Mafalda, Tochter des Gauklers - Bea Eschen - E-Book

Mafalda, Tochter des Gauklers E-Book

Bea Eschen

0,0

Beschreibung

Das Buch erzählt die Geschichte von Mafalda, der dritten Tochter des Gauklers Orontius, die auf der Suche nach ihrer Identität ist. Bei einem Besuch in ihrem Geburtsort findet sie eine antike Münze, die das Profil eines Kopfes zeigt, der ihr bis ins kleinste Detail gleicht. Neugierig, wer diese Frau aus der Vergangenheit war, macht sie sich mit einem Jugendfreund auf den Weg zum Katharinenkloster in Ägypten. Unterwegs erlebt sie zahlreiche Abenteuer: einen Schiffbruch, die osmanische Gefangenschaft, die Flucht vor dem Harem, einen Kamelritt durch Anatolien, eine weitere Reise nach Alexandrien und eine schreckliche Entdeckung, die die Menschlichkeit infrage stellt. Die Geschichte ist voll von historischen Ereignissen, Liebe und spirituellen Einsichten Mafaldas.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 231

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MAFALDA, TOCHTER DES GAUKLERS

BEA ESCHEN

© 2022 Bea Eschen

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen elektronischen oder mechanischen Mitteln, einschließlich Informationsspeicher und Abrufsystemen, ohne schriftliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt werden, mit Ausnahme der Verwendung kurzer Zitate in einer Buchbesprechung.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

VORWORT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

GEDICHT

BÜCHER VON BEA ESCHEN

Mafalda, Tochter des Gauklers

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

VORWORT

GEDICHT

Mafalda, Tochter des Gauklers

Cover

I

II

III

IV

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

229

228

233

234

235

236

VORWORT

Es handelt sich hierbei um ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie der Autorin oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebendig oder tot, oder tatsächlichen Ereignissen, ist rein zufällig.

1

Die jugendlichen Gesichter der drei Schwestern glänzten im Schein der flackernden Flammen. Maren, Dorothea und Mafalda hatten sich für die abendliche Mahlzeit gewaschen und an das knisternde Lagerfeuer gesetzt. Ihre Mutter Hildegard reichte ihnen eine Platte gefüllt mit gebratenem Fisch, Eiern, Bohnen und Getreidebrei, von der sich jede ihre gewünschte Portion herunternahm.

Mafalda, die Jüngste in der Familie, bediente sich reichlich an dem mit Honig gesüßten Brei. Ihre älteste Schwester Maren nahm ihr lächelnd den Löffel aus der Hand. „Meine Liebe, übertreibe es nicht. Wir alle mögen den Brei gerne.“

„Warum isst du dich nicht an der Hauptmahlzeit satt? Dann kann ich zusätzlich zu meinem auch deinen Brei haben“, entgegnete Mafalda keck.

Maren schüttelte ihre dunklen Locken. Sie liebte ihre quirlige kleine Schwester, aber sie sollte nicht immer das bekommen, was sie wollte. Die andere Schwester, die kräftige Dorothea mit den funkelnden Augen, meldete sich. „Du darfst meine Portion haben.“

„Danke“, lachte Mafalda und griff reichlich zu. Sie hatte gewonnen.

Maren hielt inne. Dorothea tat immer das Gegenteil von dem, was sie wollte. Maren ärgerte sich, wie so oft zuvor, über Dorotheas Starrköpfigkeit.

„Der Fisch ist köstlich, Vater“, lobte Dorothea, während sie sich die Gräten aus dem Mund zog und so tat, als hätte sie Marens Reaktion nicht bemerkt.

„Im großen Wasser fängt man große Fische, im kleinen Wasser fängt man gute!“, gab der Vater zur Antwort.

Am Nachmittag war Orontius seiner Lieblingsbeschäftigung nachgegangen. Der Waldtümpel, an dem er mit seiner Frau und den drei Töchtern sein Lager aufgeschlagen hatte, barg Karpfen und Hechte, die von dem örtlichen Kloster gezogen wurden. Auf seine Anfrage, ob er in dem Tümpel für seine Mahlzeiten fischen dürfte, hatte der klösterliche Teichmeister ihn gebeten, nur die größten Hechte zu nehmen. Der Teich hätte lange gestanden und die Hechte wären zu mächtig geworden. Je größer sie wurden, desto mehr würden sie die Karpfen verzehren, die aber für die Anzucht neuer Hechte gebraucht würden.

