wie Heuschrecken sprangen sie auf und ab; einer schnappte nach Savitas Pallu und zog heftig daran. Savita schlug seine Hand weg. Als wäre der Schlag eine Einladung gewesen, johlten die Männer und tänzelten und lachten nur noch mehr. Purnima nahm vage einige Frauen wahr, die in ihren Hütteneingängen standen. Jungs, dachten sie wohl, und würden den Kopf schütteln. Purnima überkam Panik; etwas wie hier geschah oft im Dorf, allerdings ließen die Männer nach ein paar Sprüchen und ein bisschen Zuzwinkern meist wieder ab. Diese hier aber folgten ihnen. Und sie waren zu viert. Purnima sah zu Savita. Die schaute weiter entschieden geradeaus, direkt auf den Tempel und den Indravalli Konda, als könnte sie beide mit ihrem Blick durchbohren. Die Männer spürten etwas in Savita, etwas wie Widerstand – und dieser Widerstand, seine schiere Unverfrorenheit, schien sie anzuheizen. »Darling Baby«, sagten sie auf Englisch, und auf Telugu: »Such du dir doch einen aus.«

Sie meinten Savita.

Und da, das war das Zeichen, auf das sie gewartet hatte.

Savita stellte ihren Wasserkrug ab, richtete sich auf und blieb reglos stehen. Ihre Ruhe erzeugte ringsum eine noch größere Stille. Das Gerede der Menschen vor den Hütten, der Lärm auf der Straße zum Indravalli Konda, das Rauschen der umliegenden Reisfelder und selbst das Klappern der Webstühle, das im ganzen Dorf zu allen Stunden erklang, wirkten mit einem Mal seltsam gedämpft. Fast meinte man, die Krishna zu hören, die in ein paar Kilometern Entfernung floss – das Plätschern des Wassers, die Flügelschläge der Wasservögel.

»Ich weiß, wen ich will«, sagte Savita.

Der erste Mann, der Dünne mit dem dicken Haar, johlte und brüllte und sprang wie ein Kind im Kreis herum. »Sie weiß es, sie weiß es. Tut mir leid, Jungs, viel Glück beim nächsten Mal.«

»Wen? Wen?«, riefen alle.

Savita sah einem nach dem anderen in die Augen, ging, als wolle sie die Männer quälen, ein oder zwei Schritte auf jeden zu, lächelte – ihre Zähne blitzten auf wie das Tempelweiß in der Ferne – und stellte sich schließlich vor Purnima. Savita nahm Purnimas Hand und sagte: »Ich will sie.« Mit diesen Worten griff sie ihren Krug Wasser, packte Purnima am Arm und zog sie aus dem Kreis.

Die Männer ließen sie gehen, doch sie zischten und knurrten. »Die? Die ist doch noch hässlicher als du.«

Als sie zu Hause ankamen, zitterte Purnima.

»Beruhige dich«, sagte Savita zu ihr. »Es bringt nichts.«

»Ich kann nicht anders.«

»Verstehst du nicht? Ich hätte auch einen Baum wählen können. Einen Hund. Es wäre egal gewesen.«

»Ja, aber diese Typen hätten uns wehtun können.«

»Das hätte ich nicht zugelassen«, sagte Savita.

Und da waren sie, diese fünf Worte. Sie waren ein Lied, ein Zauberspruch. Purnima spürte, wie eine Last, eine schreckliche und entsetzliche Last, von ihr genommen wurde. Hatte sie diese Last seit dem Tod ihrer Mutter getragen? Oder weil sie vielleicht doch ein Ochse war? Oder entstammte sie etwas weniger Sichtbarem wie dem Lauf der Zeit oder der endlosen Drehung ihrer Charkha? Obwohl, wenn sie darüber nachdachte, war das eigentlich ein und dasselbe, oder? Im Grunde war es auch egal.

Sie und Savita wurden zu so engen Freundinnen, dass keine von beiden etwas aß, ohne sich zu fragen, ob die andere wohl mehr Salz gewollt hätte oder auch so gerne Auberginen mit Kartoffeln aß. Das Frühstück wurde plötzlich ihre ungeliebteste Mahlzeit und der Sonntag ihr ungeliebtester Tag. Purnima sparte sogar ab und zu eine Paisa, um so oft wie möglich eine Banane zu kaufen.

Beim ersten Mal gab sie Savita beim Mittagessen eine Banane, nachdem sie ihr gerade die Buttermilch gereicht hatte. Am Morgen war nicht genügend Geld für Joghurt da gewesen. Savita schien das nicht zu kümmern. Sie vermischte die wässrige Buttermilch und den Reis mit ebenso viel Sorgfalt, als wäre es der cremigste Joghurt, den sie je gegessen hatte. Purnima sah ihr zu und hielt ihr dann die Banane hin.

Savita stockte der Atem. »Bist du dir sicher?«

»Natürlich. Ich habe sie extra für dich gekauft.«

Savita freute sich so sehr, dass sie ungewohnt schüchtern wurde. Sie sagte: »Meine Mutter sagt immer, wenn ich in meinem Leben weniger Bananen gegessen hätte, hätten sie jetzt das Geld für meine Aussteuer.«

Purnima lächelte und sah zu Boden.

Savita hörte auf zu kauen. »Wann ist sie gestorben?«

»Vor vier Monaten.«

Savita schälte die Banane und manschte sie mit den Fingern unter den Reis. Die Banane wurde zu unschönen Klumpen, die wie Wasserratten den Reis durchschwammen. Das Ganze war eine schmierige, unappetitliche Masse.

»Schmeckt dir das wirklich?«

»Probier doch mal.« Sie hielt Purnima eine Handvoll hin. Purnima schüttelte den Kopf. Savita zuckte mit den Schultern, aß genussvoll den Reis-Bananen-Matsch und schloss beim Kauen die Augen.

»Weißt du, was sogar noch besser ist als das hier?«

Purnima kräuselte die Nase. »Sicherlich das Allermeiste.«

Savita überging das. Sie beugte sich zu Purnima, als wollte sie ihr ein Geheimnis verraten. »Ich bin mir nicht sicher, weil ich es selbst nur gehört habe, aber angeblich gibt es eine sehr seltene Frucht. Unglaublich, Puri. Innen rosa, fast butterartig, süß wie ein Bonbon. Noch süßer. Noch besser als eine Banane, noch besser als eine Sapote. Ich weiß, ich weiß, das klingt unmöglich, aber eine alte Frau hat mal auf dem Markt davon erzählt. Vor vielen Jahren. Sie hat gesagt, die Frucht wachse nur auf einer einzigen Insel. Im Brahmaputra. Selbst wie sie diese Insel beschrieben hat, war wunderschön. Sie sah mich an, sah mir direkt in die Augen, und sagte: ›Erinnerst du dich? Es heißt, dass Krishna zur Dämmerstunde, wenn die Kühe heimkehren, seine Radha mit Flötenspiel umwirbt. Das ist der Klang. Das ist der Klang dieser Insel. Flötenspiel. Wohin du dort auch gehst, überall sind diese Früchte und Flötenspiel. Die Musik folgt dir wie ein Liebhaber.‹«

»Das hat sie zu dir gesagt?«

»Ja.«

»Wie Flötenspiel?«

»Ja.«

Purnima schwieg. »Wie heißt die Insel denn?«

»Majuli.«

»Majuli«, wiederholte Purnima langsam, als müsse sie das Wort schmecken. »Und du hast ihr geglaubt?«

»Natürlich habe ich ihr geglaubt«, sagte Savita. »Manche Leute auf dem Markt haben ihr nicht geglaubt, ich aber schon. Es hieß, sie wäre senil und nie weiter nördlich als bis zum alten Eisenbahndepot gekommen, geschweige denn bis zum Brahmaputra. Aber, Puri, du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Wie hätte man ihr nicht glauben können? Es leuchtete wie ein Stern.«

Verwirrt dachte Purnima kurz nach. »Aber wie kann eine Insel denn wie Flötenspiel sein? Hat sie damit gemeint, dass sie die Insel liebt? So, wie Krishna seine Radha liebt?«

»Nein. Glaube ich nicht.«

»Aber was dann? Es spielt ihr doch schließlich Liebeslieder.«

»Ja«, sagte Savita, »aber es sind auch Lieder über den Hunger.«

Purnima war noch verwirrter. »Hunger?«

»Vielleicht meinte die alte Frau, dass die Insel das Ende des Hungers ist. Oder sein Anfang. Oder vielleicht, dass Hunger keinen Anfang hat. Oder kein Ende. So, wie der Klang von Krishnas Flöte.«