Das ließ sich Orontius nicht zweimal sagen. Das Fischen lohnte sich und es machte Spaß. Die Hechte waren von beträchtlicher Größe und ließen sich mit Fröschen an seiner selbstgebauten Angel leicht ködern. Schmunzelnd erinnerte er sich, wie es wieder und wieder an seiner Angel gezuckt hatte. Auch wenn er häufig nur einen kleinen Karpfen aus dem Wasser gezogen hatte, den er kopfschüttelnd wieder in den Teich zurück warf.

Zufrieden blickte Orontius in das wärmende Feuer hinein und erfreute sich seiner Familie. Die Mädchen und seine Frau waren glücklich und hatten genug zu essen. „Wir bleiben für ein paar Wochen hier“, verkündete er. „Ich habe mich mit dem Abt arrangiert. Er zeigt Mitgefühl mit Menschen wie uns und schätzt unsere Weisheiten, die wir aus der Welt mitbringen.“

„Ja, Menschen wie wir“, sagte Mafalda und sah plötzlich traurig aus. „Es ist nicht lange her, da beschimpfte uns ein Vornehmer auf dem Markt als Teufelsgesindel!“ Sie sah zu Dorothea hinüber, die zustimmend nickte.

„Wir hatten unsere Federkleider an und führten den Vogeltanz vor“, erklärte Dorothea. „Was ist daran so schlimm? Die Zuschauer klatschten begeistert und lachten über uns. Haben wir vielleicht zu viel mit den Hüften gewackelt, das seine Wut heraufbeschwor?“

Die Töchter sahen ihren Vater erwartungsvoll an.

„Ihr wisst doch, Frauen werden schnell als Hexen verurteilt, sobald sie sich etwas anders benehmen. Deswegen sollten wir uns vor Leuten wie ihm in Acht nehmen. Außerdem …“, überlegte Orontius kurz, „vergesst nicht, wir sind das fahrende Volk, die Rechtlosen und Heimatlosen, die alles entbehren, was Sicherheit und Ehre gibt. Das Leben dieser Menschen ist umfriedet durch die Grenzzeichen und das Recht einer Heimat. Sie glauben, sie wären besser als wir.“

„Warum brauchen wir das Mitgefühl des Abts?“, fragte Maren. „Auch wenn sie meinen, sie wären besser als wir, sind wir nicht weniger wert als die Sesshaften!“

Orontius dachte kurz nach. „Nun, das fahrende Volk wurde schon immer von den noblen Gesellschaften verachtet. Das macht uns verletzbar und Leute wie dieser Vornehme auf dem Markt ziehen ihren Nutzen daraus.“

„Welchen Nutzen sollte er davon haben, meine Schwestern ein Teufelsgesindel zu nennen?“, fragte Maren.

„Er demonstriert damit seine Macht über andere“, antwortete Orontius. „Es holt das Schlimmste aus dem Menschen heraus, wenn es um den Stand in der Gesellschaft geht.“

„Obwohl wir als Bewahrer unserer heiteren Kunstfertigkeit Geistlichen und Laien sehr willkommen sind und den Vornehmen während ihrer Hof- und Kirchenfeste durch unsere Vorführungen Freude bringen!“, warf Dorothea ein.

„Genau“, stimmte Orontius ihr zu. „Deswegen begreife ich nicht, warum auf uns hinabgesehen wird. Das Schreckliche ist jedoch, dass wir auch als Kinder des Teufels bekannt sind und von der Kirche gehasst werden, egal ob sie protestantisch oder katholisch ist. Es ist eine Schande, dass dem fahrenden Geschlecht das Recht, an den Sakramenten des Christentums teilzunehmen, genommen wird.“

Es entstand eine Pause, in der sich die Familie besann.

„Hat man dich im Kloster, als du Mönch warst, auch verachtet?“, fragte Mafalda.