»Und was ist dann mit der Liebe?«

»Was ist die Liebe denn, Puri?«, fragte Savita. »Was ist die Liebe, wenn nicht ein Hunger?«

3

Eine Woche später lud Savita Purnima zu sich nach Hause ein. Es war ein Sonntag. Purnimas Vater hatte nichts dagegen, solange sie vorher kochte, ihre Geschwister versorgte und für ihn den Tabak und die Matte zum Mittagsschlaf richtete. Der Tag war heiß; es war erst März, doch sie mussten bereits im Schatten gehen – Savita vorneweg, Purnima dicht dahinter, huschten die beiden unter den Bäumen und den überstehenden Strohdächern der Hütten entlang. Savita wohnte am anderen Ende des Dorfes, weiter weg vom Indravalli Konda, näher an der Krishna. Weil dieses Ortsende nah am Wasser lag, gehörten dort viele Bewohner zur Kaste der Wäscher. Dort waren auch Inschriften gefunden worden, die noch aus der Zeit des Chola-Reichs stammten; weil aber die Gegend auch in der Nähe der Eisenbahnschienen lag, und das Dorf sie vornehmlich als Toilette nutzte, blieben die Inschriften größtenteils unbeachtet. Die meisten Einwohner gehörten dort jedoch ebenfalls zur Kaste der Weber, so auch Savitas Familie.

Die Hütte von Savitas Familie lag auf einer kleinen Anhöhe. Entlang des Weges – eher ein Trampelpfad –, der zur Hütte hinaufführte, wuchsen Büsche, ihre Blätter und Zweige durch die Hitze bereits verdorrt und grau. Als Purnima sich bückte und ein Blatt berührte, löste sich ein seidiger grauer Film, und sie sah, dass es Asche war, von den Holzfeuern, die entlang des Pfades vor den Hütten brannten, die Armut zu groß, als dass es für eine Kochstelle im Inneren reichte. Vor den Hütten türmte sich Müll, in dem hin und wieder ein streunender Hund schnüffelte, oder ein Schwein, so hungrig, dass ihm die Hitze nichts ausmachte. Es war fast Essenszeit, vier Uhr nachmittags, doch niemand schien zu Hause zu sein. Der Himmel strahlte mittlerweile hell wie Messing. Schweiß floss Purnima den Rücken hinab. Klebte in Tropfen auf ihrer Kopfhaut.

Als sie die Hütte erreichten, begriff Purnima, dass ihre Familie im Vergleich zu Savitas tatsächlich so etwas wie wohlhabend war. Savitas Familie konnte sich nicht einmal Palmwedel für das Hüttendach leisten; es bestand aus einem alten Stück Wellblech. Die Außenwände der Hütte waren mit Kuhmist verputzt, und vor den Büschen war ein Fleckchen Erde freigelegt, doch auch dort lag Müll herum – Fetzen vergilbten Zeitungspapiers, schwarze Lumpen, die sich allmählich auflösten, Gemüseschalen, die selbst den winzigen Ferkeln, die frei zwischen den Hütten umherstreiften, zu faulig waren. Purnima stieg darüber hinweg, und als sie Savita in die Hütte folgte, überfiel sie als Erstes der Geruch. Es roch nach alter, ungewaschener Kleidung und nach Schweiß und nach sauer Eingelegtem. Es roch nach Dung, nach dem Rauch von Holzfeuer, nach Dreck. Es roch nach Armut. Und Verzweiflung. Es roch wie das Sterben ihrer Mutter.

»Wir haben keine Milch für den Tee«, sagte Savita. »Möchtest du einen?« Sie hielt Purnima eine Keksdose hin, die eindeutig nur für Besucher bestimmt war.

Purnima biss in einen der Kekse; er war alt und löste sich in ihrem Mund zu einer weichen gelben Paste auf. »Wo ist deine Mutter? Und wo sind deine Schwestern?«

»Meine Mutter kocht heute. Für die Familie mit dem großen Haus, das beim Marktplatz. Meine Schwestern gehen nachmittags immer sammeln«, sagte Savita.