Orontius überlegte. „Nein, aber ich war immer ein Außenseiter, weil ich gerne Kunststücke vorgeführt habe. Ich konnte mich auf diese Weise mit Gott austauschen. Die anderen beteten nur — tagein und tagaus.“

Vieles hatte sich verändert, seitdem Orontius das Franziskaner-Kloster verlassen und er und Hildegard sich gemeinsam mit ihrer Truppe auf den Weg gemacht hatten. Damals war die Kutsche, die sie Arche nannten und die sie von dem alten Gaukler Eberlein übernommen hatten, für das Paar ausreichend gewesen. Mittlerweile war die Familie in zwei Kutschen untergebracht, denn in der Arche gab es zum Schlafen nicht genug Platz für die Eltern mit ihren drei heranwachsenden Töchtern. Die zweite Kutsche, die die Töchter ihr Nest nannten, war ausschließlich als ihr Schlaf- und Ruhelager eingerichtet, während die Arche auch als Koch- und Aufenthaltsstätte an Regentagen diente.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Waldtümpels hatten die anderen Mitglieder der Truppe ihr Lager aufgeschlagen. Darunter waren der Poet William mit seiner sechsköpfigen Familie, verschiedene Spielleute und ehemalige Nonnen und Mönche, die sich nach und nach Orontius´ Truppe angeschlossen hatten. Die Flammen der einzelnen Lagerfeuer, die sie am Rand des kleinen Gewässers aufgebaut hatten, spiegelten sich auf der glatten Oberfläche des Teiches wider. Sanfte Klänge einer Laute, untermalt von den rhythmischen Schlägen des Tamburins, drangen durch die Natur wie in einer Zauberwelt.

Die Truppe hatte ein Gesetz, nach dem sich jeder richtete: Keiner sollte sich alleine fühlen. Jedoch gab jedes Mitglied dem anderen genügend Raum, um einen respektablen Abstand genießen zu können. Ihr Miteinander gab ihnen gleichzeitig Kraft, die Herausforderungen ihres bunten Lebens zu meistern und sich gegenseitig bei der Versorgung mit den Grundbedürfnissen des Lebens zu unterstützen.

Es gab allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen Orontius´ Töchtern und den anderen, besonders weiblichen Mitgliedern des fahrenden Volkes. Maren, Dorothea und Mafalda konnten lesen und schreiben. Ihr Vater war in allen Fragen des Christentums bewandert, wusste über weltliche Dinge Bescheid und hatte die Fähigkeit, seinen Töchtern alles beizubringen, was man mit Worten ausdrücken konnte. Mit der Zeit hatte jedes der Mädchen seine eigene Handschrift entwickelt, sie konnten Texte lesen und hatten sich ein Wissen angeeignet, von dem ihre Altersgenossen nur träumen konnten. Doch dieses Wissen bedeutete auch eine Gefahr, denn junge Frauen waren gewöhnlich ohne Ausbildung und hatten keine andere Wahl, als zu heiraten und Kinder zu bekommen. Außerdem wurden gebildete Frauen schnell der Hexerei angeklagt, weil sie andersdenkend waren. Auch das wusste Orontius und er ermahnte seine Töchter, in ihrem täglichen Tun vorsichtig, nicht hochmütig gegenüber anderen zu sein und ihre Kenntnisse so gut wie möglich zu verbergen und sie nur für ihre Sicherheit zu nutzen.

Mafaldas Wissensdrang war unerschöpflich. Es fiel ihr schwer, sich unter dem Volk anders zu geben als sie es wirklich war. „Vater, darf ich heute noch einmal die Ikone betrachten?“, fragte sie, während sie sich den süßen Brei in den Mund stopfte.

„Selbstverständlich“, antwortete Orontius und lächelte. „Nur zu, meine Liebe, hole sie dir. Und dann ist es Zeit zum Schlafengehen. Ich wünsche euch eine gesegnete Nacht.“

Die drei Schwestern säuberten ihre Teller und verschwanden in ihr Nest. Noch lange sollte die Kerze an Mafaldas Bettlager nicht ausgehen. Wie so oft zuvor studierte sie die religiöse Szene, die in der kleinen Buchsbaum-Ikone dargestellt war. Ihr Vater hatte ihr deren Bedeutung in allen Einzelheiten erklärt. Dieses winzige Stück, das so klein war, dass sie es in ihrer Handfläche hin und her rollen konnte, spielte in seinem Leben eine wichtige Rolle. Der Erinnerungswert war in ihrem Vater tief verwurzelt. Auch sollte die wertvolle Ikone seine Altersversorgung sein. In Mafalda verursachte die Betrachtung des kleinen Artefakts jedoch etwas ganz anderes; ein brennendes Interesse für alles Antike und Althergebrachte.

An einem Tag im Jahre 1551 geschah etwas, das zu einem Wendepunkt in Mafaldas Leben werden sollte.

Die Familie hatte sich zu einem Umweg über Siegen entschieden, während der Rest ihrer Truppe weiter südöstlich in Richtung Koblenz zog.

Die Stadt Siegen und ihre waldige Umgebung hatte für Orontius´ Familie eine besondere Bedeutung. Seine vor langer Zeit verstorbene Mutter war gebürtige Siegenerin gewesen. Orontius hatte über zwei Jahrzehnte im Siegener Franziskaner-Kloster verbracht. Jahre danach, im August 1534, kam in Flecken, später Freudenberg genannt, einem kleinen Dorf unweit von Siegen, Mafalda zur Welt. Sechs Jahre später wurde das Dorf einschließlich seiner Burg durch ein verheerendes Feuer zerstört. Den Stadtkern, den Flecken, ließ der Graf von Nassau in parallelen Reihen wieder neu erbauen.

Mafalda wollte unbedingt ihren Geburtsort sehen, und da sich die Familie in der Gegend zu Hause fühlte, hatte niemand etwas dagegen.

Auf verschlammten Wegen trudelten sie in Flecken ein und ließen sich zur Feier ihrer Ankunft in einem kleinen Gasthaus nieder, der Fleckerei, wo sie eine herzhafte Niederwild-Platte mit Bohnen und Brot genossen. Es war etwas Besonderes, ein Mahl serviert zu bekommen, ohne dafür arbeiten zu müssen. Als sie wieder mit vollen Bäuchen in ihren Kutschen saßen, um einen Platz für die Nacht zu suchen, war die Stimmung gut. Ein von Bäumen geschützter Lagerplatz an einem kleinen Fluss nahe des Dorfkerns sorgte für ausreichend Holz. Bald hatte die Familie ein knisterndes Lagerfeuer entfacht.

Mafalda beobachtete die losgelösten Funken, die aus den aufflackernden Flammen emporstiegen. Ihre Augen glänzten. „Vater, hast du den alten Schlossturm gesehen?“, fragte sie in die Runde hinein.

„Ja, der ist nicht zu übersehen. Ich denke mir, der Bergfried ist das einzige Überbleibsel der alten Burg. Das Feuer zerstörte fast alles.“

„Ein paar Mauern stehen aber noch“, wandte Mafalda ein.

„Ich dachte mir schon, dass dir das nicht entgangen ist“, schmunzelte Orontius.

„Wie sah denn die Burg aus, als sie noch stand?“, fragte Mafalda weiter.

Orontius dachte nach. „Sie muss vor dem 11. Jahrhundert gebaut worden sein. Nur das niedrige Mauerwerk war aus Stein, der Rest bestand aus Holz. Das Torhaus beeindruckte mich, es hatte ein schweres Fallgitter. Den Burghof, die Wohn- und Wirtschaftsgebäude, Scheunen und Bestallungen konnte man von außen nicht sehen. Ich kann mich erinnern, dass sich an der Burg eine Burgkapelle befand, die der Heiligen Katharina geweiht war. Ein Kaplan feierte dort mit der Gemeinde Gottesdienst.“

„Meinst du die Katharina von Alexandrien?“, fragte Mafalda.

„Ja, die meine ich.“

„Wer ist diese Frau?“, schaltete Dorothea sich jetzt ein.

„Sie ist eine Heilige“, antwortete Mafalda. Der Eifer ließ ihr Gesicht glühen. „Das Katharinenkloster auf dem Sinai ist ihre Gedenkstätte.“

„Wo ist Sinai?“, fragte Dorothea.