»Was denn?«

Savita zuckte mit den Schultern. »Normalerweise begleite ich sie.«

»Wohin denn?«

»An den Ortsrand. Beim Christenfriedhof.«

Purnima wusste, dass dort die Müllberge lagen. Nicht die kleinen Müllhaufen, die das ganze Dorf sprenkelten, die praktisch vor jeder Türschwelle lagen, sondern die riesigen Halden, insgesamt drei oder vier, wo all die kleineren Müllhaufen schlussendlich landeten. Purnima hatte sie immer nur von Weitem gesehen – eine ferne Bergkette am südlichen Horizont, auf die nur die Allerärmsten stiegen. Auf der Suche nach weggeworfenen Stoffen oder Papier oder Metallteilen, nach Essen, Plastik. Üblicherweise Kinder, das wusste sie, manchmal auch Erwachsene. Aber immer die Allerärmsten. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter einmal, als sie an den Müllbergen vorbeigingen, gesagt hatte: »Schau nicht hin.« Und Purnima hatte nicht gewusst, ob sie den Friedhof meinte oder die Kinder, die über die Halden kletterten. Doch jetzt, da sie in Savitas ärmlicher Hütte stand und ihre Mutter lange tot war, glaubte sie zu verstehen. Ihre Mutter hatte gesagt: »Schau nicht hin«, und gemeint: Schau weder zum Friedhof noch zu den Müllbergen. Sie hatte gemeint: Schau nicht auf den Tod, schau nicht auf die Armut, schau nicht darauf, wie sie durch das Leben kriechen, wie sie auf dich warten, dir auflauern, bis sie dich schließlich kriegen.

»Du gehst da auch mit?«

»Nicht mehr. Nicht, seit ich für deinen Vater arbeite.«

Purnima sah aus dem einzigen Fenster der Hütte. Es zeigte zum Indravalli Konda, und als sie zum Tempel hinaufblickte, war sie zum ersten Mal stolz auf ihren Vater; er hatte Savita eine Lebensgrundlage gegeben und sie von den Müllhalden geholt. Purnima hatte ihn nie als großzügig empfunden, doch nun begriff sie, dass Großzügigkeit eine versteckte Tugend sein konnte, verschleiert, mit Asche überzogen wie die Blätter der Sträucher vor Savitas Hütte. »Aber wo hast du Weben gelernt?«, fragte sie.

»Meine Eltern haben früher gewebt. Meine Mutter hat noch ihre alte Charkha.« Sie deutete auf einen Haufen Holz in einer Ecke.

Darüber hing ein Kalender mit Shiva und Parvati, Ganesha und Kartikeya auf dem Schoß. Neben der kaputten Charkha lag ein großes Bündel, eingeschlagen in ein altes Tuch, vielleicht ein Schultertuch. In einer anderen Ecke lagen ein paar zerbeulte Aluminiumtöpfe und -pfannen unter einem Hängekorb für Gemüse, darin eine einzelne Knoblauchzehe, eine keimende Zwiebel und ein orangefarbener runder Kürbis. Purnima sah einen übriggebliebenen Klumpen Reis voller Fliegen. Gleich neben ihnen lehnte eine ausgefranste Bambusmatte an der Wand.

»Früher hatten wir einen Webstuhl. Aber mein Vater hat ihn vertrunken. Und einen kleinen Beedie-Laden. Nicht hier. Im Zentrum. Den hat er auch vertrunken.«

Purnima hatte noch nie von so etwas gehört. Auf Telugu hieß Alkohol mondhoo, was sowohl Medizin als auch Gift bedeutete. Es war tabu, das Wort auch nur zu benutzen, erst recht vor Frauen oder Kindern. Über Trinker flüsterte man nur, sie galten als leprös oder Schlimmeres. Und jetzt im Heim eines Trinkers zu sein – Purnima erschauerte. »Wo ist er gerade?«

Savita sah zum Fenster. »Wahrscheinlich da oben.«

Purnima folgte ihrem Blick. Dort war der Indravalli Konda, der Tempel, der Himmel. »Beim Tempel?«

»Er bettelt dort um Almosen. Normalerweise haben die Priester Mitleid und geben ihm eine halbe Kokosnuss oder, wenn er Glück hat, ein Laddu. Das reicht ihm.« Sie sagte es so beiläufig, dass Purnima sprachlos war.