„In Ägypten“, antwortete Mafalda, ohne nachdenken zu müssen.

Die Eltern tauschten Blicke aus.

Dorothea sah ihre Schwester überrascht an. „Woher weißt du das alles?“

„Ich habe es in einem Blatt auf dem letzten Kirchenfest gelesen, auf dem wir waren. Ein Kolporteur aus Basel lieh es mir für eine Weile aus.“ Mafalda raffte ihr Kleid zusammen und stand auf. „Ich gehe meinen Geburtsort auskundschaften.“

„Sei zum Anbruch der Dunkelheit zurück“, sagte die Mutter. „Und bitte, sei vorsichtig!“

Mafalda nickte. Es war nicht das erste Mal, dass sie alleine loszog. Sie wusste von den Gefahren, die einer jungen Frau zustoßen konnten.

Die Stelle, an der sich die alte, abgebrannte Burg befand, zog sie an wie ein Magnet. Nicht nur die Ruinen faszinierten sie. Es war auch der Ort, an dem sich Abenteurer, Schatzsucher und anderes, zwielichtiges Volk aufhielt und nach alten Artefakten suchte, die vergraben, versteckt oder von anderen übersehen worden waren. Mafalda zählte sich nicht zu ihnen, denn sie war nicht auf ein Geschäft aus, sondern suchte aus reinem Interesse an den von Menschenhand geschaffenen Objekten aus der Vergangenheit.

Die mit dicken Moosen bedeckten Reste des Mauerwerks ließen den Lauf der Zeit erkennen. Mafalda steckte ihre Finger in das feuchte, weiche Gewächs und fühlte eine kribbelnde Sehnsucht aufkommen. Sie spürte, dass etwas geschehen würde, über das sie keine Kontrolle hatte. Es war, als stünde die Zeit still, denn was sie in diesem Moment erlebte, war jenseits der Wirklichkeit. Vor ihr erschien eine Frau mit edlen Gesichtszügen, gekleidet in ein weißes Gewand, das sich sanft um ihren Körper schmiegte. Mafalda war angetan von ihren wohlgeformten Konturen und streckte die Hand aus, um ihren Körper zu berühren. Die Frau, die einer Göttin glich, wich nicht zurück — ganz im Gegenteil, sie kam näher, ergriff Mafaldas Hand und führte sie an ihren Körper. Mafalda nahm die Einladung an, trat an sie heran und begann, über ihre Brüste und Hüften zu streicheln. Die Schönheit lächelte sie wollüstig an und zog Mafalda gierig an sich heran. Mafalda wurde sich plötzlich bewusst, dass die Frau aus der fernen Vergangenheit kam und dass ihre Erscheinung ein Trugbild war. Die Gegenwart traf sie wie ein Schlag. Ihre Hände befanden sich immer noch wühlend in dem feuchten Moos. Ihr war unklar, nach was sie suchte, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass es mit der Begegnung mit der Göttin zu tun hatte. Sie musste es anfassen und sehen, um den Vorfall verstehen zu können. Eine ihrer Fingerkuppen traf auf etwas Hartes. Sie versuchte tiefer zu gehen, durchbrach dabei die Schicht des Mooses und versuchte, das harte Etwas auszugraben. Dabei fühlte sie, wie sie die feinen Glieder der wurzellosen Pflanze zerriss. Das harte Etwas war in dem grünen Polster eingeschlossen, es war von dem feinen Gewächs ergriffen und aus seinem Versteck geholt worden. Jetzt hatte sie es in der Hand. Vorsichtig zog sie es heraus und sah es sich an. Erst musste sie den Dreck entfernen, um es erkennen zu können. Eine Münze! Hastig zog sie ihr Taschentuch aus der Tasche ihres Kleides und polierte sie. Was sie sah, raubte ihr den Atem. Sie erkannte sich selbst im vollen Kopfprofil.