Sie standen am Fenster und blickten zum Tempel hinauf. Es hieß (es war kein Märchen; es konnte kein Märchen sein, weil es tatsächlich passiert war, Purnima hatte es selbst gesehen), dass einmal im Jahr auf unerklärliche Weise Nektar aus dem Mund der Gottheit floss. Ein süßer, dicker Nektar strömte hervor. Niemand wusste, woher er kam, warum er anfing zu fließen oder aufhörte, doch als Purnima den Blick durch Savitas Hütte schweifen ließ, die einzelne Knoblauchzehe sah, die faulende Zwiebel und den Kürbis, von denen sie wusste, dass es die einzigen Vorräte der Familie waren, vielleicht für die ganze Woche, dachte sie: Der Nektar sollte immer fließen. Wenn wir wirklich die Kinder Gottes sind, wie die Priester sagen, warum fließt der Nektar dann nicht immer?

»Ich weigere mich, ihm meinen Lohn zu geben. Er denkt, ich spare ihn für meine Aussteuer. Tue ich aber nicht. Ich spare ihn für die Aussteuer meiner Schwestern.« Savita sah Purnima an. »Ich heirate nicht, nicht, bis die anderen nicht verheiratet sind.«

»Nein?«

Savita sah an ihr vorbei und sagte: »Nein.«

Der Bauer hatte kein Interesse mehr. Er ließ Purnimas Vater eine Nachricht überbringen. Er könne nicht die verbleibenden acht Monate warten, und außerdem habe er gehört, seine Tochter sei so dunkel wie eine Tamarinde.

Purnimas Vater war enttäuscht. Er löcherte Ramayya, der die Nachricht überbracht hatte, mit Frage um Frage. »Was hat er noch gesagt? Gibt’s irgendeine Möglichkeit, dass er sich noch umentscheidet? Eine Tamarinde? Wirklich? Sie ist doch nicht so dunkel wie eine Tamarinde. Oder findest du? Es ist ein Fluch: Töchter, dunkle Haut. Und wenn ich ihm noch eine Ziege kaufe? Oder ein paar Hühner?«

Ramayya schüttelte den Kopf und sagte, es gebe keine Chance. Er nahm einen Schluck Tee und sagte: »Wir finden einen anderen für sie. Ich hab schon einen Tipp bekommen.«

Interessiert blickte Purnimas Vater auf. »Wer?«

Der Junge war aus Repalle. Er hatte gerade seine Mittlere Reife abgelegt und war nun Lehrling in einem Sari-Geschäft. Seine Eltern waren Weber, doch da ihr Sohn nun arbeitete und sie eine Schwiegertochter erwarteten, die durch eine Mitgift und hoffentlich mit einer Charkha zusätzliches Einkommen bringen würde, waren sie etwas langsamer geworden und vor allem damit beschäftigt, ihren Sohn zu verheiraten. »Es gibt aber auch eine kleine Schwester, es ist also noch nicht ganz sicher«, sagte Ramayya. Er meinte natürlich, dass der junge Mann erst heiraten konnte, wenn seine Schwester verheiratet worden war. Doch laut Ramayya war die Hochzeit der jüngeren Schwester bereits abgemachte Sache. Nur die Muhurta – der günstigste Tag und Zeitpunkt für die Hochzeit – musste noch festgelegt werden.

Purnimas Vater war begeistert. »Dann ist ja genügend Zeit«, sagte er lächelnd. »Und was ist mit der Aussteuer?«

Ramayya trank seinen Tee aus. »Liegt in unserem Rahmen. Er ist ja immer noch Lehrling. Aber eins nach dem anderen.«

Am folgenden Nachmittag erzählte Purnima Savita, was sie gehört hatte. Savita war zum Essen aus der Webhütte herübergekommen. Die beiden aßen immer nach Purnimas Vater, und weil er einen Nachschlag vom Paprikacurry gewollt hatte, blieb für Purnima und Savita nur eine kleine Kelle voll. Sie aßen nun hauptsächlich Pickle zum Reis.

»Wo wohnt er, sagtest du?«

»In Repalle.«

Savita schwieg einen Moment. »Das ist zu weit weg.«

»Wo liegt das?«

»Noch hinter Tenali. Beim Meer.«

»Am Meer?«

Purnima hatte das Meer noch nie gesehen und stellte es sich wie ein Getreidefeld vor – sie dachte an ein Reisfeld –, mit Schiffen statt Bergen am Horizont, blau statt grün, und Wellen. Über Wellen hatte sie einmal mit einer Klassenkameradin in der Grundschule diskutiert. »Aber was genau sind Wellen? Wie sehen sie aus?«, hatte sie gefragt. Das andere Mädchen (auch sie hatte das Meer noch nie gesehen), sagte, sie seien rülpsendes Wasser und sähen aus wie eine Katze, die sich streckt. Eine Katze? Die sich streckt? Purnima war skeptisch geblieben.

»Kommst du mich besuchen?«

»Ich sag doch, es ist zu weit weg.«

»Aber mit dem Zug?«

Savita lachte laut auf. Sie hielt ein Stückchen Paprika hoch. »Siehst du das? Und siehst du das hier?« Sie zeigte auf ihren Teller Reis und einen winzigen Klecks des Tomaten-Pickle vom Vorjahr. »Das ist ein Festessen für mich. Wie soll ich mir denn je eine Zugfahrkarte leisten können?«

Am Abend lag Purnima auf ihrer Matte und dachte an Savita. Fast war es beunruhigend – etwas sagte ihr, dass sie niemanden würde heiraten können, der so weit weg wohnte, dass Savita sie nicht mehr besuchen könnte. Savita war demnach wichtiger als der Mann, den sie heiraten würde. Konnte das denn sein? Wie war es dazu gekommen? Purnima wusste es nicht. Sie dachte an die Heftigkeit, die manchmal in Savitas Augen trat. Sie dachte an den Blick auf den Tempel aus dem Fenster ihrer Hütte. Sie dachte daran, wie Savita Reis und Buttermilch mit Banane vermischt hatte und wie sie, als Purnima sie schließlich gebeten hatte, doch probieren zu dürfen, breit gelächelt, mit den Fingern ein wenig tropfenden Reis zu einer Kugel geformt und anstatt Purnima diese zu geben, sie damit gefüttert hatte. Sie hatte Purnima die Reiskugel in den Mund gelegt, sodass Purnima mit der Zungenspitze Savitas Finger berührt hatte. Als wäre sie ein Kind. So wie Amma sie früher gefüttert hatte. Nur dass Savitas Geste durch keine Krankheit, kein Sterben getrübt war; Savita war lebendig, lebendiger als alle, die Purnima kannte. Savita ließ selbst die kleinsten Dinge im Leben großartig erscheinen, und wenn Purnima – die sich immer nach mehr gesehnt hatte als nach der Erinnerung an eine Bürste im Haar, nach mehr als dem Läuten einer blauen Uhr oder nach einer Stimme, die sie so oft heraufbeschwor – Savita sah, deren Entzücken, war es für sie, als wäre es ihr eigenes. Und selbst in ihren täglichen Pflichten – Kochen, Wasserholen, Geschirrspülen, Wäschewaschen, endlose Stunden an der Charkha – fand sie nun eine plötzliche und warme Befriedigung. Vielleicht sogar Freude. Doch am meisten überraschte sie, dass sie sich ihr Leben ohne Savita gar nicht mehr vorstellen konnte. Mit wem hatte sie beim Essen geredet, bevor Savita kam? Was hatte sie an Sonntagen getan? Für wen hatte sie gekocht?

Am Abend zuvor hatte ihr Vater, der kaum je viel bemerkte, gesagt: »Diese Savita scheint ein gutes Mädchen zu sein. Sie ist fleißig, das ist keine Frage.« Dann hatte er sich wieder seinem Tabak zugewandt und gesagt: »So eine sollte man nicht herumstromern lassen. Die sollten sie verheiraten. Wie alt ist sie? Zu alt zum Herumstromern, würde ich mal sagen. Schwer zu sagen.«

»Schwer zu sagen«, wiederholte Purnima im Stillen. Was war schwer zu sagen?

Ihr Vater sah sie an. »Sie kommen morgen. Wahrscheinlich am Nachmittag.«

»Wer?«

»Der Junge aus Repalle. Seine Familie.«

»Morgen?«