Mehrmals drehte Mafalda die Münze zwischen ihren Fingern hin und her. Sie war nur einseitig mit dem Kopf geprägt. Warum nur? Sie brachte die Münze näher an die Augen, um besser sehen zu können. Vielleicht war die Prägung auf der Rückseite abgerieben? Aber nein, jetzt sah sie die Umrisse von Flammen, die aus der Mitte eines wütenden Feuers heraussprangen.

Sie musste die Münze ihrem Vater zeigen, der würde eine plausible Antwort auf ihre Verwirrung haben. Warum war ihr Gesicht auf dieser Münze abgebildet? Nochmals schaute sie sich das Profil an. Ihre Kopfform in der Seitenansicht mit dem geraden Nasenrücken, den vollen Lippen, dem runden Kinn, der hohen Stirn — das waren verblüffend ähnliche Einzelheiten ihres eigenen Selbst! Vielleicht träumte sie? Aber nein, sie fühlte das kühle Metall in ihrer Hand und drückte die Münze, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich war.

Mafalda folgte dem Lauf des kleinen Flusses und erreichte bei Einbruch der Dunkelheit das Lager der Familie. Die Mutter blickte erleichtert auf. Sie kannte den Wissensdurst ihrer Tochter und die damit verbundene Leichtsinnigkeit, die sie schon oft an ihr bemerkt hatte. Mafalda würde über Berge und durch Täler wandern, um sich weiterbilden zu können. Obwohl sie mit ihren siebzehn Jahren die Jüngste war, war sie ihren Schwestern in puncto Wissen weit voraus.

„Du strahlst so, hast du etwas gefunden?“, fragte Orontius.

„Diese Münze.“ Mafalda überreichte sie ihrem Vater, der sie genau untersuchte. Er stutzte. „Um Gottes Willen — das ist dein Kopf!“

Die Familie scharte sich um ihn, um besser sehen zu können.

„Du hast eine Doppelgängerin!“, rief Dorothea aus.

„Eine aus der fernen Vergangenheit noch dazu!“, erklärte Orontius. Er betrachtete die Münze durch sein Vergrößerungsglas, das er für solche Fälle immer in seiner Westentasche trug. „Das Jahr 415 ist am Rand eingeprägt. Die Münze stammt aus dem Anfang des 5. Jahrhunderts.“

„Wer ist diese Frau?“, fragte Mafalda neugierig.

Orontius dachte nach. „Nun, es könnte die Frau oder Tochter eines Münzmeisters sein. Es war ihnen frei, die Münzen zu gestalten. Ich denke mir, sie ist eine Familienmünze. Außerdem“, … er rieb über sie, „ist sie aus Kupfer gemacht — also nicht wertvoll.“

„Was bedeuten die Flammen auf der Rückseite?“, war Mafaldas nächste Frage.

„Darauf habe ich keine Antwort, mein Kind. Die Flammen können vieles bedeuten.“ Orontius grübelte. „Vielleicht ist diese Frau in einem Feuer gestorben. Vielleicht wollte der Münzmeister aber auch etwas anderes damit ausdrücken.“

„Vielleicht hatte die Dame ein feuriges Gemüt!“, warf Dorothea ein.

Orontius schmunzelte.

„Er muss sie sehr geliebt haben“, sagte Hildegard und trat nahe an ihren Mann heran, um ihn berühren zu können. Er lächelte sie an. „Ich sollte eine Münze mit deinem Kopf prägen lassen.“

„Und wir drei kämen auf die Rückseite!“, schlug Mafalda vor.

Alle lachten. Mafalda schaffte es immer wieder, mit ihrem Humor die Familie zusammenzubringen. Doch dann wurde sie ernst. „Vater, ich muss wissen, wer diese Frau war. Sie sah aus wie ich, lebte 1100 Jahre vor meiner Zeit und jemand fand sie wichtig genug, um sie auf einer Münze unsterblich zu machen! Es gibt etwas, was mich mit ihr verbindet. Ich muss herausfinden, was es ist, das mich mit ihr gleich macht.“

„Aber Kind“, sagte die Mutter, „es kann ein Zufall sein, dass du ihr ähnelst.“

„Man kann vieles unbewusst wissen, indem man es nur fühlt. Ich weiß, dass es eine Verbindung zwischen ihr und mir gibt. Die Zeitspanne zwischen uns macht das Rätsel noch interessanter. Außerdem“, fuhr sie fort, „gab es eine Göttin, die vor mir wie in einem Traum erschien. Ich spüre, dass sie etwas mit der Bedeutung der Münze zu tun hat!“

Orontius richtete sich auf. Sein Leben war immer von seinen Impulsen geprägt gewesen. Er war offen für Abenteuer, neues Wissen und mochte es, von Rätseln herausgefordert zu werden. Die Münze mit dem Gesicht seiner Tochter weckte seine alten Sehnsüchte, Geheimnisse zu ergründen und die Welt kennenzulernen, wofür er nun zu alt war. Daher verstand er Mafaldas Drang, etwas über die Frau auf der Münze herausfinden zu wollen, erst recht wegen der Erscheinung der Göttin, die eine Verbindung zur geistigen Alten Welt bedeuten könnte. Deswegen war er keinesfalls abgeneigt von der Idee Mafaldas, auf Reisen zu gehen. Trotzdem wollte er noch eine Nacht darüber schlafen und mit seinem Seelenfreund darüber sprechen, bevor er eine endgültige Entscheidung treffen würde. „Lasst uns essen und unseren ersten Abend in der alten Heimat genießen. Mafalda, morgen werden William und seine Kinder ankommen. Wir werden es mit ihm besprechen. William hat eine Poetenweisheit und kennt Dinge, die einfachen Leuten wie uns verwehrt bleiben.“

Langsam trabte das Maultier des Dichters William näher. Die Holzräder der Kutsche hinter dem Tier gruben sich in den Schlamm hinein und machte seine Last noch beschwerlicher. In der Kutsche saßen die sechs Kinder des Witwers, drei von ihnen Jungen. Der älteste, Engelbert, steckte seinen Kopf durch die Öffnung der Plane, als sie in Orontius´ Lager in Flecken eintrafen. Sein Blick galt Mafalda.

William, sein Vater, zog an den Zügeln und brachte das schnaufende Tier zum Stehen. Langsam stieg er vom Kutschbock hinunter und zog elegant seinen Hut. „Seid gegrüßt, mit freud’ger Wonne, in der güldnen Abendsonne.“

Engelbert hatte nichts von seinem Vater geerbt und man fragte sich, ob Vater und Sohn jeweils ein vernünftiges Wort ausgetauscht hatten. Ihm fehlten alle üblichen Umgangsformen und er sprach kaum. Man vermutete, dass er sprachlich unbeholfen war, da sich sein Vater bei fast allen Gelegenheiten poetisch ausdrückte und nur dann in der Umgangssprache sprach, wenn er mit seinen Kindern schimpfte.

Anstatt die Familie zu grüßen, ging Engelbert schnurstracks auf Mafalda zu, stellte sich vor sie und lächelte sie unentwegt an. Mafalda war über die Aufmerksamkeit merklich irritiert, trat einen Schritt zurück, um sich von seiner unmittelbaren Nähe zu befreien und wies ihn an: „Engelbert, reiß dich zusammen.“

Sofort trat der junge, schlaksige Mann ein paar Schritte zur Seite, wobei er Mafalda nicht aus den Augen ließ.

Sie waren wie Geschwister aufgewachsen. Mafalda war die einzige Person, die Engelbert mit Respekt behandelte. Sie mochte ihn wegen seiner Andersartigkeit. Auch wenn Fremde ihn wegen seines ungewöhnlichen Benehmens als bedrohlich betrachteten, wusste sie, dass er ein gutmütiges Herz hatte und keiner Fliege etwas zuleide tun würde. In den letzten Wochen hatte er jedoch ein etwas anderes Interesse an Mafalda entwickelt, von dem sie wusste, dass es bei jungen Männern üblich war, das sie aber bewusst zurückwies, da sie außer Geschwisterliebe nichts für ihn empfand.

Die Familienväter begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung, wobei ihre Verbundenheit nicht zu übersehen war. Ihre gemeinsamen Auftritte bei den Burgfesten der Adeligen, auf den Kirchplätzen, Messen und Marktplätzen brachten den örtlichen Gemeinden Spaß und Freude und der Truppe viele Gulden ein. Obwohl Orontius nicht mehr so beweglich war wie in seinen jüngeren Jahren, gelang es ihm immer noch, einige verblüffende Tricks vorzuführen. Auf dem Kopf stehend wirbelte er seine Beine im Kreis herum, oder er machte mehrere Radschläge, ohne mit den Händen den Boden zu berühren. Williams Aufgabe war es, Orontius´ Kunststücke mit einer passenden Poesie zu kommentieren, die manchmal so lustig war, dass sich die Zuschauer vor Lachen den Bauch hielten und die alten Frauen gezwungen waren, ihre Beine zusammenzupressen aus Angst, sie würden in ihre Kleider urinieren. Die beiden Familien hatten es sogar geschafft, Geld zu sparen, was für das fahrende Volk recht ungewöhnlich war.

„Kommt, setzt euch zu uns ans warme Feuer. Wir haben genug zu essen für alle“, lud Orontius die große Familie ein.

Die Mädchen setzten sich gehorsam ans Feuer, während die Jungen es schürten. Hildegard und Maren gingen in die Arche, um eine Mahlzeit vorzubereiten und kehrten mit einer Holzplatte zurück, die mit Stockfisch, Kaninchenfleisch, Brot und Käse gefüllt war. Williams Familie griff reichlich zu — ihr Schmatzen war als ein Zeichen des Genusses und ihrer Dankbarkeit zu hören. Als sie satt waren, erzählten sie dem Poeten was vorgefallen war.

Während er sich alles anhörte, drehte der Dichter die Münze in seiner Hand hin und her und wurde still. Das Kopfbild sowie die Rückseite mit den wütenden Flammen sah er sich genau an. Etwas ging ihm durch den Kopf, das dazu beitragen könnte, das Geheimnis zu lüften.

„Die Kapelle, in der die Heilige Katharina gefeiert wurde und der Fundort der Münze entblößen die Verbindung“, begann er. „Sinai, Gedenkstätte der Heiligen Katharina, ist der Ort, wo die Antwort begraben liegt.“

Mafalda sah ihn begeistert an. „Dort muss ich hin!“

„Wie willst du denn dorthin kommen?“, fragte Hildegard besorgt.

„Mit dem Schiff!“, antwortete Mafalda.

Jeder verstand, dass sie es ernst meinte. Es gab zwei Seiten an Mafalda. Ihre kindliche Seite war immer auf der Suche nach Spaß und Witzen. Aber ihre andere, die erwachsene Seite, war ernsthaft, überzeugend und manchmal erstaunlich kenntnisreich. Was sie gerade gesagt hatte, ließ keinen Spielraum für Zweideutigkeiten. Ihre Abenteuerlust, ihr Mut und ihr starker Wille waren atemberaubend.

William richtete sich an Orontius. „Ich kenne einen Händler, sein Name ist Piero Visentin. Er segelt zweimal im Jahr von Venedig nach Alexandrien, um dort Ware auszutauschen. Er nimmt Passagiere und Pilger in beiden Richtungen an Board.“

„Auch Frauen?“, fragte Orontius.

„Ja, aber Mafalda sollte in Begleitung reisen“, antwortete der Dichter.

Engelbert trat hervor. „Ich!“, rief er in die Runde hinein. Jeder wusste, dass Engelbert die Tragweite seines Angebots nicht verstand. Er verstand nur, dass seine geliebte Mafalda eine Begleitung brauchte und er ihr diese geben wollte, bevor jemand anderes sie anbot.

„Nimm ihn, mein ältest’ Sohn! Er soll dein Kind begleiten und sie des Weges leiten“, dichtete der Poet. „Wir werden uns die Kosten teilen.“

„Du bist sehr großzügig, mein Freund“, sagte Orontius.

„Im Walde bin ich dir begegnet. Aus dem sicheren Grab erhob mich deine Huld. Hast mich mit Lebensgeistern gesegnet. Sieh mich in deiner ew’gen Schuld.“

„Aber William“, entgegnete Orontius lachend, „das liegt in unserer Vergangenheit. Du sollst dich nicht in meiner Schuld fühlen.“